Wandlungen der Oper - Paul Bekker - E-Book

Wandlungen der Oper E-Book

Paul Bekker

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Beschreibung

Ein klassisches Werk der Opern-Rezeption von Gluck bis Strawinski. Bekker schreibt vom Standpunkt der menschlichen Stimme und ihrer vielfältigen Verwendung in der Oper. GLUCK, MOZART, "FIDELIO", DEUTSCHE OPER, BUFFA UND COMIQUE, OPÉRA, WAGNER, VERDI, LYRISCHE OPER und DIE HISTORISIRENDE OPER sind die Höhepunkte seiner bis heute unübertroffenen Darstellung. Enthalten ist außerdem Bekkers grandioser Aufsatz "Deutsche Musik der Gegenwart". Wandlungen der Oper ist ein klassisches Buch für Musiker, Musikliebhaber und Theaterfreunde.

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Wandlungen der Oper

Vorwort

STIMME UND GESTALT

GLUCK

MOZART

„FIDELIO“

DEUTSCHE OPER

BUFFA UND COMIQUE

OPÉRA

WAGNER

VERDI

LYRISCHE OPER

Gounod - Thomas - Bizet - Offenbach - Massenet - Mascagni - Leoncavallo - Puccini - Mussorgsky - Debussy

DIE HISTORISIERENDE OPER

Strauss - Pfitzner - d'Albert - Schreker - Busoni - Strawinski

Die Nachkriegs-Oper

PAUL BEKKER: DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART

Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

E-Books Edition Loreart:

Paul Bekker

Wandlungen der Oper

Wandlungen der Oper

Vorwort

„ … flüchte Du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten …“ Glückliche Zeit, in der wenigstens der Dichter noch so sprechen konnte. Heut ist auch der Orient längst entzaubert. Bleiben wir also im Okzident und bei seinen Problemen. Aber muss es dann ein Buch sein über die Oper, justament? Gibt es nichts Dringlicheres? Weltanschauung, Währungspolitik, Rassefragen - wieviel große, schöne Gebiete, namentlich im Vergleich mit der allmählich doch zur Genüge behandelten Oper!

Ist sie das wirklich?

Die Aktualität jener Themen in Ehren - aber was könnte für unsere Zeit wichtiger sein als die Erinnerung an den Menschen selbst, an Aufgaben, die, oberhalb alles Tagesgeschehens, aus der Art seines Natur- und Geistwesens erwachsen? Hängt nicht von ihrer Erkennung die Stellungnahme zu allen anderen Fragen ab? Wird nicht ein größer Teil der uns umgebenden Wirrnisse erst möglich dadurch, dass wir an die Dinge des Tages herantreten ohne Klarheit über ihr Wesen, dass wir Schöpfertum verwechseln mit Betriebsamkeit, Kultur ersetzen durch Propaganda? Ist der „reine Osten“ des Divan-Dichters nicht eigentlich die Besinnung auf Natur und Mensch, als die in Wahrheit unerlässliche Voraussetzung jedes Denkens und Handelns?

„Unzeitgemäße“ Bücher waren niemals zeitgemäßer als jetzt. Auf allen Gebieten des Lebens und der Kunst brauchen wir sie, denn die Seelen sind ausgedörrt von armseliger Aktualität und ihrer prahlerischen Wichtigtuerei. Sie müssen wieder zu sich selbst geführt werden, nicht, um sich in romantische Träume einzuspinnen, sondern um neue Kraft zu gewinnen.

Das vorliegende Buch versucht, den Weg zur Wesenhaftigkeit an der Metamorphose der Oper aufzuzeigen. Indem es der scheinbar naturfremdesten Kunstgattung die unmittelbare Beziehung gibt zur menschlichen Natur, ihren Organismus aus der menschlichen Organik, ihre Wandlungen aus den Wandlungen des menschlichen Geistes ableitet, bestätigt es oberhalb jeder Fachbetrachtung den Menschen als Ursprung und Ziel aller Kunst auch auf diesem Gebiet. Es hält sich dabei jenseits der Historie und nimmt bezug nur auf solche Werke, die heut noch leben. Die Vorgeschichte der Oper kommt ebensowenig in Betracht, wie die Reihe geschichtlicher Zwischenglieder. Das Lebenselement der Oper soll fassbar werden aus Erscheinungen, deren stetes Vorhandensein ihre innere Kraft bezeugt.

So hängt die Beschäftigung mit der Frage nach Form und Wesen der Oper unmittelbar zusammen mit der Ermittlung unseres geistigen Besitzstandes, dem Willen zu seiner Erhaltung und Steigerung gegenüber herabziehender Einwirkung durch Tagesmächte. Also wendet sich dieses Buch über den Kreis der Fachleute hinaus an alle, die sich Publikum nennen, mit Einschluss derer, die meinen, dass sie „nichts von Musik verstehen“, weil sie glauben, Musik sei eine Sache, der man nur durch Studium beikommen könne. Aber Musik ist keine Wissenschaft und keine Fachangelegenheit. Sie ist immer und immer lebendiges Klanggeschehen und als solches zu erfassen. Auf welche Art wäre das besser möglich, als durch das schönste und edelste, allen Völkern aller Zeiten eigene Organ dieses Klanges: die menschliche Stimme?

Eines freilich müssen wir ausnahmlos, Laien und Fachleute, neu lernen: diese Stimme überhaupt wieder richtig zu hören als das, was sie ist, nämlich das Grundmaß jeglichen Begriffes von Musik.

Das ist der hier gesetzte Ausgangspunkt. Ziel ist, den Wesensgehalt der Oper begreiflich zu machen als das schöpferische Mysterium des Gestaltwerdens dieser Stimme.

Aus solcher unlösbaren Bindung der Oper an die menschliche Natur ist Vergangenes zu verstehen, Gegenwärtiges zu beurteilen, Künftiges zu erahnen. Dringt diese Erkenntnis durch, so mag sie vom Einzelgebiet der Oper aus dazu helfen, die Achtung vor dem Menschen selbst zu festigen, indem sie zeigt, dass Kunst niemals Gesamtheitserzeugnis gleichviel welcher weltanschaulicher Kollektive, sondern stets nur da möglich war, ist und sein wird, wo der Mensch als solcher möglich ist.

STIMME UND GESTALT

Im Anfang war die Stimme.

Stimme ist klingender Atem, tönende Kundgebung des Lebens. Sie ist Spiegel des stärksten Unterschiedes der Menschen: des Geschlechtsunterschiedes, sie ist Spiegel aller Verschiedenheiten der Lebensalter, sie ist Spiegel der individuellen Besonderheit innerhalb der Geschlechtsgattung: der Persönlichkeit. So ist die singende Stimme Projizierung der Erscheinung des Menschen in die Sphäre des Klanges, Verwandlung seiner körperhaften Sichtbarkeit in eine tönende Unsichtbarkeit.

Als der Mensch Wesen nach seinem Bilde zu formen begann, erkannte er drei ihm unmittelbar eigene Mittel des Gestaltens: Gedanke, Klang, Bewegung. Dem Gedanken diente die Sprache, dem Klang die singende Stimme, der Bewegung der Körper. Das sind die drei elementaren Kundgebungen des Spieltriebes: der Mensch als sprechendes Wesen, der Mensch als singendes Wesen, der Mensch als tanzendes Wesen. Sie bedürfen keines fremden Gestaltungsmateriales. Der lebendige Mensch selbst ist für sie Objekt und Subjekt, Gegenstand und Mittel des Spieltriebes, der hier als naturhafter Lebenstrieb unmittelbar erscheint.

