Wäre doch gelacht - Tania Kummer - E-Book

Wäre doch gelacht E-Book

Tania Kummer

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Beschreibung

«Ihre Worte setzt sie einmal so knapp wie möglich, ein andermal jongliert sie mit ihnen. In der Eigenwilligkeit ihrer Sprache, die den Charakter ihrer Protagonisten widerspiegelt, verschmelzen Tania Kummers Erzählungen zu einem einheitlichen Ganzen.» Dieter Leuenberger Tanja Kummer Wäre doch gelacht Erzählungen Erstausgabe 2009. 2009. 200 Seiten. Gebunden. sFr. 29.- / € (D) 22.50 ISBN 978-3-7296-0785-9

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Tania Kummer

WÄRE DOCH

GELACHT

Erzählungen

Die Autorin dankt Stefan Kubli, Franziska Zurfluh, Lea Gottheil, der Literaturgruppe ‹index›, Holger F., Caspar Fierz und dem Zytglogge Verlag für die Unterstützung während der Arbeit an diesem Buch, der Lektorin Bettina Kaelin darüber hinaus für ihre Klarheit und der ‹Thurgauer Zeitung› (‹Wurzeln›) und ‹Schweizer Radio DRS 2› (‹Ich habe von einem Mann gehört›) für ihr Entgegenkommen bezüglich der Abdruckrechte.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright Zytglogge Verlag, 2009

Lektorat: Bettina Kaelin Ramseyer

Umschlagfoto: Stefan Kubli

e-Book: mbassador GmbH, Luzern

ISBN 978-3-7296-0785-9

eISBN 978-3-7296-2004-9

Zytglogge Verlag

Schoren 7 · CH-3653 Oberhofen am Thunersee [email protected] · www. zytglogge.ch

Inhalt

Magie

Angst, so gross wie Tage

Die Glasbrüder

Wie es einmal war

Ein anderes Meer

Das Haus der Maus

Die aktuelle Ausgabe

Zoe Testarossa

Im Rahmen

Fürchten und sorgen

Der Dialog

Ich habe von einem Mann gehört

Mädchen

Wurzeln

Tania Kummer

Magie

Die Holzwände des Hotelzimmers schwimmen für ihren Begriff von Zentimetern bereits hüfthoch im Sonnenlicht. Hinter ihr atmet er wach, aber sie rührt sich nicht, rückt ihren Traum linear: ein hellbraunes Meerschweinchen, in dessen langen Haaren über dem Po Orangeat und Zitronat hängen, kreisrund wie die Augen in Pfauenfedern. Sein Räuspern ermahnt sie, korrekt zu schielen, sie dreht sich zu ihm, statt seines Blicks sieht sie die Silberhaare an seinen Schläfen. In der Ruhe, in der sie kurz ineinander liegen, erinnert sie sich daran, dass sie sich in den Tag eingliedern müssen. Sie wird kribbelig und streift die schwelende Verbindlichkeit ab, wie den Pullover an einem Sonnentag.

Im kleinen Lift haben sie sich schon am Tag zuvor keine Mühe gegeben, sich zu berühren, auch wenn es einfach gewesen wäre, die Rucksäcke stopften das Räumchen. Ein Kurztrip: heute Anfahrt, morgen Rückfahrt. Das Hotel ist die Infrastruktur, der Rest steckt im Rucksack. Giulia fokussiert die Knöpfe 3, 2, 1, EG und hört nicht, was er sagt. Auf 1775mü. M. drückt es ihr die Ohren zu.

Beim Frühstück sind sie eine halbe Stunde lang die Letzten, dann kommt ein grosses Paar. Giulia steht auf und schenkt Orangensaft nach, senkt den Blick ins Orange, entspannt die Augen.

