Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute - Heike Gehlhaar - E-Book

Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute E-Book

Heike Gehlhaar

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Beschreibung

Ein IC - ein Schneesturm und plötzlich geht nichts mehr. Zunächst nicht ungewöhnlich, aber nach einer Stunde Stillstand ohne Information wird allen im Abteil klar: Es gibt ein größeres Problem. Die 74-jährige rüstige Roswitha Kellermann übernimmt gekonnt die Regie, als zunehmend Unruhe unter den Reisenden entsteht. Flackerndes Licht, kein Internet und vor den Fenstern ein Wetterchaos, was seines Gleichen sucht, machen die Situation nicht leichter. Zum Glück befindet sich die Schriftstellerin Rita Dankeschön im Abteil. Sie ist bereit, zur Ablenkung einen ihrer gerade entstandenen Texte vorzulesen. Anschließend entsteht eine Diskussion über die Art von Geschichten für das neue Buch der Autorin. Erotisch, peppig, mit einem Hauch Kriminalistik, so müssen die Erzählungen sein! Eigenartig, dieselben Worte nutzte ihre Lektorin im Hamburger Verlagshaus über den Inhalt des zu erwartenden Romans. Plötzlich weiß jeder im Abteil eine Geschichte zu erzählen. Ein unbeschreibliches Geschenk für Rita Dankeschön. Denn so entsteht ein Roman der ihre Leser mit einem Wechselbad der Gefühle versorgt. Rote Ohren, schneller Atem und feuchte Augen sind hierbei garantiert. Nicht ohne Grund erinnert dieses Abenteuer an die Geschichte im legendären Orient-Express. Mit einem guten Glas Rotwein in der Hand und auf dem Lieblingsplatz sitzend, verzaubert dieses Buch, dass seine Geschichte ebenso romantisch wie erotisch erzählt, jeden grauen Herbsttag.

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Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute Die aufregendste Reise nach dem Orient-Express

Heike Gehlhaar

©2020 Heike Gehlhaar

Illustration Titelseite: Georg Zitzmann showzeichner.com

Gestaltung Rückseite: erstellt mit Transport Fever2

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

978-3-347-00364-4 (Paperback)

978-3-347-00365-1 (Hardcover)

978-3-347-00366-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Autorin

Durch einen Schicksalsschlag entdeckte Heike Gehlhaar die Lust am Schreiben. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman: ’Franziska - Eine Reise in die Zukunft’. Die Erlebnisse und Erfahrungen mit diesem Buch waren einzigartig. Inzwischen erschien ihr zweiter Roman und ein dritter ist in Arbeit. Mit ihrer Familie wohnt die 52-jährige Autorin im grünen Herzen Deutschlands.

www.heike gehlhaar. de

Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

»Es fährt ein: IC 2029 von Hamburg Hauptbahnhof über, Bremen, Dortmund, Köln und Frankfurt am Main nach Nürnberg …«

»Elvira, jetzt kommt er, endlich! So, ich nehme den Koffer. Achte bitte auf deinen Rollator … «

Die rüstige Dame hakte die Freundin unter, schaute sich nervös um und trat unruhig von einem Bein auf’s andere. Im Allgemeinen traute sich die Vierundsiebzigjährige pummelige Roswitha derartige Unternehmungen durchaus zu. Aber diese Reise mit Elvira hatte sie vollkommen unterschätzt. Allmählich standen ihr vor Aufregung die Schweißperlen auf der Stirn. Doch sie lächelte, denn Elvira durfte unter gar keinen Umständen ihre Unsicherheit bemerken. Seit einem Jahr planten beide diese Reise. Immer wieder schrieb die Freundin aus Frankfurt. Sie mussten sie unbedingt noch einmal sehen, denn mit jedem Jahr, was vergeht, würde ein solcher Besuch unwahrscheinlicher. Roswitha atmete schwer und schielte dabei vorsichtig nach der Freundin an ihrem Arm. Elvira war so konzentriert auf ihre Gehhilfe, dass sie vor Aufregung ihre Zunge unentwegt über ihre Lippen schob. Unwillkürlich musste Roswitha schmunzeln. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war. Sie wusste wovon sie sprach. Schließlich kannten sich beide seit fünfzig Jahren. Roswitha schweifte ab mit ihren Gedanken: »1942 … das wunderschöne Frühjahr … der Park … «

Plötzlich nahm sie aus der Entfernung den sich schnell nähernden IC wahr. Automatisch spannte sich jeder Muskel in ihrem Körper an. »Wo wird er halten?« Unruhig schaute sie an den vorbeifahrenden Waggons entlang und hoffte, dass einer von ihnen mit seinem Einstieg vor den Frauen zum Stehen kommt. Kurz ging ihr Blick über die unzähligen Köpfe rechts und links neben den beiden Abenteurerinnen. Sie spürte die Hitze, die sich in ihrem Gesicht immer weiter ausbreitete.

»Gib mir deinen Hut!«, strahlte Roswitha. Die Erleichterung, die allmählich bei ihr ankam, konnte sie kaum beschreiben. Elvira saß selig in ihrem Sitz und tat, als wäre das gerade erlebte Abenteuer das Normalste von der Welt. Roswitha atmete tief durch und lächelte die zwei jungen Männer auf den Sitzen gegenüber begeistert an. Schnell hatten diese fröhlichen Jungen bemerkt, dass die beiden alten Damen links neben ihnen auf dem Bahnsteig, mit dieser Situation völlig überfordert schienen. »Geben Sie mir Ihren Koffer!«, sagte der junge Mann mit den blonden Rastalocken und dem riesigen Rucksack auf dem Rücken. Noch bevor die bereits nur noch langsam hörenden Ohren verstanden, was man von den Freundinnen erwartete, standen beide im Abteil. Der Rollator ordentlich zusammengeklappt, der Koffer in der Ablage, die Mäntel am Haken und die zwei staunenden Damen wurden auf dem Sitz verstaut. Die zwei jungen Männer erledigten in sekundenschnelle, was für Roswitha eine wochenlange Grübelei ausgelöst hatte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.