Die Bahnen der drei, durch menschliche Grundmateriale bestimmten Spielgattungen laufen zu verschiedenen Zeiten verschieden. Oft weit entfernt voneinander, nähern sie sich plötzlich, überkreuzen, decken sich, ziehen einander parallel, um dann schnell wieder voneinander zu weichen. Gemeinschaftlich zu allen Zeiten ist ihnen nur der Wille zur Veranschaulichung: im Theaterspiel. Auch hierbei sind sie zeitweise völlig beherrscht von Sonderproblemen der eigenen Gattung, dann wieder tritt die Erkenntnis der Beziehungen zueinander stärker hervor. Gelegentlich steigert sich das Bewusstsein des gemeinschaftlichen Ursprunges und Zieles bis zum Willen völliger Gleichheit auch der Wege. Unberührt von solchem Wechsel bleibt die Materie der Gattung selbst: Sprache, Stimme, Körper. Nur die Art, sie zu erkennen, zu gestalten - gleichviel ob für sich allein oder in Verbindung miteinander - ändert sich. Den historischen Ablauf dieser Metamorphosen nennt man Geschichte des Dramas, der Oper, des Tanzes, das ist: Geschichte des Menschen als sprechender, als singender, als tanzender Erscheinung.

Die Sprache ist das selbständigste von den drei Elementen der Menschengestaltung aus dem Menschen selbst. Sie bedarf auch als theatralische Erscheinung weder des Gesanges noch des Tanzes, ihr Reich ist der Gedanke. Weniger selbständig ist der Tanz. Er erstrebt die Verbindung mit dem Gesang, zum mindesten mit der musikalisch rhythmischen Unterlegung. Völlig unselbständig ist der Gesang. Er bedarf stets der Verbindung mit dem Sprachlaut. Gleichzeitig aber sucht er die Beziehung zur tänzerischen Bewegung und erlangt erst in der Vereinigung mit beiden seine höchste Ausdruckskraft.

Sprache und Tanz, beide jenseits ihres Eigenlebens vom Gesang her erfasst, sind also die natürlichen Verbündeten der theaterspielenden Stimme. Die Geschichte der Stimmwandlungen ist die Geschichte ihrer wechselnden Beziehungen zur Sprache und zum Tanz. Entbehren kann die Stimme keines von ihnen. Aber sie kann beide bis auf eine äußerste Grenze zurückdrängen. Sie kann von beiden bis nahe zur Aufhebung ihrer eigenen Natur überwältigt werden. Sie kann schließlich die beiden anderen Elemente sich organisch einbeziehen und eine Auswägung der verschiedenen Kräfte versuchen. Alles zusammengefasst ergibt die Sondergeschichte jener Kunstgattung, die man seit dem Jahre 1600 Oper nennt. Man nimmt dieses Jahr als Ursprungsjahr der Oper, weil hier zum erstenmal die singende Stimme in körperhafter Veranschaulichung als Grundkraft eines Theaterspieles erscheint.

Hierauf beruht die historische Bedeutung jener schöpferischen Tat der Florentiner Musik-Hellenisten.

Wichtig war nicht die Rekonstruktion des griechischen Dramas, überhaupt nicht die Idee des Dramatischen. Hierfür hätte man die Musik nicht gebraucht, auch nicht einen Kreis von Musikliebhabern als Urheber. Wichtig war der Gesang. Er kam aus einer primär musikalischen Reaktion, nämlich aus dem Willen zur Vereinfachung, zur Verdrängung des Konstruktiven durch das Naturhafte. „Man wurde vor allem darüber einig, dass man, da die heutige Musik im Ausdruck der Worte ganz unzureichend und in der Entwicklung der Gedanken abstoßend war, bei dem Versuch, sie der Antike wieder näherzubringen, notwendigerweise Mittel finden müsse, die Hauptmelodie eindringlich hervorzuheben und so, dass die Dichtung klar vernehmlich sei.“ So charakterisiert der Florentiner Dom den zeitgenössischen neuen Bühnengesang von 1640. Die Stimme sollte führen. Sie sollte es im Gegensatz zu der Kompliziertheit der kontrapunktischen Formen: als melodische Individualerscheinung. Hierzu bedurfte sie der Sprache. Sollte aus Gesang und Sprache anschauliche Gestaltung entstehen, so blieb nur die Äußerung in dramatisch aufbauender Form.

So wurde das Wort Mittel zur Formgestaltung der Stimme, Wort in natürlicher Einfachheit, sinnhaft in Sätze gegliedert, klar erkennbar von der Einzelstimme vorgetragen, dialogisch geordnet, bis zur körperhaften Anschaulichkeit der Erscheinungen verdeutlicht.

Darin lag die Annäherung an die Idee des alten klassischen Dramas. Es war, schon im Anfang der Oper, nur ein Mittel, nicht aber zum Zwecke der Musik, sondern zum Zwecke des Gesanges.

Wie wäre ein Unterschied zwischen Gesang und Musik aufzufassen? Ist nicht Gesang stets Musik?

Gewiss, doch Musik ist nicht stets Gesang. Die Spannung zwischen beiden kommt von den verschiedenen klimatischen Bedingungen der Länder und den hieraus sich ergebenden physiologischen Musizierbedingungen. Bei allen Mittelmeer-Kulturen dominiert der Gesang. Die Ausbildung auch der instrumentalistischen Fähigkeiten wird dadurch nicht behindert, aber sie stehen stets in Zusammenhang mit dem Gesang, sind in bezug auf ihn gedacht. Der Gesang bestimmt Wesen und Begriff der Musik. Der Wille zur Erneuerung des einstimmigen Gesanges führt in Italien zum Durchbruch des harmonischen Empfindens und damit zur Schaffung der Oper.

Mit der Abwanderung nach Norden verschiebt sich das Verhältnis.

Sprache, Klima und natürliche Begabung sind der Stimme weniger günstig, sie verliert die führende Bedeutung. Es bildet sich neben dem gesanglichen noch ein anderer Begriff von Musik heran, erwachsend aus der Welt des Instrumentalklanges. Dauernd genährt durch gesteigerte Komplizierung des Instrumentalen, erlangt dieser Musikbegriff solche Übermacht, dass auch die Stimme nur noch als ein Teil des Gesamtapparates erscheint, ein Organ unter vielen. Dem mechanisch konstruierten Ganzen eingeordnet, verliert sie ihre originale formbildende Kraft und verfällt der instrumentalen Mechanisierung. So erscheint hier auch die Oper nur als Musik, wie eine Sinfonie, eine Klaviersonate. Sie unterscheidet sich von diesen Kompositionsgattungen lediglich durch den größeren Aufwand an ausführenden Kräften und die Tatsache der szenischen Wiedergabe.

