Wanderlust - Rebecca Solnit - E-Book

Wanderlust E-Book

Rebecca Solnit

0,0

Beschreibung

Dass wir gehen, scheint uns so selbstverständlich, dass wir oft vergessen, welch kultureller Reichtum, wie viel zu bergendes Glück in unserer alltäglichen Fortbewegungsart liegt. Mit ihrer ebenso leichtfüßigen wie fesselnden kulturgeschichtlichen Expedition verfasst Rebecca Solnit eine Ode an das Gehen und macht sich auf den Weg, um auf Demonstrationen, Pilgerreisen, Bergwanderungen, Stadterkundungen und auf dem Laufband dem Geheimnis des aufrechten Ganges auf die Spur zu kommen. Zu ihrer Reiselektüre gehören dabei sowohl antike Philosophen und romantische Naturschwärmer als auch umherschweifende Surrealisten und Bergsteigerberichte. Bald euphorisch, bald nachdenklich schärft sie so unser Bewusstsein für den menschengerechten Rhythmus des Gehens, in dem Körper und Geist mit der Außenwelt zusammenfinden. Ein ebenso beglückendes wie meditatives Buch, das in Zeiten allgegenwärtiger Ankunftsversessenheit und technischer Beschleunigung zur Rebellion aufruft und längst ein Klassiker der modernen englischsprachigen Literatur geworden ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 705

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rebecca Solnit

WANDERLUST

Eine Geschichte des Gehens

Aus dem Englischen vonDaniel Fastner

INHALT

TEIL IDIE GESCHWINDIGKEIT DES DENKENS

1. Vermessung einer Landzunge: Eine Einleitung

2. Der Verstand bei fünf Kilometern die Stunde

3. Aufstehen und Fallen: Die Theoretiker der Bipedie

4. Der steile Weg zur Gnade: Einige Pilgerreisen

5. Labyrinthe und Cadillacs: Wandern ins Reich des Symbolischen

TEIL IIVOM GARTEN IN DIE WILDNIS

6. Der Weg aus dem Garten

7. Die Beine William Wordsworths

8. Tausend Meilen konventionelles Empfinden

9. Mt. Finsternis und Mt. Ankunft

10. Von Wandervereinen und Landkriegen

TEIL IIILEBEN AUF DEN STRASSEN

11. Der einsame Spaziergänger und die Stadt

12. Paris, oder Botanisieren auf dem Asphalt

13. Bürger der Straße: Partys, Prozessionen und Revolutionen

14. Spazierengehen nach Mitternacht: Frauen, Sex und öffentlicher Raum

TEIL IVHINTERM ENDE DER STRASSE

15. Aerobic-Sisyphos und die Vorstadtpsyche

16. Die Gestalt eines Spaziergangs

17. Las Vegas, oder die längste Strecke zwischen zwei Punkten

Danksagung

Anmerkungen

Quellen der Zitate

Register

TEIL I

Die Geschwindigkeit des Denkens

KAPITEL 1

Vermessung einer Landzunge: Eine Einleitung

Womit fängt es an? Muskeln angespannt. Ein Bein eine Säule, den Körper aufrecht haltend zwischen Erde und Himmel. Das andere ein Pendel, von hinten vorschwingend. Die Ferse setzt auf. Das ganze Gewicht des Körpers rollt vorwärts auf den Fußballen. Der große Zeh stößt ab, und wieder verschiebt sich das fein ausbalancierte Gewicht des Körpers. Die Beine vertauschen ihre Position. Es fängt mit einem Schritt an, und dann ein weiterer Schritt und noch einer, die sich aufsummieren wie Trommelschläge zu einem Rhythmus, dem Rhythmus des Gehens. Es ist die offensichtlichste und undurchsichtigste Sache der Welt, dieses Gehen, das so leichtfüßig in Religion, Philosophie, Landschaft, Stadtpolitik, Anatomie, Allegorie und Herzschmerz eingeht.

Die Geschichte des Gehens ist eine ungeschriebene, verborgene Geschichte, deren Fragmente sich über Tausende beiläufige Passagen in Büchern und Liedern, Straßen und über nahezu aller Menschen Abenteuer verteilen. Die Körpergeschichte des Gehens ist die der Entwicklung des aufrechten Gangs und der Anatomie des Menschen. Meist dient Gehen rein praktischen Zwecken, als unbeachtetes Mittel der Fortbewegung von einem Ort zum anderen. Macht man es hingegen zu einer Untersuchung, einem Ritual, einer Meditation, dann handelt es sich um Sonderformen, die sich physiologisch wie philosophisch von der Weise des Gehens unterscheiden, in der der Postbote Post bringt und der Büroangestellte den Zug erreicht. Das heißt, das Thema Gehen dreht sich in gewisser Weise darum, wie wir allgemeine Handlungen mit spezifischen Bedeutungen ausgestalten. Wie Essen und Atmen auch, kann Gehen mit extrem verschiedenen kulturellen Bedeutungen aufgeladen werden, die sich vom Erotischen bis zum Spirituellen, vom Revolutionären bis zum Künstlerischen erstrecken. Und damit fügt sich diese Geschichte ein in die Geschichte der Ideen und der Kultur, in die Geschichte dessen, auf welche Art von Vergnügungen, von Freiheit und von Sinn es verschiedene Arten des Gehens und verschiedene Fußgänger zu verschiedenen Zeiten abgesehen hatten und haben. Diese Ideen haben die Räume, durch die sie sich auf zwei Füßen bewegen, geprägt und sind durch sie geprägt worden. Gehen hat Wege, Straßen, Handelsrouten geschaffen; ein lokales wie ein transkontinentales Raumgefühl generiert; Städte und Parks geformt; Karten, Reiseführer, Ausrüstung und darüber hinaus auch eine riesige Bibliothek an Wandergeschichten und -gedichten von Pilgerfahrten, Bergexpeditionen, Streifzügen und Sommerpicknicks hervorgebracht. Im Schoße der Natur- und Stadtlandschaften gedeihen Geschichten, und die Geschichten tragen uns an die Orte dieser Geschichte zurück.

Die Geschichte des Gehens ist eine Laiengeschichte, so wie Gehen eine Laienhandlung ist. Um eine Wandermetapher zu gebrauchen: Diese Geschichte durchschreitet alle anderen Felder – Anatomie, Anthropologie, Architektur, Gartenkunst, Geografie, politische und Kulturgeschichte, Literatur, Sexualität, Religionswissenschaft – und macht entlang ihrer langen Route auf keinem davon Halt. Denn wenn man sich ein Fachgebiet als ein wirkliches Feld vorstellt – ein schönes quadratisch abgegrenztes und sorgfältig bestelltes Areal mit spezifischer Bepflanzung –, dann ähnelt das Thema Gehen in seiner fehlenden Eingrenzung gerade dem Gehen selbst. Und wenngleich die Geschichte des Gehens als Teil aller dieser Felder und der Erfahrung aller Menschen praktisch unbegrenzt ist, kann diese Geschichte des Gehens, die ich schreibe, nur ein subjektiver Ausschnitt sein, ein von einer einzelnen Wanderin durch diese Felder gezogener eigentümlicher Pfad mit vielem Kehrtmachen und Umherblicken. Im Folgenden habe ich versucht, jene Wege zurückzuverfolgen, die die meisten von uns in meinem Land, den Vereinigten Staaten, zu diesem jetzigen Punkt geführt haben. Diese Geschichte speist sich aus zahlreichen europäischen Quellen, die der ganz andere Maßstab Amerikas, die Jahrhunderte der Anpassung und der Veränderung hier umgebogen und untergraben haben, sie speist sich aber auch aus anderen, insbesondere asiatischen Traditionen, die jüngst zu besagten Wegen hinzugestoßen sind. Die Geschichte des Gehens ist die Geschichte aller, und jede Niederschrift kann nicht mehr erhoffen, als einige der besser ausgetretenen Pfade in der Umgebung der Verfasserin kenntlich zu machen – will sagen, die Pfade, die ich verfolge, sind nicht die einzigen Pfade.

An einem Frühlingstag setzte ich mich also hin, um über das Gehen zu schreiben – und stand wieder auf, weil ein Schreibtisch nicht der richtige Ort ist, um in größeren Maßstäben zu denken. Auf einer mit verlassenen militärischen Befestigungsanlagen übersäten Landzunge nördlich der Golden Gate Bridge folgte ich einem Tal bergauf, ging entlang eines Hügelkamms spazieren und stieg dann hinunter zum Pazifik. Der Frühling war auf einen außergewöhnlich nassen Winter gefolgt und hatte die Hügel in jenes ausgelassene, überschwängliche Grün verwandelt, das ich jedes Jahr vergesse und dann wiederentdecke. Durch den frischen Wuchs stach Gras vom Vorjahr hindurch, dessen Sommergold vom Regen zu einem Aschgrau gebleicht war, das der dezenteren Farbpalette des restlichen Jahres angehört. Henry David Thoreau, der auf seinen Wanderungen auf der anderen Seite des Kontinents energischer als ich ausgeschritten war, bemerkte über lokale Besonderheiten:

»Ein gänzlich neuer Ausblick ist ein großes Glück, das für mich an jedem beliebigen Nachmittag möglich ist. In zwei oder drei Stunden kann ich in einer Gegend sein, die mir so fremd ist, wie ich es mir nur wünschen kann. Ein Farmgebäude, das ich zuvor nicht wahrgenommen hatte, ist manchmal so interessant wie die Behausung des Königs von Dahomey. In der Tat lässt sich zwischen den Möglichkeiten, die eine Landschaft in einem Radius von zehn Meilen bietet – einer Strecke, die man an einem Nachmittag bewältigen kann –, und dem etwa siebzig Jahre währenden menschlichen Leben eine Ähnlichkeit erkennen. Mit beidem ist man nie ganz vertraut.«1

Dieser Verbund von Pfaden und Straßen fügt sich zu einem Rundweg von etwa zehn Kilometern, auf dem ich vor einem Jahrzehnt zu wandern begann, um meine Existenzängste in einem schwierigen Jahr hinter mir zu lassen. Ich kam immer wieder zu dieser Route zurück, um meine Arbeit ruhen zu lassen – aber auch für meine Arbeit. Denn Denken wird in einer produktionsorientierten Kultur gemeinhin als Nichtstun betrachtet, und nichts zu tun, ist schwer. Es lässt sich am besten bewerkstelligen, indem man so tut, als täte man etwas, und das Etwas, das dem Nichtstun am nächsten kommt, ist Gehen. Gehen selbst ist diejenige willkürliche Handlung, die dem unwillkürlichen Rhythmus des Körpers, dem Atmen und dem Herzschlag, am nächsten kommt. Es hält ein zartes Gleichgewicht zwischen Arbeit und Müßiggang, zwischen Sein und Tun. Es ist eine körperliche Arbeit, die nichts produziert außer Gedanken, Erfahrungen, Ankünften. Nach all diesen Jahren des Gehens mit dem Ziel, Klarheit über andere Dinge zu gewinnen, erschien es sinnvoll, zum Arbeiten näher nach Hause (in Thoreaus Sinne) zurückzukehren und über das Gehen selbst nachzudenken.

