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Lena, immer wieder von Albträumen geplagt, vertraut sich einem Psychotherapeuten an. Er vermutet, dass ein traumatisches Erlebnis in ihrer Kindheit schuld daran ist. Das Gleiche trifft auch auf ihren Vater zu, der bereits in frühen Jahren an Demenz erkrankte und auf eigenen Wunsch im Heim lebt. Was ist damals vorgefallen? Lenas Mutter schweigt. Nachdem Lena nach einer Entführung halb tot aufgefunden wird, ist sie erneut traumatisiert. Ihre Mutter schweigt weiterhin. Nur die Liebe zu Elias und die Freundschaft zu Angela geben ihr Halt. Lena wird nicht eher ruhen, bis sie die Wahrheit erfährt. Wird ihre Mutter ihr Schweigen brechen?
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2024
Rita Hajak
Warum verschweigt ihr die Wahrheit
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Meine Bücher
Impressum neobooks
Zwei Dinge verleihen der Seele am meisten Kraft:
Vertrauen auf die Wahrheit und Vertrauen auf sich selbst.
(Lucius Annaeus Seneca)
Die Nacht ist kalt. Lena rennt um ihr Leben, keucht die menschenleere Straße entlang. Nur weg von diesem Mann, der ihr folgt. Sie dreht sich um und sieht ihn immer noch hinter sich herlaufen, mit dem Messer in der Hand. Am Himmel ziehen Wolken, die eine dunkelrote Farbe angenommen haben, was ihre Panik zusätzlich verstärkt. In ihrer Brust wird es eng; sie bekommt kaum noch Luft. Ihr Herz rast. Als sie wiederholt zurückblickt, ist der Mann verschwunden. Erleichtert bleibt sie stehen, beugt sich keuchend nach vorn, atmet tief ein und aus und wischt über ihre schweißnasse Stirn. Plötzlich springt der Fremde aus einem Seitenweg heraus und stürzt auf sie zu. Sie sieht das blutverschmierte Messer in seiner Hand und schreit.
Schweißgebadet, mit weit aufgerissenen Augen, schaute Lena in die Dunkelheit, die sie umgab. Sie zitterte am ganzen Körper. Mit ihren Händen tastete sie sich auf dem Stoff entlang, der sie bedeckte. Lena benötigte einige Sekunden, um zu erkennen, dass sie in ihrem Bett lag und geträumt hatte. Wieder diesen schrecklichen Traum. Wie sollte sie dagegen angehen? Sie fühlte sich ihm hilflos ausgeliefert. Es dauerte, bis ihre Augen die Konturen in ihrem Zimmer wahrnehmen konnten. Wegen der blickdichten Gardinen vor dem Fenster drang wenig Licht herein. Alles sah friedlich aus. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Ein Blick auf die Radio-Uhr sagte ihr, dass es früh am Morgen war. Gern hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen und den Tag verschlafen. Aber aus Furcht, erneut in diesen Traum zu fallen, verwarf sie diesen Gedanken. Nicht zu vergessen die Kundinnen, die heute noch ins Nagelstudio kämen. Seufzend schlug Lena die Bettdecke zurück und erhob sich, schlüpfte in die Hausschuhe, die vor dem Bett standen. Mit zögerlichen Schritten begab sie sich zum Fenster und schob die Gardinen zur Seite. Erste Sonnenstrahlen blinzelten durch die Zweige der wenigen noch jungen Kastanienbäume, die auf der anderen Straßenseite standen. Dahinter war freies Feld. Auf der einen Hälfte des Feldes begann der Raps zu blühen. Die andere Hälfte bestand aus einer Rasenfläche. Dort tummelten sich Hasen und oft auch Rehe. Sonst blieb sie eine Weile stehen und schaute den Tieren zu. Heute war es anders. Innerlich aufgewühlt, wandte sie sich vom Fenster ab. Dieser Traum hatte sie voll im Griff. Was bedeutete er? Wollte er sie warnen? Aber wovor? Lena horchte in sich hinein, aber es kam ihr nichts in den Sinn. Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen gewesen. Er trug einen schwarzen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte, sowie eine schwarze Hose und eine schwarze Jacke. »Ich benötige eine Dusche«, murmelte sie, »damit ich den Angstschweiß loswerde.« Sie wusste jetzt schon, dieser Tag würde ein schlechter werden.
Bekleidet mit einer hellblauen Bluse und einer engen Jeans, schlurfte sie in die Küche und bereitete sich ein kleines Frühstück. Einen Kaffee, der sie aufmunterte, war ein unbedingtes Muss. Die Bilder ihres Traumes stiegen vor ihr auf. So leicht ließ er sich nicht abschütteln. Tief in ihrer Seele blieb die Angst. Als der Toast aus dem Toaster sprang, zuckte sie zusammen. Ihr Nervenkostüm war überreizt. Kopfschüttelnd nahm Lena einen Schluck Kaffee aus ihrer Lieblingstasse, als ihr Handy klingelte. Sie schaute auf die Wanduhr in der Küche. Es war kurz nach acht. Auf der Anzeige prangerte der Name ihrer Freundin. Warum rief sie an? Sie hatte doch nachher einen Termin bei ihr. »Guten Morgen, Angela, du bist früh dran. Was hast du auf dem Herzen?«
»Hallo, Lena, kann ich eine halbe Stunde früher kommen? Sonst wird mir das zu eng. Ich habe um zwölf Uhr eine Besprechung in der Firma.«
»Kein Problem. Dann um zehn«, entgegnete Lena.