Sie sitzen sich gegenüber. Es gibt nichts zu tun, ausser zu essen und zu reden. Er nimmt sie wörtlicher als gewöhnlich. Er spricht von seinen Eltern, offenbar hat sie gerade eine Grenze überrannt. Ängstlich sucht sie und sieht den ausgewachsenen Kaktus am Boden, einen halben Meter gross. Sie steht auf, hebt den Topf hoch, stellt ihn auf den Tisch und sagt:

Ein Gruss aus der Küche.

Er lacht überrascht, das ist selten, er ist mit allen Wassern gewaschen, in seinem Kopf gibt es keine Wahrheiten, das nimmt ihm das Staunen. Er rückt den Topf zur Seite, sagt ihren Namen und etwas Nahes. Giulia macht magische Augen und blendet ihn aus.

Verena denkt immer,

hab ichs mir doch gedacht.

Sie sagt nie:

Hab ichs dir nicht gesagt.

Aber ihre Tochter Giulia hat es trotzdem gehört, sie hat der magischen Zunge immer geglaubt, zweifellos, wie Kinder sind.

Die magische Zunge wurde Verena von ihrer Mutter in den Mund geschoben. Die schickte sie zum Teppichklopfen, zum Bäcker, früh zu Bett, dem Vater zu Diensten, in die Küche, die Waschküche, mit den Brüdern auf den Spielplatz, und als sie alt genug war, in die Ehe. Auch wenn ihr Marito sie sah und erkannte, war es zu spät, um eine neue Zunge zu finden, die nicht jedes aufmüpfige Wort windelweich prügelte. Wenn Verena als Kind gesprochen hatte, hielt Mutter Berta die Hand wie eine Zielscheibe in die Höhe. Nicht um die Worte zu punkten, sondern um sie einzusammeln, bevor sie ihr zu Ohren kamen. Sie hörte nur der realistischen Verena gerne zu, und diese stellte sich darauf ein, bot fortan dem Dasein die Stirn, indem sie runterspielte, was ihr zugespielt wurde:

Das hat alles seinen Grund,

sagte sie bei Unglücksfällen und bei Verleumdungen:

Lass sie doch reden.

Als Kind hatte Giulia keine andere Wahl: Sie legte sich auf Verenas Zunge und liess sich einrollen, ihr Sinn für lebendige Varianten wurde erdrückt und magische Augen überwuchsen ihren Weitblick.

Nach dem Frühstück bezahlt Giulia das Hotelzimmer, wie sie die Bahn, den Alkohol und das Abendessen bezahlt hat. Sie fragt sich, ob sie ihn von Anfang an hat kaufen wollen, mit Karten, Briefen und Paketen. Ihr war kein Postweg zu weit, um sicherzugehen, dass er sie, wenn nicht vor Augen, wenigstens im Kopf hat. Sie sind auf dem Weg zur Skihütte, dabei findet sie eine Antwort:

Nein, ich kaufe ihn nicht, ich mag ihn gerne, ich beschenke ihn gerne, ich bin ein grosszügiger Mensch, ich habe mich verändert, zum Besseren, zu einem Menschen mit Zugang zu seinen Gefühlen, ich bin kein deprimiertes Kind mehr, nur weil meine Mutter meine Tischbombenfreudelaunen niedergezüngelt hat, ich bin ein freier Mensch.

Dann bemerkt sie, dass sie einen Handschuh verloren hat, und ärgert sich masslos darüber, dass sie sich ärgert, über die Hälfte von 7 Franken 50, die sie für das Handschuhpaar ausgegeben hat.

Sie gehen am See entlang, durch das Dorf, beim Restaurant an der Ecke biegen sie ab, passieren das Mehrsternhotel, hinter dem riesige Glasflügel stehen, auf denen man sich teuer schönschwingen lassen kann. Auf dem Schneepfad stampfen sie bergan, vorbei an gestifteten Parkbänken. Unterhalb der Skihütte ein quietschfarbiges Kinderdorf. Im gelben Gummizelt sinken sie zu Boden, er macht ein Foto nach dem anderen, sie wissen nie, ob es eine nächste Gelegenheit zum Festhalten gibt, sie ist nicht nur darum so gerne mit ihm zusammen.