»Fahren Sie auch bis Frankfurt?« Die dunklen Augen des schwarzen Wuschelkopfs ihr gegenüber erinnerte Roswitha spontan an alte Zeiten. »Ja, wir wollen eine Freundin besuchen!«, erklärte Elvira stolz. Hinter dem lausbübischen Lächeln des beinahe zwei Meter großen, schlanken jungen Mannes, konnte man ein Staunen erahnen. »Hoffentlich kommen wir auch so gut beim Aussteigen zurecht. Ohne Sie wären wir ziemlich hilflos gewesen!« »Keine große Sache. Wir machen das jede Woche!«, warf der blonde Junge ein. »Ich bin Alvin und das ist Paul!«, strahlte der andere junge Mann und reichte den Frauen artig die Hand. »Angenehm! Das ist meine Freundin Elvira und mich nennt man Roswitha!« Beide Jungen sahen sich verblüfft an. »Das ist schon recht junger Mann! Wir waren nicht immer so unbeholfen in unserem Leben!«, schmunzelte Elvira. »Darf ich Sie fragen, wohin Sie unterwegs sind?« »Klar!«, sagte Paul. »Wir wollen zum Flughafen Frankfurt und fliegen morgen nach Tokio. Wir haben eine vierwöchige Trekkingtour quer über die japanischen Inseln geplant.« »So die deutsche Bahn will!«, fügte Alvin hinzu. »Vier Wochen?« Elviras ungläubiger Blick ging von einem zum anderen. »Sicher, sonst lohnt es sich ja nicht. Wir studieren Geographie und Geologie. Die Universität bot uns diese einmalige Studienreise an. So etwas muss man schließlich nutzen!«

Eine halbe Stunde später war jeder im Abteil mit sich selbst beschäftigt. Die Gespräche schliefen ein. Ebenso Elvira. Mit einem zufriedenen Lächeln um die Mundwinkel döste sie nun schon einige Minuten. Paul hatte Kopfhörer auf, hörte Musik und sein Blick verlor sich in der vorbeirauschenden Landschaft. Alvin hatte ein anderes Gerät auf dem Tisch. Wie man es nennt, wusste Roswitha nicht. Aber die Frage danach erlaubte sie sich nicht. Mit den Jahren verlor sie den Anschluss an den Umgang mit moderner Technik. Dabei war sie so lange es ihr die Erinnerung erlaubte, immer technisch interessiert und unerschrocken beim Ausprobieren aller Errungenschaften der neuen Zeit. Etwas wehmütig schaute sie den jungen Männern zu und beneidete sie um die Alltäglichkeit, welche diese Technik ihnen bedeutete.

Um nicht aufdringlich zu wirken, schickte sie ihren Blick durch das Abteil. Obwohl über dem Bahnsteig eine Unmenge von Köpfen ragten, verloren sich die Reisenden im Zug. Das Abteil war zwar nicht leer, denn beinahe jeder Platz war besetzt. Doch überfüllt wäre eine Übertreibung, würde man davon berichten. Nebenan saßen sich zwei Frauen gegenüber. Beide wirkten ebenfalls sehr beschäftigt. Die attraktive Blondine zur Rechten, die Roswitha auf etwa achtundzwanzig Jahre schätzte, war in einen Roman vertieft. »Ich wette, sie ist Russin!« Dabei lächelte sie über ihre eigene Beobachtung. Den Titel des Romans konnte sie nicht erkennen, obwohl die Buchstaben überdimensioniert groß waren, untypisch für moderne Literatur. Deshalb, und weil sie es erstaunlich fand, dass eine so junge Frau las und obendrein ein offensichtlich altmodisches und dickes Buch, versuchte sie die Art des Wälzers herauszufinden. Aber ihre Kenntnisse über das kyrillische Alphabet hielten sich leider in Grenzen. Als die junge Frau Roswithas aufmerksames Beobachten bemerkte, drehte sich die alte Dame beschämt zum Fenster. Doch wenig später folgten ihre Augen demselben Weg. Wieder wurde es bemerkt, doch die Leserin beließ es bei einem höflichen Lächeln und ließ Roswitha gewähren. Doch diese konzentrierte sich bereits auf ihre Sitzgenossin gegenüber. Sie wirkte vollkommen vertieft und angestrengt arbeitend an einem vor ihr stehenden Computer. Man sah der Frau die Anstrengung an. Sie schien etwa vierzig Jahre alt und war alltäglich gekleidet mit Jeans und grauen Turnschuhen. Einzig, das quietschgelbe Tuch, das lose um ihren Hals hing, könnte einen aufmerksamen Blick auf sich ziehen. Im Gegensatz zu der jungen Frau an der anderen Tischseite, von der man meinen könnte, sie sei zu »Heidis Topmodels« unterwegs. Bei diesem Gedanken musste Roswitha lächeln. Sie kannte sich vielleicht nicht mit moderner Technik aus. Was aber sonst an Neuigkeiten im Fernsehen und aus Zeitschriften zu erfahren war, wusste sie sehr genau. So eine Zeitung hatte schließlich keine komplizierte Gebrauchsanweisung oder tausend Knöpfe. Doch das man mit diesem tragbaren Computer eine Menge tun kann, wusste sie natürlich. »Wie hieß das Ding doch gleich?« Ihr Enkel hatte ihr davon erzählt, als er ganz stolz seinen neuesten Spielstand der staunenden Großmutter vorführte. Aber was sie bei dieser Dame sah, zeugte von Ernsthaftigkeit und aufmerksamer Betätigung. Sie schien der Welt entrückt zu sein, denn vor wenigen Minuten eilte ein junger Herr des Servicepersonals durchs Abteil und nahm Getränkewünsche der Reisenden entgegen. Nach zweimaliger Aufforderung gab der junge Mann etwas erstaunt auf und ging weiter. Was sie schrieb, musste wohl ihre gesamte Aufmerksamkeit abfordern, weil sie so vertieft war. Wenn es nicht so neugierig und aufdringlich wirken würde, hätte Roswitha schon lange nachgefragt.

Leise stöhnend lehnte sich die alte Dame an ihr Kopfteil, wendete ihren Blick aus dem Fenster und bedauerte, an der modernen Zeit so wenig teilhaben zu können. Wie sie so ihren Gedanken nachhing, wurde ihr plötzlich bewusst, was sich vor dem Zugfenster zusammenbraute. Klar, man hatte den frühzeitigen Winter angekündigt, wie praktisch in jedem Jahr. Doch die dicken Schneeflocken, die offenbar von einem stark aufkommenden Wind wild durcheinander stoben, verhießen vielleicht keine ruhige Fahrt. Besorgt betrachtete sie den seltsam rosafarbenen Horizont, der mehr nach einem Aquarell aussah, als einem Dezembernachmittagshimmel. »Nun … «, dachte sie. »Wir sitzen hier im Zug warm und trocken und das Wetter wird sich schon beruhigen!«

Noch bevor der IC endgültig stand, schauten sich die Reisenden verwundert an. Jeder dachte offenbar das Gleiche. Dieser Halt bedeutete nichts Gutes. Paul öffnete die Augen und stupste seinen Freud an. »Alter, nur gut das wir erst morgen fliegen. Als wenn ich es geahnt hätte. Schau mal raus!« Paul sah besorgt aus, was Alvin mit einem Lächeln abtat. »Keine Panik! Was soll denn schon passieren?« »Wir sind schließlich nicht im Orient-Express!«, warf Elvira ein. Seit wenigen Minuten war sie wieder wach und bereit, sich an der beginnenden Aufregung zu beteiligen. Seltsamerweise zog sie mit der Bemerkung über den Orient-Express die Aufmerksamkeit der beiden Frauen von nebenan auf sich. Selbst die beschäftigte Schreiberin unterbrach kurz ihre Arbeit, schaute auf und blinzelte neugierig.