Idealerweise ist Gehen ein Zustand der Übereinstimmung von Geist, Körper und Welt, als ob sie drei Figuren wären, die schließlich ins Gespräch miteinander kommen, drei Töne, die plötzlich in einem Akkord erklingen. Gehen erlaubt uns, in unseren Körpern und in der Welt zu sein, ohne von ihnen zu Geschäftigkeit genötigt zu werden. Es lässt uns frei denken, ohne dass wir uns gänzlich in unseren Gedanken verlieren. Ich war nicht sicher, ob ich zu früh oder zu spät dran war für die violette Lupine, die auf diesen Landzungen so spektakulär aufblüht, doch immerhin wuchs am schattigen Straßenrand auf dem Weg zur Wanderroute Schaumkraut, das mich an die Hügelhänge meiner Kindheit erinnerte, die jedes Jahr als Erstes in einer Überfülle dieser weißen Blumen erblühten. Schwarze Schmetterlinge flatterten von Wind und Flügeln umhergeworfen um mich herum und riefen mir eine andere Phase meiner Vergangenheit in Erinnerung. Die Bewegung zu Fuß erleichtert es offenbar, sich auch in der Zeit zu bewegen; der Geist wandert von Plänen zu Erinnerungen zu Beobachtungen.

Der Rhythmus des Gehens bringt eine Art Denkrhythmus hervor, und das Sichbewegen durch eine Landschaft spiegelt oder stimuliert die Bewegung durch eine Gedankenfolge. Dadurch entsteht eine sonderbare Übereinstimmung zwischen innerer und äußerer Bewegung, die die Vorstellung nahelegt, dass auch der Geist eine Art Landschaft darstellt und Gehen eine Form, sich durch sie zu bewegen. Ein neuer Gedanke scheint oft wie ein Merkmal der Landschaft, das sich dort immer schon befunden hat, als ob Denken eher Reisen als Erschaffen wäre. Ein Aspekt der Geschichte des Gehens ist daher die Geschichte des konkretisierten Denkens – denn die Bewegungen des Geistes lassen sich nicht abmessen, die der Füße hingegen schon. Gehen lässt sich auch als visuelle Tätigkeit vorstellen, jeder Spaziergang als hinreichend gemächliche Tour, um die Ansichten wahrzunehmen und über sie nachzudenken, das Neue in das Bekannte einzufügen. Vielleicht kommt daher der eigentümliche Nutzen, den das Gehen für Denkerinnen und Denker bereithält. Die überraschenden, befreienden und erhellenden Momente des Reisens ergeben sich manchmal, wenn man um den Block läuft, oder manchmal auch, wenn man um die Welt läuft; zu Fuß reist man nah wie fern. Oder vielleicht sollten wir Gehen lieber als Bewegung und nicht als Reisen bezeichnen, denn man kann im Kreis laufen oder man kann bewegungsunfähig auf einem Sitz durch die Welt reisen, und eine bestimmte Art von Wanderlust lässt sich nur durch die Tätigkeit des bewegten Körpers stillen, nicht durch die Bewegung des Autos, Schiffs oder Flugzeugs. Sowohl die Bewegung als auch die vorüberziehenden Ansichten scheinen den Geist in Bewegung zu versetzen, und genau das macht Wandern zu etwas Vieldeutigem und unendlich Fruchtbarem: Es ist Mittel und Zweck, Reise und Ziel zugleich.

Die alte rotsandige Straße, einst vom Militär angelegt, wand sich durch das Tal bergauf. Gelegentlich konzentrierte ich mich auf den Akt des Gehens, doch meist blieb es ein unbewusstes Tun, bei dem sich meine Füße mittels ihrer eigenen Kenntnisse über Geschwindigkeit, das Halten des Gleichgewichts und das Umgehen von Steinen und Spalten fortbewegten. Das verschaffte mir die Freiheit, die Hügellandschaft in der Ferne und den Überfluss an Blumen um mich herum zu betrachten: Brodiaea; dann die rosafarbenen papierartigen Blüten, deren Namen ich immer vergesse; ein Überfluss an Sauerklee in gelber Blüte; und halb um die letzte Biegung eine schneeweiße Weihnachts-Narzisse. Nach zwanzig Minuten Bergauftrottens legte ich nun eine Pause ein, um an ihr zu riechen. Früher gab es einen Milchhof in diesem Tal, und weiter unten, auf der anderen Seite des nassen, mit Weiden übersäten Talgrunds stehen immer noch das Fundament einer Farm und verstreut ein paar alte Obstbäume. Diese Gegend war viel länger eine Produktionslandschaft als ein Erholungsgebiet gewesen: Erst kamen die Miwok-Indianer, dann die Landwirte, die nach einem Jahrhundert ihrerseits von der Militärbasis vertrieben wurden. Diese machte in den 1970er-Jahren dicht, als die Küsten in einem zunehmend abstrakten und auf den Luftraum konzentrierten Krieg bedeutungslos wurden. In den 1970er-Jahren wurde das Gebiet der Nationalparkverwaltung und Leuten wie mir überlassen, die in der Tradition des vergnüglichen Landschaftswanderns stehen. Die Geschützstellungen, Bunker und Tunnel aus massivem Beton werden nie verschwinden wie die Gebäude des Milchhofs, doch es müssen die Milchbauern gewesen sein, die das Vermächtnis von Gartenblumen hinterlassen haben, die zwischen den heimischen Pflanzen sprießen.

Gehen heißt umherschweifen, und ich schweifte von meinem Narzissenbüschel in der Biegung der roten Straße zunächst in Gedanken und dann auch körperlich ab. Die Militärstraße erreichte den Hügelkamm und kreuzte den Wanderpfad, der mich über die Anhöhe führte, dann in den Wind schnitt und mich bergab brachte, bevor er allmählich wieder hinaufführte zur Westseite des Kamms. Auf dem Grat oberhalb dieses Fußpfads befand sich, zum nördlich angrenzenden Tal hin ausgerichtet und von einer achteckigen Umzäunung umgeben, eine alte Radarstation. Die sonderbare Ansammlung von Objekten und Betonbunkern auf einem Asphaltblock gehörten zu einem Nike-Raketenleitsystem, das dazu diente, Atomraketen von ihrer Abschussbasis im unterhalb gelegenen Tal zu anderen Kontinenten zu lenken, auch wenn in Kriegszeiten nie Raketen von hier abgeschossen wurden. Die Ruine mag man sich als Souvenir des abgeblasenen Weltuntergangs vorstellen.

Atomwaffen waren es auch, die mich zum ersten Mal mit der Geschichte des Gehens in Berührung brachten2 – eine Verbindung so überraschend, wie Pfade oder Gedankenverknüpfungen eben sein können. In den 1980er-Jahren wurde ich zur Antiatom-Aktivistin und nahm an den Frühlingsdemonstrationen beim Nevada-Testgelände teil, einem der Fläche nach mit Rhode Island vergleichbaren Regierungsgelände im südlichen Nevada, wo die Vereinigten Staaten seit 1951 Atombomben zünden – bislang mehr als eintausend davon. Manchmal schienen Kernwaffen nicht viel mehr als abstrakte Haushaltsposten, Entsorgungsziffern, potenzielle Opferzahlen zu sein, denen man mit Kampagnen, Publikationen und Lobbyismus entgegentrat. Die bürokratische Abstraktheit sowohl des Rüstungswettlaufs als auch des Widerstands dagegen erschwerte das Verständnis dafür, dass das eigentliche Thema die Vernichtung wirklicher Körper und wirklicher Orte war. Die Massenvernichtungswaffen wurden in einer wunderschön kahlen Landschaft zur Explosion gebracht, in deren Nähe wir bei jeder Demonstration für ein, zwei Wochen kampierten (nach 1963 wurden sie nur noch unterirdisch gezündet, doch häufig trat dennoch Strahlung in die Atmosphäre aus, und jedes Mal bebte die Erde). Wir – dieses wir aus der gammeligen amerikanischen Gegenkultur, aber auch aus Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki, buddhistischen Mönchen und Franziskaner-Priestern und Nonnen, zu Pazifisten gewordenen Veteranen, abtrünnigen Physikern, kasachischen und deutschen und polynesischen Aktivisten, die im Schatten der Bombe lebten, und Westlichen Shoshonen, um deren Land es sich handelte – hatten die Abstraktionen durchbrochen. Jenseits dieser Abstraktionen lag die Wirklichkeit von Orten, von Ansichten, von Handlungen, von Empfindungen – von Handschellen, Dornen, Staub, Hitze, Durst, Strahlungsrisiko, des Zeugnisses von Strahlenopfern – aber auch von spektakulärem Wüstenlicht, der Freiheit des offenen Raums und des ergreifenden Anblicks Tausender, die unsere Überzeugung teilten, dass Atombomben das falsche Instrument darstellten, um damit die Geschichte der Welt zu schreiben. Wir legten eine Art körperliches Zeugnis für unsere Überzeugungen, für die wilde Schönheit der Wüste und die nicht fern von uns vorbereiteten Apokalypsen ab. Unsere Demonstrationen nahmen die Form des Spaziergangs an: Was auf der öffentlichen Seite des Zauns eine feierliche Prozession war, wurde auf der gesperrten Seite zum unbefugten Betreten, das die Festnahme zur Folge hatte. Wir übten uns in beispiellosem Maßstab in zivilem Ungehorsam oder zivilem Widerstand, einer amerikanischen Tradition, die Thoreau als Erster formuliert hatte.

