Warum Johann Sebastian Bach keine Oper schrieb - Iso Camartin - E-Book

Warum Johann Sebastian Bach keine Oper schrieb E-Book

Iso Camartin

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Beschreibung

Der von zahlreichen Musikliebenden am höchsten verehrte Tonkünstler unserer westlichen Zivilisation hat keine Oper geschrieben. Und dies, obwohl gerade in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Oper eine Blütezeit sondergleichen erlebte! Dass sich jedoch höchst Dramatisches, ja geradezu Opernhaftes in Bachs weltlichen und geistlichen Kantaten, in seinen Passionen, in Ouvertüren und Tänzen, in Rezitativen und Arien befindet, die uns täglich beglücken, ist nicht nur den Spezialisten von Barockmusik bekannt. Sogar den Laien und Liebhabern der Musik J.S. Bachs liegt dies unverlierbar in den Ohren. Man hat in letzter Zeit immer wieder Versuche unternommen, Bach auf die Bühne zu bringen. So gibt es Produktionen einzelner Kantaten als inszenierte Bühnenwerke oder als Tanztheater. Es gibt die Passionen als halb szenische Realisationen in Kirchen und Konzertsälen. Pier Paolo Pasolini hat die »Matthäuspassion« – mit Musik von Bach – als eindrückliches Erlebnis für den Kinosaal realisiert. Was mag ihn davon abgehalten haben, sich mit den modisch gefragten Opernkomponisten seiner Umgebung und seiner Zeit wie Georg Philipp Telemann und Georg Friedrich Händel gerade auch in diesem Genre zu messen? Iso Camartin hat sich in historisch achtsamer Erkundung der Bachzeit auf den Weg gemacht, um zu klären, warum der absolute Meister so vieler musikalischer Ausdrucksformen nie eine Oper schrieb.

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Iso Camartin

WarumJohannSebastianBachkeine Operschrieb

Der Autor und der Verlag bedanken sich fürdie großzügige Unterstützung bei

Elisabeth Jenny-StiftungInternationale Bachgesellschaft Schaffhausen

Mit Unterstützung einer weiteren Stiftungund weiteren, nicht genannt werden wollenden Personen

Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamtfür Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre2021–2024 unterstützt.

Bildnachweis Cover, Kapiteltitel:© Panther Media GmbH / Alamy Stock PhotoBildnachweis Porträtfoto des Autors:© Felix Ghezzi

Erste Auflage Frühjahr 2022Alle Rechte vorbehaltenCopyright © 2022 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zü[email protected] | www.ruefferundrub.ch

E-Book-Konvertierung: Bookwire GmbH

ISBN 978-3-906304-96-0

eISBN 978-3-907351-09-3

Inhalt

Eine Oper von Johann Sebastian Bach: Eine historische Fiktion?

Opernspuren in Bachs Biografie

Das Opernleben in Leipzig zu Zeiten von Johann Sebastian Bach

Große Opern der Barockzeit

Ein idealer Ort für eine Bach-Oper?

Zur barocken Affektenlehre

Die Kunst der Parodie

Bach und der Wille zum Wesentlichen

Meister Bach und die Bühnen der Zukunft

ANHANG

Literatur- und CD-Verzeichnis

Personenregister

Biografie des Autors

Der von zahlreichen Musikliebenden am höchsten verehrte Tonkünstler unserer westlichen Zivilisation hat keine Oper geschrieben. Und dies, obwohl gerade in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Oper eine Blütezeit sondergleichen erlebte! In Italien, in Frankreich, in England und auch in Deutschland. Dass jedoch höchst Dramatisches, ja geradezu Opernhaftes sich in Bachs weltlichen und geistlichen Kantaten, in seinen Passionen, in Ouvertüren und Tänzen, in Rezitativen und Arien befindet, die uns täglich beglücken, ist nicht nur den Spezialisten von Barockmusik bekannt. Sogar den Laien und Liebhabern der Musik J. S. Bachs liegt dies unverlierbar in den Ohren.

