Warnung vor dem Munde! - René Sydow - E-Book

Warnung vor dem Munde! E-Book

René Sydow

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Beschreibung

René Sydow lässt die angespitzte Zunge von der Kette und sticht zu: In brandneuen Texten geht er dem allgegenwärtigen Irrsinn auf den Grund, nimmt sich Minister, Medienmacher und andere Mitglieder des organisierten (V)Erbrechens vor. Vom Regierungssprecher bis zum Waffenhändler, vom Schönheitschirurgen bis zum eigenen Ich… nichts und niemand bleibt ungeschoren. Der mehrfach ausgezeichnete Wortakrobat geht in seinen bissigen Texten über die Politik hinaus und hinterfragt unser Weltbild mit schwarzem Humor, Spott und Poesie. Dieses Buch enthält den gesamten Text seines zweiten Kabarett-Solo-Programmes und noch viel mehr.

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Seitenzahl: 149

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periplaneta

RENÉ SYDOW: „Warnung vor dem Munde!“ (Buch mit CD)

1. Auflage, April 2016, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk © 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Postfach: 580 664, 10415 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat & Projektmanagement: Marion Alexa Müller Satz & Layout: Thomas Manegold Autoren-Käfig-Bild: Steffen Berlipp

E-Book Version 1.1. (2017)print ISBN: 978-3-95996-008-3 epub ISBN: 978-3-95996-009-0

René Sydow

Warnung vor dem Munde!

Poetisches Kabarett mit Zugabe

periplaneta

Zum Geleit

„Schreiben Sie! Schreiben Sie! Aber etwas Gutes! Wahres! Schönes! Es soll sich auch verkaufen“, bittet mich mein Verleger. „Vielleicht etwas Lustiges. Die Leute brauchen so etwas bei all dem Elend.“

Ich frage ihn, was ich machen soll, wenn mir nichts Lustiges einfallen mag.

„Schreiben Sie! Schreiben Sie! Egal was! Sie sind doch der Dichter! Fangen Sie einfach an! Am Anfang ist doch das Wort.“

Ich gehe nachhause. Fernseher an. Am Anfang ist der Sport. Ich schaue Fußball-WM und sehe fast zwei Dutzend Millionäre, die einem Ball hinterherrennen, der pro Stück 129 € kostet, während die Arbeiter in Pakistan, die dieses Wunderwerk zusammennähen, ebenso wie die Trikotschneiderinnen in El Salvador, kaum 146 € im Monat verdienen.

Darüber würde ich gerne schreiben.

Das würde aber kaum witzig werden.

Na gut, dann über die Studie katholischer Wissenschaftler, laut derer Vegetarier sehr viel häufiger an Allergien und seelischen Störungen leiden als Fleischfresser, weil sie möglicherweise bei der Kommunion statt des Leib Gottes nur ein Häppchen Dornenkrone abbekamen. Diese Theorie fände dann aber wieder nur ich allein komisch, winke geistig ab und beiße in das noch lebendige Schwein, das lustvoll unter meinen Zähnen aufquiekt. Ich werde surreal, das geht natürlich nicht.

„Jetzt bleiben wir mal auf dem Teppich“, sagen die Motten.

Am Anfang war das Wort. Das ist eine schlechte Nachricht für all die Dichter und Denker da draußen, die sich über den Tellerminenrand der Lachbomben hinaus Gedanken machen; bewegen heutzutage Worte doch so gut wie nichts mehr, die Jugend twittert Steno und spricht im Morsealphabet. Anglizismen haben die Alltagssprache zum Drive-In-Talk gemacht und wenn wir mal ehrlich sind, dann hat der Satz „Rahn müsste schießen“ immer noch mehr Herzen bewegt, mehr Leidenschaft entfacht und sich tiefer ins kollektive Gedächtnis eingegraben als alle Werke von Botho Strauß und Peter Handke zusammen.

Tut mir leid, Dichter! Ein so starker Satz ist dir nicht eingefallen. Setzen! Sechs (oder miserabel, wie man es treffender ausdrücken könnte)!