Thoreau selbst war sowohl Naturdichter als auch Gesellschaftskritiker. Sein berühmter Akt zivilen Ungehorsams war passiv – eine Weigerung, sich durch Steuerzahlung an Krieg und Sklaverei zu beteiligen, und das Erleiden der daraus resultierenden Nacht im Gefängnis – und stand nicht in direktem Zusammenhang mit seiner Erkundung und Deutung der lokalen Landschaft, auch wenn er gleich am Tag seiner Haftentlassung eine Gruppe zum Heidelbeerenpflücken führte. Bei unseren Aktionen am Testgelände verbanden sich die Poesie der Natur und die Kritik an der Gesellschaft in diesem Kampieren, Spazierengehen und unerlaubten Betreten des Geländes, so als ob wir herausgefunden hätten, wie eine Beerenpflückgruppe zugleich ein revolutionärer Kader sein konnte. Auf mich wirkte es wie eine Offenbarung, zu sehen, wie dieser Akt des Spazierens durch eine Wüste und über ein Viehgitter in die verbotene Zone hinein eine politische Aussage transportieren konnte. Auch entdeckte ich bei der Anreise in diese Landschaft allmählich andere Landschaften des amerikanischen Westens jenseits meiner Küstenregion und begann, diese Landschaften und die Geschichte, die mich zu ihnen geführt hatte, zu erkunden – nicht nur die Geschichte der Entwicklung des Westens, sondern auch der romantischen Lust am Wandern und an der Landschaft, der demokratischen Tradition des Widerstands und der Revolution, der älteren Geschichte des Pilgerns und Wanderns zu spirituellen Zwecken. Ich fand meine Stimme als Schriftstellerin durch die Beschreibung all dieser Schichten der Geschichte, die meine Erfahrungen am Testgelände prägte. Und ich begann, im Prozess des Schreibens über Orte und ihre Geschichte auch über das Gehen nachzudenken und zu schreiben.

Wie jede Leserin von Thoreaus Essay über das »Spazieren« weiß, führt Wandern unvermeidlich zu anderen Themen. Gehen ist ein Thema, das immer abschweift. Zum Beispiel zu den Götterblumen unterhalb der Raketenleitstation auf den nördlichen Landzungen der Golden Gate. Sie sind meine Lieblingswildblumen, diese kleinen magentafarbenen Trichter mit scharfen schwarzen Punkten, die aerodynamisch geformt wirken wie für einen Flug, zu dem sie nie abheben, als hätten sie sich unter Absehung von der Tatsache entwickelt, dass Blumen Stängel und Stängel Wurzeln haben. Die Chaparral-Vegetation zu beiden Seiten des Pfads, die während der trockenen Monate durch Kondensation des vom Ozean aufsteigenden Dunstes bewässert wird und die schattenreiche Lage des Nordhangs genießt, wuchs üppig. Während mich die Raketenleitstation auf dem Kamm immer an die Wüste und an Krieg denken lässt, erinnern mich diese unterhalb gelegenen Böschungen immer an englische Heckenreihen, jene Feldbegrenzungen mit ihrem Überfluss an Pflanzen, Vögeln und dieser idyllischen Art ländlichen Raums in England. Es gab Farne, wilde Erdbeeren und, unter einem Kojotenbusch verkrochen, eine Gruppe blühender weißer Schwertlilien.

Obwohl ich an diesen Ort gekommen war, um über das Gehen nachzudenken, musste ich ständig an alles Mögliche denken, an Briefe, die ich hätte schreiben sollen, an Gespräche, die ich hätte führen sollen. Zumindest als meine Gedanken zu dem Telefongespräch mit meiner Freundin Sono an jenem Morgen schweiften, blieb ich noch bei der Sache. Sonos Transporter war vor ihrem Studio in West-Oakland gestohlen worden, und sie erzählte mir, dass zwar alle auf die Nachricht wie auf eine Katastrophe reagierten, sie selbst es aber gar nicht bedauerte, dass er verschwunden war, und es auch nicht eilig hatte, ihn zu ersetzen. Sie freute sich über die Entdeckung, dass sich ihr Körper durchaus dazu eignete, sie an ihr Ziel zu bringen, und empfand es als Geschenk, eine greifbarere, konkretere Beziehung zu ihrem Viertel und seinen Bewohnern herzustellen. Wir sprachen über das schleppendere Zeitgefühl, das man zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln entwickelt, wenn alles vorher durchgeplant werden muss, statt alles hastig auf den letzten Drücker zu erledigen, und über das Ortsgefühl, das man nur zu Fuß entwickelt. Heutzutage leben viele Menschen in einer Aneinanderreihung getrennter Innenräume – Zuhause, Auto, Fitnessstudio, Büro, Geschäfte. Zu Fuß bleibt alles miteinander verbunden, weil man beim Gehen die Räume zwischen diesen Innenräumen in derselben Weise ausfüllt wie die Innenräume selbst. Man lebt in der ganzen Welt statt nur in Räumen, die zur Abgrenzung gegen sie errichtet wurden.

Der schmale Pfad, dem ich gefolgt war, endete an der alten grauen Asphaltstraße, die zur Raketenleitstation hinaufführt. Wenn man vom Pfad zu dieser Straße hinaufsteigt, öffnet sich der Blick auf die ganze Weite des Ozeans, der sich ohne Unterbrechung bis nach Japan erstreckt. Dieselbe Freude überwältigt mich jedes Mal wieder, wenn ich diese Grenze überschreite und den Ozean wiederentdecke, strahlend wie geschlagenes Silber an den sonnigsten Tagen, grün bei Bewölkung, braun vom weit ins Meer hinaus schwemmenden schlammigen Ausfluss der Bäche und Flüsse während der Winterhochwasser, ein schillerndes Gesprenkel von Blautönen an Tagen mit vereinzelten Wolken, nicht zu sehen nur an den nebligsten Tagen, an denen allein der Salzgeruch die Veränderung anzeigt. An diesem Tag präsentierte sich das Meer in einem satten Blau, das sich zu einem undeutlichen Horizont erstreckte, an dem weißer Dunst den Übergang in den wolkenlosen Himmel verwischte. Ab hier verlief meine Route bergab. Ich hatte Sono von einer Anzeige erzählt, die ich ein paar Monate zuvor in der Los Angeles Times gesehen hatte und an die ich seitdem immer wieder hatte denken müssen. Darin wurde ganzseitig für eine Enzyklopädie auf CD-ROM geworben, und der Werbetext dazu lautete: »Sie selbst sind einst bei strömendem Regen durch die halbe Stadt gelaufen, um in unseren Enzyklopädien nachzuschlagen. Wir sind zuversichtlich, dass wir Ihr Kind zum Klicken und Ziehen bewegen können.« Ich glaube, die wirkliche Bildung für das Kind stellte der Spaziergang durch den Regen dar, zumindest was die Sinne und das Vorstellungsvermögen betrifft. Vielleicht schweift das Kind mit der CD-ROM von seiner Aufgabe ab, doch in einem Buch oder einem Computer umherzustreifen findet unter beschränkteren und weniger sinnlichen Bedingungen statt. Erst die unvorhersehbaren Ereignisse zwischen offiziellen Terminen fügen sich zu einem Leben, das Unberechenbare verleiht ihm Wert. Wandern in der Stadt und auf dem Land bilden seit zwei Jahrhunderten Hauptformen der Erkundung des Unvorhersehbaren und Unberechenbaren, doch heute sehen sie sich Angriffen von mehreren Seiten ausgesetzt.

Die Vervielfältigung von Technologien im Namen der Effizienz vernichtet in Wahrheit freie Zeit, indem es diese Technologien ermöglichen, Zeit und Raum für die Produktion zu maximieren und die unstrukturierte Reisezeit dazwischen zu minimieren. Neue Zeitspartechnologien machen die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Welt, die sich um sie herum zu beschleunigen scheint, produktiver, nicht freier. Die Effizienzrhetorik, die diese Technologien begleitet, suggeriert zudem, dass nicht wertgeschätzt werden kann, was nicht quantifiziert werden kann – dass dieses ganze Feld von Freuden, die unter die Kategorie des Nichts-Besonderes-Tuns, des Tagträumens, Wolkenschauens, Wanderns, Schaufensterbummelns fallen, nichts als Leerstellen wären, die mit etwas Bestimmterem, Produktiverem oder Schnellerem gefüllt werden sollten. Selbst auf dieser Landzungenroute, die zu keinem nützlichen Ort führte, die man allein zum Vergnügen ablaufen konnte, hatten Menschen Abkürzungen zwischen den Serpentinen ausgetreten, als wäre Effizienz zu einer Gewohnheit geworden, die sie nicht abschütteln konnten. Die Unbestimmtheit eines Spaziergangs, auf dem sich viel entdecken lässt, wird ersetzt durch die Bestimmtheit der mit größtmöglicher Geschwindigkeit zu durchschreitenden kürzesten Distanz und durch elektronische Übermittlung, die wirkliches Reisen weniger notwendig macht. Als Mitglied der Gruppe der Selbstständigen, die ihre durch Technologie frei gewordene Zeit mit Tagträumen und Umherschweifen verschwenden können, weiß ich, dass diese Dinge ihren Nutzen haben, und ich nutze sie – einen Pick-up, einen Computer, ein Modem – auch selbst, aber ich fürchte ihre falsche Dringlichkeit, ihr Zur-Eile-Drängen, ihr unnachgiebiges Beharren darauf, dass Reisen weniger wichtig sei als Ankommen. Ich mag Gehen, weil es langsam ist, und ich habe den Verdacht, dass der Geist wie die Füße mit rund fünf Kilometern die Stunde arbeitet. Und wenn dem so ist, dann bewegt sich das moderne Leben mit größerer Geschwindigkeit als das Denken – oder die Nachdenklichkeit.