Sie lachen über die Bilder, als sie vor der Skihütte in partybandinterpretierter Schlagermusik stecken. Ihre Augen sind auf den Bildern geschlossen. Seine sind offen und schauen sie nun an, wie sie die Bilder betrachtet, er schaut warm. Sie macht magische Augen und schwemmt ihn aus ihrem Blickfeld.

Berta ist seit zehn Jahren tot. Beerdigt wurde sie in höflicher Distanz zu ihrem Marito, der kaum da war und früh ging, wie alle Maritos der Rossi-Frauen. Sie ist ausgemergelt gestorben, nicht an einer bestimmten Krankheit, sondern am ersten Sieg ihres Körpers über den Geist, der zäh wie ein Transporttier getrieben wurde von wenigen, aber aufrechten Worten, die gut zu Fuss in ihren Kopf marschiert sind, allen voran die Realität.

Giulia kann nur spekulieren, wie es passieren konnte, dass Berta nur zu hören schien, was ihr in den Kram passte, hatte sie doch mit Rosa eine grossherzige Mutter gehabt, von deren fremdbestimmter Güte Giulia nichts geahnt hatte. Rosa hatte ihre Liebe nach dem frühen Tod ihres Maritos unter allen verteilt, die etwas davon haben wollten. Aber vielleicht kann man auch viel Liebe eines Tages nicht mehr hören. Berta hatte sich die Ohren langsam verpfropft, am Schluss war sie sogar mit ihren eigenen Worten wählerisch. Und da sie kaum mehr hörte, was sie sagte, schrie sie, anstatt zu sprechen. Bei ihren Kindern – Verena und ihren Brüdern – hörte sie gerne Tradiertes aus den Bereichen ‹Kinder und Arbeit› und bei deren Kindern am liebsten Sätze aus dem Segment ‹gute Noten› oder später ‹guter Beruf›. Zu Giulia, damals im zehnten Schuljahr, sagte sie, dass sie nur noch so lange leben wolle, bis sie einen richtigen Beruf ausübe. Ihre Gedanken wohl verankert mit etwas, dessen Inhalt sie kannte. Giulia machte magische Augen, bis sie sich mit Büchern sah, in einer soliden Umgebung, und gelesen hatte sie doch schon immer gerne.

Jetzt muss Giulia genau hinschauen. Auf der Rückreise spielen sie in der Bahn ein Kinderkatzenquartett, das er gekauft hat, weil sie nicht jassen kann. Es gibt einige Topkarten: Die ‹Singapura› kostet 1600 Euro, die ‹Bengal› wird bis zu zehn Kilo schwer, die ‹Korat› kann maximal 19 Jahre alt werden, und mit einer Wurfgrösse von acht Stück liegt die ‹Türkisch Van› beim Kätzchenkriegen vorne. Es müsste doch eine Katze geben, die alle hohen Werte vereint, denkt Giulia, so wie er ihre: laut, stark, klassisch, schön, alt, klug, frei, wild und – er sieht sie schon lange an. Sie hört genau, wie er ihr sagt, dass er nur sie will. Sie hört genau, dass sie sagt, sie glaube ihm.