Fragend sah Alvin die alte Dame an. »Kennen Sie denn die Geschichte vom Morden im Orient-Express nicht? Nun, dann sollten Sie es lesen!« Elvira grinste den jungen Mann herausfordernd an. Dieser zog sein Smartphone hervor, tippte etwas ein und schmunzelte. »Ach, die Geschichte meinen Sie! Die kenne ich, habe ich auf ’stream’ gesehen!« Paul lachte und wusste die ungläubige Geste Elviras zu überspielen. »Er meint: eine Art von Fernsehen, nur auf einem anderen Gerät!« Augenblicklich war sich Alvin seiner modernen Sprache bewusst. Natürlich wusste er, dass ältere Menschen manchmal ein Problem damit haben. Schließlich hatte auch er Großeltern und als ungebildet konnte man seinen Großvater, Professor Otto Kramer, nun wirklich nicht bezeichnen. Er lebte einfach nur in einer anderen Zeit.

»Also, wenn ich mir dieses Wetter anschaue, sollten wir alle hübsch wachsam bleiben und das Abteil beobachten, damit uns der Mörder nicht entgeht!« Alle begannen zu lachen. Auch die beiden Frauen von nebenan beteiligten sich nun an dem folgenden Geplauder. Auf diese überraschende Art erfuhr Roswitha von der Schriftstellerin und ihrer Tätigkeit am Laptop. »Laptop! Genau, so heißt dieses Gerät! Nun, früher nahm man Papier und Bleistift, denn wer wollte immer eine schwere Schreibmaschine mit auf Reisen nehmen. Doch offenbar hat sich grundsätzlich an der Arbeit eines Autors kaum etwas verändert«, dachte Roswitha zufrieden beim Lauschen der Erzählungen. Doch schon nach kurzer Zeit stürzte sich die Schriftstellerin wieder an ihre Arbeit und wirkte schnell genauso abwesend wie zuvor.

Irgendwann sah jemand auf die Uhr. »Wir stehen schon eine halbe Stunde! Warum das Servicepersonal nicht in der Lage ist, ihre Gäste mit einer Information zu ergötzen, bleibt ein ewiges Rätsel!« Diese empörte Stimme, jedoch nicht ohne sarkastischen Ton, kam von einem Herrn mit großen stechenden Augen, der von seinem Platz aufstand und nervös im Gang auf und ab ging. Obwohl bereits an den Schläfen ergraut, wirkte er hoch attraktiv. Die klugen Augen verliehen dem Mann eine Aura, die seine gehobene Aussprache noch unterstützte. Früher hätte man ihn als einen feinen Herrn aus gutem Hause bezeichnet. »Vielleicht ist er ein Arzt, oder Professor?«, grübelte Roswitha. »Nun, auch solche Menschen kann ein Mangel an Informationen aus der Ruhe bringen!«

Ein beleibter Mann mit hochrotem Kopf und nervösem Blick betrat das Abteil. Die Weste seiner Bahnuniform spannte sichtlich über dem runden, hervorstehenden Bauch. Der Schweiß stand ihm vor Aufregung oder Anstrengung, vielleicht auch von jedem etwas, auf der Stirn, denn was er zu sagen hatte, stieß in keinem Abteil auf Begeisterung. Vor etwa einer Stunde war zirka einen Kilometer vor dem stehenden IC eine Schnee- und Schlammlawine abgegangen. Dummerweise befanden sie sich auf einer eingleisigen Strecke in einer unwegsamen und schlecht erreichbaren Gegend, so dass mit einem schnellen Fortkommen wohl nicht zu rechnen war.

»Orient-Express!«, sagte Elvira mit erhobenem Zeigefinger. Alle sahen sie entgeistert an. Es war ihre Art, scheinbar unbeteiligt zu wirken, jedoch genau im richtigen Augenblick mit einem guten Einwurf um die Ecke zu kommen. Anders als erwartet, wusste beinahe jeder, was sich damals in dem legendären Zug zugetragen hatte. Eine eigenartige Stimmung breitete sich unter den Menschen im Abteil aus. Einige standen nun ebenfalls auf und liefen planlos im Gang herum. Dabei schauten sie aus den anderen Fenstern, in der Hoffnung, einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen - nicht unerwartet - blieben diese unerfüllt.

Eine weitere Stunde geschah nichts. Dann plötzlich kam der sichtlich überforderte Bahnmitarbeiter und verkündete, dass der Grund für die spärliche Aufklärung außerhalb des IC zu suchen wäre. Deshalb machten Durchsagen seitens des Personals derzeit keinen Sinn. Aber man bemühe sich, in absehbarer Zeit den Stand der Dinge herauszufinden und für eine baldige Lösung zu sorgen.

»Eh, haben die kein Smartphone?« Paul nahm sein Telefon und runzelte die Stirn. Für Roswitha war es unverständlich, mit wie viel Fingerfertigkeit die jungen Leute diese Aufgabe bewältigen. »Oh, oh!«, sagte er. »Hast du ein Netz?« Nervös drehte er sich zu Alvin. Der schüttelte seinen Kopf. »Das sieht gar nicht gut aus! Da muss was größeres im Gange sein. Das betrifft nicht nur uns!« Er stand auf und ging zu dem vermeintlichen Model hinüber. »Versuchen Sie es bitte einmal!« Sie lächelte ihn besorgt an, musste dann aber feststellen, dass auch sie über keinerlei Internetverbindung verfügte. Paul ging in den Gang und rief: »Entschuldigen Sie. Hat jemand von Ihnen ein Netz?« Eine betretene Stille erfasste das gesamte Abteil, als allen klar wurde: Sie befanden sich jenseits einer Verbindung mit der Außenwelt. »Offenbar ein beängstigender Zustand für die modernen Menschen von heute!«, grübelte Elvira. Der aufgeregte Gesichtsausdruck der jungen Leute um sie herum, ließ keinen anderen Eindruck zu.