Beim Gehen geht es darum, sich draußen aufzuhalten, im öffentlichen Raum. In älteren Städten wird heute öffentlicher Raum aufgegeben und erodiert, in den Hintergrund gedrängt von Technologien und Diensten, die es nicht mehr nötig machen, das Haus zu verlassen, und an vielen Orten wird er auch von Ängsten überschattet (unbekannte Orte wirken immer beängstigender als bekannte, sodass die Stadt umso beunruhigender erscheint, je weniger man sich in ihr bewegt, und je weniger Spaziergänger es gibt, desto einsamer und gefährlicher wird sie tatsächlich). In vielen neuen Städten hingegen ist öffentlicher Raum schon im Design gar nicht mehr vorgesehen: Was einst öffentlicher Raum war, wird zugunsten der Privatheit des Autos gestaltet; Malls ersetzen Hauptstraßen; Straßen haben keine Gehwege; in Gebäude gelangt man durch ihre Garagen; es gibt keine Rathausplätze mehr; und alles hat Wände, Gitter, Tore. Angst hat insbesondere in Südkalifornien einen ganzen eigenen Architekturstil und ein Stadtdesign hervorgebracht, bei dem man sich in vielen der Wohnsiedlungen und bewachten Wohnanlagen als Fußgänger verdächtig macht. Zugleich werden ländliche Gebiete und die einst einladenden Randgebiete von Kleinstädten in Autopendler-Wohngebiete eingesaugt oder anderweitig in Beschlag genommen. An manchen Orten ist es nicht länger möglich, sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten – eine Krise für die privaten Offenbarungen des einsamen Spaziergängers wie für die demokratischen Funktionen des öffentlichen Raums. Gegen diese Fragmentierung von Leben und Landschaften kämpften wir damals, vor langer Zeit, in den Weiten der Wüste, die vorübergehend so öffentlich wurde wie ein Marktplatz.

Und wenn der öffentliche Raum verschwindet, dann auch der Körper als geeignetes Vehikel der Fortbewegung, um Sonos treffende Wortwahl zu bemühen. Sono und ich unterhielten uns über die Entdeckung, dass unsere Viertel – die zu den meistgefürchteten Ecken in der Bay Area gehören – gar nicht so feindlich sind (wenn auch nicht so sicher, dass wir gar nicht mehr über Sicherheit nachzudenken bräuchten). Vor langer Zeit bin ich auf der Straße bedroht und überfallen worden, doch tausendmal häufiger bin ich Freundinnen oder Freunden über den Weg gelaufen, habe ein gesuchtes Buch in einem Schaufenster entdeckt, bin von meinen gesprächigen Nachbarn begrüßt worden und habe Komplimente bekommen, habe mich an Architektur erfreut, habe Poster für Konzerte und ironische politische Kommentare an Wänden und Telefonmasten gesehen, Wahrsagerinnen, den zwischen Gebäuden aufgehenden Mond, habe Einblicke in das Leben und die Wohnungen anderer Menschen bekommen und das Lärmen der Singvögel in den Straßenbäumen gehört. Das Zufällige, Unkontrollierte erlaubt, etwas zu finden, von dem man gar nicht weiß, dass man es sucht. Und man kennt einen Ort erst, wenn man von ihm überrascht wird. Gehen ist eine Möglichkeit, ein Bollwerk gegen diese Erosion des Geistes, des Körpers, der Landschaft und der Stadt aufrechtzuerhalten, und jeder Spaziergänger ist ein Wächter auf Patrouille zum Schutz des Unbeschreiblichen.

Auf etwa einem Drittel des Wegs zum Strand hinab war ein orangefarbenes Netz gespannt. Es sah aus wie ein Tennisnetz, doch als ich dort ankam, erkannte ich, dass es einen breiten neuen Spalt in der Straße abgrenzte. Diese Straße zerfällt allmählich, seit ich vor zehn Jahren begann, darauf zu wandern. Früher führte sie ohne Unterbrechung vom Meer hinauf auf den Hügelkamm. 1989 tauchte am Küstenabschnitt der Straße ein Sprung auf, an dem man sich noch vorbeischieben konnte, als Nächstes führte dann ein kleiner Ausweichpfad um den wachsenden Spalt herum. Mit jedem Winterregen bröckelte mehr rote Erde und Straßenfläche ab und rutschte in einen Haufen am trümmerübersäten Fuß des steilen Hangs, über den die Straße einst geführt hatte. Anfangs war es ein überraschender Anblick, diese mitten in der Luft abgebrochene Straße, denn man hat bei Straßen und Wegen immer die Erwartung des Kontinuierlichen. Jedes Jahr sind weitere Teile abgefallen. Und ich bin diese Route so oft gegangen, dass jeder Abschnitt Assoziationen in mir weckt. Ich erinnere mich an alle Phasen des Einsturzes und daran, ein wie anderer Mensch ich war, als die Straße noch als ganze existierte. Ich erinnere mich, wie ich fast drei Jahre vorher auf dieser Route einem Freund erklärte, wieso ich gerne immer wieder denselben Weg laufe. Mit einer fragwürdigen Übertragung von Heraklits berühmtem Ausspruch über Flüsse scherzte ich, dass man nie zweimal über denselben Pfad schreitet; und kurz darauf kamen wir an die neue Treppe, die den steilen Hang des Hügels hinabführt und ausreichend weit zum Landesinneren hin gebaut ist, dass die Erosion sie auf Jahre hin nicht erreichen würde. Wenn es eine Geschichte des Gehens gibt, dann ist auch sie an einem Punkt angelangt, wo die Straße abbricht, einem Punkt, wo kein öffentlicher Raum existiert und die Landschaft zuasphaltiert wird, wo die Muße schwindet und unter dem Druck, zu produzieren, erdrückt wird, wo Körper sich nicht in der Welt, sondern nur in den Innenräumen von Autos und Gebäuden aufhalten und wo eine Verherrlichung hoher Geschwindigkeiten diese Körper anachronistisch oder kraftlos erscheinen lässt. In diesem Kontext wird Gehen zu einem subversiven Abstecher, zur malerischen Route durch eine halb aufgegebene Landschaft von Ideen und Erfahrungen.

Ich musste um diesen aus der wirklichen Landschaft herausgebissenen Brocken herumnavigieren, indem ich einer neuen Umgehung auf der rechten Seite folgte. Auf diesem Rundgang gibt es immer den Augenblick, in dem die Hitze des Kletterns und die Windstille im Schutz der Hügel umschlagen in einen Abstieg in die Meeresluft. Dieses Mal kam dieser Augenblick auf der Treppe nach dem Geröll unterhalb eines neuen Einschnitts in das grüne Serpentingestein des Hügels. Von dort war es nicht mehr weit bis zu der Biegung hin zur anderen Hälfte der Straße, die sich immer näher an die Klippen oberhalb des Ozeans heranwindet, wo mit hörbarem Getöse die Wellen an den dunklen Felsen zu weißem Schaum zerschellen. Bald erreichte ich den Strand, an dem Surfer, in ihren schwarzen nassen Anzügen glatt wie Robben, an der nördlichen Ecke der Bucht die brechenden Wellen abpassten, Hunde Stöcken hinterherhechelten, sich Leute auf Handtüchern fläzten und die Wellen niederkrachten und dann landauf in einen flachen Schwall ausliefen, um an den Füßen derjenigen von uns zu lecken, die auf dem harten Sand, den die Flut hinterlassen hatte, spazieren gingen. Unbenetzt blieb nur ein schmaler Streifen oberhalb eines sandigen Hügelkamms und entlang einer trüben Lagune voller Wasservögel.

Überraschend kam die Schlange, eine Strumpfbandnatter, die wegen der über die ganze Länge ihres dunklen Körpers verlaufenden gelblichen Streifen so genannt wird, eine winzige und bezaubernde Schlange, wie sie sich so gewelltem Wasser gleich über den Weg und in die Gräser an der Seite schlängelte. Sie ängstigte mich weniger, als dass sie mich in Alarmbereitschaft versetzte. Plötzlich tauchte ich aus meinen Gedanken auf und nahm alles um mich herum bewusst wahr – die Kätzchen auf den Weiden, das Plätschern des Wassers, die blattartigen Muster der Schatten entlang des Wegs. Und dann auch mich selbst, wie ich mit der körperlichen Anpassung lief, die sich nur nach Kilometern einstellt, mit dem losen diagonalen Rhythmus der synchron mit den Beinen schwingenden Arme an einem Körper, der sich lang und gedehnt anfühlte, fast so geschmeidig wie die Schlange. Ich hatte meinen Rundweg beinahe beendet und wusste nun besser als zehn Kilometer zuvor, was mein Thema war und wie ich es angehen konnte. Es war mir nicht in einer plötzlichen Eingebung gekommen, sondern in Form zunehmender Gewissheit, einem Gefühl für den Sinn wie einem Gefühl für den Ort. Wenn wir uns einem Ort überlassen, gibt er uns uns selbst zurück; je besser wir ihn kennenlernen, desto mehr säen wir dort die unsichtbare Saat von Erinnerungen und Assoziationen, die uns erwarten, wenn wir dorthin zurückkehren. Neue Orte wiederum bieten uns neue Gedanken, neue Möglichkeiten. Die Welt zu erkunden, ist eine der besten Arten, den Geist zu erkunden; und Gehen bewegt sich durch beide Terrains.