Rosa war die erste der vier Frauen und hatte ein magisches Herz. Ihre Mutter und deren Mutter und die Mutter davor hatten keine Zeit für ausführliche Blicke in den Spiegel, so wie Rosa, mit reichem Marito. Sie suchte sich ausführlich und genüsslich ein Selbstbild und wählte das grundgütige. Finanziell konnte sie es sich leisten und fütterte generös alle Hungermünder. Die Dankbarkeit widerfuhr ihr auf mannigfaltige Art und Weise, mit der sie nicht gerechnet hatte und mit der sie nicht umgehen konnte: Sie wurde gereizter, statt reizender. Rosa hatte sich ihr Wesen – sie war sauertöpfisch, eine Egoistin mit hartem Willen, der nur dann gefehlt hatte, wenn es darum ging, eine Gelegenheit zu suchen, bei der diese Eigenschaften zum Tragen gekommen wären – abgedreht, weil sie nicht das Gefühl hatte, dass es erwünscht gewesen wäre. Die Rolle der herzensguten Lady drückte sie zu Boden und sie konnte nicht glauben, dass man auch in der Rolle der Guten die Böse sein kann, wenn es das eigene Seelenheil betraf. Berta war ein weiterer Beweis ihrer Güte: gezeugt vom Marito in Krankheit. Berta wurde zum Mittelpunkt der Kontrolle, die Rosa über ihren eigenen Charakter verloren hatte, ein Schleifchenkind, das sich höflich vorstellte, sich in die Ecke setzte, lächelte und schwieg. Die Worte, die an sie gerichtet wurden, waren von lobhudeliger Schnittmenge, die Buchstaben verschwommen zu pastellenem Brei. Berta reagierte darauf und zog im Gehörgang die Türe zu, keine Plüschworte wollte sie je wieder hören, sie sehnte sich nach kerzengeraden Realitäten.

Als Rosa verschied, an einer Krankheit, die noch keinen Namen hatte, klagten die Angehörigen, sie habe ihr magisches Herz mit ins Grab genommen, so schnell fände man kein zweites. Berta weinte nicht, als man ihr schonend vom Tod der Mutter, zu deren Ebenbild sie erzogen worden war, erzählte. Nicht bei der Beerdigung und auch nie, wenn sie alleine war; sie atmete tief und durch. Sie wusste schon, als sie selber ein Kind war: Unter keinen Umständen würden ihre Kinder im Schongang erzogen werden. Als sie 16 war, fand sie einen Marito, kaufte ein Haus und baute es um, der Umbau schluckte das ganze Vermögen. Als Verena zur Welt kam, forderte sie sie an allen Ecken und Enden, damit sie nicht rosa würde wie eine gesunde Zunge.

Sieben Tage später weiss Giulia, dass sie eine echte Rossi ist. Es müssen dicke, starke Gene sein. Alles, was ihre Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter konnten und können, kann sie auch. Noch unverzaubert fühlt sie sich zu Beginn eines Festes, zu dem sie beide eingeladen wurden, gebauchpinselt, weil er sich offenbar grosse Mühe gibt, sie nicht zu beachten und damit ihr Verhältnis zu schützen. Es gelingt ihm. Sie ist stolz auf ihn und möchte, dass er stolz auf sie ist. Sie tut ihm gleich, sofort macht ihr das angeregte Gespräch mit Irgendwelchen Spass, weil sie sicher ist, dass er sie heimlich beobachtet. Doch auf einmal hat sie die Fährte verloren, spürt nicht mehr, in welcher Ecke des Raumes er steht, sie schaut sich um. Ihr Blick kommt in dem Moment bei ihm an, als sich eine Frau auf seinen Schoss setzt und ihren Mund eine lange Zeit auf seinen drückt. Giulias magisches Herz hört auf zu schlagen, sie schliesst die Ohren, lähmt die Zunge, macht mit den magischen Augen Personentransparenz und löscht die beiden aus ihrem Sichtfeld.

Am nächsten Morgen hat es in ihrem Kopf keinen Platz für verschiedene Perspektiven. Sie beeilt sich für einen Kinderbuch-Workshop.

Auf dem Gehsteig fährt der Postbote mit seinem Mofa geradewegs auf sie zu. Wer muss ausweichen, wenn er auf dem Gehsteig fährt, wohl der Motorisierte, denkt sie und er denkt, wer muss ausweichen, wenn ich meiner Arbeit nachgehe, doch wohl die, die erst auf dem Weg zur Arbeit ist. Giulia macht magische Augen und sieht den bösen Blick nicht.