Parallel der Umwandlung vom Gesang zur Musik geht eine Bedeutungsänderung der optischen Mittel in der Oper. Die singende Stimme als Handlungsfaktor bedingt die Irrealität des von ihr dargestellten Menschen. Indem sie ihn singend wiedergibt, hebt sie ihn aus allen Voraussetzungen der Wirklichkeit heraus, kennzeichnet ihn als ein stets scheinhaft bleibendes Wesen. Aufgeben kann es diese Scheinhaftigkeit ebensowenig, wie ein Lichtbild Körperhaftigkeit zu gewinnen vermag. Der singend sich bewegende, singend handelnde, singend sprechende Mensch ist der Wirklichkeit unwiederbringlich entrückt. Er bleibt gebunden an die Traumwelt der Phantasie, die ihn erzeugt hat. Also muss auch alles, was er tut: die Art seines Handelns, seiner Bewegung, Kleidung, räumlichen Umgebung dieser Scheinhaftigkeit entsprechen, denn es ist nur vorhanden, um sie zu ermöglichen und ihr Atmosphäre zu geben. Herder, ein guter Kritiker der Oper, sagt: „Einmal in eine Welt gesetzt, in der alles singt, alles tanzt, entspreche auch die Welt ringsum dieser Gemütsart: sie bezaubere.“

Demnach ist das Drama im Sinne des aus der Sprache gestalteten Sprechdramas unmöglich in der Welt der singenden Stimme. Vorstellbar wird es nur als Scheinhaftigkeit des Dramas im gleichen Sinne, wie der singende Mensch als scheinhaft gilt. Die Möglichkeit einer dramatischen Wirkung im Spiel der singenden Stimmen ist damit nicht aufgehoben, sie liegt aber auf anderer Ebene und ist niemals durch Wettbewerb mit dem Sprechdrama zu erzielen. Das gleiche gilt von den äußeren Mitteln der Veranschaulichung: Kostüm, räumlicher Szenengestaltung bis zur Bewegungssprache des Singenden. Alles untersteht dem Grundgesetz der bewussten Scheinhaftigkeit, der Atmosphäre des Klanghaften, in der allein die Oper leben und atmen kann.

Diese Scheinhaftigkeit ist gewahrt worden, solange die Verbundenheit mit der Grundnatur der Oper bestand. Sie hat sich verloren im gleichen Masse, wie sich diese Verbundenheit lockerte: wie durch Abwanderung der Kunstgattung in nordische Länder das Primat des Gesanges zugunsten der Instrumentalmusik verloren ging. Aus der Klangwelt des Orchesters drängten die Ideen des Dramas und aller damit zusammenhängenden veranschaulichenden Elemente hervor: der Handlung, der Bühnengestaltung, der Darstellung.

Aber wäre das wirklich falsch? Ist, gleichviel ob aus spekulativen oder physiologischen Gründen, eine Annäherung oder gar Gleichstellung der Oper gegenüber dem von Vernunft und Sprache geformten Drama nicht möglich, nicht nützlich, nicht vielleicht sogar im Sinne eines Fortschrittes denkbar?

Gleiche Zielsetzung für Oper und Drama auf gleichen Wegen mit Hilfe gleicher Mittel wäre ein Doppelspiel gestaltender Kräfte, wie es in der Ökonomie der Kunst sonst nirgend vorhanden und also auch hier, als sinnlos, schwer zu glauben ist. Wo sich Ähnlichkeiten zeigen: etwa in der Skulptur, die in verschiedenen Steinarten, zudem noch in Holz schafft, erweist es sich, dass eben diese Verschiedenheiten bis tief zum Wesenskern der Kunstarten reichen, demgemäß auch zu verschiedenartigen Ergebnissen führen. Die verwandtschaftlichen Beziehungen sind nur äußerlicher Art und für die künstlerische Betrachtung kaum vorhanden. Dies muss sinngemäß auch für Oper und Sprechdrama gelten. Wenn aber beide das gleiche wollen, es mit den gleichen Mitteln erstreben und bis zum Ziel parallel laufen sollen, so muss notwendig eines von ihnen besser, eines schlechter sein. Das Schlechtere als das Schwächere wäre dann überflüssig. Dieser Meinung war mit vollem Recht der eifrigste Verfechter des Dogmas von der dramatischen Sendung der Oper, Richard Wagner. Wäre die Oper tatsächlich jene Erfüllung des Dramas, für die er sie hielt, wäre sie die Vereinigung von Shakespeare und Beethoven, so wäre damit ihre Überlegenheit über das gesprochene Drama erwiesen. Dieses, von Wagner „Literatur“ genannt, wäre von nun an ebenso überflüssig, wie, nach Wagners Meinung, die reine Instrumentalmusik.

Wagners Folgerung ist und bleibt richtig, sobald man seine Voraussetzung anerkennt. Diese besagt, dass die Gesangsoper eine Verirrung sei und erst durch die Handlungskräfte der Sprache Drama werden könne. Aber gilt diese Voraussetzung wirklich?

Die Zeit nach Wagner hat sich längst dagegen entschieden, die Produktion bestätigt diese Ablehnung. So bleibt die Frage: was ist nun mit der Oper? Ist sie ein auf halbem Wege steckengebliebenes Drama? Oder nicht einmal dieses? Ist sie eine Paradoxie, die man eigentlich nicht ernst nehmen kann, immerhin als bemerkenswertes Phantom zuweilen beachtet, weil sich so viele geniale Menschen damit beschäftigt haben? Oder ist die Oper eine repräsentative Gesellschaftsangelegenheit vergangener Zeit und nur noch aus gedankenloser Gewohnheit beibehalten?

Gegen diese Annahme spricht die Tatsache, dass die Oper zu keiner Zeit ausschließlich an Höfen gepflegt wurde. Sie war stets auch als Volksoper vorhanden. Es spricht dagegen vor allem die Tatsache, dass sich die Oper schon von der Wende des 18. Jahrhunderts an als bürgerliches Kunstwerk organisiert hat. Gegen die Paradoxietheorie aber spricht das Vorhandensein einer bald 400jährigen Produktion, von der mehr als 150 Jahre lebendig sind. Es wäre ein in der Geschichte des menschlichen Geistes einzig dastehendes Faktum, wenn die größten Genien mehrerer Jahrhunderte sich immer wieder, zum erheblichen Teil erfolgreich, an einer Kunstgattung versucht haben sollten, deren Anziehungskraft nur auf der Unvereinbarkeit ihrer Widersprüche, also auf der Unlösbarkeit ihres Formproblems beruhen sollte.

Wenn die Oper weder Erfüllung, noch ebenbürtiges oder unebenbürtiges Halbgeschwister des Dramas ist, ebensowenig ein romantisches Paradox - was eigentlich ist sie dann? Die Antwort müsste feststellen, ob die Oper ein inneres Lebenselement in sich hat, das sie von allen anderen Kunstgattungen unterscheidet. Dieses Lebenselement müsste ein geistiges und materiales zugleich sein, dabei von formschaffender Kraft, so dass es eine eigene Kunstgattung nicht nur begründen, sondern auch weiterpflanzen und zu einem Organismus von künstlerischer Geschlossenheit emporführen kann. Dieses Lebenselement müsste allen bisher geschaffenen Opern gemeinsam sein, und zwar als entscheidendes Kennzeichen, gleichviel welche künstlerischen Ziele diese Opern sonst verfolgen, ob sie also Dramen sein wollen oder Singspiele, ob sie dem Pathos huldigen oder der Komik, ob sie aus dem Jahre 1600 stammen oder aus dem Jahre 1900, und gleichviel welcher Nation sie angehören.