Am Anfang steht das Wort, lustig wird es heute nicht mehr, dann also: Gut, wahr und schön! Bedenke, Herbert Zimmermann hat vorgelegt! Jetzt geht es an, die Herzen zu erreichen, mit Poesie, Geschichten und Sprache.

Doch was kommt von deiner Seite, Dichter?

„Lahm müsste niesen“, oder gewagter: „Harn müsste fließen.“ Na, Bravo! Das klingt nach der verbeamteten Sauertopf-Literatur der Schreibinstitute, der verordneten Selbstbespiegelung, wo keine Geschichten mehr erfunden, nur noch überwunden werden und bei all der Nabelschau entdeckt man nur Fussel, die dann auch noch gedruckt und bejubelt werden in Zeiten des abflachenden Nichts. Das sind doch nicht die Dichter, die Wortdrechsler, in deren Gesellschaft man sich begeben möchte! Am Anfang steht das Wort! Aber danach muss es geschliffen werden! Und wenn man sich schon in eine Gesellschaft begibt, so muss man sie auch verändern und wenn man sich verkaufen muss, dann doch bitte nicht auf dem Gedankenstrich.

Hisse die Druckfahnen! Wo ist die Leidenschaft für Worte, der Traum von einer Erzählung, der Wahn … da haben wir es doch! Wahn! „Wahn müsste sprießen!“

Ich sehe eine Wiese voll mit Wahn-Lampen, Wahn-Schildern und haufenweise Wahn-Sinn, die schönste aller Windrosen. Genau das soll Sprache doch sein. Eine Windrose, die Richtung und Geschwindigkeit eines Gehirnsturmes misst.

Ich pflege meine zarten Pflänzchen, all die Ideen, die hervorsprießen aus einem Herzrasen, der so oft niedergemäht wird von Gärtnern, die vormals Böcke waren. Den Wahn-Sinn werde ich gießen, bis ich Bäume aus meinem Kopf schlagen kann. Und die Zwiebeln dieser Wahn-Blumen beziehe ich nicht aus Sinn-City, sondern aus Sinn-Cinatti oder einfach direkt aus Sinn, das liegt in Hessen und hat einen parteilosen Bürgermeister, was mir ohnehin schon einmal sympathisch ist.

So, Dichter! Schreib! Hab Ideen! Denn am Anfang war das Licht, Erleuchtung, Enlightment, Aufklarung und -klärung. Das sollen unsere Texte doch sein, ein Er-Klärwerk von Leuten, die wie die Leser das Leben kaum verstehen und dennoch recht behalten. Wir tragen mit unseren Texten Verantwortung für das Leben der anderen. Und damit meine ich sicher nicht den Film, sondern das Gute, Schöne Wahre außerhalb der Kunst.

Und was brauchen wir denn wirklich im Leben? Du und ich? Dichter und Leser? Unsere eigenen vier Hände, mit denen wir uns im Sturm aneinanderhalten, ein stilles Wörtchen, vielleicht eine Katze zum Mausgebrauch und einen Text, der genug Wärme für drei Winter hat. Ich arbeite daran.

Denn am Anfang ist der Ort und dies ist mein Schreibtisch, an dem ich Wortspiele baue – oder wie ich sie nenne: Sydownyme –, um Sprache einen neuen Sinn und meinem Schreiben einen guten Grund zu geben und es darf auch gern einmal ein Abgrund sein.

Also, liebe Leser, halten Sie sich fest oder Ihren Nachbarn! Verlangen Sie nichts von den anderen, aber alles von mir! Groß ist nur, was das Herz belebt und wenn es einen Preis gäbe für Hingabe, dann bitte ich höflichst um Verleihung!