»Du bist so kurz angebunden. Bist du schlecht gelaunt?«, fragte sie.
»Ich habe schlecht geträumt. Erzähle ich dir später. Bis dann«, entgegnete sie und beendete das Gespräch. Es war sonst nicht ihre Art, Angela so schnell abzuservieren. Sie beide waren ein Herz und eine Seele, kannten sich seit dem Kindergarten und waren vertraut wie Geschwister. Viel Gemeinsames hatten sie unternommen, obwohl es auch Zeiten gab, in denen sie kaum Zeit füreinander fanden. Für ein Telefonat reichte es jedoch immer.
Bis zum Öffnen des Ladens waren noch zwei Stunden Zeit, um andere Dinge zu erledigen. Es gab immer Arbeiten, die liegengeblieben waren. Ein Nagelstudio zu eröffnen, war lange Lenas Wunsch gewesen, den sie sich im vorigen Jahr von der Erbschaft ihrer Patentante erfüllt hatte. Nach mehreren Kursen hielt sie ihr Diplom in der Hand und war stolz auf sich. Von dem mittelgroßen Kundenstamm, den sie sich aufgebaut hatte, konnte sie gut leben. Anfangs dauerte es, bis sich ihr Nagelstudio herumgesprochen hatte. Aber dann kamen immer mehr Frauen, um sich ihre Nägel verschönern zu lassen. Es wuchs zwar kein übermäßiges Vermögen heran, aber ein wenig zum Sparen blieb übrig. Über dem Laden stand ihr ein winziges, gemütliches Apartment zur Verfügung, dessen Größe ihr völlig ausreichte.
Lena war es wichtig, sich wohlzufühlen und vor allem frei zu sein. Ihr Elternhaus stand zwar in der Nähe, aber es war ihr ein Bedürfnis gewesen, selbstständig zu werden. In den ersten Wochen hatte sie fast täglich ihre Mutter besucht. Aber schrittweise war es weniger geworden, da sie meist deprimiert gewirkt hatte. Möglich, dass es daran lag, weil Lenas Vater an Demenz erkrankt war und in einem Pflegeheim lebte. Danach war es mit ihrer Mutter schlimmer geworden. Sie sprach nicht darüber und verbreitete eine Stimmung, die sich wie ein Schatten auf Lenas Seele legte. Deshalb musste sie sich von ihr lösen. Sie wusste von ihren Albträumen, aber sie verlor kein Wort darüber. Seufzend ging Lena ins Schlafzimmer, lüftete und brachte ihr Bett in Ordnung. Danach räumte sie das Geschirr in die Maschine und begab sich hinunter ins Studio. Ein Mann, der vor der Ladentür stand, weckte ihre Aufmerksamkeit. Als sie zur Glastür lief, um sie zu öffnen, war er verschwunden. Er war schwarz gekleidet und hinterließ in ihr ein beklemmendes Gefühl. Wenig später klingelten die Glöckchen an ihrer Ladentür. Erleichtert registrierte sie, dass Angela hereinkam.
»Guten Morgen, Schatz!«, rief diese fröhlich. »Was ist? Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet.«
Lena seufzte. »So kann man es ausdrücken.« Sie nahm ihre Freundin in den Arm. »Schön, dass du da bist.«
»Ich freu’ mich immer hier zu sein«, entgegnete Angela. »Du hast eine großartige Atmosphäre geschaffen. Erzähl, Mädchen, ich bin gespannt.« Sie setzte sich in einen der Sessel, die links und rechts neben dem kleinen runden Tisch platziert waren. Dahinter an der Wand war eine Fototapete mit Strand, Meer und Palmen angebracht. Am Fenster und an der Tür hingen hauchzarte, orangefarbene Gardinen. Alles wirkte harmonisch und farblich aufeinander abgestimmt. Stockend berichtete Lena von ihrem Traum, der sie immer noch gefangen hielt.
»Das ist nicht das erste Mal, dass du von diesem Mann träumst«, sagte Angela in einem sorgenvollen Ton.
»Seit Jahren, immer mal wieder«, entgegnete sie. »In den vergangenen Monaten jedoch viel zu oft.«
»Etwas muss vorgefallen sein, an das du dich nicht erinnern kannst. Vielleicht eine Begebenheit aus deiner Kindheit. Oder du hast eine blühende Fantasie, was ich eher nicht glaube. Hast du nicht mit deiner Mutter darüber geredet?«
»Ich hatte sie darauf angesprochen, sie war nicht darauf eingegangen. Offenbar interessierte es sie nicht.«
»Dann solltest du mit einem Psychologen darüber sprechen«, schlug Angela vor.