Nimmt es nicht tatsächlich wunder zu sehen, daß der Mensch nun schon so lange geht und sich noch niemand gefragt haben sollte, warum er geht, wie er geht, ob er geht, ob er nicht besser gehen könnte, was er beim Gehen macht …: Fragen, die sämtliche philosophischen, psychologischen und politischen Systeme betreffen, mit denen die Welt sich beschäftigt hat. HONORÉ DE BALZAC, THEORIE DES GEHENS

Bei den Eskimos gibt es einen Brauch, bei dem man seinen Ärger ablässt, indem man in gerader Linie durchs Land läuft, bis einen diese Empfindungen verlassen haben; die Stelle, an der der Ärger überwunden ist, wird mit einem Stock markiert, der das Ausmaß oder die Dauer der Wut bezeugt. LUCY R. LIPPARD, OVERLAY

Wie Kinder eignen wir uns einen Ort und eine bildliche Vorstellung von seinen räumlichen Verhältnissen zu Fuß und mithilfe unserer Vorstellungskraft an. Der Ort und die Größenverhältnisse des Raums müssen anhand des Körpers und seiner Fähigkeiten bemessen werden. GARY SNYDER, »BLAUE BERGE WANDERN«

Und dann, als ich eines Tages um den Tavistock Square spazierte, erdachte ich, so wie ich meine Bücher manchmal erdenke, To the Lighthouse; in einem großen, anscheinend unwillkürlichen Drang. VIRGINIA WOOLF, »SKIZZE DER VERGANGENHEIT«

In meinem Zimmer entzieht sich die Welt meinem Verstand; / Aber wenn ich gehe, sehe ich, daß sie aus drei oder vier Hügeln und einer Wolke besteht. WALLACE STEVENS, »VON DER OBERFLÄCHE DER DINGE «

KAPITEL 2

Der Verstand bei fünf Kilometern die Stunde

I. Fußgängerarchitektur

Jean-Jacques Rousseau bemerkte in seinen Bekenntnissen: »[I]ch kann … nur im Gehen nachsinnen, sobald ich stehenbleibe, denke ich nicht mehr, mein Kopf will stets zugleich mit meinen Füßen marschieren.«3 Die Geschichte des Gehens reicht vor die des Menschen zurück, doch die Geschichte des Gehens, insofern es nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern bewusste Kulturhandlung ist, reicht in Europa gerade einmal wenige Jahrhunderte zurück, und Rousseau steht an ihrem Anfang. Diese Geschichte begann im achtzehnten Jahrhundert mit den Spaziergängen verschiedener Persönlichkeiten. Die literarisch gebildeteren unter ihnen versuchten, dem Gehen dadurch eine höhere Würde zu verschaffen, dass sie seine Spuren ins antike Griechenland zurückverfolgten, dessen Praktiken zu jener Zeit ebenso bewundert wie unbekümmert falsch dargestellt wurden. Der exzentrische englische Revolutionär und Schriftsteller John Thelwall schrieb ein dickes schwülstiges Buch mit dem Titel The Peripatetic, in dem er Rousseau’sche Romantik mit dieser gefälschten klassischen Tradition verband. »Zumindest in einer Hinsicht darf ich mich einer Nähe zur Einfachheit der antiken Weisen rühmen: Ich führe meine Meditationen zu Fuß durch«4, schrieb er. Und nach dem Erscheinen von Thelwalls Buch 1793 wiederholten viele andere dieselbe Behauptung, bis es zur allgemeinen Auffassung wurde, dass die Alten, wenn sie nachdenken wollten, spazieren gegangen waren, sodass dieses Bild selbst als Teil einer Kulturgeschichte erscheint: schmucklos gekleidete Männer, in ernste Gespräche vertieft, wandelnd durch eine mit der gelegentlichen Marmorsäule gespickte trocken-mediterrane Landschaft.

Diese Überzeugung entsprang dem zufälligen Zusammentreffen von Architektur und Sprache. Als Aristoteles eine Schule in Athen eröffnen wollte, wies ihm die Stadt ein Grundstück zu. Felix Grayeff erläutert in seiner Geschichte dieser Schule:

»Dort standen Schreine für Apollo und die Musen und vielleicht andere kleine Gebäude … Eine überdachte Säulenkolonnade führte zum Apollotempel oder verband möglicherweise den Tempel mit dem Musenschrein; ob er davor schon existiert hatte oder zu dieser Zeit erst erbaut wurde, ist nicht bekannt. Diese Kolonnade oder dieser Gang (peripatos) gab der Schule ihren Namen; hier scheinen sich zumindest in der Anfangszeit die Schüler versammelt und die Lehrer ihre Vorträge gehalten zu haben. Hier wanderten sie auf und ab; aus diesem Grund wurde später behauptet, dass Aristoteles selbst auf und ab gehend vorgetragen und gelehrt hatte.«5

Die aus der Schule hervorgegangenen Philosophen wurden als Peripatetiker oder peripatetische Schule bezeichnet, und im Englischen beschreibt das Wort peripatetic »jemanden, der gewohnheitsmäßig und ausgiebig zu Fuß geht«. So verbindet dieser Name Denken mit Gehen. Allerdings ist doch mehr an der Sache, als es jener reine Zufall wollte, dass eine philosophische Schule ausgerechnet in einem Apollotempel mit langem Säulengang eröffnete – zumindest ein bisschen mehr.

Die Sophisten, jene Philosophen, die vor Sokrates, Platon und Aristoteles das Athener Leben dominierten, waren als Wanderer bekannt, die oft in dem Hain lehrten, wo später Aristoteles’ Schule errichtet wurde. Platons Angriff auf die Sophisten kam mit solcher Wucht, dass das Wort Sophist oder Sophisterei immer noch Täuschung und Arglist impliziert, obwohl seine Wurzel mit Weisheit (sophia) in Zusammenhang steht. Allerdings lässt sich das Wirken der Sophisten eher mit den Chautauquas und Vortragsreisenden vergleichen, die im neunzehnten Jahrhundert in Amerika von Ort zu Ort zogen und dem nach Neuigkeiten und Ideen dürstenden Publikum Reden hielten. Auch wenn sie Rhetorik als politisches Machtmittel lehrten – und Überzeugungskraft und Geschick im Argumentieren waren entscheidend für die griechische Demokratie –, lehrten die Sophisten auch andere Dinge. Platon, dessen halbfiktive Sokratesfigur einer der gerissensten und überzeugendsten Debattierer der Weltgeschichte ist, geht in gewissem Maße unredlich mit den Sophisten ins Gericht.

Ob die Sophisten nun tugendhaft waren oder nicht, sie waren oft nicht ortsgebunden, was bei vielen der Fall ist, deren erste Loyalität Ideen gilt. Vielleicht trennt Loyalität zu etwas so Immateriellem wie Ideen die Denker von denjenigen, deren Loyalität Menschen und Orten gilt. Denn die Loyalität, die letztere lokal verankert, treibt erstere oft von Ort zu Ort. Es handelt sich um eine Bindung, die Loslassen erfordert. Ideen sind überdies keine so verlässliche Saat wie beispielsweise Mais, und diejenigen, die sie kultivieren, müssen auf der Suche nach Unterstützung und Wahrheit oft umherziehen. In vielen Kulturen gab es Berufe, von Musikanten bis zu Ärzten, die ein nomadisches Leben mit sich brachten und eine Art diplomatische Immunität verschafften in jenem Streit zwischen den Gemeinwesen, der andere Menschen an einen Ort bindet. Aristoteles selbst wollte ursprünglich Arzt werden wie sein Vater. Ärzte waren in dieser Zeit Mitglieder einer verschlossenen Wanderergilde, die ihren Ursprung auf den Gott der Heilung zurückführte. Wäre er in der Ära der Sophisten Philosoph geworden, wäre er womöglich ohnehin ortsungebunden gewesen, da sich feste Philosophenschulen erst zu seiner Zeit in Athen etablierten.

Heute lässt sich unmöglich sagen, ob Aristoteles und seine Peripatetiker beim Philosophieren nun üblicherweise umherliefen oder nicht, doch die Verknüpfung von Denken und Gehen taucht im antiken Griechenland wiederholt auf, und die griechische Architektur bot sich zum Gehen als einer sozialen Aktivität und Form der Konversation an. Wie die Peripatetiker ihren Namen vom peripatos ihrer Schule erhielten, so wurden die Stoiker nach der Stoa oder Kolonnade in Athen benannt,6 einem höchst unstoisch bemalten Säulengang, wo sie spazierten und sich unterhielten. Sehr viel später fand die Assoziation zwischen Gehen und Philosophieren solche Verbreitung, dass in Mitteleuropa Orte danach benannt wurden: Der berühmte Philosophenweg in Heidelberg, wo Hegel spaziert sein soll, der Philosophendamm in Königsberg, über den Kant auf seinem täglichen Spaziergang lief (und der heute einem Bahnhof Platz gemacht hat), sowie der Philosophenweg, den Kierkegaard in Kopenhagen erwähnt.