„Schreiben Sie! Schreiben Sie!“, sagte mein Verleger und hatte völlig recht. Die Gesellschaft, in der ich mich bewege, hat mich verändert und auch ich wurde ein Nabelbohrer, der sich jetzt freimachen muss von dem, was gerade Mode ist. Doch zum Glück ruft aus meiner Erinnerung Silesius: „Mensch werde wesentlich!“

Und ich begradige meinen Herzweg und ich besinne mich aufs Hören, Riechen, Schmecken, Sehen und Fühlen und breite meinen Froh-Sinn aus auf dem Papier, meinen Gemein-Sinn und natürlich auch meinen Wahn-Sinn. Das habe ich dem Leser ja versprochen. Denn am Anfang ist das Wort. Und das muss man halten.

Warnung vor dem Munde!

Worum es geht

Und dann sitzt der Kabarettist hinter der Bühne und fragt sich: Was ist heute alles passiert?

Heute sind drei Tierarten ausgerottet worden.

70.000 Hektar Regenwald wurden vernichtet.

Eine Million Tonnen Chemikalien sind in die Ozeane gekippt worden.

100.000 Menschen sind verhungert.

Und da denkt er sich: Das kann man doch nicht auf sich beruhen lassen, das muss doch was sagen, etwas tun.

Und dann geht er raus und sagt: „Kommt ein Mann zum Arzt: ‚Herr Doktor, ich kriege meine Vorhaut nicht mehr zurück.‘ Sagt der Arzt: ‚Die verleiht man auch nicht.‘“

Und dann macht er einen Schritt zurück und sagt: „Entschuldigung, das war nur der Anfangskalauer, um die Landbevölkerung im Saal ein bisschen aufzumischen.

Aber tut mir leid, liebe Freunde des politischen Kabaretts, wir wollen uns halt unterhalten. Egal, wie schrecklich diese Welt ist und ganz gleich, dass es uns andere verbieten wollen. Zum Beispiel im Iran. Da ist das Tanzen in der Öffentlichkeit verboten. Leute, die zu dem Lied ‚Happy‘ tanzten, wurden ins Gefängnis geworfen. Stellt sich natürlich die Frage, ob man das Mitsingen von Helene Fischers ‚Atemlos‘ nicht auch unter Strafe stellen kann? Aber für so was ist Den Haag zuständig.

Jeder soll Spaß haben, das Leben ist kurz, und ich kann gut leiden, vor allem dich! Also los! Machen wir uns einen schönen Abend! Wer mag, darf jetzt sein Haustier öffnen oder seine Sitznachbarin anbaggern mit Anmachsprüchen aus dem Anspielungsreich wie: ‚Hey, van Gogh, leih mir dein Ohr!‘ Reden wir über lustige Sachen wie missglückte Intimrasuren, sozusagen Schiffbruch mit Biber.

Oder machen wir versaute Tiergedichte wie:

Ein Vogel hatte angeschafft

Jetzt sitzt er in Flatterhaft.“

Und dann sagt sich der Kabarettist: Jetzt habe ich mich total verfranst. Ich bin doch hier, weil ich eine Message habe, das erwartet doch das Publikum von mir. Es geht ja nicht allen Menschen so gut wie mir. Oder wie uns, die wir uns eine Eintrittskarte fürs Ballett, fürs Konzert, fürs Kabarett kaufen können. Der Mensch ist nichts wert, wenn er das nötige Keingeld hat. Ich spreche von Banknoten. Das ist ein zusammengesetztes Wort und erklärt das ganze Problem. Die einen haben die Banken, die anderen die Not. Da ist sie schon, die Message.

Wir könnten ja teilen, unsere Geld, Nahrung, Lebensraum, aber das wollen wir nicht. Denn wenn wir was abgeben, haben wir das weniger, was ein anderer mehr hat. Und das können wir nicht ertragen. Gerade wir, die wir hier sind, wir wollen immer mehr, mehr. Mehr. Klar, wir könnten auch verzichten.

Aber da schreit die deutsche Seele auf! Was?! Verzichten? Auf meine Currywurst, meinen Sauerbraten? Nein! Fangen wir doch erst mal bei ganz überflüssigen Sachen an. Die nächste CD von Xavier Naidoo zum Beispiel; aber verzichten geht einfach nicht. Da würden ja ganze Branchen zusammenbrechen. Die Werbebranche zum Beispiel. Werbeleute kennen Sie, oder? Keinen Beruf gelernt, aber viel Gel im Haar.