Nach dem Kurs essen sie Thai. Giulia beteuert wieder einmal, dass sie Kinder zwar mag, aber selber ... Nein, sie will keine, das Verlangen ist nie aufgetaucht.

Und die Erziehung,

sagt sie,

man kann es ja doch nie recht machen.

Gerade will sie ein bisschen von ihrer Familie erzählen, doch da lacht Maja, sie sticht mit dem Messer in die Luft.

Das konntest du schon immer am besten.

Also, was jetzt?

Deine Gefühle schneiden, zack und weg; das ist praktisch, wie du das immer wieder machst, wenn der Mann nicht will, zack und weg und keine Kinder und keine Gefühle. Manchmal würde ich das auch gern können.

Maja lacht. Giulia tut nur so.

Es verändert sich nicht sofort. Aber Giulia sieht mehr, fast bis zu ihren Ohren. Sie sieht Wolken, die am Himmel kleben, und andere, die über sie hinwegziehen, sie dachte immer, der Himmel sei zuverlässig. Unten sieht sie, dass ihr T-Shirt im Herztakt auf-und abgeht. Sie hofft, dass noch alles an ihr dran ist, damit sie darum trauern kann, damit das später nicht jemand anders für sie tun muss.

Es verändert sich nicht sofort. Aber sie sieht keine Notwendigkeit mehr, still und stolz zu sein, und holt ihn zu Tisch. Schliesslich haben sie zusammen gekocht.

Sie sagt,

es tut weh. Es ist wie ein blaues Auge, es wird vergehen. Aber jetzt tuts weh und ich will, dass du es anschaust.

Er bleibt nicht über Nacht, er wird auch nicht wiederkommen, aber er hilft beim Abräumen, das braucht seine Zeit, die sie zu keinem Zeitpunkt abschätzen kann. Als der Tisch leer ist, schaut sie auf und sieht viele Bilder. Sie hängt zuerst das ab, das sie von sich selber hat: ein blasses Kind mit Iriden in psychedelischen Farben und Mustern.

Angst, so gross wie Tage

Aarau, 10. Oktober 1982

Meine Felizita

Ich sitze in unserem Sessel, seit du weg bist. Ich kann nicht aufstehen. Nicht im Kopf. Darum kann ich dich nicht besuchen. Wir haben schneller gelebt als die Zeit. Die Stunden, die wir übersprungen haben, sind zurück und wollen abgesessen werden.

Wenn du wieder da bist, machen wir nicht weiter wie bisher.

Wir werden uns entspannen.

Die Entspannung wollten wir erreichen und waren auf dem Weg dahin ausgelastet. Nur ab und zu hast du gesagt, dass du einen schlechten Tag hast. Ich habe nie etwas davon gemerkt und du hast es immer in den Griff gekriegt, meintest du.

Heute frage ich mich, was das für dich bedeutet hat, etwas in den Griff kriegen, und was es aus dir gemacht hat. Ich habe dich immer ernst genommen, auch wenn ich nie verstanden habe, was in dir vorgeht. Und das hast du gemerkt und darum immer weniger erzählt. Deine Angst ist konstant geblieben, nicht?

Hast du nicht wie ich darauf gewartet, dass wir den Ruhestand erreichen: Arbeit weg, Angst weg? Jetzt ist es anders gekommen.

Entspanne dich. Stell deinen Kopf auf Ruhe, schlafe, das hat doch immer geholfen.

Ich bin besorgt und fühle mich kalt.

Ich komme bald vorbei.

Ich vermisse dich,

dein Alexander

 

Brugg, 14. Oktober 1982

Alexander mio!

Du frierst! Obacht, ich schick dir heisse Worte: Glühwein, Curry, Ohrfeige, Sauna, Rot! Ist es jetzt besser, ist dir heiss unterm Hintern, auf unserm Sessel?