Und natürlich gingen Philosophen spazieren – Gehen ist schließlich eine universelle Tätigkeit des Menschen. Jeremy Bentham, John Stuart Mill und viele andere unternahmen weite Wanderungen, und Thomas Hobbes besaß sogar einen Wanderstock mit einem integrierten Tintenfass, sodass er unterwegs Ideen niederschreiben konnte. Der gebrechliche Immanuel Kant unternahm täglich nach dem Abendessen einen Spaziergang durch Königsberg – allerdings lediglich zur Ertüchtigung, denn sein Denken verrichtete er im Sitzen in der Nähe des Ofens, während er durch das Fenster auf den Kirchturm starrte. Der junge Friedrich Nietzsche erklärt grandios konventionell: »Drei Dinge sind meine Erholungen, aber seltne Erholungen: mein Schopenhauer, Schumann’sche Musik, endlich einsame Spaziergänge.«7 Und im zwanzigsten Jahrhundert berichtet Bertrand Russell über seinen Freund Ludwig Wittgenstein:

»Er kam gewöhnlich um Mitternacht in meine Räume und lief stundenlang hin und her wie ein Tiger im Käfig. Bei Ankunft kündigte er an, nach Verlassen meiner Räume Selbstmord zu begehen. Deshalb wollte ich ihn nicht hinauswerfen, obwohl ich müde wurde. An einem solcher Abende sagte ich zu ihm nach ein, zwei Stunden Grabesstille: ›Wittgenstein, denkst duüber Logik oder über deine Sünden nach?‹ ›Beides‹, sagte er und verfiel wieder in Schweigen.«8

Philosophen gingen. Doch seltener sind Philosophen, die sich über das Gehen Gedanken machten.

II. Weihung des Gehens

Rousseau legte das Fundament für das Ideengebäude, in dem das Gehen selbst verehrt werden sollte – nicht das Gehen, das Wittgenstein in Russels Zimmer hin- und herbewegte, sondern das Gehen, das Nietzsche hinaus in die Landschaft führte. 1749 wurde der Schriftsteller und Enzyklopädist Denis Diderot ins Gefängnis geworfen, weil er einen Aufsatz geschrieben hatte, in dem er die Göttlichkeit Gottes infrage stellte. Rousseau, zu dieser Zeit ein enger Freund Diderots, besuchte ihn regelmäßig, wobei er die zehn Kilometer von seinem Zuhause in Paris bis zum Kerker des Château de Vincennes zu Fuß zurücklegte. Obwohl dieser Sommer extrem heiß war, so behauptet Rousseau in seinen nicht ganz und gar verlässlichen Bekenntnissen (1781–1788), sei er gelaufen, weil er sich andere Arten der Fortbewegung nicht leisten konnte.

»Um meine Schritte zur Langsamkeit zu zwingen, kam ich auf den Gedanken, im Gehen zu lesen. Eines Tages hatte ich den ›Mercure de France‹ bei mir, und während ich ihn nun so im Gehen durchblätterte, fielen meine Augen auf die von der Akademie zu Dijon für das nächste Jahr aufgestellte Preisfrage: ›Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderb oder zur Veredelung der Sitten beigetragen?‹ Sobald ich diese Zeilen gelesen, sah ich rings um mich eine andere Welt und ward ein anderer Mensch.«9

In dieser anderen Welt gewann dieser andere Mensch den Preis, und der veröffentlichte Essay erlangte Berühmtheit wegen seiner feurigen Kritik an solcher Art Fortschritt.

Rousseau war weniger ein origineller als ein verwegener Denker; er gab bestehenden Spannungen den kühnsten Ausdruck und neu aufgekommenen Empfindungen den glühendsten Zuspruch. Die Behauptung, dass sich Gott, Monarchie und Natur alle in harmonischer Übereinstimmung befänden, wurde untragbar. Rousseau mit seinen kleinbürgerlichen Ressentiments, seinem calvinistisch schweizerischen Argwohn gegen Könige und Katholizismus, seiner Lust am Schockieren und seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein war der Richtige, um jenes ferne Grollen der Disharmonie konkret und politisch werden zu lassen. In Über Kunst und Wissenschaft erklärte er, dass Lernen und sogar Buchdruck sowohl den Einzelnen als auch die Kultur korrumpieren und schwächen. »So also war zu allen Zeiten Luxus, Ausschweifung und Sklaverei die Strafe für die ehrgeizigen Anstrengungen, die uns aus der glücklichen Unwissenheit führen sollten, in die uns die ewige Weisheit verwiesen hatte.«10 Die Künste und Wissenschaften, behauptete er, führten weder zu Glück noch zu Selbsterkenntnis, sondern zu Ablenkung und Verderben.

Heute erscheint die Annahme, dass das Natürliche, das Gute und das Einfache im Einklang stehen, bestenfalls als Gemeinplatz; damals war sie aufwieglerisch. In der christlichen Theologie waren Natur und Menschheit mit dem Sündenfall in Ungnade gefallen; die christliche Zivilisation erlöste sie daraus, was Güte somit zu einem kulturellen und nicht natürlichen Zustand machte. Die Rousseau’sche Umkehrung dieses Gedankens, die vielmehr darauf beharrt, dass Mensch und Natur in ihrem ursprünglichen Zustand besser sind, kommt einem Angriff unter anderem auf Städte, Aristokraten, Technologie, Kultiviertheit und manchmal auch Theologie gleich, und dieser Angriff setzt sich bis heute fort (auch wenn sich interessanterweise die Franzosen, an die er sich primär richtete und zu deren Revolution er beitrug, auf lange Sicht weniger empfänglich für diese Ideen erwiesen haben als die Briten, die Deutschen und die Amerikaner). Rousseau entwickelt diese Ideen in seiner Abhandlung Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1754) und in seinen Romanen Julie oder Die neue Heloise (1761) und Emile oder Über die Erziehung (1762) weiter. Beide Romane zeigen auf verschiedene Weisen ein einfacheres, ländlicheres Leben – wenngleich keiner davon eingesteht, wie hart die körperliche Arbeit ist, die der Großteil der Landbevölkerung leistet. Seine fiktiven Figuren lebten, wie er selbst in seinen glücklichsten Momenten, in schlichter Ungezwungenheit, getragen von unsichtbarem Arbeitsvolk. Die Inkonsistenzen in Rousseaus Werk spielen keine Rolle, denn es dreht sich dabei weniger um eine zwingende Analyse als um den Ausdruck einer neuen Empfindsamkeit und ihren neuen Enthusiasmus. Dass Rousseau mit großer Eleganz schrieb, gehört zu diesen Inkonsistenzen und zugleich zu den Gründen, weshalb er so viel gelesen wurde.

In Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen beschreibt Rousseau den Menschen in seinem Naturzustand als »[o]hne Fertigkeit, ohne Sprache, ohne Wohnstätte, ohne Feindschaft und ohne Freundschaft, ohne jedes Verlangen nach seinesgleichen wie ohne jeden Trieb, ihm zu schaden, … in den Wäldern umher[irrend]«11, wenn er auch zugibt, dass wir nicht wissen können, wie dieser Zustand war. Die Abhandlung übergeht leichthin christliche Narrative über die Ursprünge des Menschen und bemüht sich stattdessen um eine vorausschauende vergleichende Anthropologie gesellschaftlicher Entwicklung (und wenn sie auch das christliche Motiv des Sündenfalls wiederholt, so kehrt sie doch die Richtung um: Es ist nicht länger der Fall in die Natur, sondern in die Kultur). In dieser Vorstellung fungiert Gehen als Sinnbild des einfachen Menschen und, wenn es sich um eine einsame und ländliche Wanderung handelt, als Mittel, sich in der Natur und außerhalb der Gesellschaft zu bewegen. Der Wanderer besitzt die Losgelöstheit des Reisenden, reist aber schlicht und ohne Hilfsmittel, stützt sich auf seine eigenen Körperkräfte statt auf Bequemlichkeiten, die sich herstellen und kaufen lassen – Pferde, Schiffe, Kutschen. Gehen ist schließlich eine Tätigkeit, die seit Urzeiten im Wesentlichen ohne große Fortschritte geblieben ist.

Indem er sich selbst so oft als Spaziergänger darstellte, stellte er sich auch in eine Reihe mit diesem vorgeschichtlichen idealen Wanderer, und in der Tat lief er viel und sein Leben lang. Sein Wanderleben begann, als er nach einem Sonntagsspaziergang auf dem Land zu spät nach Genf zurückkehrte und die Stadttore verschlossen vorfand. Impulsiv beschloss der fünfzehnjährige Rousseau, auf seine Heimatstadt, seine Lehre und schließlich auch auf seine Religion zu pfeifen; er kehrte den Toren den Rücken und wanderte aus der Schweiz hinaus. In Italien und Frankreich fand und verlor er zahlreiche Jobs, Förderer und Freunde in einem Leben, das kein Ziel zu haben schien, bis er eines Tages den Mercure de France las und seine Berufung fand. Selbst danach schien er zu versuchen, das sorglose Wanderleben seiner Jugend zurückzugewinnen. Er schreibt über eine Episode:

»Ich kann mich nicht entsinnen, im ganzen Verlauf meines Lebens eine Zeitspanne durchlebt zu haben, die so völlig frei von allen Sorgen und Plagen war wie diese sieben oder acht Tage unserer Reise, denn der Schritt der Frau Sabran, nach dem wir den unseren richten mußten, ging nicht über das Tempo eines gemächlichen Spazierganges hinaus. Die Erinnerung hat mir die lebhafteste Lust an allem, was mit dieser Reise zusammenhing, bewahrt, vor allem ein Gefallen an Bergen und an Fußwanderungen. Ich bin nur in jüngeren Jahren, dann aber stets mit höchstem Entzücken, zu Fuß gereist. … Lange habe ich in Paris nach zwei Kameraden gesucht, die mit mir gleichen Sinnes und willens waren, jeder fünfzig Dukaten aus seiner Börse und ein Jahr von seiner Zeit zu opfern, um gemeinsam mit mir Italien zu Fuß ohne anderes Gepäck zu durchreisen als einen Burschen, der uns einen Nachtsack trug.«12