»Das fehlte mir noch, als verrückt abgestempelt zu werden. Ich komme schon klar damit.«
»Wenn du dir nicht helfen lässt, wirst du eines Tages tatsächlich verrückt. Aber gut, überlege es dir und lass uns von etwas anderem reden.«
»Beginnen wir mit der Behandlung«, sagte Lena und gab Angela innerlich recht. »Gibt es bei dir Neuigkeiten?«
»Wie man es nimmt. Vielleicht, aber sie sind bisher nicht spruchreif. Versteh mich bitte, dass ich mich zurückhalte. Du bist die Erste, die davon erfährt.«
»Wie du meinst. Lass mich nicht zu lange warten. Du weißt, ich bin neugierig«, entgegnete Lena und wechselte das Thema. »Deine Nägel sind noch so schön, wofür möchtest du neue?«
»Zaubere mir bitte eine andere Form und Farbe. Ich brauche Abwechslung.« Angela lachte.
»Dein Wunsch ist mir Befehl. Ich habe nach dir noch eine Kundin, danach fahre ich zu meinem Vater ins Heim. Gehst du heute nicht in die Firma?«
»Erst um zwölf, zu einem Meeting. Hatte ich schon erwähnt.« »Stimmt, entschuldige.«
»Erkennt dich dein Vater noch?« Angela schaute fragend.
Lena zuckte mit den Schultern und blickte traurig drein. »Nicht immer. Aber ich bin für jeden Moment dankbar, wenn er sagt: ›Hallo, mein Kind, wie schön, dass du mich besuchst‹. Minuten später ruft er: ›Wer sind Sie und was wollen Sie?‹ Ich muss mich beherrschen, nicht jedes Mal loszuheulen. Es tut weh, zu erleben, wie der eigene Vater einem entgleitet. Ich habe so viele schöne Jahre mit ihm verbracht. Er war immer für mich da und hatte mich mit seiner Liebe überschüttet. Aber das ist, seit er dement ist, nicht mehr der Fall. Meine Mutter war immer gut zu mir, nur Liebe habe ich keine gespürt.«
»Ich wünsche dir, dass er dich heute erkennt.« Angela tätschelte ihr mitfühlend die Wange und sagte: »Deine Mutter ist, wie sie ist. Daran wird sich nichts mehr ändern.«
»Das muss ich ertragen«, sagte Lena.
Kurz vor Mittag verschloss sie die Ladentür. Ihr Blick fiel auf die gegenüberliegende Straßenseite, zu den Kastanienbäumen. Die ruhige Siedlungsstraße lag nur wenige Minuten vom Stadtkern entfernt und war somit gut erreichbar. Sie kniff die Augen zusammen. Stand da nicht eine dunkel gekleidete Gestalt? Nachdem sie genauer hingeschaut hatte, war nichts zu sehen. So schnell kann kein Mensch unbemerkt verschwinden, dachte sie. Dann war es wohl doch Einbildung gewesen. »Wenn das so weitergeht, bin ich bald reif für die Irrenanstalt«, murmelte sie vor sich hin, wandte sich ab und ging nach oben in ihre Wohnung. Sorgfältig angekleidet fuhr sie mit ihrem Wagen in gemäßigtem Tempo nach Königstein. Sie hatte keine Eile. Die Begrüßung mit ihrem Vater bereitete ihr jedes Mal Unwohlsein und eine gewisse Angst. Würde er sie erkennen?
Lena bog auf den Parkplatz des Pflegeheims ein und ging mit verhaltendem Schritt auf das Eingangsportal zu. Einige Besucher begegneten ihr freundlich grüßend. Das Gebäude war von modernem Baustil, hatte einen zartgelben Anstrich und wurde von Bäumen ringsum geschützt. Außerdem war die gesamte Anlage von einem gepflegten, blumenreichen Park umgeben. Die Sonne strahlte seit dem Vormittag. Der Mai zeigte sich von seiner besten Seite. Im Inneren des Gebäudes herrschte eine angenehme Temperatur, trotzdem fröstelte sie. Eine Pflegerin kam auf sie zu. »Frau Bader, schön, dass Sie da sind. Ihr Vater ist guter Stimmung. Gehen Sie nur hinein«, sagte sie freundlich.
Lena fiel ein Stein vom Herzen. Sie klopfte kurz an die Tür und trat ein. Das Lächeln, das ihr Vater eben noch auf seinem Gesicht getragen hatte, war verschwunden. Er riss die Augen auf und schrie: »Ich gehe nicht mit dir. Verschwinde und komme nicht wieder. Ich habe genug von deinem Gejammer.« Abwehrend hob er die Hände, als ein Pfleger zur Tür hereinstürzte. »Was ist passiert?«
Erschrocken blickte Lena auf ihren Vater und dann zum Pfleger.
»Ich habe nichts getan. Als ich eingetreten war, fing er sofort an zu schreien.« Sie begann zu zittern. »Beruhigen Sie sich, Herr Bader, das ist Ihre Tochter, die Sie besuchen kommt«, sagte der Pfleger. Misstrauisch schaute ihr Vater sie an. »Bist du Lena?«, fragte er zögernd.
»Aber ja. Du kennst mich doch.« Tränen stiegen ihr in die Augen.
Er nickte. »Ich kenne dich. Du bist Lena.« In sein Gesicht kehrte das Lächeln zurück. Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Guten Tag, mein Kind, setzt dich.«
»Dann gehe ich wieder, alles ist gut«, sagte der Pfleger. »Übrigens, ich bin Poldi. Meine Kollegen weigern sich, mich mit Leopold anzusprechen.« Er lachte.