Als ich das letzte Mal im Sessel sass, habe ich mir geschworen, dass ich meiner Leidenschaft gegenüber nie mehr untreu werde, und du bist mir zu Füssen gesessen und hast den Ruhestand eröffnet.

Doch der Ruhestand ist mir nur ein Einvierteltrost. Du kennst uns doch! Wir werden weiterreisen, weiterlesen, weiter Feste feiern. Und das wird mich am Malen hindern. Dieser Gedanke hat mich besorgt, ich habe Medikamente genommen, doch die Angst war stärker. Früher war sie höchstens halbtäglich, doch dann war sie gross und tagelang. So habe ich das Telefonat mit dem Arzt, das ich mein Leben lang versäumt habe, getätigt und war entgeistert von mir. Enttäuscht, weil die Angst gesiegt hat, sie mich im Griff hat und nicht umgekehrt, obwohl ich ein Leben lang gekämpft habe. Ich habe mich eingeschlossen, und als ihr die Türe aufgebrochen habt, war ich müde und es war mir alles egal.

Ich will hier sein, hier, wo nichts passiert.

Komm nicht her, ich wüsste nicht, was sagen, ich muss sonst schon oft reden und niemand kann helfen, nur die Medikamente und die Wände meines Zimmers und die Mauern des Hauses und die Arme der Pfleger. Arme wie Stacheldraht, die mich im Zaum halten. Sie lassen mir keine Chance, ich will auch kei-ne, sondern will meinen Angstplauderkopf endlich vom Körper schlagen.

Sei mir nicht böse. Es geht hier besser und wieder schlechter, ich werde siegen, das glaubst du doch auch.

Bleib sitzen, bleib warm, Felizita

 

Aarau, 17. Oktober 1982

Meine Feli

Du bist rätselhaft, wie immer. Du hast zugelassen, dass die Krankheit uns trennt.

Wenn du jetzt so viel Zeit zum Malen hast, nutzt du sie auch?

Mir geht es gut. Ich mache das Büro, den Garten, treffe mich mit Freunden, wir waren am Sonntag wandern, es ist sehr herbstlich. Übrigens lüge ich. Wenn sie mich fragen, was du machst, sage ich, du seist in den Malferien im Tessin.

Ich habe Doktor Späni angerufen. Er sagt, dass es dir nicht gut geht. Erst hast du mich erschreckt, als du dich eingeschlossen hast, jetzt erschreckst du mich, weil du es wieder tust. Den ganzen Tag seist du im Zimmer, einen Sessel hast du verlangt, ob ich wisse warum.

Verdammt, warum glaubst du, dass du dich einfach wegschliessen kannst? Und vor wem denn, die Angst kennt doch keine Türen.

Warum willst du jetzt nicht zur Last fallen, an diesem Ort, wo alle nur darauf warten, dass die Patienten das tun? Doktor Späni sagt, du brauchst mehr Therapiestunden, warum nutzt du die Zeit nicht?

Angst haben viele, sagt Doktor Späni, und er könne die meisten davon heilen. Ich will, dass du dich heilen lässt, du wieder da bist und der Sessel unsere Geschichten hören kann. In seinem Polster steckt unser Leben, hast du gesagt.

In Liebe,

dein Alexander

 

Brugg, 15. November 1982

Dann schneid das verdammte Polster auf und hol die Geschichten raus, ich werde dir keine neuen liefern! Ich habe keine Lust mehr. Späni sagt, ich soll dir schreiben, das ist doch für die Katz, aber bitte, Papier ist geduldig:

Ich mag nicht malen, ich mag keine Briefe schreiben, ich mag mich nicht anziehen, ich mag nicht essen, nicht duschen, nicht mit Späni sprechen, nicht mit den anderen, sowieso nicht mit denen.