Ein solches Lebenselement ist da. Es bekundet sich darin, dass alle diese Opern gesungen werden, sich also auf Vorhandensein und Möglichkeiten der menschlichen Stimme aufbauen. Diese Eigentümlichkeit ist aber zugleich die einzige, die allen Opern aller Zeiten gemeinschaftlich ist. Im übrigen zeigen sie über die Unterschiede der Zeiten hinaus die größten Verschiedenheiten der ästhetischen Ziele wie der praktischen Gestaltung in musikalischer, dramatischer, szenischer Art. Die Stimme allein ist das Band, das alle bindet. Mehr noch: nimmt man diese singende Stimme aus der Oper fort, so hört die Oper auf, Oper zu sein. Ihr Wesenskennzeichen ist ihr geraubt. Auch dieses gilt von allen Werken. Und nochmals mehr: die Wandlungen in der Erfassung der Stimme zeigen klar erkennbare zeitgeschichtliche Gliederung. Sie zeigen eine ständig wechselnde Art, die Stimme produktiv zu erfassen. Sie zeigen - das erweist die kritische Betrachtung - über alle Verschiedenheiten hinweg eine absolut einheitliche Grundtendenz im Wechsel der stimmlichen Charaktere.

Es folgt: die singende Menschenstimme ist die Wurzel, aus der die Oper erwachsen ist. Sie ist die Kraft, die die Oper weiterträgt. Sie ist die Macht, die sie immer wieder zur Vollendung führt, je nach der Art, wie das Wesen der Stimme erkannt wird. Aus der Stimme ersteht die Gestalt, sie wird körperlich so erschaubar, wie der Lebenswuchs der Stimme es befiehlt.

So ist die Oper Gestaltwerdung der singenden Menschenstimme, deren Gesetze sie zur Erfüllung bringt, deren Möglichkeiten sie anschaulich macht, deren Wandlungsfähigkeit im Erscheinungsleben der schöpferischen Phantasie sie dartut. Darauf beruht die Einzigartigkeit der Oper. Alle sonstigen Parallelen zu anderen Kunstgattungen sind Nebenerscheinungen, die das Wesen und Geheimnis der Gattung nicht berühren.

Unerheblich ist, ob der Opernkomponist sich der Bedeutung der singenden Menschenstimme als des gestaltgebenden Elementes stets klar bewusst gewesen ist. Verschiedentlich war es nicht der Fall, namentlich im Laufe des 19. Jahrhunderts ist die Grunderkenntnis allmählich in Vergessenheit geraten, besonders in Deutschland. Erst heute beginnt man langsam, sie neu zu erfassen und zu begreifen. Die Tatsache selbst war aber auch da wirksam und fruchtbar, wo sie dem Bewusstsein fremd blieb, anders wäre ein Opernschaffen nie möglich gewesen. Es zeigt sich sogar, dass die Vorspiegelung anderer Grundkräfte und Ziele wichtige Neuentdeckungen und produktive Wandlungen der Stimme selbst bewirkt hat. Das leitende Gesetz der Gattung ist mächtiger als die Scheinerkenntnis der jeweiligen Ästhetik, die unter Vorspiegelung einer neuen Theorie nur als Mittel dient, um die neue Metamorphose der Stimme herbeizuführen.

Um diese ständig bleibende Achse herum legt sich das im engeren Sinne Zeitliche: das Dramatische, Musikalische, Dekorative, Stoffliche, Gesellschaftliche - alles also, was die soziologische Erscheinung der Oper und den Wechsel ihrer Gestalt kennzeichnet. Unberührt hiervon bleibt die singende Menschenstimme, bleibt die Erkennung der Oper als Gestaltwerdung dieser Stimme im steten Wechsel des Erscheinungsspieles. Damit wird die Geschichte der Oper zur Geschichte von den Wandlungen der Stimme und ihren vielfältigen Beziehungen zu anderen Gestaltungselementen.

Unter ihnen allen ist sie mit Sprache und Tanz die unmittelbare Kundgebung des Menschen selbst. Er kündet in ihrem Klange die reine Offenbarung seines Wesens, in den Wandlungen ihrer Gestalten die Wandlungen dieses Wesens durch alle Zeiten, in denen die singende Stimme ertönt und Erscheinung gewinnt.

GLUCK

Die dramaturgische Geschichte der ernsten Oper beginnt für die Gegenwart mit dem zweiten Teil des Schaffens von Christoph Willibald Gluck. Alles frühere ist nur noch Notenmaterial und verbleibt der wissenschaftlichen Registrierung. Diese alte Oper gründet sich auf eine Kunst des Gesanges, die der heutigen Zeit fremd geworden ist. Sie setzt Stimmen voraus, die es nicht mehr gibt, nämlich Kastratenstimmen.

Die Kastratenstimme muss, nach den vorhandenen Gesangsvorlagen sowie Berichten zu mutmaßen, ein wunderbares Klangphänomen gewesen sein. Es ist begreiflich, dass Zeiten, die über solche Stimmen verfügten, nur geringes Bedürfnis nach Instrumentalmusik empfanden. War doch die Kastratenstimme eine instrumentalisierte Menschenstimme. Man hatte ihr das Grundcharakteristikum der Stimme: den Geschlechtscharakter entzogen. Dafür erhielt sie die Gewandtheit des Instrumentes, das aber nicht toter Mechanismus war, sondern lebendiger Organismus blieb. Das Merkwürdige, fast Irrationale der Stimmwirkung beruhte nicht nur auf der heut kaum fassbaren Widernatürlichkeit, die einen Herkules figurierte Sopranarien singen ließ. Grundlegend war die Entpersönlichung der Stimme. Aus ihr ergab sich der bewusste Verzicht auf vernunftmäßige Gleichstellung oder auch nur Ähnlichmachung der Stimme mit dem natürlichen Wesen der dramatischen Gestalt.

Diese Einstellung muss ohne falsche Überheblichkeit begriffen werden. Die Teilnahme an der singenden Stimme hatte solchen Grad des Fanatismus erreicht, dass der Handlungsinhalt oder das Schicksal der dargestellten Figur nur noch Mittel äußerer Verknüpfung des Geschehens waren. Darüber hinaus galten sie nichts. Jeder Naturalismus der dramatischen Anschauung war aufgehoben. Wichtig war nur, dass so schön wie denkbar gesungen wurde. Dieser Forderung entsprach die Kastratenstimme mehr als jede andere. Ihr Tonbereich erfasste die klanglich vorteilhaftesten Register, sie vereinigte in sich Glanz und Weichheit der Frauen- mit der Kraft der Männerstimme, unumschränkte Ausdrucksfähigkeit im Sinne musikalischer Vortragskunst mit ebenso unumschränkter Virtuosität. Ihren besten Mustern gegenüber müssten die schönsten heutigen Stimmen plump und gewöhnlich erscheinen, sofern es überhaupt möglich wäre, von der Unnatur dieser Stimmwesen zu abstrahieren. Zum Verstehen der damaligen Zeitkultur aber ist es nötig, das seltsame, durch Verstümmelung zu einer Art übermenschlicher Vollkommenheit emporgetriebene Produkt der Kastratenstimme als künstlerische Erscheinung zu begreifen. Freilich kann dies auch der rekonstruierenden Reflexion nur unvollkommen gelingen, denn gerade das, was für die Gegenwart den Zauber der Stimme ausmacht: ihr erotischer Reiz, wurde damals im Interesse der Gesangsleistung als störende Beschränkung empfunden.