»Es wird Zeit etwas zu unternehmen!«, murmelte Roswitha. Elvira sah sie fragend an. Sie hatte die Freundin nicht verstanden. Doch diese war bereits mit den Gedanken auf einer Mission. Aufmerksam beobachtete sie die Schriftstellerin in der Nachbarsitzgruppe. Von der allmählich aufkeimenden Panik, die unaufhaltsam einen nach dem anderen im Abteil anzustecken schien, bekam sie nur wenig mit. Denn nach dem Geplauder mit den alten Damen gegenüber vertiefte sie sich wieder in ihre Arbeit. Nichts würde sie vermutlich aus der Ruhe bringen. »War sie denn mit ihren Gedanken sosehr gefangen in der Welt, die sie gerade schuf?« Noch darüber nachdenkend, brachte dieser Anblick Roswitha auf eine Idee.

»Junge Frau! Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?«

Und richtig, die fleißige Schreiberin schaute erschrocken auf und innerhalb von Sekunden nahm sie die Unruhe in ihrer Umgebung wahr. Von dieser wurde sie bisher offenbar noch nicht erfasst. Es dauerte einige Zeit, bevor sie die Situation richtig einzuordnen begann. Eine derartige Hingabe in das eigene Werk, ließ Roswitha kurz vergessen worum es ihr ging. Staunend sah sie in das erwartungsvolle Gesicht der Mitreisenden. Sie lehnte sich zurück, schaute jeden an und sagte: »Verzeihung, ich habe Sie nicht richtig verstanden. Ich bin immer sehr abwesend, wenn ich schreibe.« Nicht zu wissen, was vermutlich seit einiger Zeit um sie herum geschah, ließ die Frau rote Wangen bekommen, verlegen lächeln und verstummen. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen! Ich wollte Sie nur etwas fragen!«, beruhigte Roswitha die aufgeregte Nachbarin. Nun begann ein wüstes Stimmengewirr. Jeder der aufgekratzten Mitreisenden im Abteil bemühte sich, der noch immer ahnungslosen Frau, die ihrerseits mit jedem weiteren Satz immer weniger verstand, die Situation zu erklären. Das war durchaus gut gemeint. Doch leider sprachen alle durcheinander. Ein kurzer Pfiff des netten graumelierten Herrn aus der nächsten Sitzgruppe beendete das Stimmengewirr. »Entschuldigen Sie! Bitte sprechen Sie nacheinander. Man kann doch sonst nur schwer verstehen, was gesprochen wird! Danke!«

Roswitha stand auf und strahlte den Herrn zufrieden an, wobei sie seine korrekte Aussprache bewunderte. Dabei war zu vermuten, dass er seinen deutlichen Akzent verbergen wollte. »Ist gar nicht nötig!«, dachte sie. Langsam schob sie sich vorbei an dem zusammengeklappten Rollator in den Gang, damit alle sie sehen konnten. Es schien ihr sehr wichtig und es machte sie keineswegs verlegen, im Gegenteil. Schon 1944, in den schlimmsten Bombennächten, bewies sie einen klugen Verstand und eine natürliche Begabung, eine Gruppe verängstigter Mitmenschen zu beruhigen und durch eine vermeintliche Katastrophe zu führen. Diese Fähigkeit begleitete sie ihr Leben lang. Als geübte Krankenschwester, Seelsorgerin in der Diakonie und bei den vielen ehrenamtlichen Aufgaben, denen sie sich nach ihrer Pensionierung mit Hingabe widmete. Sie sah es inzwischen als ihre Pflicht an, jetzt etwas gegen die allgemeine Unruhe zu unternehmen. Dabei war von Ruhestand in diesem entschlossenen Gesicht keine Spur zu erkennen. »Vielen Dank, junger Mann! In Ordnung. Ich bitte Sie der Reihe nach zu erklären, was jeder von Ihnen vermutet, warum wir in dieser Lage sein könnten!« Tatsächlich funktionierte diese klare Anweisung. Nachdem alle ihre Vermutungen kundgetan hatten, auch die Aussagen des Servicepersonals berücksichtigt wurden, kam man zu folgendem Ergebnis:

»Fakt ist … «, sagte Alvin » … wir haben seit etwa einer Stunde kein Internet. Das Bahnpersonal steht per Funk mit der Leitstelle in Verbindung, was allerdings bisher auch kein Licht ins Dunkle brachte. Deshalb liegt die Vermutung nahe, es handelt sich um ein größeres Problem, dass mit unserem IC im Grunde nichts zu tun hat. Wenn ich nach draußen schaue, wird klar: nur ein extremes Wetterereignis kann die Ursache hierfür sein!« Offenbar zufrieden mit seinem Auftritt verstummte er. »Vielen Dank, Alvin!« Nun wollte Roswitha wieder das Zepter übernehmen.

»Ich meine: lange kann das hier nicht dauern, denn schließlich sind wir nicht im Orient-Express im weit entfernten Jugoslawien!« Alle sahen Elvira an. Von Unglauben bis zum erschreckten Erstaunen war in den vor Aufregung glänzenden Gesichtern der Mitreisenden beinahe jede mögliche Emotion zu sehen. »Eigentlich ist ja das Personal für das Mitteilen von Informationen zuständig!«, bestätigte das Model. »Sicherlich, jedoch ein wenig Ablenkung könnte allen bis dahin helfen!« Roswitha hatte den Satz kaum beendet, da begann das Licht zu flackern. Sofort brauste das besorgte Gemurmel im Abteil wieder auf. »Wie damals!«, schoss es Roswitha durch den Kopf. Einen kurzen Blick zur staunenden Freundin bestätigte ihre Annahme. Egal, wie viele Jahre vergehen werden, wie viel moderne Technik dem Menschen zur Verfügung steht, am Ende ist der Mensch nur eines: hilflos!