Rousseau fand nie ernstzunehmende Kandidaten für diese frühe Version einer Wandertour (und erklärte nie, wieso Begleiter dafür notwendig wären, wenn nicht, um die Rechnungen zu bezahlen). Doch er lief weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu Fuß. An anderer Stelle behauptete er:

»Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens und, wenn ich so sagen darf, meines Ichs so erfüllt gewesen als auf meinen einsamen Fußwanderungen. Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muß gewissermaßen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen. Das freie Land, die Aufeinanderfolge so vieler freundlicher Anblicke, die frische Luft, der große Hunger und die Gesundheit, die ich mir stets beim Gehen erwerbe, die Ungezwungenheit des Gasthauses, die Entfernung alles dessen, was mich meine Abhängigkeit fühlen läßt und mich an meine wahre Lage erinnert, befreit meine Seele, verleiht mir eine größere Kühnheit des Denkens und schleudert mich gewissermaßen in die Unermeßlichkeit aller Dinge hinaus, um sie ohne Zwang und Furcht nach meinem Gefallen zu wählen, zu verbinden und mir anzueignen.«13

Natürlich beschrieb er ein ideales Wandern – aus freien Stücken von einem gesunden Menschen unter annehmlichen und sicheren Umständen gewählt –, und diese Art des Wanderns wurde von seinen zahllosen Erben als Ausdruck von Wohlergehen, Harmonie mit der Natur, Freiheit und Tugend aufgegriffen.

Rousseau stellt Wandern zugleich als eine Übung in Einfachheit und als Mittel der Kontemplation dar. Während der Zeit, in der er die Bekenntnisse schrieb, wanderte er gewöhnlich nach dem Abendessen alleine im Bois de Boulogne, »überdachte dabei die Stoffe zu [s]einen Arbeiten und kehrte erst mit einbrechender Nacht zurück«.14 Die Bekenntnisse, aus denen diese Passagen stammen, wurden erst nach Rousseaus Tod veröffentlicht (1762 wurden seine Bücher in Paris und Genf verbrannt, und sein Wanderleben im Exil begann). Doch schon vor Fertigstellung der Bekenntnisse verbanden ihn seine Leser mit Wanderausflügen. Als ihn sein Bewunderer James Boswell 1764 bei Neuchâtel in der Schweiz besuchte, schrieb dieser: »Um mich auf das große Gespräch vorzubereiten, ging ich allein zum Wandern hinaus, ich spazierte in mich gekehrt am Ufer der Ruse entlang in einem schönen wilden Tal umgeben von gewaltigen Bergen, einige davon mit dunklem Felsgestein bedeckt, andere mit glitzerndem Schnee.«15 Boswell, der mit vierundzwanzig schon so selbstbewusst war wie Rousseau und mehr als dieser damit kokettierte, wusste bereits, dass Wandern, Einsamkeit und Wildnis rousseauisch waren und badete seinen Geist in ihren Wirkungen, so wie er vielleicht für eine konventionellere Begegnung seinen Körper herausgeputzt hätte.

Einsamkeit ist in allen Texten Rousseaus ein mehrdeutiger Zustand. In Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen stellt er Menschen in ihrem Naturzustand als isolierte Bewohner eines gastlichen Waldes dar. Doch in seinem persönlicheren Werk erscheint Einsamkeit oft nicht als idealer Zustand, sondern als Trost und Zuflucht für einen Mann, der verraten und enttäuscht wurde. In der Tat dreht sich ein guter Teil seiner Schriften um die Frage, ob und wie man sich zu seinen Mitmenschen verhalten sollte. Hypersensibel fast bis zur Paranoia und selbst unter den zweifelhaftesten Umständen davon überzeugt, recht zu haben, überreagierte Rousseau, wenn er von anderen kritisiert wurde, und konnte oder wollte doch nie seine unorthodoxen und oft harschen Ansichten und Handlungen zügeln. Es wird heute gern behauptet, dass seine Schriften seine Erfahrungen verallgemeinern würden und dass sein Bild vom Fall des Menschen aus der Einfachheit in die Verderbtheit nicht viel mehr darstelle als seinen eigenen Fall aus der Schweizer Einfachheit und Sicherheit oder schlicht aus der kindlichen Naivität in das ungewisse Leben im Ausland zwischen Aristokraten und Intellektuellen. Ob es sich nun so verhält oder nicht, seine Version hat so großen Einfluss ausgeübt, dass nur wenige heutzutage nicht damit in Berührung gekommen sind.

Am Ende seines Lebens schrieb er schließlich Träumereien eines einsam Schweifenden (im Original Les Rêveries du promeneur solitaire, 1782), ein Buch zugleich über und nicht über das Wandern. Seine Kapitel nennt er Spaziergänge, und im Zweiten Spaziergang formuliert er seine Prämisse:

»Seit ich also den Entwurf gefasst, in der wohl wunderlichsten Situation, in die ein Mensch geraten mag, je und je den Zustand meiner Seele aufzuzeichnen, sehe ich keinen geeigneteren und einfacheren Weg, um dieses Unterfangen umzusetzen, als ein getreuliches Logbuch meiner einsamen Schweifzüge mitsamt der Träumereien zu führen, die sich einstellen, sobald ich meinem Kopf freien Lauf lasse und meine Gedanken ohne Gegenstreben noch Hemmnis ihrem Gefälle folgen können.«16

Jeder dieser kurzen persönlichen Essays ähnelt der Abfolge von Gedanken oder Sorgen, die einem bei einem Spaziergang durch den Kopf gehen mögen, auch wenn es keinen Hinweis darauf gibt, dass diese Essays Resultate spezifischer Spaziergänge wären. Mehrere sind Meditationen über einen Satz, einige sind Erinnerungen, manche wenig mehr als Klagen, denen er damit Luft macht. In ihrer Gesamtheit zeigen die zehn Essays (der achte und neunte waren noch Entwürfe und der zehnte unvollendet, als er 1778 starb) einen Mann, der Zuflucht zu den Gedanken und botanischen Beschäftigungen seiner Spaziergänge nimmt und darin einen sichereren Rückzugsort sucht und erinnert.

Ein einsamer Wanderer ist in der Welt, zugleich aber von ihr abgeschieden, mit der Losgelöstheit des Reisenden statt mit den Bindungen des Arbeiters, der Einwohnerin, des Gemeinschaftsmitglieds. Wandern scheint zu Rousseaus bevorzugter Daseinsform geworden zu sein, weil er auf einer Wanderung in Gedanken und Träumereien leben, selbstgenügsam sein und dadurch die Welt überleben konnte, die ihn, wie er es empfand, verraten hatte. Es verschaffte ihm buchstäblich einen Ort, von dem aus er sich artikulieren konnte. Als literarische Struktur ermutigt der nacherzählte Spaziergang zu Abschweifungen und Assoziationen und steht damit in Kontrast zu den strengeren Formen einer Abhandlung oder der chronologischen Ordnung einer biografischen oder historischen Erzählung. Anderthalb Jahrhunderte später entwickelten James Joyce und Virginia Woolf in dem Versuch, die Vorgänge des Geistes zu beschreiben, den literarischen Stil des Bewusstseinsstroms. In ihren Romanen Ulysses und Mrs. Dallowayentfaltet sich das Wirrwarr von Gedanken und Erinnerungen am besten während Spaziergängen. Diese Art unstrukturierten, assoziativen Denkens ist am häufigsten mit dem Gehen verbunden, und es lässt uns Gehen nicht so sehr als analytische denn als improvisierende Tätigkeit sehen. Rousseaus Träumereien gehören zu den ersten Darstellungen dieser Beziehung zwischen Denken und Gehen.

Rousseau wandert alleine, und die Pflanzen, die er sammelt, und die Fremden, denen er begegnet, sind die einzigen Wesen, denen gegenüber er eine gewisse Sanftheit zum Ausdruck bringt. Auf dem Neunten Spaziergang erinnert er sich an frühere Spaziergänge, die auseinander hervorzugehen scheinen wie die Glieder eines Teleskops, das auf die ferne Vergangenheit gerichtet ist. Er beginnt mit einem zwei Tage zurückliegenden Spaziergang zur École Militaire, geht dann zu einem anderen über, der zwei Jahre davor außerhalb von Paris stattgefunden hatte, und erinnert sich schließlich an einen sogar dieser letzten Erinnerung um mehrere Jahre vorausgegangenen Vorfall, bei dem er einem Mädchen, das Äpfel feilbot, diese alle abgekauft und unter den nahebei herumlungernden hungrigen Straßenkindern verteilt hatte. Alle diese Erinnerungen waren durch den Nachruf auf eine Bekannte angestoßen worden, in welchem ihre Liebe zu ihren Kindern erwähnt wurde, was bei Rousseau Schuldgefühle gegenüber seinen eigenen, von ihm im Stich gelassenen Kindern auslöste (auch wenn manche moderne Forscher bezweifeln, dass er überhaupt Kinder hatte, heißt es in seinen Bekenntnissen, dass er mit seiner Lebensgefährtin Thérèse fünf Kinder gezeugt und alle in Waisenheime gegeben habe). Diese Erinnerungen argumentieren gegen einen Vorwurf, den außer ihm selbst niemand erhoben hat, und sie tun dies durch die Verkündung seiner Zuneigung zu Kindern, wie diese zufälligen Begegnungen belegen. Der Essay ist eine nachdenkliche Verteidigung für ein imaginiertes Gerichtsverfahren. Der Schluss lenkt das Thema auf die Beschwerlichkeiten, die sein Ruhm ihm eingebracht hat, und die Unmöglichkeit, unerkannt und in Frieden unter Leuten spazieren zu gehen. Das bedeutet, dass ihm selbst diese beiläufigste Form des sozialen Austauschs verstellt war und ihm nur noch das Terrain der Träumerei die Freiheitließ, umherzuschweifen. Den größten Teil des Buchs schrieb er, während er in Paris lebte, durch seinen Ruhm und den eigenen Argwohn isoliert.