Man hat in letzter Zeit immer wieder Versuche unternommen, Bach auf die Bühne zu bringen. So gibt es Produktionen einzelner Kantaten als inszenierte Bühnenwerke oder als Tanztheater. Es gibt die Passionen als halb szenische Realisationen in Kirchen und Konzertsälen. Bachs Musik dient zudem als Hintergrund zu Filmen: 1964 hat Pier Paolo Pasolini die »Matthäuspassion« – mit Musik von Bach und einigen anderen – als eindrückliches Erlebnis für den Kinosaal realisiert. Im Jahr 2010 konnte man in der Berliner Philharmonie eine bewegende halb szenische Aufführung der »Matthäuspassion« erleben, verantwortet von Simon Rattle und Peter Sellars. Diese Aufführung machte die Philharmonie auf einen Schlag gleichzeitig zum »Dom« und zu einer der wichtigen Theaterbühnen Berlins. Freilich gibt es auch weniger geglückte und beglückende Versuche mit Bach: Neuerdings konnte man seine Musik in der Hamburger Staatsoper als lüsternes »Bach-Bankett« erleben, zentriert um die Bereiche »Fressalia und Sexualia«. Aktualisieren und dem Zeitgeschmack anpassen lässt sich offenbar beinah alles. Selbst Bach!

Für Bewunderer und Verehrer der Musik von Johann Sebastian Bach bleibt jedoch die Frage, weshalb sich Bach während seines ganzen Lebens nicht an einer einzigen großformatigen Oper versuchte. Denn seine bekannten Zeitgenossen Georg Philipp Telemann und Georg Friedrich Händel sowie seine damaligen Kollegen und Konkurrenten, beispielsweise an den Höfen von Dresden und Darmstadt, setzten sich mit Begeisterung für das Operntheater ein. Gab es nicht auch in der Stadt Leipzig eine Tradition des Musiktheaters, als Bach dort seine Tätigkeit als Thomaskantor aufnahm? Und wusste Bach wirklich nichts von den Opernerfolgen seiner damals sicherlich nicht weniger berühmten Zeitgenossen Reinhard Keiser und Telemann in Hamburg, Johann Adolph Hasse in Dresden, oder gar von Händel in London?

Bach selbst hat im sogenannten Parodieverfahren oft seine »weltlichen« Kantaten – entstanden zu Geburtstagen, Jahrestagen und ähnlichen höfischen und stadtbürgerlichen Festlichkeiten – als geistliche Musik wiederverwendet. Wäre nicht auch der umgekehrte Weg denkbar und gangbar? Ließen sich aus dem reichen Schatz seines Gesamtwerks – aus den an die 200 erhaltenen Kantaten zu den Sonn- und Festtagen des Kirchenjahres, aus den Kirchenstücken für besondere Anlässe sowie aus seinen weltlichen Kantaten – nicht eine Fülle von Geschichten opernhafter, ja sogar unterhaltsam-komödiantischer Natur vorstellen und ausdenken?

Aus Bachs Biografie wissen wir, dass er in seinen Jahren in Leipzig ab 1730 relativ konfliktreiche Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten und Behörden auszufechten hatte. Auch Fachkollegen griffen ihn an, zumal mit dem Argument, seine Musik sei zu schwierig, zu komplex und zu wenig »volksnah«. Wäre da nicht der Augenblick für ihn gewesen, sich nicht weiterhin mit Kirchen- und Schulbehörden, mit Stadtbeamten und pedantischen Kleingeistern herumzuschlagen – und eilends in die Arme der Theatermuse zu flüchten?