»Junge Frau, ich habe eine Bitte … «, begann sie. »Gern, wenn es in meiner Macht steht. Worum geht es?« »Sie sind, wie ich vermute eine engagierte, erfolgreiche Schriftstellerin und Sie arbeiten an einem Text. Ob Sie uns von dem, was Sie so zu Papier bringen, etwas vortragen könnten? So zum Ablenken, meine ich!« Erstaunt sah diese Roswitha an und etwas verunsichert sagte sie: »Ja, gern!« Das leichte Zögern kam von dem Gedanken, ob die Leute das, was sie schreibt interessieren würde. Doch Roswitha ließ sich nicht beirren. Sie wusste aus Erfahrung: Ablenkung und Beschäftigung hält die Menschen ab von Hysterie und unüberlegten Handlungen. »Nur zu, ist doch egal! Die Hauptsache, wir haben etwas zu tun. Wer nicht zuhören möchte, kann sich ja in seinen Sitz zurückziehen.«

Nun drehte sich die Schriftstellerin zur Seite, kramte in der Laptoptasche und brachte ein bereits etwas mitgenommenes Manuskript hervor. In dem Augenblick, als sie sich kurz räuspert und den Rücken streckt, gerade so, als müsste sie vor versammelter Schulklasse ihren letzten Aufsatz vortragen, drehten sich andere Reisende im Abteil zu dem Geschehen im vorderen Bereich des Waggons, um teilzuhaben an der nun doch gern angenommenen Ablenkung. »Kommen Sie nur!«, forderte Elvira die sich neugierig Umschauenden auf und wies ihnen freundlich lächelnd mit der Hand den Weg zu den vorderen Plätzen. Und tatsächlich setzten sich einige in Bewegung, augenblicklich herrschte Stille und die Schriftstellerin begann.

»Nun, mein neues Buch, an dem ich arbeite, ist noch am Anfang. Zunächst sammle ich Ideen und weiß heute noch gar nicht, wohin die Reise führen wird. Eine Erzählung habe ich aber soweit, dass ich sie vorlesen kann!« »Wie wird Ihr Buch heißen?« Der Herr mit dem bezaubernden Lächeln und exotischen Akzent wirkte sehr interessiert. »Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute« »Oh, das ist aber sehr speziell! Da kann man ja hineininterpretieren, was immer einem einfällt! Das finde ich spannend!« »Danke schön! Zunächst ist es aber noch ein Arbeitstitel, denn im Grunde soll es ja eine Geschichtensammlung werden.«

»Ähm … Entschuldigung!«, meldete sich Alvin. »Was bitte, ist eine Trabant-Tür?« Einige begannen zu lachen. Der graumelierte Herr beantwortete schmunzelnd die für einen so jungen Mann durchaus verständliche Frage. »Also, ein Trabant ist oder war ein PKW. Hergestellt in der ehemaligen DDR. Klein, robust, leicht zu reparieren und für die Menschen in diesem Land damals ein Heiligtum. Mein Onkel fährt heute noch eine solche ’Pappe’, wie man dieses Gefährt liebevoll nannte!« »Aha, sagt mir nichts. Aber okay, jetzt habe ich eine Vorstellung. Danke!« Etwas peinlich berührt zog er seinen Kopf ein, denn er hatte längst das Grinsen seines blonden Freundes gesehen, der sich königlich auf seine Kosten amüsierte. »Alter, du hast das natürlich gewusst!«, empörte er sich kopfschüttelnd.

»Na, dann wollen wir mal hören. Nur Mut, wir sind alle sehr gespannt!« Ermunternd tätschelte Elvira Alvins Hand und erlöste ihn damit von der peinlichen Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Alle Augen richteten sich nun auf die Schriftstellerin, die mit heißerer, bebender Stimme zu lesen begann.

Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute

Hasen sind seltsame Geschöpfe, insbesondere Plüschhasen. Manche fristen ihr Dasein gelangweilt und verstaubt im Regal. Anders Schlappohr: der Beschützer, Tröster, Abenteurer und ein Schelm …

Als sich Lisa und Thomas kennenlernten, waren beide mit ihren zwölf Jahren beinahe noch Kinder, jedoch seit fast drei Wochen unzertrennlich. Stets warfen sie nur einen Schatten.

Lange wehrte sich Thomas gegen diese Reise ins Kinderferienlager. Er fühlte sich dafür viel zu alt. Doch seine Eltern ließen ihm praktisch keine Wahl. Und nun wusste er nicht, wie er ihnen danken sollte. Ohne diese Hartnäckigkeit wäre ihm dieser Traum von einem Mädchen nie begegnet.

Zur Selbstständigkeit erzogen, konnte er sich bessere Beschäftigungen vorstellen, als mit einer Gruppe Gleichaltriger durch die Wälder zu toben. Jetzt sah er die Dinge natürlich ganz anders. Er schaute durch die sprichwörtlich rosarote Brille.

Dieser Junge gehörte zu einem wohlhabenden Optikermeister-Haushalt und wurde als einziges Kind entsprechend mit gewissen Privilegien bedacht. Einen Grund, warum seine Eltern in diesem Sommer so vehement darauf bestanden, dass er sich dringend erholen sollte, wusste er nicht. Im Allgemeinen genoss er in seinem Elternhaus die bestmöglichste Erziehung und schulische Ausbildung. Schließlich sollte er einmal den elterlichen Betrieb übernehmen. Dazu passte dieser Kinderausflug, wie er ihn empört nannte, so gar nicht. Das Optikergeschäft der Eltern fand man in bester Lage, mitten im Zentrum der Lutherstadt Eisleben, bereits in vierter Generation und sehr erfolgreich. Sie hoffte nun, dass auch die Nächste ihre Erwartungen erfüllt.

Doch im Moment hatte Thomas andere Sorgen. Er war mitten in der Pubertät und hatte nur Augen für Lisa, praktisch jeder Gedanke kreiste um sie.

Auch Lisas Eltern besaßen einen kleinen Betrieb. Man fertigte Lampen aller Art, inklusive diversem Zubehör. Als jüngstes von vier Kindern genoss sie bei ihrem Vater eine Sonderstellung und wurde deshalb über alle Maßen verwöhnt. Frei und ungezwungen aufgewachsen, stets gewohnt, ihren Kopfdurchzusetzen und für gewöhnlich immer ihren Willen bekommend, fühlte sie sich von Natur aus privilegiert und zu Besserem berufen.

Thomas hatte sich schon bis über beide Ohren verliebt bei Lisas erstem frechen Lächeln. Dieses selbstbewusste Mädchen hatte es ihm einfach angetan. Wenn es ihm möglich war, wich er den ganzen Tag nicht von ihrer Seite. Doch sie schien nur mit ihm zu spielen. Lisa sah es gern, genoss jede Minute, die er ihr widmete. Schließlich war sie es gewohnt, denn ihr galt immer jegliche Aufmerksamkeit ihres Umfeldes. Dass sie den netten Jungen mit diesem Verhalten verletzen könnte, schon allein deshalb, weil sie ihn wie selbstverständlich ausnutzte, bemerkte sie nicht einmal.