Wenn die Literatur des philosophischen Wanderns mit Rousseau beginnt, dann weil er zu den Ersten gehörte, die es wert erachteten, die Umstände ihrer Grüblereien en détail aufzuzeichnen. Wenn er ein Radikalerwar, dann war seine radikalste Handlung eine neue Wertschätzung des Persönlichen und Privaten, und dafür boten Wanderungen, Einsamkeit und Wildnis günstige Bedingungen. Wenn er Revolutionen inspirierte, Revolutionen in der Vorstellungswelt und in der Kultur wie auch in der politischen Organisation, so waren sie für ihn lediglich notwendig, um die Hindernisse für eine solche Erfahrung aus dem Weg zu räumen. Die ganze Wucht seines Intellekts und seine schlagendsten Argumente traten in dem Bemühen zum Vorschein, solche Geisteszustände und Lebensumstände, wie er sie in Träumereien eines einsam Schweifenden beschreibt, wiederzugewinnen und sich zu bewahren.

In zwei Spaziergängen erinnert er sich an Zwischenspiele voll ländlichen Friedens, den er so hoch schätzte. Im berühmten Fünften Spaziergang beschreibt er das Glück, das er auf der St. Petersinsel im Bielersee erfuhr. Dorthin war er geflohen, nachdem er mit Steinen beworfen und aus Moitiers bei Neuchâtel, wo Boswell ihn besucht hatte, vertrieben worden war. »Was aber war denn dieses Glück, und worin bestand sein Genuss?«17, fragt er rhetorisch und beschreibt im Weiteren ein Leben mit wenig Besitz und wenig zu tun außer Botanisieren und Bootfahren. Es ist das Rousseau’sche Friedensreich, hinreichend privilegiert, dass es ihm keine körperliche Arbeit abverlangt, doch ohne die Kultiviertheit und Kontaktpflege eines Adligenrefugiums. Der Zehnte Spaziergang ist ein Lobgesang auf ein vergleichbares ländliches Glück, das er als Jugendlicher mit seiner Gönnerin und Liebhaberin Louise de Warens erlebte. Er schrieb diesen Essay, als er endlich einen Ersatz für die St. Petersinsel gefunden hatte, das Anwesen von Ermenonville. Er starb im Alter von fünfundsiebzig Jahren und hinterließ uns den Zehnten Spaziergang unvollendet. Der Marquis de Girardin, Herr von Ermenonville, begrub Rousseau dort auf einer Pappelinsel und etablierte eine Wallfahrt für sentimentale Anhänger, die kamen, um ihm ihren Respekt zu zollen. Teil dieser Wallfahrt bildete ein Routenplan, der die Besucher nicht nur darin instruierte, wie sie durch den Garten Richtung Grabmal laufen, sondern auch, wie sie dabei empfinden sollten. Rousseaus private Revolte wurde zur öffentlichen Kultur.

III. Gehen und denken und gehen

Der andere Philosoph, der viel über Gehen und Denken zu sagen hat, ist Søren Kierkegaard. Er wählte die Stadt – oder eine Stadt, nämlich Kopenhagen – als Ort, um dort zu wandern und seine menschlichen Untersuchungsobjekte zu studieren. Er selbst verglich seine Stadttouren allerdings mit Botanisieren auf dem Lande: mit Menschen als aufzulesenden Exemplaren. Hundert Jahre später als Rousseau ebenfalls in einer protestantischen Stadt geboren, hatte er in mancher Hinsicht ein komplett anderes Leben als dieser: Die strengen ästhetischen Standards, die er sich selbst setzte, könnten nicht in stärkerem Kontrast zu der Hemmungslosigkeit stehen, die Rousseau sich selbst gestattete, und Kierkegaard blieb zeitlebens seinem Geburtsort, seiner Familie und seiner Religion treu, auch wenn er mit allen dreien haderte. In anderen Hinsichten – die gesellschaftliche Isolation, die reiche Produktion literarischer wie philosophischer Werke, das enervierende Selbstbewusstsein – haben beide Philosophen große Ähnlichkeit. Als Sohn eines wohlhabenden und strenggläubigen Kaufmanns lebte Kierkegaard von seinem Erbe und für die meiste Zeit seines Lebens unter der Fuchtel des Vaters. In einer Erinnerung, die er einem seiner Pseudonyme unterschiebt, die aber mit großer Sicherheit seine eigene ist, erzählt er davon, wie sein Vater, statt ihn aus dem Haus zu lassen, mit ihm in einem Zimmer auf und ab lief und die Welt so lebhaft beschrieb, dass dem Jungen die ganze Vielfalt vor dem geistigen Auge erschien. Als er älter wurde, ließ ihn der Vater mit einstimmen:

»Was vorher ein Epos gewesen war, wurde jetzt ein Drama; sie führten von nun an ihre Gespräche wechselweise. Wenn sie bekannte Wege gingen, gaben sie gegenseitig scharf aufeinander acht, ob auch nichts übersehen werde; wenn der Weg Johannes fremd war, erfand er etwas, während die mächtige Phantasie des Vaters alles bildhaft zu machen und jeden kindlichen Wunsch als Zutat zu dem Drama zu verwerten vermochte, das sie miteinander aufführten. Für Johannes schien es, als käme während dieser Unterhaltung die Welt erst ins Dasein, als wäre der Vater der Herrgott selbst und er sein Liebling.«18

Das Dreiecksverhältnis zwischen Kierkegaard, seinem Vater und Gott sollte sein Leben aufzehren, und manchmal scheint es, als habe er seinen Gott nach dem Bilde des Vaters geschaffen. Mit diesen Spaziergängen im Zimmer scheint der Vater bewusst jene sonderbare Persönlichkeit geformt zu haben, zu der Kierkegaard werden sollte. Der beschrieb sich schon in der Kindheit als alten Mann, als einen Geist, als einen Wanderer, und dieses Hin- und Herlaufen erscheint als Unterweisung für das Leben in einem körperlosen magischen Reich der Fantasie, das nur einen Bewohner hatte: ihn selbst. Selbst die unzähligen Pseudonyme, unter denen er viele seiner besten Werke veröffentlichte, scheinen dazu gedient zu haben, sich in seinem Sichoffenbaren selbst zu verlieren und seine Einsamkeit in eine Vielzahl zu verwandeln. In seinem ganzen Erwachsenenleben empfing Kierkegaard fast nie Gäste zu Hause und hatte überhaupt fast zu keinem Zeitpunkt jemanden, den er als Freund bezeichnen konnte, auch wenn er über einen großen Bekanntenkreis verfügte. Eine seiner Nichten beschrieb die Straßen Kopenhagens als seinen ›Empfangsraum‹, und Kierkegaard scheint sein tägliches Vergnügen darin gefunden zu haben, durch die Straßen der Stadt zu spazieren. Für einen Mann, der nicht mit Menschen sein konnte, bestand darin die Art, sich unter ihnen aufzuhalten, die laue menschliche Wärme flüchtiger Begegnungen, aufgeschnappter Gespräche und der Grüße von Bekannten zu genießen. Ein einsamer Wanderer ist in der Welt, die ihn umgibt, präsent und zugleich von ihr abgerückt, mehr als ein Publikum, aber weniger als ein Teilnehmer. Gehen lindert und legitimiert seine Entfremdung: Man ist leicht abgekoppelt, weil man läuft, nicht weil man bindungsunfähig wäre. Gehen verschaffte Kierkegaard wie schon Rousseau einen Reichtum flüchtiger Kontakte mit seinen Mitmenschen, und es förderte das Nachdenken.

1837, in den Anfängen seines literarischen Schaffens, schrieb Kierkegaard: »Merkwürdig, meine Phantasie arbeitet am besten, wenn ich allein in einer großen Versammlung sitze, wenn Geräusche und Lärm ihr ein Willens-Substrat geben, um an ihrem Gegenstand festzuhalten, ohne jene Umgebung verblutet sie in einer ermattenden Umarmung einer unbestimmten Idee.«19 Dieselben Geräusche fand er auf der Straße. Mehr als ein Jahrzehnt später schrieb er in einem anderen Tagebuch: »Um eine geistige Spannung wie die meine zu ertragen, brauche ich Zerstreuung, die Zerstreuung von Zufallsbegegnungen auf den Straße und Gassen, denn die Verbindung mit wenigen ausgewählten Personen stellt tatsächlich keine Zerstreuung dar.«20 In diesen und anderen Äußerungen vertritt er die Ansicht, dass der Geist am besten funktioniert, wenn er von Ablenkungen umgeben ist, dass er seine Konzentration nicht in der Abgeschiedenheit, sondern im Akt des Rückzugs von der ihn umgebenden Geschäftigkeit erlangt. Er schwelgte in der turbulenten Vielfalt des städtischen Lebens. An anderer Stelle schreibt er: »In diesem Augenblick steht ein Mann unten auf der Straße und spielt auf einem Leierkasten und singt dazu – es ist merkwürdig, dass es das Zufällige und Unbedeutende im Leben ist, was Bedeutung erlangt.«21

In seinen Tagebüchern hält er nachdrücklich fest, dass alle seine Werke beim Gehen entstanden sind: »Das meiste von Entweder – Oder wurde bloß 2-mal geschrieben. (natürlich das ausgenommen, was durchdacht wurde, während ich gehe, aber so ist es ja immer); nun schreibe ich zuweilen eher 3 [-mal]«22