Wie hätte man sich denn überhaupt Art und Eigenart einer Bach-Oper vorstellen können, inmitten der unaufhörlichen kirchenmusikalischen Verpflichtungen, von denen der Meister – jedenfalls in den ersten Leipziger Jahren – umgeben, ja umstellt und bedrängt war? Wo müsste man die Inspirationen fürs Musiktheater in seinem Fall überhaupt suchen? Etwa – die komischen Stoffe betreffend – in den frühen »Teutschen Schau-Spielen« und den »Ernst-Scherzhafften und Satyrischen Gedichten« des unter Bachs Textlieferanten aus der Leipziger Zeit überaus wichtigen Christian Friedrich Henrici alias Picander? Dieser schrieb ja zahlreiche Texte für Bachs geistliche und weltliche Kantaten, unter anderem auch die ergreifend dramatische Textversion der »Matthäuspassion«. Daneben verfasste dieser Mann noch viel anderes als nur Sammlungen von »erbaulichen Gedanken« zu den Sonntagen des Jahres. Er schrieb Komödien, die da hießen »Der Akademische Schlendrian«, ein anderes Stück mit dem Titel: »Die Weiber-Probe, Zur Erbauung und Ergötzung des Gemüths entworffen« oder ein drittes mit dem Titel »Der Säuffer« (1726). Zudem gibt es von Henrici ein Buch mit dem Titel »L’Art de baiser, Das ist Die Kunst zu küssen nebst einem Unterricht von allen dabey vorfallenden Umständen«. Lag da nicht ein verborgener Schatz an komödiantischen Opernstoffen vor, zu welchen Bach doch leicht die Musik hätte schreiben können, wenn es ihn danach gelüstet oder jemand ihn dazu ermuntert, gedrängt oder gar bezahlt hätte?

Aus diesen zahlreich vorhandenen zeitgenössischen Stoffen der damaligen Leipziger Dichter wäre gewiss eine dramatische Handlung für die Musikbühne zu entwickeln gewesen. Diese hätte womöglich sogar dem realen Leben abgeschaut sein können. So kann man sich doch vorstellen, wie die Frauen um Johann Sebastian Bach in der angefeindeten und misslichen Arbeitsatmosphäre des Meisters diesen aufzuheitern versuchten, seinen Ärger vertreiben und ihn wieder lebensfreudig stimmen wollten. Etwa nach dem Muster von William Shakespeares »Die lustigen Weiber von Windsor« oder von Molières »L’école des femmes«. Könnte man sich nicht eine herrliche »Opera comica« aus den 30er-Jahren des 18. Jahrhunderts vorstellen, basierend auf authentischer Bach-Musik – Arien, Duette, Ensembles, Chöre – mit angepassten Texten und mit neuen, im Bach-Stil komponierten Rezitativen?

Nachteil eines solchen Konzeptes wäre freilich, dass der historische Bach selbst als Bühnenfigur im Zentrum stehen würde. Dies selbst dann, wenn er als abwesende Person, um die sich alles dreht, nur aus der Perspektive der ihn umsorgenden Frauen präsent geworden wäre. Es schien bei näherem Nachdenken von vornherein indezent und geradezu das Blasphemische streifend, Bach selbst auf die Bühne und in eine Komödie versetzen zu wollen und den Meister zum Spielball noch so wohlwollender Frauenintrigen und Weiberlaunen zu machen. Eine echte Bach-Oper hätte mit Sicherheit ganz anders ausgesehen, hätte es diese je gegeben.

Andererseits war Bach jedoch mit mehreren im barocken Opernmilieu der deutschen Fürstenhöfe tätigen Musikerund Dichterkollegen bekannt, mit einigen von ihnen nahezu befreundet. Da kann man sich doch leicht vorstellen, Christoph Graupner in Darmstadt, Keiser in Hamburg, Hasse in Dresden oder eben der dichtende Henrici in Leipzig hätten den Meister überreden können, sich doch auch an ein Bühnenwerk zu wagen. Vielleicht haben sie es ja sogar versucht, doch Bach hat den an ihn herangetragenen Wünschen nicht Folge leisten wollen, viel beschäftigt wie er war als Thomaskantor, Organist, Collegium-Director und weit herum gefragter Gutachter für alte und neue Kirchenorgeln. Dass er als königlicher Hof-Compositeur für das opernfreundliche Dresden aufgrund seiner guten Beziehungen zum sächsischen Hof eine Oper hätte schreiben können, ist allerdings mehr als nur denkbar.