Thomas ließ es jedoch geschehen. Wie ferngesteuert folgte er ihr auf Schritt und Tritt. Mädchen, die er bisher aus der Schule oder von der Straße kannte, waren kein Vergleich zu Lisa. Meistens albern, zickig oder beides, kein normales Gespräch war mit diesen Gören möglich.

Jeden Tag saßen die Teenies auf der Wiese vorm Haus und unterhielten sich über Dinge, die Thomas nicht einmal mit seinem besten Freund besprach. Woher wusste Lisa so etwas? Auf seine Frage, ob sie schon einmal einen Freund hatte, antwortete sie ausweichend oder wechselte schnell das Thema. Warum diese Geheimniskrämerei? Das verstand er nicht. Und doch wagte er nicht, sie ein zweites Mal zu fragen. Viel zu sehr war er bereits von ihrem Lächeln, jeder wohlwollenden Geste, die sie ihm schenkte, abhängig. Manchmal traute er kaum seinen Ohren, wenn Lisa bei Themen, die er sonst nur flüsterte, mit Fachwissen um die Ecke kam.

Dabei nutzte sie nur geschickt aus, dass sie mit sehr viel älteren Geschwistern aufwuchs. Beide Schwestern waren bereits verheiratet und auch ihr Bruder, inzwischen vierfacher Vater, empfahlen sich stets als eine sprudelnde Wissensquelle. Und einem solch’ aufgeweckten Kind wie Lisa entging unter diesen Voraussetzungen so gut wie nichts. Dass dieses frühreife Mädchen ihr Wissen gnadenlos ausnutzte, war offensichtlich. Und so ganz nebenbei erreichte sie mühelos, was auch immer sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Bei diesem Jungen musste sich Lisa nicht einmal anstrengen. Er lief ihr nach, wie ein dressiertes Hündchen, hing an jedem Wort, was sie sprach und lechzte nach jedem Lächeln, mit dem sie ganz bewusst sehr sparsam umging. Dabei mochte sie Thomas, verbrachte gern mit ihm ihre Zeit. Ihn stets in ihrer Nähe zu wissen, machte sie stolz. Auch Lisa hatte sehr schnell die Erfahrung machen müssen, so gut wie mit Thomas, konnte sie sich sonst mit niemandem unterhalten. Am meisten bewunderte sie die Klugheit dieses ungewöhnlichen Jungen. Bisher konnte sie mit dem, was Jungen seines Alters von sich gaben, nur wenig anfangen. Meist sich mit üblen Streichen profilierend, waren diese ihr einfach nur zu doof.

Dagegen lauschte sie Thomas völlig fasziniert, was sie sich jedoch nie anmerken ließ. Lisa musste immer und überall den Ton angeben. Sie war keineswegs ungebildet und allseits interessiert, doch mit diesem Jungen konnte sie nicht mithalten. Je länger sie ihn kannte, umso mehr begann sie, sich darüber zu ärgern. Immer wusste er alles besser. Nicht selten bezeichnete sie ihn deshalb provokativ als Klugscheißer. Doch schien eine solche Titulierung ihm überhaupt nichts auszumachen. Im Gegenteil, es amüsierte ihn sogar, und es prallte jede ihrer Beschimpfungen an ihm einfach nur ab.

Die drei Wochen vergingen wie im Fluge. Das Wetter war unbeschreiblich schön, die Sonne brannte vom Himmel und ab und zu fegte ein laues Lüftchen übers Feld. Was wollte man mehr?

Dass ihr neuer Freund mehr wollte, als nur Händchen halten, wusste Lisa allerdings früh. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Doch sie ließ ihn zappeln. Nicht einmal seinen Arm durfte er um ihre Schulter legen. Und einen Kuss erlaubte sie ihm schon gar nicht. Aber warum eigentlich? Frech und vorwitzig hätte ihr sicher diese erste Liebelei gefallen. Aber vielleicht konnte sie bereits jetzt schon die Gefahr wahrnehmen, die von diesem zarten Jungen einmal für sie ausgehen könnte.

So kam es, dass Lisa ihn bereits wenige Wochen nach den Sommerferien vergessen hatte. Nur Thomas konnte das nicht, nutzte deshalb seine Intelligenz und die Tatsache, welche ihm die Vergötterung seiner Eltern bot, um sie wiederzusehen.

Schnell machte er Lisa ausfindig, setzte sich in den nächsten Zug und stand an einem frühen Samstagnachmittag einfach vor Lisas Tür. Voller Vorfreude und ohne Scheu erklärte er der netten Frau, die ihm die Tür öffnete, wer er war und was er wollte. Diese, hocherstaunt, rief nach Lisa. Einen kurzen Moment lang, machte sich bei ihm doch ein flaues Gefühl breit. Was, wenn sie ihn gar nicht mehr sehen wollte?

Doch nur Sekunden später riss ihn Lisa, die lachend und komplett außer sich vor Freude auf ihn zusprang, aus diesen vollkommen unnötigen Gedanken. Denn ohne darüber nachzudenken, fiel sie Thomas um den Hals, begrüßte ihn derart überschwänglich, dass ihre Mutter, die noch immer an der Tür stand, die Stirn runzelte. Sie hatte schließlich weitreichende Erfahrungen mit den älteren Töchtern. Dass ’DIE’ hier noch schlimmer wird, davon musste sie ausgehen. Doch was sollte sie tun? Seufzend räumte sie das Feld. Den tadelnden Blick ihrer Jüngsten sehr wohl bemerkend, ließ sie die jungen Leute allein. Lisa nahm Thomas bei der Hand und zog ihn hinter sich her. Erstaunlich, was sich die beiden Teenies nach nur so kurzer Zeit zu erzählen hatten. Ohne Hemmungen tauschten sie sich am Küchentisch der Eltern aus.

Irgendwann saß die gesamte Familie am Tisch versammelt. Dieser Junge hatte ein Talent, die Menschen für sich zu begeistern. Nicht ohne Stolz bemerkte Lisa die Reaktionen der Familie auf ihren neuen Freund, über den sie bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte. Über das - was sie dachte - was sie fühlte - sprach sie nie; lebte in ihrer eigenen Welt. Diese war keineswegs farblos. Im Gegenteil, sie entsprach einem alten Lied von Hildegard Knef, in dem sie sang:

»Für mich soil’s rote Rosen regnen, mir sollten sämtliche Wunder begegnen, die Welt sollte sich umgestalten und ihre Sorgen für sich behalten…!«

Mit dem Alltäglichen gab sich Lisa nie zufrieden. Nur leider übersah sie bei diesem Streben nach Perfektion bereits hier am Küchentisch, dass ihr die Perfektion Auge in Auge gegenübersaß.