»Danke, Poldi klingt auch viel netter.« Ein Gespräch konnte Lena mit ihrem Vater nicht führen. Lediglich einzelne Sätze. Er hielt ihre Hände in den seinen und fragte ständig, ob es ihr gutgehe. »Danke, Vater, es geht mir gut. Aber, wie geht es dir?«, wollte sie wissen. Seine Miene verdüsterte sich. »Alles in Ordnung!«, sagte er ohne jegliche Begeisterung.
»Vater, du weißt doch, dass ich als Kind immer böse Träume gehabt hatte und nachts oft geschrien habe?«
Er lachte und ging darauf ein, als wäre er gesund. »Das weiß ich noch sehr genau, mein Kind. Fast jede Nacht bist du weinend zu uns ins Bett gekrochen.«
Es freute sie, dass er sich daran erinnern konnte. »Ich habe wieder solche Träume, fast jede Nacht«, flüsterte Lena und hielt die Luft an. Wie würde ihr Vater reagieren?
Für einen Moment schaute er sie befremdet an und antwortete knapp, aber bestimmt: »Verschone mich. Ich will von deinen Albträumen nichts wissen. Ich habe selbst genug davon.« Danach sprach er nicht mehr, sodass sich Lena bald verabschiedete und er sie nicht daran hinderte. Sie war den Tränen nahe. Wie schlimm würde sein Zustand noch werden? Lena wusste nicht, wie lange sie dieser Situation gewachsen war. Nachdenklich fuhr sie zurück nach Hause, stellte den Wagen ab und marschierte die hundert Meter zum Haus ihrer Mutter. Der Gedanke, warum Vater so sonderbar reagiert und gesagt hatte, ›er habe selbst reichlich Albträume‹, beunruhigte sie.
Als Lena auf das Haus ihrer Mutter zuging, sah sie, dass einige Häuser weiter ein Mann heraustrat. Sie kannte ihn nicht, aber aus einem ihr unbekannten Grund schien er ihr mehr oder weniger vertraut. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mann aus ihren Träumen konnte sie nicht verleugnen. Ihr Herz begann wild zu schlagen. Sie zwickte sich in den Arm. Nein, es war kein Traum. Der Mann schaute kurz zu ihr hin und ging in die andere Richtung davon. Ihre Mutter musste am Fenster gestanden haben, denn sie öffnete die Haustür, bevor Lena klingelte.
»Hallo, mein Kind, komm herein. Warst du bei Vater?«
Lena nickte betrübt.
»Erzähle«, forderte die Mutter sie auf.
Sie schluckte den Klos in ihrem Hals herunter und begann zu sprechen: »Als ich in sein Zimmer trat, fing er an zu schreien. Ein Pfleger musste ihn beruhigen, dann erkannte er mich plötzlich. Als ich ihm von meinen Albträumen berichtet hatte, wurde er abweisend und behauptete, er hätte selbst genug davon. Das nimmt mich alles ziemlich mit«, sagte sie traurig. »Weißt du etwas darüber?«
Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wirkte gequält, aber sie nahm Lena kurz in den Arm. »Mir geht es nicht anders. Aber wir können nichts daran ändern. Dein Vater ist dort gut aufgehoben; er fühlt sich wohl, hat das Pflegepersonal mir versichert. Was er damit gemeint hat, weiß ich nicht«, sagte sie abweisend.
»Mama, wer wohnt im letzten Haus am Feldrand? Da kam ein Mann heraus, etwa sechzig, dunkel gekleidet. Er ist zu dem kleinen Fußweg abgebogen, der in die Stadt führt.«
Lenas Mutter wurde bleich und ihre Hände fahrig. »Woher soll ich wissen, wer in den letzten Häusern lebt? Ich habe keinen Kontakt zu den Leuten hier. Lediglich mit den Bewohnern links und rechts von mir wechsele ich ein paar Worte.«
»Merkwürdig, dass ich ihn noch nie gesehen habe. Er wohnt doch sicher genauso lange hier wie wir?«, sagte Lena.
»Ich sehe die Anwohner selten, sie sind alle berufstätig. Die fahren lediglich mal mit dem Auto hier durch, selten zu Fuß.« Es war ihr anzumerken, dass sie über dieses Thema nicht reden wollte. »Ich brühe uns einen Kaffee. Apfelkuchen ist auch noch da«, sagte sie und lächelte mühsam.
»Gern, Mama, danach muss ich los. Ich habe noch ein paar Kundinnen heute Nachmittag.« Sie spürte genau, dass ihre Mutter etwas für sich behielt, was sie ihr nicht verraten wollte.
»Ich freue mich über dein eigenes Leben und dass dir deine Tätigkeit Spaß macht«, entgegnete ihre Mutter rasch und lenkte das Gespräch in andere Bahnen. »Außerdem kannst du froh sein, diesen Leo, deinen Ex-Freund, überwunden zu haben.«
Lena ging nicht darauf ein und erhob sich kurz danach. »Ich muss gehen, die Arbeit ruft. Danke für Kaffee und Kuchen.«
»Schön, dass du da warst. Komm bald wieder«, sagte die Mutter zum Abschied. Es klang nicht echt. Lena nickte nur, trat durch das Tor auf den Bürgersteig und winkte ihr zu, bevor sie weiterging. Ihr war nicht entgangen, dass ihre Mutter nervös war. Möglich, dass sie sich einsam fühlt und Vater vermisst. Am Laden angekommen, schloss sie die Tür auf und begann, alles Nötige für die nächste Kundin vorzubereiten. Sie war froh darüber, dass sie es gewagt hatte, sich selbstständig zu machen und ein eigenständiges Leben zu führen. Allerdings wäre sie über ein intaktes Elternhaus noch glücklicher gewesen.