Eine kühne Überlegung für uns Heutige wäre, ob man nicht hochbarocke erstklassige Dichterwerke, etwa Pedro Calderóns »La vida es sueno« oder dessen »Teatro del mundo« zu einer Oper – vollkommen auf Bach-Musik basierend – umgestalten könnte. Weiß die Kulturgeschichte nicht von vielen solchen genialen Umformungen? Beide Calderón-Stücke sind wunderbar, aber auch so komplex und figurenreich, dass man, diesen schönen und hehren Gedanken fortspinnend, bald einmal die Waffen strecken muss. Die Aufgabe eines Librettisten und Arrangeurs, der die Texte Calderóns mit Bach’scher Musik stimmig zu verbinden vermöchte, scheint überirdisch schwierig. Die Fusion von Calderóns Text mit Bachs Musik ist etwas, das allenfalls der Meister selbst zustande gebracht hätte. Zudem bleibt da der Verdacht, dass es, trotz Bachs wundersamer und wohl auch für ein katholisches Milieu gedachter »h-Moll-Messe«, für einen überzeugten Protestanten und Lutheraner, wie Bach es nun einmal war, ein Skandalon gewesen sein könnte, wenn seine Musik für ein »auto sacramental« – das heißt für ein »Fronleichnamstück« eines hoch poetischen, aber mystisch-katholisch eindeutig positionierten Dichters – verwendet worden wäre. Man kann zwar immer noch der Ansicht sein, dass es eine fantastische Idee ist, Calderón und Bach als freie Geister im Umgang mit Sprache und Musik miteinander zu verbinden. Vor den Tücken einer derartigen Herausforderung kann man im Grunde jedoch nur kapitulieren!

Gäbe es dennoch einen noch unbegangenen, möglichen Weg, um einmal eine Bach-Oper in unserer Zeit zu hören? Diese Fiktion und Träumerei müsste zumindest eine plausible Einbettung in historisch bezeugte Gegebenheiten aufweisen. Doch: Ist eine solche überhaupt denkbar?

Dies nunmehr ist keine Fiktion, sondern ein Faktum: Im Jahr 1749 (also ein Jahr vor Bachs Tod) wandte sich der wohlhabende Reichsgraf Johann Adam von Questenberg über einen Mittelsmann an Bach mit der vermutlichen Bitte um ein Auftragswerk. Dazu liest man in Christoph Wolffs Bach-Monografie: »Questenberg, ein kultivierter und enorm wohlhabender Patrizier mit Residenzen in Mähren, Prag und Wien, war selbst aktiver Lautenspieler und pflegte Beziehungen zu Musikern wie Johann Joseph Fux, Antonio Caldara, Francesco Conti und später auch zu Christoph Willibald Gluck. In seiner etwa hundertdreißig Kilometer nordwestlich von Wien gelegenen Hauptresidenz, der großen Schlossanlage zu Jaromerice, unterhielt der Reichsgraf eine namhafte Kapelle, die regelmäßig Kammermusik spielte, aber auch Opern und Oratorien aufführte. […] Was immer Questenberg von Bach wollte – wahrscheinlich ein Auftragswerk oder ein Gastspiel, und dies zweifellos gegen ein großzügiges Honorar – das Unterfangen scheiterte noch im Ansatz, denn bei Bach stellten sich gegen Mitte 1749 ernsthafte gesundheitliche Probleme ein.«

Da Bach krankheitshalber den Auftrag nicht mehr an- und wahrnehmen konnte und im Jahr 1750 bereits starb, darf man sich doch vorstellen, dass Graf Questenberg seinen Hofbibliothekar mit einem heiklen, aber ihm wichtig scheinenden Projekt betraut haben könnte. Zusammen mit dem Hofmusikus und Leiter der fürstlichen Kapelle sollte dieser dafür sorgen, dass aus den ihnen verfügbaren oder allenfalls auch neu zu erwerbenden Werken des großen Bach ein für die Opernbühne taugliches Projekt »zusammengebastelt« werden könnte, mit dem die Gäste des Grafen auf Schloss Jaromerice im Verlauf des nächsten geplanten Sommerfestes unterhalten werden sollten. Vielleicht eine Opera semiseria, vielleicht ein vergnügliches musikalisches Pastiche, vielleicht sogar ein Ballett. Und dies mit den dafür vorhandenen und den zusätzlich anzuheuernden Spezialkräften und Solisten der Residenzkapellen der Umgebung, die die Musiker der eigenen Hofkapelle ergänzen sollten.