Die Oper vor Gluck und bis zur Mitte seines Schaffens war nicht durchweg Kastratenoper. Sie wurde aber durch diesen Sängertypus entscheidend bestimmt und fand in ihm ihre Erfüllung. Daraus ergaben sich Stoff, Handlungsgestaltung, szenische Formung. Artistische Ergötzung als Kunstprinzip deckte sich mit dem Zweck der Verwendung als höfischer Lustbarkeit. Neben diesem bis zu äußerster Einseitigkeit entwickelten höfisch gesellschaftlichen Operntyp kam das realistische Gegenstück: das humoristische Intermezzo auf. Aber es blieb zunächst Begleiterscheinung und konnte die Vorherrschaft der Kastratenoper nicht stören. Sie bewahrte ihren Grundcharakter innerhalb der auf verschiedene Lokalfarben abgestimmten venezianischen, neapolitanischen, römischen Oper mit ihren Abzweigungen in Madrid, London, mit den derb volkshaften Übertragungen in Hamburg, Leipzig, Nürnberg, Braunschweig. Sie blieb die Oper der widernatürlich instrumentalisierten singenden Stimme, Durchführung der Irrealität der Oper bis zur letzten Konsequenz.

Auch in Glucks Schaffen ragt das Kastratentum noch hinein. Die Titelpartie seines „Orpheus“, der ältesten auf der heutigen Bühne noch lebenden ernsten Oper ist für einen Kastraten geschrieben. Ein letzter Ausläufer dieser versunkenen Welt findet sich in Mozarts Jugendoper „Idomeneo“, die eben wegen dieses Zusammenhanges mit der alten Oper für die heutige Bühne verloren ist. Die Tore zu diesen Werken sind in Ewigkeit zugefallen und durch keine Beschwörung mehr zu öffnen. Nicht, weil die dramatische Faktur, die musikalische Form oder irgendwelche andere Eigenheit veraltet wäre. Der Klang der Stimme, der sie belebte und ihr Wesen bestimmte, ist für immer entschwunden. Deswegen bleibt es ein müßiges Geschäft, sie im Hinblick auf musikalische Werte zu rekonstruieren, mögen diese nun von Monteverdi oder Hasse oder Händel stammen. Ihr Atem ist verweht. Geblieben sind nur Trümmer ohne inneren Zusammenhang.

In und durch Gluck vollzieht sich die Wendung.

Ihr Kennzeichen ist nicht der Wechsel von der Arienoper zum dramatisch begründeten Organismus, auch nicht die Umkehr von der Selbstherrlichkeit des Sängers zur Obergewalt des schaffenden Musikers, auch nicht die Vereinfachung der Koloratur zur klaren Linie. Das alles trat ein, aber es war nicht Ursache, sondern Folge. Die Wendung vollzog sich von der Unnatur zur Natur, vom Stimmvirtuosen zum singenden Menschen. Der Urheber dieser Wendung war Rousseau.

Als Musikästhetiker verfolgte Rousseau andere Bahnen. Richtungbestimmend wurde er für die Musik als Apostel des Evangeliums von der Rückkehr zur Natur, wie es nun in Frankreich von Diderot und den Enzyklopädisten, in Deutschland von Lessing und Herder weiter verbreitet wurde.

Diese Rückkehr zur Natur zeigt Ähnlichkeit mit jener Rückkehr, aus der anderthalb Jahrhunderte vorher die Oper entstanden war. Damals war auf musikalischem Gebiet das Verlangen zur melodisch führenden Stimme maßgebend gewesen, sie erhielt eine neue Natürlichkeit gegenüber der Polyphonie. Jetzt meldete sich gegenüber der zum Selbstzweck gewordenen Herrschaft der Stimme die Forderung einer Neuerkennung des Menschen. In die Schemenwelt der Stimmgespenster hinein klang die erste Botschaft der kommenden kulturellen Umwälzung.

Als Gluck sie vernahm, hatte er bereits einen erheblichen Teil seines Schaffens vollendet. Seine Tat besteht darin, dass er die Türen aufstieß und das Tageslicht eines naturhaften Menschentums auf die Opernwelt seiner Zeit fallen ließ. Da musste freilich vieles anders erscheinen, als in dem Zwielicht der bisherigen Eunuchen-Atmosphäre. Künstlich verschnörkelte Handlungslinien zogen sich gerade. Virtuose Kunstfertigkeiten fielen ab und ein reiner Gesang kristallisierte sich. Vernunft und Logik machten sich geltend im gleichen Masse, wie die Menschen anfingen, mit natürlichen Stimmen zu singen. Intellekt und Gefühl einer reinen und klaren Kunstanschauung standen auf als kritisches Gewissen und prüften das Kunstwerk auf seine Möglichkeit gegenüber den Forderungen eines neuen Gestaltungswillens.

„Der Fortgang des Jahrhunderts wird uns auf einen Mann führen, der, diesen Trödelkram wortloser Töne verachtend, die Notwendigkeit einer innigen Verknüpfung rein menschlicher Empfindung und der Fabel selbst mit seinen Tönen einsah.“ Das so von Herder gekennzeichnete Kunstwerk Glucks war nichts Neues. Es war die alte florentinische Oper. Bereichert durch Versuche und Erfahrungen der Zwischenzeit, gereinigt von den Abirrungen, zu denen die Autokratie der denaturierten Stimme führen musste, war sie jetzt durch die Hinführung zu Natur und Mensch zur Erfüllung des ursprünglichen Wollens gelangt. Aber nicht mehr als das. Sie war weiterhin die Oper der Hofhaltung, das olympische Fest der Götter und Helden für die Fürsten.

Das dekorative Element wird im Sinne zauberhaften Prunkes als Rahmen eingesetzt. Die Stoffe sind mythologisch allegorischer Natur und fast ausnahmslos der Antike entnommen. Das Ballett ist organischer Bestand als Feerie, die Chöre zeigen die gleiche gräzisierende Stilistik wie in der französischen Tragödie. Die Arienmelodik entspricht in ihrer diatonischen Einfalt und Symmetrie den schönsten Mustern italienischer Gesangsart, wie sie bis zu Händel und Hasse hinauf üblich war. Die auf reine Fundamentalbedeutung der Bässe bezogene Harmonik beruht auf dem Grundgefühl durchsichtiger Klarheit der Führung. Das große, zu intensiver Eindringlichkeit gestaltete Rezitativ empfängt aus der rethorischen Deklamation der französischen Oper besondere Anregung. Die beiden repräsentativen Kunstgattungen der italienischen Seria und der tragédie lyrique Lullys und Rameaus fließen in eines.

Diese Vereinigung von naturhaftem Gesang, pantomimisch begründetem Tanz und vernunftmässig geordneter Handlung ist das Werk von Glucks kämpferisch despotischer Genialität. Nichts jedoch deutet auf einen revolutionierenden Neuerungswillen gegenüber dem Opernorganismus. Er wird gereinigt, entlüftet, zusammengefasst aus der starken und kritisch säubernden Anschauung eines rationalistisch empfindenden Menschen.

So beschließt Gluck die Geschichte der alten Oper, indem er sie in der Wahrhaftigkeit ihres Wesens überhaupt erst kenntlich macht und in menschlich ergreifende Nähe bringt. Von seinen Opern sind fünf als für die Nachwelt lebensfähig anzusehen: „Orpheus“, „Alceste“, „Armide“, „Iphigenie in Aulis“, „Iphigenie auf Tauris“. „Orpheus“ trägt noch das Zeichen der Kastratenoper in der Besetzung der Titelpartie. Alle übrigen Werke sind schon dem Titel nach Frauenopern. Alceste, Armide und die innerhalb des Werkes führende Klytemnästra der auhdischen Iphigenie gehören dem hochdramatischen Typ an. Die aulidische Iphigenie selbst ist ein lyrischer, die taurische Iphigenie ein gereifter jugendlich dramatischer Sopran auf der Grundlage noch nicht voll entfalteten Frauentumes. Die Koloratur fällt bis auf geringe Schmuckreste in Nebenpartien fort, Arienmelodie und deklamatorische Gefühlsplastik des Rezitativs herrschen allein.