Emo, ergo sum. Ich kaufe, also bin ich. Und das Einzige, wovon wir am Ende wirklich mehr haben, ist Müll. Gut, den könnten wir vermeiden, wenn es intelligente Konsumgüter gäbe. Intelligente Produkte. Eine Nudel zum Beispiel. Die isst man auf. Kein Müll. Aber wo stecken wir uns die ganzen alten Handys und Laptops hin?

Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber da ist kein Platz mehr.

Wir kaufen jetzt sogar Sachen, die wir vor zehn Jahren erst weggeschmissen haben. Studentenbuden sind eingerichtet mit Möbeln ihrer Großeltern. Spätes Biedermeier oder Frühes Scheußlich, ich weiß nicht mehr. Oder die Kleidung.

Mein Großvater, der sah aus wie Herbert Wehner, hat auch immer die gleichen dicken Brillengläser und Strickjacken getragen. Ich dachte, niemals würde ich so eine hässliche Strickjacke tragen und was hängt jetzt bei H&M? Cardigans. Die gleichen wie früher, gelbe Geschichtslehrercardigans, mit denen sie sich durch den gesamten Dreißigjährigen Krieg geschwitzt haben.

Wir benennen es anders und schon ist es toll: Früher hieß es Reformhausscheiße, heute Powerfood, früher waren Männer echte Kerle, Haare auf der Brust, tiefe Stimmen. Heute gibt’s den „neuen Mann“: hippe Hipster-Hippen mit Opabart und ganzkörperrasiertem Six-Pack. Six-Pack, meine Herren! Wer von Ihnen möchte den ganzen Tag sein Dosenpfand unter der Haut rumtragen? Früher hieß es Autismus, heute Smartphone. Verklär mir das!

Aber ich wollte ja vorschlagen, dass wir etwas teilen. Aber ich hab meine Strickjacke nicht dabei.

Ist auch egal, denn

kein Ding kann uns retten,

weder Münzen noch Scheine,

auf Sterbelagern

bleiben Kopf und Gebeine.

Aber Tanzen, Singen und Dichten, Kunst allgemein, das könnte es möglicherweise sein. Etwas, was wir tatsächlich teilen könnten; etwas, was uns durch die Zeit bringt und glücklich macht. Denn mit Kunst überwinden wir Sprachbarrieren, Stände und Vorurteile. Mit Kunst spricht man freier, atmet freier, man läuft sogar freier.

Na dann auf, brechen wir heute Abend mit Worten einen Sturm vom Zaun, ein Erdbeben der Gefühle, eine ordentliche emotionale Erschütterung durch Humor und Poesie, sozusagen eine Zehn auf der Dichter-Skala.

Auf dass das Steppen unseres Herzrhythmus Störung sei in dieser lauten Welt! Auf dass das Singen von Unterschlupf-Liedern Flüchtigen und Verfolgten Rettung sei und auf dass jedes Wort, jeder Text auf dieser Bühne einen Klang in unseren Köpfen macht, der uns vereint und Freude schafft. Denn der Menschen schönster Klang ist immer noch der Einklang.

Zugabe!

Vielen Dank, als erste Zugabe hätte ich da noch eine Frage: Wann haben wir Menschen eigentlich aufgehört zu denken?

2005 haben wir gesagt: Jetzt machen wir mal eine Frau zur Bundeskanzlerin, mal sehen was passiert. 2009 haben wir gesagt: Jetzt machen wir mal einen Afroamerikaner zum Präsidenten der USA. Und 2011 haben wir gesagt: Jetzt gehen wir mal in Ägypten, in Tunesien, in Algerien und 13 weiteren Staaten auf die Straße und jagen die Diktatoren in die Wüste, die ja auch gar nicht so weit weg ist.

Und irgendwann muss es eben passiert sein. Irgendwann haben wir aufgehört zu denken.

Schauen wir nach Ägypten. Der Diktator wird ersetzt gegen einen religiösen Fundamentalisten, der wiederum durch eine Militärdiktatur gestürzt wird.