Nehmen wir einmal an, der Hofmusiker und der dichtende Bibliothekar von Jaromerice hätten sich darauf geeinigt, ihrem Dienstherrn für sein Hoftheater eine Opera semiseria vorzuschlagen mit dem barocken Titel: »Der Wettstreit der Leidenschaften«. Darin sollten die beiden Höflinge in leichter und vergnüglicher Weise zur Darstellung bringen, welche Leidenschaften die Menschen am heftigsten bewegen, am härtesten plagen, am allermeisten bezaubern. Die Passiones animae – die Leidenschaften der Seele – sollten als menschliche Allegorien auf der Bühne erscheinen, verkörpert durch Sängerinnen und Sänger, in bestimmten Momenten auch durch Tänzerinnen und Tänzer. Ein Chor sollte dabei in Doppelfunktion als Vertreter kollektiver Überzeugungen und Geschmacksrichtungen einerseits, dann aber auch als Jury im Wettstreit fungieren, also als eine Art »Tribunal der Affekte« im Wettstreit um Schönheit und Wahrheit.

Eine Bedingung freilich sollte strikt eingehalten werden: In den Arien, in den Ensembles und in den Chören dürfte nur Musik von Johann Sebastian Bach erklingen. Einzig für die Chöre und Arien verbindenden Rezitative sollte es erlaubt sein, handlungsbestimmte Teile neu im Stil von Bachs Kunst und Praxis des Rezitativs hinzuzukomponieren. Gestattet sollte zudem das Parodieverfahren sein: Es durften also kirchliche Kompositionen zu weltlich-laizistischer Verwendung herangezogen werden, wie es Bach so oft und erfolgreich ja selbst praktiziert hatte, freilich meistens in umgekehrter Richtung. Denn es ging ihm ja auch darum, seine fabelhaften weltlichen Festmusiken und Aufträge vom einmaligen Verwendungszweck zu befreien und sie in den wiederkehrenden Zyklus des Kirchenjahres einzugliedern.

Aus den Moral- und Tugendbüchern der reich bestückten Hofbibliothek von Jaromerice sollte der Bibliothekar zunächst eine Liste weltbewegender Leidenschaften erstellen, bestehend aus Tugenden, Lastern und stimmungsbedingten Grundbefindlichkeiten des männlichen und weiblichen Lebens. Was der Hofbibliothekar dann auch tat, und bald einmal aufgrund seiner Recherchen in der Hofsammlung zu folgender Aufstellung gelangte:

Positiv markierte Haltungen: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigkeit, Geduld, Sanftmut, Großmut, Demut, Gehorsam, Beharrlichkeit, Keuschheit, Eintracht, Pietät, Trauer, Mitleid, Lebensfreude, Enthusiasmus, Einsatzbereitschaft, Dankbarkeit.

Negativ markierte Haltungen: Hochmut, Neid, Völlerei, Geiz, Trägheit, Wut und Zorn, Wollust, Unglaube, Verzweiflung, Feigheit, Ungerechtigkeit, Unbeständigkeit, Trotz, Zwietracht, Hass, Misstrauen, Falschheit, Spottsucht, Grausamkeit, Besessenheit, Schwärmerei, Dummheit.