Um siebzehn Uhr verließ die letzte Kundin das Nagelstudio und Lena verschloss die Tür. Sie war unruhig geworden. Der Tag hallte in ihr nach. Erst der beängstigende Traum, dann Vaters Gefühlsausbruch, der Mann in der Siedlung und Mutters merkwürdiges Verhalten. Etwas stimmte da nicht, es fühlte sich an, als würde ein Feuer in ihrer Seele brennen. Aber warum? Nach einem leichten Abendessen ging sie frühzeitig zu Bett. Sicherheitshalber nahm sie eine Schlaftablette, um Ruhe zu finden.
In dieser Nacht hatte Lena tiefer geschlafen. Sie stand zeitig auf und brühte sich in der kleinen Küche einen Kaffee. Appetit hatte sie keinen. Mit der Tasse in der Hand stellte sie sich ans Fenster. Die Sonne hatte sich verabschiedet. Dicke Regenwolken hingen am Himmel und über den Feldern waberte der Dunst. Heute, am Samstag, erwartete sie nur zwei Kundinnen und würde den Laden um zwölf Uhr schließen. Nach einigen Einkäufen wollte sie bei ihrem Vater vorbeischauen. Die Besuche bei ihm hatte sie in ihren täglichen Rhythmus eingebaut, außer sonntags. Dieser eine Tag gehörte ihr. Sie trat zur Ladentür, um abzuschließen, da sah sie den Mann aus der Siedlung vorübergehen. Mit neugierigen, dunklen Augen schaute er sie an. Es war das erste Mal, dass sie direkt in sein Gesicht blicken konnte. Ein Zittern befiel ihren Körper und der Herzschlag erhöhte sich. Woher kannte sie diesen Mann nur? Rede dir bloß nichts ein, dachte sie, und ging in ihr Apartment, um sich umzuziehen. Allmählich beruhigte sich ihr Puls.
Als sie das Pflegeheim betrat, wurde sie von der Heimleiterin, Frau Schindler, empfangen. »Hallo, Frau Bader, ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, ihren Vater zu besuchen. Er hatte eine schlechte Nacht gehabt und immer wieder gerufen: ›Lasst mich alle in Ruhe. Ich will nicht mehr darüber sprechen‹. Heute Morgen habe ich von ihrem Besuch erzählt, da schüttelte er den Kopf und hat gerufen: ›Keinen Besuch!‹ Es tut mir leid«, bekundete die Leiterin.
Lena schaute betrübt. »Was ist nur mit ihm? In den vergangenen Wochen ist es schlimmer geworden.«
»Die Krankheit nimmt manchmal einen schnelleren Verlauf, dann stagniert sie wieder. Das ist normal. Ihr Vater meint das nicht böse«, erklärte die Leiterin.
»Ich weiß. Ich komme ein anderes Mal wieder.« Betroffen fuhr sie nach Hause und rief von unterwegs ihre Mutter an. Sie erzählte ihr, was vorgefallen war. »Was ist los mit Vater, sein Zustand verschlechtert sich.«
»Kind, nimm es ihm nicht übel. Er ist sich dessen nicht bewusst. Ich werde später zu ihm fahren, vielleicht kann ich ihn beruhigen.«
»Mach das, Mama, ich besuche ihn am Montag.«
»Es tut mir leid, mein Schatz, du kannst nichts dafür. Komm wieder mal vorbei«, sagte sie. Ihre Stimme klang schuldbewusst. Sie kann doch auch nichts dafür, dachte Lena. Oder doch? Nach diesem Gespräch sinnierte sie einige Zeit darüber nach. Was hatte sich verändert? In Gedanken ging sie einige Jahre zurück, dorthin, wo es begonnen hatte. Sie war zwölf oder dreizehn Jahre alt, als Vaters Verhalten auffällig wurde. Dass er gelegentlich etwas vergaß, nahmen ihre Mutter und sie nicht ernst. Es entwickelte sich schrittweise, bis ihre Mutter stutzig wurde. Er zog verschieden farbige Strümpfe an. Knöpfte die Hemden falsch zu. Vor zehn Jahren wurde es schlimmer. Vater vergaß Termine, Namen von Bekannten und andere Kleinigkeiten, die er sich nicht merken konnte. Die Ärzte meinten damals, dass er mit seinen neunundvierzig Jahren, zu den frühzeitigen Fällen der Demenzerkrankung gehörte. Nachdem Lenas Vater, ihre Mutter und auch sie, oftmals nicht erkannt hatte und körperlich zu manchen Dingen nicht mehr fähig gewesen war, wurde er, auf eigenen Wunsch, in ein Pflegeheim eingewiesen. Verstehen konnte sie das bis heute nicht. Es wurde nie über seine Krankheit gesprochen. Hatte es womöglich einen Vorfall gegeben, wodurch diese Demenz ausgelöst wurde? Lena musste mit ihrer Mutter noch einmal darüber sprechen.