Die Männerstimmen bleiben meist episodisch. Es gibt nur drei gewichtig ausgeführte Männerpartien bei Gluck: Admet in „Alceste“, Agamemnon in der aulidischen, Orest in der taurischen Iphigenie. Admet, innerhalb des Werkes von der überragenden Grösse der Alceste zwar zurückgedrängt, wird in den Orkus-Rezitativen, mehr noch in dem Klageausbruch zur ersten dramatischen Tenorgestalt großen Formates. Die Stimme gelangt im tragischen Akzent zu ergreifender Naturhaftigkeit des Ausdruckes, sie offenbart ein letztes Klanggeheimnis des Organes. Mozart hat diese Figur Glucks zum Vorbild seines Idomeneo genommen.

Eigentümlicher noch als Admet steht die Gestalt des Orest in der taurischen Iphigenie. Nächst dem Agamemnon der aulidischen Iphigenie ist sie die erste große Baritonfigur der tragischen Oper. Diese Einsetzung der mitteldunklen Männerstimme an führender Stelle ist eine Vorwegnahme der romantischen Naturalistik, der Mozart im „Don Giovanni“ folgt. Wie tief hier die Beziehung von Farbe und Charakter der männlichsten Mannesstimme zur Erscheinung erfasst ist, zeigt die Durchbildung dieser ersten großen Problemgestalt bis zum Höhepunkt der Eumenidenszene des zweiten Aktes.

Dem Willen zur Naturhaftigkeit entspricht Glucks Stoff- und Erscheinungswelt. Sie ruht auf einfacher Kontrastierung des Wechselspiels der Natur, des Tages und der Nacht, handlungsmäßig des Lebens und des Todes, bühnenmäßig der Technik der mit Versenkungs- und Flugeffekten arbeitenden Maschinenbühne. Orpheus verliert und gewinnt Eurydike, Alceste opfert sich dem Tode für den Gatten, Armidens Zauberreich der Liebe wird vernichtet, Iphigenie wird den Göttern dargebracht, Orest kämpft mit den Dämonen der Unterwelt. Es sind durchweg Handlungen von primitivem Zuschnitt, ohne geschlechtlichen Eros. Selbst die Liebeswelt Armidens ist eine elementare Gegebenheit. Die Kontraste erwachsen schicksalhaft aus der Natur der Dinge. Menschliche Zutaten im Sinne von Intrigen, psychologisch bedingten Handlungen fehlen. Die Erscheinungen sind nicht individuell gesehen oder charakterhaft geformt. Es sind Gefühlstypen, in die Symbole des Mythos gefasst. Mittel der Symbolisierung ist Farbe und Führung ihrer Stimmen. Darum genügt die schlichte, harmonisch nur unterlegte melodische Linie, darum bleibt diese Musik innerhalb einfacher dynamischer Kontraste, darum ist sie homophon, gleichviel ob die solistische Einzelstimme oder der volle Chor spricht.

Darum schließlich gipfelt sie in diesen beiden Ausdrucksmitteln : der führenden Frauenstimme und dem singenden Chor.

Der Chor ist Organ der Harmonie, stets flächenhaft behandelt, gleichviel, ob er das „No“ der Unterwelt dem Orpheus entgegenschleudert, oder das Elysium in schwebenden Sequenzen malt, ob er um Alcestes Tod klagt oder ob er Orestens Wahnsinnsträume aufpeitscht. Klangerscheinungen dieser Art sind nach Gluck nicht wiedergekommen. Die Erfassung des Chores als harmonischer Totalität teilt sich von hier ab individualistisch auf, geht zunächst in das Spiel der Männer- und Frauenstimmen als aktiver Lebenskontraste über. Bei Gluck ist noch kein Interesse vorhanden für diese warme, lebensunmittelbare Sphäre des Klanges. Darum ist ihm auch die Mannigfaltigkeit nicht wichtig. Er schreibt keine großen Ensembles, das Orchester bleibt begleitend, gibt rein dynamische Untermalung, tritt gelegentlich mit kammermusikalischen Soli namentlich der Holzbläser korrespondierend zur Singstimme hervor. Träger der rhythmisch bewegten Harmonie bleibt hauptsächlich der Chor.

Ihm gegenüber tritt als eigentliche Erfüllung und Vollendung der Kunstidee Glucks die dramatisch singende Frauenstimme. Sie führt, und in ihr verkörpert sich der schöpferische Wille des Werkes und seines Autors.

In dieser dramatisch bewegten, stets mitfühlenden, aber doch der Leidenschaft noch nicht eröffneten Frauenstimme formte sich das, was auch in der Unnatur des Kastratentumes als produktiver Kern enthalten war: der Wille zum gesanglichen Ausströmen der Stimme ober- oder außerhalb ihrer Geschlechtsnatur, der Wille zur Virginität der Stimme. Nun ist sie der Sphäre jener Entartung, jenes künstlichen Zwielichtes entrückt und auf den Untergrund der großen, menschlich wahrhaftigen Natur gestellt. So wird sie in die Erscheinung der heroischen, menschlich bewegten und doch mythischen Gestalt gekleidet, denn selbst Armidas Liebe bleibt jenseits einer irdischen Realität.

Damit wird diese Stimme zum Symbol einer Gefühlswelt, deren reine Schönheit für alle Zeiten eine einzigartige Dokumentierung schöpferischen Schauens bedeutet. Orpheus als Übergangsgestalt kann vielleicht nicht in dem gemeinten Sinne mitgezählt werden. Aber Alceste, Armide, Klytemnästra, die aulidische und schließlich die alle überstrahlende taurische Iphigenie sind Frauengestalten der Gesangsbühne, bei denen gerade wie bei Glucks Chören der Vergleichsmasstab zur vorangehenden wie zur nachfolgenden Zeit fehlt. Zur Vergangenheit: denn erst durch diese Übertragung an die Frauenstimme als Führerin war die Kunstidee der alten Oper in Übereinstimmung zu bringen mit den Erfordernissen des menschlich ergreifenden Spieles. Zur nachfolgenden Zeit: denn dieser Schwebezustand zwischen Mensch und Persönlichkeit in der Stimme, diese Bewegung in der Sphäre der reinen Gefühle konnte wohl einmal am Abschluss einer großen Steigerungsreihe erreicht, aber nicht auf die Dauer gehalten werden. Stimme und Mensch hatten sich jetzt gefunden. Nun mussten sie die Wanderung gemeinschaftlich fortsetzen. Diese Wanderung führte unvermeidlich immer tiefer hinein in das Bereich der menschlichen Persönlichkeit mit all ihren irdischen Bedingtheiten.

Es ist üblich, Gluck als Begründer des musikalischen Dramas, als Bekämpfer der alten Oper, als Reformator der Sängervorherrschaft, vielleicht gar als Vorläufer Wagners hinzustellen. Gewiss lassen sich alle diese Meinungen irgendwie begründen. Namentlich Glucks eigene Äußerungen, zum Teil sehr streitbar gehalten, bieten bequeme Handhaben für solche Auslegungen. Dem gegenüber erscheint es freilich seltsam, dass es um so weniger gelingt, Gluck auf der heutigen Bühne heimisch zu machen, je mehr die dramatischen Eigenheiten der Werke hervorgehoben werden. Also ist entweder Gluck als angeblicher Vorläufer eine längst überholte Erscheinung, oder jene Ansicht über Gluck ist unzutreffend, und die Art, wie man ihn daraufhin dem heutigen Opernbesucher nahezubringen sucht, ist falsch gewählt.