Für diese Vielzahl von seelischen Dispositionen, Affekten und Leidenschaften gibt es nun in Bachs Kantatenwerk reichlich Spuren, und zwar in Arien und Rezitativen, in Ensembles und in Chören. Der erste Schritt für die Erstellung eines Librettos zu einer Bach-Oper mit dem Thema »Der Wettstreit der Leidenschaften« musste für die beiden Beauftragten des Grafen darin bestehen, das zugängliche Material aus dem Kantatenwerk Bachs zu durchforsten. Wäre eine Auswahl an den von einzelnen Leidenschaften geprägten Musikstücken erst einmal eruiert und etabliert, sollte die nächste, weit schwierigere Aufgabe folgen: aus diesen Materialien ein möglichst vergnügliches und aus der Sicht des Auftraggebers von Bachs Musik pulsierendes Libretto zu bauen, damit die auf Schloss Jaromerice geladenen Gäste in den Genuss einer Geschichte mit Hand und Fuß kämen, unterlegt und getragen von der schönsten Musik, wie sie nur Meister Bach zu komponieren imstande war. Danach sollten und mussten – in einem dritten Schritt – neue, als Rezitative im Bach-Stil zu komponierende Verbindungstexte gefunden und alternative Varianten und Abwandlungen zu bestehenden, von Bach bereits vertonten Texten gefunden werden.

Die Aufgabe der Nachfolger jenes imaginierten Hofmusikers und jenes ebenso erfundenen Hofbibliothekars von Jaromerice in den Diensten von Graf Questenberg wird auch heute nach inzwischen jahrhundertelanger Forschung zu Werk und Wirkung von Bach keine leichte werden. Dies ahnt jeder, der sich mit Bachs Musik ernsthaft beschäftigt. Es bleiben geradezu unabsehbar viele Dinge zu klären und aufzuarbeiten. An erster Stelle die vorhandenen historischen Fakten über Bachs Beziehung zur Opernwelt. Danach muss die Suche nach plausiblen Gründen beginnen, wie es wohl dazu gekommen sein mag, dass Johann Sebastian Bach selbst nie den Versuch machte, im Stil seiner Zeit eine Oper zu schreiben. Was stand dem wohl entgegen? Was mag ihn davon abgehalten haben, sich mit den modisch gefragten Opernkomponisten seiner Umgebung und seiner Zeit gerade auch in diesem Genre zu messen? Könnte es sein, dass eine eigentliche »Oper« von Johann Sebastian Bach nur ein ausgedachter Wunschtraum von uns Nachgeborenen ist und auch ein solcher bleiben wird?

Machen wir uns also in historisch achtsamer Erkundung der Bach-Zeit auf den Weg, um zu klären, warum der absolute Meister so vieler musikalischer Ausdrucksformen nie eine Oper schrieb.

Trotz sorgfältigen Zusammentragens aller Lebensdokumente und trotz jahrhundertealten Forscherfleißes in der Sichtung und Interpretation der vorhandenen Quellen zu Johann Sebastian Bach: Die Informationen, die wir über sein persönliches Leben haben, sind nach wie vor spärlich. Der Musikwissenschaftler und Bach-Forscher Christoph Wolff hat in seiner großen Bach-Monografie die vorhandenen biografischen Quellen aufs Gewissenhafteste sondiert, zeitlich eingeordnet und zur Werkgeschichte in Beziehung gesetzt. Das Forscherpaar Robert und Traute Marshall hat vor wenigen Jahren eine Dokumentation veröffentlicht, in der alle Orte, die Bach im Verlauf seines Lebens mit Sicherheit oder zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aufgesucht hat, akkurat verzeichnet und kommentiert sind.

Was J. S. Bachs Berührungsmöglichkeiten mit der Oper betrifft, kommen selbstverständlich die großen Städte infrage, in denen er im Verlauf seines Lebens wirkte, oder die er zumindest als reisender Orgelvirtuose und Experte für Tasteninstrumente besuchte. Zudem ist zu bedenken, dass auch einige fürstliche Höfe, für die Bach tätig war, musiktheatralische Aufführungen praktizierten. Wir werden hier anhand von Bachs Biografie überlegen, wie und wo es für ihn Schnittpunkte und Begegnungsmomente mit den Opernbetrieben seiner Zeit gegeben haben könnte.