Ich mag nicht immer wieder darüber nachdenken, was alles Furchtbares passieren könnte, und ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken.

Ich denke mein Leben lang darüber nach, was alles Furchtbares passieren könnte, und doch ist nie etwas Schlimmes passiert!

Vielleicht wäre ich jetzt gesund, wäre nur einmal das ganze Haus niedergebrannt, nachdem du die Pfeife auf einer Zeitung liegen gelassen hast oder ich die Herdplatten nur einmal kontrolliert habe.

Doch jetzt denke ich, dass die in der Küche den Herd nicht kontrollieren. Dann brennen der Speisesaal, der Flur und mein Zimmer, wenn ich schlafe.

Ich mag Schlafmittel und Schlafen, nur so möchte ich noch älter werden, schlafend.

Jetzt machst du dir Sorgen. Ich will aber nicht, dass du kommst, dass ich immer Angst haben muss, dass du gleich da bist. Ich will nicht, dass du mich so siehst, also bleib, wo du bist, bleib im Sessel. Daran kann ich gut denken, an dich im Sessel. Ich bleibe hier. Ich werde schon zurückkommen.

Felizita

 

Aarau, 20. November 1982

Meine Felikatze

Du machst mir auch Angst. Ich bin traurig, dass du mich nicht in dein Leben lässt. Hast du dir mal überlegt, wie es mir geht? Der Mensch, mit dem ich die besten Zeiten erlebt habe, ist krank und will, dass ich mich nicht um ihn kümmere.

Was würdest du tun? Vermutlich alles, um mir zu helfen, würdest dem Doktor unterstellen, dass er keine Ahnung hat, und mich mit deinen Mitteln zu heilen versuchen, mit Atmen und Pflanzen und Tee.

Du könntest mich nie in Ruhe lassen, vor allem in der Nacht nicht. Dank der Liebe nicht an die Krankheit denken, dank Medikamenten, trinken und schlafen.

Alles Ablenkung für Ruhe im Kopf, wie beim Malen.

Ist das die Welt, in der du gerne leben möchtest? In der die Angst nicht Mittelpunkt ist, in der du nicht an allem schuld bist, wie du immer glaubst, in der es keine bösen Blicke und üble Nachreden gibt, von denen du immer glaubst, sie seien auf dich gemünzt? Du glaubst an die Katastrophe. Und bis sie geschieht, hast du Angst. Und weil sie nie eintrifft, hast du immer Angst. Und das denkt jemand, der so intelligent und stark ist wie du, ich kann es nicht verstehen.

Felizitas, reiss dich zusammen! Kämpfe und komm zurück, wir haben viel Geld gespart für das schöne Leben dann, und dann ist jetzt da. Wir könnten endlich die Kreuzfahrt machen, ich höre dich lachen bis zur Erschöpfung: «Das Meer, Alexander, das Meer! Ich male das Meer und es ist immer nur blau, nur blau, Alexander, ist das nicht lustig und absurd, das Meer ist immer nur blau, und auch das ist nicht gewiss. Was ist schon blau, Alexander, wenn es ums Meer geht, es ist doch nur Wasser!»

Wir können unser Leben so ausrichten, dass es dir nie mehr schlecht geht, dass du immer entspannt bist! Ich gestehe dir zu, dass du mein Leben bestimmst, das schreibe ich jetzt nur einmal und ich werde es nie sagen.

Hast du einmal darüber nachgedacht, was ich mache, wenn du nicht zurückkommst?

Ich plane nicht, meinen Lebensabend alleine zu verbringen, hast du das verstanden? Frauen zu haben, ist nicht mein Problem, so viele Frauen sind nett zu mir, im Gegensatz zu dir, Feli, weisst du, wie kalt du sein kannst? Ich würde mir jemanden suchen, mit dem ich alt werde, der mich mit Liebe und Fürsorge eindeckt!