Tausende junge Menschen, die von Demokratie träumten, starben, viele andere, nicht nur im arabischen Raum, radikalisieren sich, schließen sich künstlichen Kalifaten an wie dem Islamischen Staat. Islamischer Staat, das sind ja nicht nur irgendwelche bärtigen Männer, das sind ja auch bärtige Frauen, die die Welt mit Terror, Mord und Religion überziehen wollen, wobei Terror und Mord noch die harmlosen Komponenten dieser Drei-Einfaltigkeit sind. Was soll das für eine Religion sein, durch die es gelingt, immer neue 15-Jährige zu verwirren, die sich dann mit einem Sprengstoffgürtel ins Jenseits bomben, im Versprechen auf einen Jungfrauenpuff über den Wolken? Stellt sich ohnehin die Frage, was die da oben wollen, wenn sie doch nicht mal in einem Stück ankommen?

Glauben heißt Nichtwissen. Falls also die Atheisten recht haben – was ja wahrscheinlich ist – dann gibt es nach dem großen Knall keine Jungfrauen auf Wattewolken, keine Gutscheine darauf, nicht mal Skonto bei Barzahlung.

Und falls doch die Gläubigen recht haben, könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass all die Selbstmordattentäter, die Hassprediger jeglicher Glaubensrichtung, all diese bigotten Religionsfanatiker im Himmel ankommen und da oben sitzt dann der Teufel und erklärt ihnen, dass es sein größter Trick war, den Menschen einzureden, es gäbe einen Gott, der heilige Kriege gutheißt.

Wann haben wir Menschen aufgehört zu denken?

Gut, ich gebe zu, in Deutschland war jetzt eigentlich elf Jahre lang alles ganz o.k. – vor allem für Konservative. Seitdem Angela Merkel das Amt der Kanzlerin getreten, äh, angetreten hat, hat die CDU wieder mehr Anhänger unter ihren Mitgliedern. Angela Merkel, die Reichsverweserin Helmut Kohls, zwei gewonnene Wiederwahlen. Alle Jahre bieder. Die Eiserne Kanzlerin, wie sie die BILD-Zeitung in der Griechenlandkrise betitulierte, also mit Otto von Bismarck verglich. Merkel als Bismarck. Völlig abwegig. Bismarck-Hering vielleicht noch, aber … trotzdem: Angela Merkel, die in die Geschichte eingehen wird als Kanzlerin des Aufschubs, Kanzlerin der Märkte und der Alternativlosigkeit, gleichzeitig als eine der beliebtesten Staatschefs in der Geschichte der Bundesrepublik. Weil sie so fürchterlich nett war, so anheimelnd mütterlich, dass selbst verwirrte Sozialdemokraten gesagt haben: „Die ist so herzlich, die streichelt sogar kleine Asylantenkinder, womöglich ist die Merkel doch in der SPD.“ Das Gegenteil ist der Fall. Die SPD ist in Angela Merkel.

Wann ist da also was schief gelaufen? Irgendwann muss es passiert sein. Irgendwann haben wir aufgehört zu denken.

Vielleicht 2012. Weil wir uns alle gedacht haben: ‚Ach, 2012 ist eh Weltuntergang, das haben die Mayas in die Tonscheibe gekritzelt und der Emmerich hat es auch noch verfilmt. Das Ende der Welt ist da, da lohnt sich jetzt Denken auch nicht mehr.‘

Na ja, war ja dann auch nichts – mit dem Denken. Gut, auch nicht mit dem Armageddon am 21.12.2012. Selbst die Zeugen Jehovas haben am nächsten Tag sofort reagiert, haben gerufen: „Tschuldigung! War nur eine Übung!“

Dabei hätte das der schönste Weltuntergang aller Zeiten werden können. Alle waren vorbereitet, auch ich, meine Wohnung war geputzt, die Katzen vergiftet, bei Facebook habe ich mich schon mal von allen Freunden verabschiedet. Pro7 hatte sich die Live-Übertragung des Weltuntergangs rechtlich gesichert, die Esoteriker hatten sich in einem französischen Bergdorf namens Bugarach mit Schlauchbooten und Langenscheidt-Ausgaben „Französisch / Klingonisch“ auf die Landung des Raumschifftaxis vorbereitet. Alles war perfekt! Und warum hat das mal wieder nicht geklappt mit dem Weltuntergang?