Dass der Schwerpunkt von Bachs musikalischer Ausbildung und seiner Tätigkeiten als jugendlicher Chorsänger (»Concertist«), als virtuoser Instrumentalist und als eifriger Neuschöpfer von Musik der kirchliche und der schulische Bereich waren, liegt auf der Hand. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass dieser einer alten Familientradition von Kirchen- und Stadtmusikern entstammende Mann sich nicht auch für die weltlichen Arten des Musizierens interessiert hätte. Musik umfasst, durchdringt, begleitet, verschönert und verändert alle Lebensbereiche. Jedenfalls steht fest, dass Bach in Leipzig ab 1729 die Aufgaben des Direktors des »Collegium Musicum« und ebenso jene des Musikdirektors der Universität mit durchaus weltlich-unterhaltenden Programmen gerne wahrgenommen hat.

Es ist nicht anzunehmen, dass es für Bach an seinen frühen Lernstätten – Eisenach, Ohrdruf und Lüneburg – große Berührungsmöglichkeiten mit der Welt der Oper gegeben haben könnte. In der Musikbibliothek der Particularschule St. Michaelis zu Lüneburg gab es allerdings eine an Chormusik überaus reich bestückte Bibliothek, in der sich neben deutschen und niederländischen auch Werke von Claudio Monteverdi und Giacomo Carissimi befunden haben. Es ist durchaus denkbar, dass der Schulchor von Lüneburg für städtische Anlässe auch Motetten weltlicher Art im Repertoire hatte und dass Bach bereits in jungen Jahren mit weltlicher Chormusik sehr eng in Berührung kam. Außer Zweifel steht, dass Georg Böhm, der Organist und Komponist an der Lüneburger Johanniskirche, auf den jungen Bach in dieser Zeit entscheidenden Einfluss gehabt haben dürfte.

Zwischen 1700 und 1702 – die genauen Daten lassen sich nicht mehr ermitteln – unternahm der noch an der Lateinschule weilende Bach als neugieriger und motivierter Musikstudent mehrere Reisen nach Hamburg, sicher um dort in der Katharinenkirche den bereits nahezu 80-jährigen Organisten Adam Reincken zu hören, dessen Ruf als Meister seines Instruments weit über Hamburg hinaus gedrungen war. Reincken war auch mit Böhm in Lüneburg kollegial befreundet. Ausgeschlossen ist es nicht, dass Bach dem famosen Reincken bereits in Lüneburg im Hause Böhm begegnet ist. Nun aber wollte er in Hamburg den Meister auch an der berühmtesten Orgel Norddeutschlands, jener der Hamburger Katharinenkirche, selbst hören.

Wolff schreibt in seiner Bach-Monografie: »Im Nekrolog sind weder die Hamburger Oper noch ihr damaliger Dirigent Reinhard Keiser erwähnt – das lässt vermuten, dass Bach sich zu jener Zeit nicht besonders für die Oper interessierte.« Offenbar hat Bach den bedeutenden Opernkomponisten Keiser nicht persönlich gekannt; dass er aber als Chorschüler von St. Michaelis im Lüneburger Schloss auch mit weltlicher Musik dramatischer Ausprägung in Berührung kam, ist mehr als nur wahrscheinlich. Auch wenn sein Interesse in diesen Jahren mit Sicherheit vornehmlich der Orgel- und der Kirchenmusik gegolten hat.