Und wenn der Sessel unsere Geschichten ausgekotzt hat und sich mit neuen vollfrisst, mit fröhlichen und liebevollen Geschichten von ihr und mir, was dann?

Denk mal drüber nach!

Alexander

 

Brugg, 6. Dezember 1982

Liebster, warum denn so garstig? Ich blühe im Winter, mir ist wohlig warm, mir ist wohl!

Ich stricke einen Schuh und gleich einen zweiten, auf dass ich bald im Schnee liegen kann. Einen Engel schlagen! Einen für mich und einen für dich, ich strecke mich sehr, damit er gross genug ist, so gross wie du! Liebster, es sind nur noch ich und die Luft und der Schnee in der Luft, die Bilder sind fortgegangen!

Da hat mir doch einer tatsächlich das ganze Leben lang Bilder vor die Augen gestellt und dahinter konnte ich nicht sehen und nicht darum herum, und wenn ich geatmet habe, kam die Atemluft sofort zu mir zurück. Ich konnte nie atmen!

Jetzt sind die Bilder weg, die Angst ist aus mir rausgeflogen, ich habe sie ausgehaucht!

Ich freue mich nur noch, verbreite gute Laune. Ich habe gute Laune für alle im Korb, damit gehe ich durch die Gänge, Liebster, ich kann helfen, auch dir, auf dass du nicht am Sessel klebst, sondern aufstehst und tanzt! Je länger du tanzt, umso mehr wird es Frühling, und dann sind wir Hand in Hand und es wird immer heller und heller!

Wo sind die Bäume, die ich ausreissen kann?

Felidifelida Felizita

 

Tagebuch, 30. Januar 1983

Felizita. Felizita. Felizita. Ich würde das Buch am liebsten mit deinem Namen füllen. Mehr fällt mir nicht ein. Es ist nur ein Brief, der mir sagt, dass es dir gut gegangen ist, vielleicht besser denn je. So denke ich mich zufrieden. Du wolltest mich ja mitnehmen in den Frühling. Du wolltest mich. Dann denke ich, es waren die richtigen Medikamente zum richtigen Zeitpunkt, die dir eine Ahnung davon gegeben haben, wie unbesorgtes Leben ist. Auch wenn man weiss, dass man stirbt, und schon viele Leute gestorben sind, kann man sich nicht vorstellen, dass es den Tod gibt. Ich habe dich nie aufgegeben, weil du gekämpft hast. Aber wenn sich dein Kampf im Wohlgefallen am unbesorgten Leben aufgelöst hat, ist das nicht auch gut? Als ich benachrichtigt wurde, bin ich aufgestanden und zu dir gefahren, das konntest du mir ja nicht mehr übel nehmen. Ich nehme mir übel, dass ich dich nicht vorher besucht habe. Ich liess dich gewähren, wie immer, auch wenn es mir anders lieber gewesen wäre. Ich kann nicht aus meiner Haut. Du bist aus deiner Haut gefahren, ich kann mir nicht vorstellen wohin. Doktor Späni hat mir empfohlen, Tagebuch zu führen, aber mir vergeht die Lust beim Schreiben schnell.

Vielleicht fällt mir morgen mehr ein.

Die Glasbrüder

Zu Weihnachten haben Brigitte und Julia den beiden eine Reise nach London geschenkt, am Wochenende, an dem der Lauf stattfindet.

Am Marathon mitmachen, Brüderferien!

Da könnt ihr einen draufmachen, und wenn ihr uns was Kleines mitbringt, haben wir auch nichts dagegen.

Brigitte und Julia kennen sich seit einem halben Jahr. Julia, die ihre blonden Haare am Hinterkopf meistens so eng an der Haut verknotet, dass ihre Gesichtszüge leicht verzogen wirken, würde Brigitte, hätte sie sie unter anderen Voraussetzungen kennengelernt, als eine vom linken Pack bezeichnen; Brigitte ist für die Stadtsektion der Grünen tätig.