Sie war eben aus der Klinik zurückgekommen, da läutete ihr Handy. Es war ihre Freundin.
»Angela, schön, dass du dich meldest. Erzähle mir etwas Fröhliches.«
»Das habe ich vor, meine liebe Lena. Ein guter Kunde unserer Versicherung, Dr. Daniel Schubert, gibt einen kleinen Empfang. Er hat endlich seine eigene Praxis eröffnet. Er ist Psychotherapeut. Die engsten Mitarbeiter unserer Abteilung, vier junge Leute, einschließlich meiner Wenigkeit, sind eingeladen und ersucht, einen Freund oder Freundin mitzubringen«, teilte Angela ihr freudestrahlend mit. »Bitte, Lena, begleite mich. Etwas Abwechslung tut dir gut und ich verspreche dir, der Herr Doktor ist ein sympathischer Mensch. Ich kenne ihn seit gut einem Jahr.«
»Wann soll das sein?«
»Heute Abend, neunzehn Uhr.«
»So rasch schon? Ich weiß nicht recht. Was soll ich anziehen?«
»Etwas Nettes. Ich hole dich ab. Wir brauchen nur wenige Minuten. Ich freue mich. Bis bald.« Angela hatte rasch aufgelegt, vermutlich, damit sie nicht widersprechen konnte.
Der Nachmittag verging schnell. Lena hatte lange Zeit am Fenster gestanden und hinausgeschaut, als würde sie etwas suchen. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihre Albträume. Die schönen Dinge gingen spurlos an ihr vorüber. Seufzend wendete sie sich vom Fenster ab. Es war Zeit, sich um die Garderobe zu kümmern. Unschlüssig stand sie vor ihrem Kleiderschrank und griff wahllos nach einem Kleid, hängte es wieder zurück. Das wiederholte sie mit mehreren Kleidungsstücken. Lange Zeit war sie nicht ausgegangen. Nachdem sie sich vor zwei Jahren von ihrem Freund getrennt hatte, obwohl sie ihn liebte, duldete sie keinen Mann mehr an ihrer Seite. Allerdings plagten sie oftmals sexuelle Wachträume. In diesem Moment hätte sie jeden netten Typ vernascht. Lena lebte zurückgezogen, hatte sich auf ihre Kurse zur Nageldesignerin konzentriert. Danach hätte sie keinen Grund gehabt, auf einen Mann zu verzichten. Aber sie wuchsen leider nicht auf den Bäumen und außerdem war sie misstrauisch geworden. Lena griff nach einer schwarzen Hose, einem schwarzen Top und dem sonnengelben Blazer. Dazu die hochhackigen Schuhe, die sie lange nicht getragen hatte. Mit dem Ergebnis war sie zufrieden. Die goldblonden Haare steckte sie zur Hochfrisur auf. Etwas Lippenstift und fertig. Danach trat sie vor die Tür und wartete auf Angela. So etwas wie Freude stieg in ihr auf.
Sie musste nicht lange warten, als hupend ein roter Fiat Panda am Straßenrand anhielt. Angela stieg aus und umarmte sie herzlich.
»Wow, meine Süße, du siehst zauberhaft aus. So kenne ich dich gar nicht mehr. Lang ist es her. Steig ein, es geht los.«
»Du musst dich auch nicht verstecken«, antwortete Lena. »Hübsch, hast du dich zurechtgemacht. Dieser Hosenanzug steht dir ausgezeichnet und das zarte Rosa passt gut zu deinen graugrünen Augen. Wir werden die Schönsten sein.« Sie lachten.
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, als Angela ihren Wagen vor einem hübschen, wenn auch kleinen Haus parkte. »Schick«, flüsterte Lena, als sie einen gepflegten Vorgarten passierten.
Angela nickte. »Lassen wir uns überraschen, wie es im Inneren des Hauses aussieht. Ich sehe es auch zum ersten Mal.« Sie drückte auf die Klingel. Augenblicklich wurde die Haustür geöffnet und ein umwerfend aussehender Mann um die Dreißig stand in der Tür.
»Hallo, die Damen, ich freue mich.« Angela stellte Lena vor und überreichte ihm ein kleines Geschenk, hübsch verpackt. Lena wurde blass. Aber da sagte ihre Freundin bereits: »Das ist von uns beiden.« Dankbar atmete sie auf.
»Vielen Dank. Schön, Sie kennenzulernen«, Lena.
»Danke, für die Einladung«, murmelte sie.
»Nun rein mit euch«, sagte der Gastgeber. Ich bin Daniel. Heute gehen wir es locker an.«
Lena fühlte sich unsicher. Das Auftreten dieses Mannes raubte ihr den Atem. Das Haus hatte eine positive Ausstrahlung, war modern und dennoch gemütlich eingerichtet. Es waren bereits einige Gäste anwesend, die sie mit einem »Hallo« begrüßten. Hier ging es zwanglos und vergnügt zu. Auf einem Tisch standen versilberte Teller mit verschiedenen belegten Häppchen bereit, sowie Sekt, Wein und Säfte. Lena spürte ein Knurren im Magen, denn sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Daniel reichte Angela und ihr ein Glas Sekt, stieß mit ihnen an und bat sie zuzugreifen. Auf kleinen Tellern konnten sie sich die ausgewählten Häppchen zurechtlegen. Eine rege Unterhaltung füllte den Abend und drängte für kurze Zeit ihre negativen Gedanken beiseite. Zwischendurch wurde getanzt. Lena fühlte sich wohl in dieser Umgebung. Der Gastgeber war charmant, fröhlich und steht’s darauf bedacht, jeden gut versorgt zu wissen. Er war ein Mann, der ihr auf Anhieb gefiel, mit seinen hellbraunen gewellten Haaren, in moderner Länge. Er trug eine saloppe dunkelblaue Hose und einen hellblauen, locker fallenden Pulli, der gut zu seinen blauen Augen passte. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. In seiner Nähe beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ihn würde sie nicht von der Bettkante stoßen. Es schien auch Daniel nicht entgangen zu sein, denn er blickte sie manchmal fragend an.