Bachs folgende Stationen, zuerst 1703 als Lakai und Musiker am Weimarer Hof, später als Organist und Kirchenmusiker in Arnstadt (1703–1707) und in Mühlhausen (1707–1708), brachten ihn nicht in Kreise, die von ihm in besonderer Weise weltliche Musik forderten. Freilich wurde damals auch von den Kirchenmusikern erwartet, dass sie zur Verfügung standen, wenn es galt, etwa eine »Ratsmusik« zu veranstalten. Das Musizieren für den weltlichen Bereich wurde aber sicherlich gewichtiger, als Bach seine zweite, weit länger dauernde Anstellung als Hoforganist und Kammermusikus am Weimarer Hof annahm (1708–1717). Als Konzertmeister der Weimarer Hofkapelle (ab 1714) gehörten durchaus auch weltliche musikalische Pflichten zu seinem Aufgabenbereich, so etwa höfische und städtische »Festmusiken«. Dort traf er sicherlich auch mit Salomon Franck zusammen, dem Hofbibliothekar von Weimar, der ihm einerseits im Verlauf der Jahre an die 20 Texte für Kirchenkantaten lieferte, aber auch für seine erste weltliche Kantate »Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd« (BWV 208) das Libretto schrieb. Komponiert hat Bach diese Kantate zwar für den Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels, doch wurde das Werk auch zu Ehren des Weimarer Herzogs Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar aufgeführt. Man ersetzte den Namen Christian einfach durch Wilhelm Ernst! Dieser Salomon Franck war es auch, der für die Weimarer Hofoper bereits 1697 ein Opern-Libretto verfasst hatte. Jedenfalls gab es in Weimar für Bach durchaus Berührungen mit der dramatischen Musikkunst, auch wenn seine Haupttätigkeit am Hof in der berühmten »Himmelsburg« – der Kirche der Weimarer Hofburg – vornehmlich kirchenmusikalischer Art gewesen sein dürfte.

Im Jahr 1717 ließ sich Bach als Kapellmeister der Hofkapelle von Köthen abwerben, wo er bis 1723, also bis zum Antritt seiner Stelle als Thomaskantor in Leipzig, tätig blieb. Hier stand nun nicht mehr die Kirchenmusik im Zentrum seines Schaffens, denn die Köthener Hofkapelle – mit einem erstaunlichen Musiketat – war ein bedeutendes, bei seinem Antritt in der sächsischen Provinzstadt vor allem instrumentales Ensemble. Sänger wurden häufig für die verschiedenen Auftritte der Hofkapelle angeheuert, zumal für die Geburtstage der fürstlichen Familie sowie für die Abendmusiken an den Neujahrstagen. Für besondere Anlässe engagierte der Hof den Dichter und Librettisten Christian Friedrich Hunold, der bereits für die Oper in Hamburg und Braunschweig Libretti geschrieben hatte.

Von Bachs weltlichem Kantatenwerk der Köthener Zeit hat sich leider fast nichts erhalten, weil er diese Kompositionen in seiner späteren Leipziger Zeit zu kirchlichen Kantaten umarbeitete und sich danach nur mehr wenig um die Erhaltung von deren weltlichen Erstfassungen kümmerte. In der Köthener Zeit sind verschiedene Geburtstags- und Hochzeitskantaten entstanden, deren Musik nicht erhalten blieb; auch die Erstfassung der sogenannten Orgelweihkantate »Höchsterwünschtes Freudenfest« (BWV 194a) dürfte dort entstanden sein. Nach Meinung der allermeisten Experten waren die Köthener Jahre auch jene, in denen Bach die ersten großen Sammlungen von Instrumentalwerken zusammenstellte, neben dem »Clavier-Büchlein« für Sohn Wilhelm Friedemann und seine zweite Frau Anna Magdalena auch »Das Wohltemperierte Clavier«, das »Orgel-Büchlein« mit 45 Orgelchorälen, Inventionen und Sinfonien, die 6 Brandenburgischen Konzerte sowie die Partiten und Sonaten für Violine solo und die 6 Cellosuiten.

Neben seinen Pflichten als Kapellmeister am Fürstenhof muss Bach viel Zeit für seine Lieblingsbeschäftigung, das Komponieren, gehabt haben. Als er 1723 als Thomaskantor nach Leipzig ging, wurde seine Position in Köthen nicht neu besetzt. Er behielt den Titel des fürstlichen Hofkapellmeisters zu Köthen, schrieb weiterhin Kompositionen für den Köthener Hof – zumal für Geburtstage und zu Trauerfeiern der Fürstenfamilie – und kehrte mehrmals zu Werkaufführungen als Thomaskantor nach Köthen und nach Weißenfels zurück.