So begann an diesem Küchentisch ein Drama, das ein Leben lang nicht enden sollte.

Doch zunächst strahlte Lisa vor Glück, wollte Thomas gar nicht wieder gehen lassen. Clever, wie dieser Junge war, verstand er es, ihre Familie frühzeitig an sich zu binden. Und das aus einem ganz praktischen Grund. Alle, ohne jede Ausnahme, trugen eine Brille. Nun gehörten formschöne Brillen zu jener Zeit keineswegs zu den Dingen, die man so ohne Weiteres kaufen konnte. Natürlich gab es eine gewisse Auswahl an Gestellen. Wollte man sich allerdings mit diesen auch noch auf der Straße sehen lassen, konnte sich der Kauf schon um einiges schwieriger gestalten.

Zum Glück hatte sich der Geschäftssinn des Optikermeisters Michaelis an dessen Sohn vererbt. Als Thomas von diesem Tisch aufstand, hatte er eine Entscheidung getroffen und das in zweierlei Hinsicht. Zum Ersten würde er die erfolgreiche Dynastie von Optikermeistern fortsetzen und zum Zweiten wird es ein anderes Mädchen als Lisa für ihn niemals geben.

Fortan begleitete die Sehschwäche der Familienmitglieder diese Jugendliebe. Eines Tages freundeten sich beide Familien an und man verbrachte von nun an einige Feste miteinander. Auch fuhren sie oft an den Wochenenden gemeinsam ins Grüne oder an einen nahegelegenen Badesee. Lisa und Thomas schienen füreinander bestimmt. Niemand hegte einen Zweifel daran, außer Lisas Mutter. Dieser kluge Junge tat ihr leid. Doch auch für sie wurde schnell klar, einen Menschen, der ihre Lisa so bedingungslos lieben kann, der wird nur schwer noch einmal zu finden sein.

Doch dann, nur wenige Jahre später, traf Lisa ihren Märchenprinzen, mit einer Gitarre in der Hand auf einer Bühne. Nichts an seiner Erscheinung hatte etwas Besonderes. Im Gegenteil, er schien fern jeglicher Bildung zu sein, jedoch frei und ungebunden; einen Optimismus versprühend, der von grenzenloser Dummheit zeugte.

Kein Auge konnte sie mehr von ihm lassen und begann, mit ihm durch die Welt zu ziehen. Völlig verzweifelt schrieb Lisas Mutter Thomas einen Brief, in dem sie ihm von den neuerlichen und besorgniserregenden Entwicklungen berichtete. Längst hatte sie jeglichen Einfluss auf die flügge gewordene Tochter verloren. Dabei gehörte es keineswegs zu ihrer Art, sich in das Leben und die Angelegenheiten ihrer Kinder einzumischen, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass dieses ohnehin meist vertane ’Liebesmüh’ war. Doch hegte sie insgeheim die Hoffnung, dass es diesem vielversprechenden jungen Mann gelingen würde, ihre Jüngste von diesem Weg abzubringen.

Eines Tages stand Thomas tatsächlich vor der Tür und Lisa tat, als wäre nichts geschehen. Doch dieser junge Mann, seiner Entwicklung weit voraus, hatte sich bereits ein eigenes Bild von Lisas Lebenskünstler gemacht. Natürlich zog er Erkundigungen ein und beobachtete diesen sehr genau. Alles ohne ihr Wissen, denn eine solche Spitzelei, das wusste Thomas nur zu gut, würde eine so stolze Frau wie Lisa niemals dulden, geschweige denn verzeihen. Dabei verstand er die Welt nicht mehr. Als er diesem wilden - mit der Gitarre sinnlos herumfuchtelnden - vor sich hinbrabbelnden - ’Schlaffi’, wie er ihn - im Grunde starr vor Eifersucht - fortan nannte, zusah, fielen ihm mehr als nur drei vernichtende Beschreibungen für seinen Rivalen ein. »Was will der sein, ein Künstler?«, dachte er kopfschüttelnd. »Der ist der größte Versager ever - kann nichts - weiß nichts - sieht mies aus und mehr, als albern über die Bühne zu hopsen, kann man von diesem Typen nicht erwarten!« Das erste Mal in seinem jungen Leben musste sich Thomas eingestehen, egal wie sehr er diesen Mann verachtete, er hatte keine Chance. Eine unbeschreibliche Wut baute sich in dem sonst so sanften und klugen Menschen auf. Was sollte er nun tun? Konnte er überhaupt irgendetwas tun oder nur hilflos zusehen?

Wochen später am Küchentisch von Lisas Eltern, nutzte Thomas die Gelegenheit, sich in einen Streit zwischen Mutter und Tochter einzumischen. Er sagte Lisa klar und deutlich, was für einen Trottel sie da anhimmelte. Ein grober Fehler, denn kaum hatte er es ausgesprochen, da stand Lisa wütend auf, ging auf Thomas zu und schrie ihn an. »Du bist doch nur eifersüchtig, willst es nicht wahr haben, dass ich dich nicht haben will, mich für einen anderen entschieden habe. Und überhaupt, woher willst du eigentlich wissen, wie er ist, kennst ihn doch gar nicht!« Dabei sah sie ihm direkt in die Augen, wütend schnaubend, wie ein Stier, der gerade einen Rivalen auf seiner Wiese entdeckt hat. Nicht fähig zu atmen, geschweige denn, noch ein Wort der Verteidigung herauszubringen, stand er wie angewurzelt auf diesem ihm so vertrauten Küchenboden und hatte das Gefühl, vor ihr auf die Knie fallen zu müssen um sie anzubetteln. Doch was auch immer er getan hätte, konnte nichts mehr retten, denn sie drehte sich im selben Augenblick um, verließ die Küche und warf die Wohnungstür so laut ins Schloss, dass jeder vor Schreck zusammenzuckte.

Rückblickend wäre Thomas zu allem bereit gewesen, um Lisa nicht zu verlieren. Wollte ihr sogar erlauben, es mit diesem losen Vogel zu versuchen. Unter der Bedingung, von einer verfrühten Hochzeit Abstand zu nehmen oder gar an Kinder zu denken. Absurder konnte diese Hilflosigkeit nicht sein. Jedoch zu seinem tiefsten Entsetzen bewahrheiteten sich seine Ängste bereits ein Jahr später. Lisa, die große Liebe seines Lebens, heiratete und erwartete bereits ihr erstes Kind.