Ihre Freundin und sie waren die Ersten, die sich verabschiedeten. Angela wäre gern noch geblieben, aber sie wusste, Lena würde keine Ruhe geben. Daniel begleitete sie zur Tür. »Hat mich sehr gefreut, zwei so charmante Damen, als meine Gäste bewirten zu dürfen.« Er wandte sich an Lena. »Ihre Freundin hat mir von Ihrem Traum erzählt. Wenn Sie mit mir darüber sprechen möchten, ich bin für Sie da. Hier ist mein Kärtchen. Wenn es Ihnen passt, rufen Sie an. Vielen Dank für Ihr Kommen.«
»Ebenfalls vielen Dank. Es war ein herrlicher Abend«, entgegnete sie wahrheitsgemäß mit leuchtenden Augen und auch Angela verabschiedete sich. Sie setzte Lena vor ihrem Laden ab. »Schlaf gut. Über den Abend reden wir ein anderes Mal. Ich möchte nur noch ins Bett«, sagte sie und brauste davon. Lena sah ihr lächelnd hinterher.
Nach einer Katzenwäsche, zum Duschen fehlte ihr die Lust, ging sie sofort zu Bett. Sie kicherte. Das musste am Sekt liegen, von dem sie einige Gläschen zu viel getrunken hatte. Früher waren solche Feste an der Tagesordnung. Nach der Trennung von ihrem Freund war sie für sich geblieben. Ihre Freundin Angela war die Einzige, die sie an sich heranließ. Immer wieder tauchte Daniels Gesicht vor ihr auf und stachelte ihre sexuelle Lust an. Wie von selbst glitten ihre Hände über ihren Busen, strichen den Bauch entlang. Ihre Augen wurden immer schwerer und sie war eingeschlafen. Es dauerte nicht lange, da wurde sie unruhig. Ihre Hände fuhren auf der Bettdecke hin und her. Sie schnaufte. Der Traum kehrte zurück.
Lena läuft wie gehetzt die Straße entlang. Jemand verfolgt sie. Wenn sie sich umdreht, ist niemand zu sehen. Ihr Herz rast und sie zappelt wild auf der Stelle herum. Sie kommt nicht vorwärts. Dann wird ihre Flucht jäh unterbrochen. Der schwarz gekleidete Mann steht vor ihr und grinst. Er hebt das Messer und geht auf sie zu. In diesem Moment wird sie zur Seite gerissen. Es ist Daniel, der sie umfangen hält. Als er sie freigibt, öffnet sie die Augen.
Lena richtete sich zitternd im Bett auf und schaute sich panikartig um. Alles war wie immer, sie war in Sicherheit. Bevor sie sich zurücklegte, warf sie einen Blick auf die Radio-Uhr. Mitternacht, noch genügend Zeit zum Schlafen. Morgen würde sie Dr. Daniel Schubert um einen Termin bitten. Es dauerte, bis sie eingeschlafen war.
Früh um acht schlüpfte sie freudlos aus dem Bett. Sofort fiel ihr der Traum wieder ein. Er kam zu oft und bescherte Lena schlechte Laune sowie Angst. Nur der Gedanke an Daniel zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Ich werde ihn heute anrufen, nahm sie sich vor. Der Kaffee blubberte in die Glaskanne, während sie Toast, Butter und Honig auf den Tisch stellte. Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster auf die nebelverhangenen Felder. Sie erwartete acht Kundinnen, die ihr den Tag abwechslungsreich gestalten würden. Ihre Freude, Leid und Beziehungsdramen erzählten sie ihr gern und Lena hörte sich alles geduldig an. Über ihre Probleme sprach sie nicht. Während sie ihre Tasse mit Kaffee befüllte, sah sie aus den Augenwinkeln ihre Mutter auf das Haus zueilen. Sie sprang vom Stuhl auf, lief an die Tür und riss sie auf. »Mama, was ist passiert? So früh bist du hier noch nie erschienen? Komm herein.« Lena zog sie ins Haus und drückte sie in der Küche auf einen Stuhl. Ihre Mutter machte ein klägliches Gesicht.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Lena.