Weil die Schweiz gesagt hat: „Da machen wir nicht mit! Weltuntergang? Da bleiben wir neutral!“

Die Schweizer haben es leicht. Sie halten sich aus allem heraus. Wir anderen Europäer kleben auch vier Jahre nach dem versprochenen Weltuntergang zusammen, als politische und wirtschaftliche Gemeinschaft. Europa, ein Kaufhaus mit Frankreich und Deutschland als Schmuckabteilung und Griechenland als zwielichtigem Schlüsseldienst im Keller. Ständig am Rand der Pleite – aber keine Sorge, wir spannen noch einen EU-Rettungsschirm auf. Es ist zwar nur ein Knirps, aber wir finden schon ein Plätzchen für die Banken. – … – Was? Ach, das Volk? Ja, gut, das bleibt im Regen stehen. Griechenland hat immer noch 26% Arbeitslose, bei den Jugendlichen sind es sogar 50% und jetzt soll man aus dieser Not eine Jugend machen? Wie soll das gehen? Da fragt der Vater: „Bub, warum geht’s euch so schlecht?“ Und dann sagt der Junge: „Das ist der Euro, Pa!“

Und bei solchen Zahlen mischen auch noch andere Länder mit. Spanien, ebenfalls 50% Jugendarbeitslosigkeit, und ein Nationalhelds-Arschloch wie Lionel Messi, der ohnehin 16 Millionen im Jahr vom FC Barcelona kriegt, hinterzieht auch noch vier Millionen davon. Wenn das unsere Helden sind, möchte ich die Schurken gar nicht erst kennenlernen.

Wir haben das Denken aufgegeben, weil Denken eine Form des zivilen Ungehorsams ist.

Das sollen meine Texte übrigens sein: ein Aufforderung zu ungehorsamen Denken. Denn der Kopf ist nicht nur zum Schütteln da.

Probieren Sie es aus, seien Sie ungehorsam, verwirren Sie Ihre Mitmenschen, denken Sie quer! Gehen Sie zum Bäcker, sagen Sie: „Grüß Gott, ich hätte gern ein Pfund Roggenbrot. Zum Hier-Essen! Dazu einen Topf Honig mit ganzen Bienen!“ Oder ziehen Sie mal mit Absicht an Türen, auf denen ganz groß „Drücken“ steht. Gehen Sie zu den Passionsspielen in Oberammergau und nach der Kreuzigung rufen Sie: „ZUGABE! ZUGABE!“ Quetschen wir Zahnpastatuben mal nicht von hinten aus und lassen wir alle gemeinsam einen großen Furz und behaupten, es sei Rückenwind.

Oder erinnern wir uns gemeinsam an die poetischste, wundervollste Form des zivilen Ungehorsams. Erinnern wir uns an den 18. Juni 2013. Als der türkische Staatspräsident Recep Erdogan – Sie wissen, der Sultan aus 1001 Macht – keine Demon­strationen mehr zulässt, stellt sich der Choreograph Erdem Gündüz starr und schweigend auf den Taksim-Platz und sieht sechs Stunden lang auf das Portrait von Kemal Atatürk am seit Jahren geschlossenen Kulturpalast. Es gibt Dinge, zu denen mir kein Witz, keine Pointe einfällt, sondern vor denen ich aus Bewunderung nur meinen Hut ziehen kann.

Und wir können das auch. Zeigen wir, was es nützt, wenn die Schilder laufen lernen. Lasst uns tanzen, vor allem aus der Reihe. Wenn wir uns schon einmischen, dann doch bitte unters Volk. Beziehen wir Stellung! Ach, Stellung, eine Bastion!