Damit trennten sich für eine lange Zeit die Wege dieser einst Unzertrennlichen.

Was jedoch niemand ahnte, Thomas verlor seine Lisa nie aus den Augen. Er verstand es, unbemerkt am Horizont auf die für ihn feststehende Katastrophe zu warten. Ohne auch nur ein Mal daran zu denken, ob er als Ersatz überhaupt noch in Frage kommen würde. Ein solcher Gedanke schloss sich für ihn praktisch aus, denn damit konnte er vermutlich noch weniger leben, als sie in den Armen dieses Versagers zu wissen.

Erstaunlich für den Außenstehenden erscheint diese Beharrlichkeit schon, doch gegen diese Abhängigkeit, die ihn zeitlebens begleiten wird, konnte er sich genauso wenig zur Wehr setzen, wie Lisa ihrer blinden Liebe zu diesem wilden Musiker entgehen konnte.

Noch Jahre später kam Thomas wie selbstverständlich in Lisas Elternhaus. Denn ordentliche Brillen brauchte die Sippe ja noch immer. Lisas Mutter nutzte jede noch so kleine Gelegenheit, um dem so vermissten Wunschschwiegersohn von den neuesten Katastrophen dieser so argwöhnisch beäugten Ehe ihrer Jüngsten zu berichten.

Lisas Mutter bekam leider früh ein Gespür für das sich anbahnende Unglück der geliebten Tochter. Auch Lisa musste früher oder später aufwachen und bemerken, dass jede Warnung ihres Umfeldes mehr als richtig war. Doch Stolz kann ein starkes Band sein, das einen Menschen an einen einst begangenen Fehler bindet.

Irgendwann kam auch für Thomas der Tag, an dem ihm klar wurde, er konnte nicht sein Leben lang allein bleiben und aufeine Frau warten, die einfach nicht loskam von alten Entscheidungen. Bei einem Optikerkongress lernte er Karin kennen. Still, ernsthaft und mit beiden Beinen im Leben stehend. Zugegeben nicht die größte Schönheit, doch wen stört so etwas. Thomas jedenfalls nicht. Mit ihr bekam er eine Partnerin an seine Seite, auf die er sich in jeder Lebenslage verlassen konnte. Dass er nicht in Flammen aufging, wenn er mit dieser Frau zusammen war, empfand er wie eine Art Erlösung. Ob er sie liebte, wusste er nicht, und es spielte für ihn auch keine Rolle. Und so heiratete er diese Frau; sie bekamen zwei Kinder und bewohnten von nun an dieses kleine Fachwerkhaus über dem Laden.

Es dauerte Jahre, bis er Karin von seiner großen Liebe erzählte. Warum tat er so etwas? Kam er denn nicht auf die Idee, dass er, selbst eine so stille und sicher auch ernsthafte Frau, wie seine ihm am Tisch gegenübersitzende Ehefrau, mit einer solchen leidenschaftlichen Beschreibung einer Exfreundin sehr verletzen könnte? Aber das zu bemerken, davon war Thomas meilenweit entfernt.

Seit Lisa von der Hochzeit ihres alten Freundes wusste, bemühte sie sich unentwegt, den Kontakt zu ihm wieder aufleben zu lassen. Zunächst versuchte Thomas, ihre Bemühungen zu ignorieren, ließ es seiner Frau zuliebe nicht zu. Doch mit jedem weiteren Brief von ihr, flammten die alten Gefühle wieder auf und forderten unerbittlich ein Recht von ihm, dass er nur zu gern erfüllen würde.

Nur dem weitsichtigen und klugen Umgang seiner Ehefrau mit dieser Situation verdankte es Thomas, dass er nicht sofort den Boden unter seinen Füßen verlor. Sie stimmte seinem Vorschlag zu, sich gegenseitig zu besuchen und das trotz besseren Wissens. Sie glaubte, ihn nur so an seine Familie binden zu können. Vielleicht sah Karin keine andere Möglichkeit, ihn zu halten, und so erfüllten ihre kühlen und berechnenden Entscheidungen in der nächsten Zeit ihren Zweck.

Den Schmerz, der den beiden Königskindern in den Augen stand, wenn sie sich gegenübersaßen, konnte oder wollte niemand sehen. Natürlich zeigte er Lisa gnadenlos das, was ihr hätte gehören sollen. Und Lisa berichtete ihm unter Tränen, was aus ihrem großen Traum geworden war. Die Musik an den Nagel gehängt, dem Alkohol zugesprochen, blieb vom einstigen Märchenprinzen schnell nicht mehr viel übrig. Was sollte nun werden?

Thomas trug nun selbst eine große Verantwortung. Die eigene Familie für Lisa zu verlassen, brachte er trotz wieder aufkeimender Gefühle nicht übers Herz. Er liebte seine Kinder und auf seine Art auch die Frau an seiner Seite. Irgendwann war selbst ihm bewusst, was er Karin mit dieser aufkeimenden Liaison antat. Dass er ihr niemals dieselben starken Gefühle entgegen bringen wird wie seinerzeit Lisa, wusste er. Doch reichte das aus, um ein lebenslanges schlechtes Gewissen zu beruhigen? Zumindest versprach er Lisa, immer aufsie zu achten. Stets wird er einen Grund finden, nicht gänzlich aus ihrem Leben zu verschwinden. Zumal Lisas Tochter Anika ihrer Mutter so ähnelte, dass es wehtat. Klug, frech, selbstständig und immer bereit, ihren kleinen Kopf durchzusetzen. Mit großer Erleichterung beobachtete Thomas das Mädchen. Offenbar hatte sie so gar nichts von diesem »Versager« geerbt. Plötzlich ertappte er sich dabei, Lisas Sonnenschein genauso lieb zu haben, wie die eigenen Kinder. Wehren konnte und wollte sich dieser Mann dagegen nicht.

Aber nach und nach brachte diese nur allzu offensichtliche Tatsache seine eigene Beziehung in Schwierigkeiten. Lisa vergessen, so wie es Karin von ihm verständlicherweise verlangte, brachte er nicht fertig. Egal, was es für die gemeinsame Zukunft bedeutete, gab es auch für Karin irgendwann keinen Zweifel mehr: »Lisa war sein Schicksal!«

Eines Tages kam Thomas nur noch allein zu Besuch, erzählte nichts mehr von zu Haus. Vielleicht hin und wieder von den Kindern, sonst nichts. Die Trauer in seiner Stimme war kaum noch zu ertragen.