»Gern.« Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, begann sie zu sprechen: »Ich war gestern bei deinem Vater im Heim. Er wirkte so verändert. Etwas stimmt mit ihm nicht. Er hatte mich eine Weile stumm angeschaut und dann gesagt, ich solle gehen, er hätte keine Lust auf eine sinnlose Unterhaltung. Einige Minuten war ich hilflos im Raum gestanden, bis ich wortlos hinausstürmte. Die Heimleiterin meinte, er hätte zurzeit eine schwere Phase.«
Lena hatte ihrer Mutter schweigend zugehört. »Wir können es nicht ändern. Eines Tages wird er uns gar nicht mehr erkennen. Das wird uns wehtun, aber wir müssen es akzeptieren.« Sie nahm ihre Mutter in den Arm. »Ist schon gut, mein Kind. Ich weiß das alles, aber manchmal deprimiert es mich schon.«
»Ich werde heute mein Glück bei ihm versuchen«, sagte Lena. »Wenn er mich nicht sehen möchte, gehe ich wieder. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Obwohl ich das Gefühl nicht loswerde, dass etwas passiert sein musste, das ihn in diesen Zustand gebracht hatte.«
»Ich weiß von nichts«, sagte Lenas Mutter und bekam einen roten Kopf, »aber ich halte mich die nächsten zwei Tage von ihm fern. Gib mir Bescheid, wenn sich etwas geändert hat.« Sie erhob sich. »Schön, dass ich dich besuchen durfte.«
»Jederzeit, Mama, das weißt du doch.« Sie umarmten sich. Dennoch fand Lena die Reaktion ihrer Mutter sonderbar. Was verschwieg sie ihr? Seufzend griff sie zum Telefon und nahm das Kärtchen von Daniel in die Hand, das daneben lag. Was für ein schöner Zufall, dass er Psychotherapeut war. Mit zittrigen Fingern drückte sie seine Nummer in die Tasten. Der Ruf ging durch. »Dr. Schubert«, meldete er sich mit angenehmer Stimme, was ihr einen Schauer durch den Körper jagte.
»Hallo, Herr Doktor, hier spricht Lena Bader.«
»Hallo, Lena, es freut mich, dass Sie sich so rasch melden. Sie möchten einen Termin?«
»Wenn es möglich wäre. Ich hatte in der Nacht wieder diesen Traum.«
»Es ist vernünftig, dass Sie etwas dagegen unternehmen wollen. Ich werde Ihnen dabei helfen«, sagte er behutsam. »Ich öffne die Praxis erst in einer Woche, wenn meine Arzthelferin anwesend ist. Ich habe also Zeit. Wenn Sie mögen, können wir morgen beginnen. Vorerst werden wir nur eine lockere Unterhaltung über Ihr Problem führen. Ist das in Ordnung für Sie?«
»Danke, Herr Doktor, ich bin einverstanden.«
»Sagen Sie weiterhin Daniel zu mir, bitte. Sie gehören jetzt zu meinem Freundeskreis.« Er lachte.
»Danke«, entgegnete Lena und errötete, was er zum Glück nicht sehen konnte. »Wann soll ich kommen?«
»Wann haben Sie morgen Ihren Laden geschlossen?«, fragte er.
»Ich habe zwischen zwölf und vierzehn Uhr keine Termine.«
»Gut, dann um halb eins«, schlug er vor.
»Einverstanden, bis morgen, Daniel.« Er brachte sie durcheinander. Ihre Wangen glühten und ihr Herz pochte gegen die Rippen. Sie ging hinunter in den Laden und blickte aus dem Fenster, neben der Tür. Hinter den Kastanienbäumen hatte Lena eine Bewegung wahrgenommen. Unablässig haftete sie ihren Blick auf den dicken Stamm. Nach wenigen Sekunden trat dieser mysteriöse Fremde mit dem schwarzen Hut hervor, schaute kurz zu ihr herüber und entfernte sich. Warum bekam sie dieses Angstgefühl, wenn sie ihn sah? Was hatte er dort hinter diesem Baum gemacht? Sicherlich nicht gepinkelt. Er wohnte nur vier Häuser weiter und musste direkt von Daheim gekommen sein. Sie spürte, dass er von einem Geheimnis umgeben war. Ein Geist konnte er nicht sein, sonst hätte ihre Mutter ihn vor ein paar Tagen nicht sehen können. Sie musste es herausfinden.
Auf dem Weg zu Dr. Schubert hatte Lena plötzlich Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, zu ihm zu gehen. Was würde er herausfinden? Würde er sie für verrückt halten? Sie schüttelte den Kopf. Das ziehe ich jetzt durch, redete sie sich ein und hatte Minuten später Daniels Haus erreicht. In einem Anbau befand sich die Praxis, die nach seiner Aussage erst in einer Woche eröffnet werden würde. Also klingelte sie am Wohnhaus.
Daniel öffnete. »Schön, dass Sie gekommen sind, Lena. Eine gute Entscheidung. Komm herein«, sagte er freundlich. »Sagen wir du, das wirkt vertrauter. Nimm Platz. Ich bringe etwas zu trinken.« Er verließ den Wohnraum und sie hörte ihn in der Küche hantieren. Kurz darauf brachte er Tee, Wasser und Gebäck. Lena hatte in einem bequemen Sessel Platz gefunden und schaute ihm in die Augen. Es war ein Gefühl, als blicke sie in einen unergründlichen, tiefen Ozean.
»Entspanne dich und trinke erst einmal eine Tasse Tee, atme tief durch und dann erzählst du mir unbefangen und offen von deinem Problem oder Traum. Was auch immer dich bedrückt, bei mir ist es gut aufgehoben.«