Gewiss gibt es keine Art, Gluck populär zu machen und seinen Werken Massenerfolge zu sichern. Solche haben sie auch in früheren Zeiten nicht gehabt. Sie sind geschrieben nicht als Publikums-, sondern als Hof- und Aristokraten-Opern. Sie sind die einzigen und letzten lebendiger Muster dieser Gattung. Also können sie nur erkannt werden aus Aufführungen, die den Grundcharakter der alten, dem Barock entwachsenen Hofoper im Zuschnitt der Bühne, in der Darstellung, in der Behandlung des Chores wie des dekorativen Elementes wahrt. Das sind die stilistischen Voraussetzungen, ohne ihre Beachtung wird das Werk in sich sinnlos.

MOZART

1.

Mit Gluck schließt die Geschichte der höfischen Oper, der Oper als Spiegelung eines aristokratisch geschauten Weltbildes.

In diesem Weltbild gab es hohe und edle Gefühle, wie sie zu Menschen gehören, die in schönen Palästen mit großen Gärten wohnen, Menschen, deren Lebensführung das Nichtvorhandensein der gemeinen Nöte voraussetzt. Gluck war es noch vergönnt, solche Wirklichkeitsferne als Grundlage des Schaffens nehmen zu können, und damit den ursprünglichen Willen der Oper als der Kunstgattung absoluter Irrealität zu erfüllen.

Im Augenblick, da dieses Ideal sich vollendete, verfiel es auch der Zerstörung. Der Trieb zur Natur, aus dem die Oper Glucks ihre Prägung erhalten hatte, wirkte als zersetzende Kraft weiter. Er steigerte die maßvolle Bewegtheit zur Leidenschaftlichkeit, den idealisierenden Typus zur individuellen Persönlichkeit. Er stellte die mythische Allegorik der Erscheinungen prüfend der Wirklichkeit gegenüber. Die westeuropäische Kulturmenschheit, innerlich beunruhigt durch neu heraufdrängende Probleme der Gesellschaftsordnung, trat in das Stadium kritischen Denkens. Ihm gegenüber konnte der schöne Zauber des höfischen Kunstwerkes sich schwer behaupten, denn seine Welt lag im Jenseits des Lebens, auf die jetzt gestellten Fragen vermochte es keine Antworten zu geben. Die Fata morgana einer Antike, die nie bestanden hatte, zerfloss. An ihre Stelle trat die Oper der Aufklärung, die Oper des kritischen Realismus, die Oper des bürgerlichen Menschen mit dem humanistischen Ideal des Weltbürgertumes. Ihr Schöpfer und Vollender ist Wolfgang Amadeus Mozart.

Mozart hat außer dem Frühwerk „König Thamos“ nur eine Oper geschrieben, in der er Gluck seine Huldigung darbrachte: „Idomeneo“. Es erwies sich, dass es auf diese Art nicht ging. Der tragische Kothurn passt nicht zu Mozart, so schöne Musik er gleichwohl macht. Unmittelbar darauf schrieb er die „Entführung“. Damit hatte er seinen Boden gewonnen, den er nun nicht mehr verlor: Abwendung vom pathetischen Stil, Bekenntnis zum Realismus, zu den Erscheinungen nicht der gehobenen Gefühle und der Erdenferne, sondern zu denen des Lebens, der Wirklichkeit, zu denen, die nicht singende Ideen waren, sondern singende Persönlichkeiten.

Mit diesem Realismus verbunden war das Sprachenproblem. Bis dahin war italienisch die Opernsprache. Sie war leicht sangbar, zudem empfingen die Opernkomponisten ihre Bildung in Italien. Die deutsche Sprache in der damaligen Beschaffenheit war der gesanglich musikalischen Durchgestaltung wenig günstig, auch nicht hoffähig. Nur in Volkskreisen hatte sich eine einfache Gattung des musikalischen Unterhaltungsstückes ausgebildet. Es war gemischt aus gesprochenem Dialog und eingestreuten Liedern oder kleinen Ensembles. Die Darsteller waren Schauspieler, die auch singen konnten, das Ganze hieß Singspiel. Vorwiegend derbkomischen Inhaltes, war es eine Gegenerscheinung zu jenen Intermezzi, wie sie sich in Italien als Zwischenspiele zur Seria entwickelt hatten und allmählich zur volkstümlichen Buffa führten. 1733 hatte Pergolese mit „Serva padrona“ das klassische Muster dieser Gattung geschaffen. Auf deutschem Boden war der Leipziger Hiller um 1750 und der Hamburger Keiser besonders erfolgreich. 1760 folgte in Frankreich Rousseau mit seinem „Devin du village“. Dieser Reihe zuzuzählen ist noch die parodistisch gehaltene „Beggars“-Oper in England.

Gemeinsam ist allen Werken dieser leichtgefügten Art die Betonung volkstümlicher Drastik, die Abwendung vom Kunstgesang, die Hervorhebung des spielmäßigen Bühnengeschehens. Dem entsprach das Vorherrschen des Wortsinnes auch in den Musikstücken, zusammengefasst also die bewusste Gegnerschaft zur Oper mit ihrer landfremden Sprache. Der Wille zur bürgerlichen Musikbühne, zur einfachen Natürlichkeit war entscheidend. Er forderte zunächst, dass die Menschen auf der Bühne sich der Sprache des Landes bedienten, dass also jeder Zuhörer verstehen konnte, was eigentlich sie sangen und sagten.

Damit aber war ein tiefgreifendes Problem aufgeworfen.

Soweit es sich nur darum handelte, eine fremde Sprache durch die einheimische zu ersetzen, konnte der Vorgang als vernunftmäßige Selbstbesinnung gelten. Mit der Änderung der Sprache verbunden aber war die Frage nach der Sangbarkeit der deutschen Textworte. Der bisherige Gesangsstil setzte die grammatikalische und phonetische Struktur der italienischen Sprache voraus. Diese Grundlagen fielen fort. Es war zu prüfen, ob die deutsche Sprache überhaupt einen über das bisherige einfache Lied hinausgehenden Gesangsstil zuließ. Viele Eigenschaften des Italienischen konnten auf keine Art in den deutschen Operngesang übernommen werden. Der dadurch notwendig gewordene Verzicht musste naturgemäß auf die Stimmgestaltung und damit auf die Gesamthaltung des Werkes tief einwirken. Gab es dafür andere Möglichkeiten der Stimmtechnik, des Stimmausdruckes, die bisher unerkannt waren?

Das ist die Grundfrage. Praktisch formuliert lautet sie: wie verbindet sich die singende Stimme mit den Elementen der Landessprache? Alle Theorien über Oper und Drama, Stoff und Form sind nur Versuche, diese Grundfrage durch Bezugnahme auf andere, scheinbar weiter gefasste Ideen zu verkleiden.

Mozarts Antwort lautet: „Entführung“, „Figaro“, „Don Giovanni“, „Cosi fan tutte“, „Zauberflöte“. Er hat zwei große deutsche, drei große italienische Opern geschrieben, die auf der Bühne bis heut lebendig geblieben sind. In Wahrheit freilich müssen auch „Figaro“, „Don Giovanni“ und „Cosi fan tutte“ als deutsche Opern angesehen werden. Keinem Italiener wird es je einfallen, diese Werke als italienische Opern gelten zu lassen. Mozart hat sie nur zu italienischem Text komponiert, weil sich das, was er hier zu sagen und zu singen hatte, auf deutschem Text nicht sagen und singen ließ.

Das war die Lösung, die der rationalistische Freimaurer fand, der aufgeklärte Weltbürger, der humanistische Anbeter von Natur, Schönheit und Weisheit, der ungeachtet seiner Aufgeklärtheit ein tiefreligiöser Mensch und ungeachtet seines Weltbürgertumes ein leidenschaftlicher Deutscher war. Er setzte das Kennzeichen des deutschen Musikers nicht darein, ob er deutsche oder italienische Texte komponierte. Er nahm den Text, der ihm im Einzelfall gemäß und notwendig schien. Bestimmend war erst die Musik, die dazu geschrieben wurde. Glucks oder Händels Musik zu ihren fremdsprachigen Werken kann weder als italienisch noch als englisch, noch als französisch, ebensowenig aber als deutsch bezeichnet werden. Sie ist Weltsprache, wie einst Latein die allgemeine Bildungssprache war. Mozart hingegen ist in seiner Musik auch da bereits der deutsche Musiker, wo er seinen Gesang auf italienischen Text singt. Er wählt ihn aus Gründen künstlerischer Zweckmäßigkeit, weil er in diesen Fällen besser klingt oder überhaupt nur so gesungen werden konnte vom Schaffenden.

Solche wahrhafte Universalität seiner Natur lässt ihn Anregungen für seine Stimmcharaktere aus allen Gebieten gewinnen. Mozarts Stimmgestalten sind nicht, wie später bei Wagner, variierte Abwandlungen des gleichen Grundtyps. Sie sind in jedem der fünf Hauptwerke wieder fast völlig neu. An ihnen bewährt sich eine Erfindungskraft, wie sie ähnlich in der Oper nie wieder vorgekommen ist. Möglich war sie nur in dem Augenblick, wo der eben erwachende Wille zur Charakterformung der Stimmgestalten auf eine noch unverbrauchte Gesangskunst traf.

Die Erscheinung Mozarts ist überhaupt nur zu begreifen aus einem einmaligen Gleichgewichtszustande aller für die Oper bestimmenden Kräfte: Vollendung der Gesangskunst, die gleichwohl durch Gluck ihre Vormachtstellung verloren hatte, Erwachen eines realistisch gerichteten Spielwillens, der aber noch keine einseitige Übertreibung forderte, gesteigerte Bedeutung des Orchesters, das trotzdem der singenden Bühnengestaltung untergeordnet blieb, Möglichkeit der Verwendung deutscher und italienischer Texte je nach Zweckmäßigkeitsgründen, des Singspiel- wie des Operntyps, der einfachen Zimmer- wie der großen Maschinenbühne. Die immer weniger behinderte Wahl der Handlungsstoffe ermöglicht weitgehende Bewegungsfreiheit. Hierzu kommt eine Hörerschaft, die in sich selbst starken Auftrieb zur Geistigkeit trägt, nachdem sie eben aus Hörigkeit oder Beschränkung auf das niedere Volksmilieu erwacht war. Dieses alles musste in einem merkwürdigen Ausgleich der Kräfte Zusammentreffen, um die Erscheinung Mozarts möglich zu machen.

Mozarts Genialität wird nicht herabgesetzt, wenn man die einmalige Geneigtheit besonderer Zeitumstände zu einem tief harmonischen Zusammenklang feststellt. Die gleichen Umstände machten bei solchem Wettbewerb der Kräfte den Erfolg um so schwieriger.

Es war die Zeit, da Lessing, Wieland, Herder eben erkannt wurden, Schiller und Goethe die Bühnen eroberten, Gluck und die italienische Oper noch herrschten, und die Welt auch außerhalb des Theaters von neuen, revolutionären Ideen erfüllt war. In solcher Zeit geistiger Hochspannung konnte von der Opernbühne her nur ein Musiker sich durchsetzen, der Genie genug hatte, der Oper das zu geben, was sie von anderen Kunstgattungen unterschied: Gesang. Dieser Gesang aber musste erscheinen als Reingehalt dessen, was auf allen Gebieten Ziel des Lebens und des Denkens geworden war: der Persönlichkeit.

2.

Alle Stimmgestalten Mozarts sind Persönlichkeiten. Sie sind es durch die Art, in der die Stimme geformt: in welcher Lage sie geschrieben, mit welcher Art der Singtechnik sie behandelt, mit welcher Manier des Ausdruckes sie ausgestattet ist. Die Bildkraft lediglich aus Farbe und Führung der Stimme setzt voraus, dass jede Bewegung der Stimme gedacht und erfunden ist aus unmittelbarer Anschauung des Charakters. Mozart nimmt Anregungen dazu aus allen bisher vorhandenen Stimmtypen, nur die französische Oper Gluckscher Prägung wird nach den ungünstigen Erfahrungen mit „Idomeneo“ wenig benutzt. Dagegen ist er der Virtuosität gegenüber vorurteilsloser als Gluck. Namentlich der Koloratur-Sopran erscheint ihm für die Steigerung des dramatischen Ausdruckes verwendbar. Die praktische Erfahrung mit geeigneten Sängerinnen mag diese Erkenntnis veranlasst haben.

So wird die Konstanze in „Entführung“ für die Schwägerin Aloysia Lange als dramatischer Koloratursopran gestaltet. Freilich gelingt es heut äußerst selten, eine Sängerin mit der erforderlichen Mischung von intensiver Kraft der Mittellage und Leichtigkeit der Höhe zu finden. Man hat schon gemeint, Mozart sei hier aus Gefälligkeit den Wünschen einer Sängerin zu weit entgegengekommen. Aber eine Vereinfachung dieser Partie hätte der Gestalt der Konstanze erheblichen Verlust an Bedeutung gebracht, und damit dem ganzen Werk Gewicht entzogen. Die Virtuosität ist also hier wie bei der Königin der Nacht musikalisch dramaturgisches Mittel zur stärkeren Akzentuierung einer szenisch wenig vorteilhaft bedachten Gestalt.

Anders ist es bei Donna Anna. Hier wird die Koloratur bewusst als Ausdruckssteigerung im dramatischen Sinne eingesetzt, wie sie umgekehrt bei der Fiordiligi in „Cosi“ als Mittel der Erleichterung der Spielatmosphäre erscheint.

Alle vier Gestalten zeigen den gleichen Grundtyp in vier verschiedenen Individualisierungen. Jede von ihnen ist ein in sich geschlossener musikalischer Charakter. Durch seine gesangliche Bedeutung behauptet er sich auch da in vorderster Linie, wo er, wie die Königin der Nacht, szenisch auf Episoden beschränkt bleibt. Dieser der Vorzeit Mozarts verbundene Stimmtypus der koloraturbegabten dramatischen Sängerin, wie ihn Bellini noch einmal in „Norma“ gestaltete, ist heut im Aussterben begriffen. Daher wird gegenwärtig die Konstanze und die Königin wegen der schwierigen Koloraturen von der Koloratursängerin gesungen, der die dramatische Akzentuierung und die Intensität der Mittellage fehlt, die Donna Anna von der dramatischen Sängerin ohne ausreichende Koloratursicherheit. Hier ist ein Beispiel für die allmähliche Zerstörung der Stimmcharaktere und damit des sinnhaften Werkbildes durch die andersgerichtete Praxis der nachfolgenden Zeit.