Warum wir das schaffen müssen -  - E-Book

Warum wir das schaffen müssen E-Book

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Beschreibung

Als Samir sich von seiner Frau verabschieden muss, fleht sie ihn an, sie und das Kind nicht zurückzulassen. Sein Versprechen, die beiden schnellstmöglich nachzuholen, wenn er erst ein neues Zuhause gefunden hat, können ihre Tränen nicht zum Versiegen bringen. Doch für Samir gibt es kein Zurück. Er macht sich von Syrien aus auf den Weg in ein neues Leben, in dem er auch als Christ keine Angst vor dem nächsten Morgen haben muss. Flucht und Vertreibung gab es schon in der Bibel. Heute sind mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor. Politisch und religiös verfolgt, verlassen sie ihre Heimat und riskieren ihr Leben für die Hoffnung auf ein sicheres Zuhause in der Fremde. Das stellt uns vor große Herausforderungen. Der Sammelband schildert die oft dramatischen Umstände der Flucht; authentische Geschichten geben Flüchtlingen und Helfern ein Gesicht, wenn beispielsweise ein Politiker zwei Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnimmt oder ein Verein sich für Flüchtlingspatenschaften einsetzt. Die Beiträge werfen aber auch einen kritischen Blick auf die Asylpolitik der EU, beleuchten die Chancen, die sich gerade für Kirchengemeinden eröffnen und beschreiben einfühlsam, wie man als Helfer die eigene Unsicherheit überwinden und Willkommen sagen kann – damit aus Fremden Freunde werden können. Bewegende Geschichten zu einem Thema, das unsere Gesellschaft noch lange begleiten wird.

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Corinna Meinold / Anja Lerz (Hrsg.)

Warum wirdas schaffenmüssen

Flüchtlinge – und was wir als Christen damit zu tun haben

Mit einem Grußwort von Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Redaktionsschluss für diesen Sammelband war der 4. Januar 2016.

Der Informationsstand der Texte bildet den Wissensstand bis zu diesem Zeitpunkt ab.

Die Namen der in den Flüchtlingsgeschichten erwähnten Personen wurden zu ihrem Schutz geändert.

ISBN 978-3-86506-887-3

© 2016 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Miguel Garcia Saavedra shutterstock

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

Die Speisung der 800.000

Auf einer seiner Wanderungen kam Jesus nach Deutschland. In Deutschland sah er die 800.000 Flüchtlinge, und sie jammerten ihn.

Als es Abend ward, sprachen die 80 Millionen Deutschen zu Jesus: „Herr, lass die Leute an die Orte zurückgehen, woher sie gekommen sind, denn hier gibt es nicht genug für alle. Und außerdem könnten einige unter ihnen Missbrauch betreiben.“

Und Jesus sprach zu den Deutschen: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Und ein Kind schaute in die Statistik und sagte: „Herr, hier sind fünf Billionen Euro Geldvermögen und ein seit zwei Jahren nahezu ausgeglichener Haushalt, aber was ist das für so viele?“

Und Jesus sprach: „Nun lasst die Menschen erst mal in ihren Flüchtlingswohnheimen ankommen, immer fünf in einem Container.“ Und sie kamen an, und die Deutschen teilten aus, und Jesus segnete sie, und es reichte für alle.

Und fünf Jahre später sammelten sie ein, was übrig war, und füllten Körbe mit jungen Leuten, Auszubildenden, Fachkräften, Arbeitern, neuen Nachbarn und ehrenamtlichen Helfern mit Public-Private-Partnership, Wirtschaftswachstum, mit gutem Ruf, Dankbarkeit, Diversität und mit dem guten Gefühl, der Welt etwas geschenkt zu haben.

Jens Hobohm

(Leiter einer Gemeinde in Berlin-Lichterfelde –

frei nach Johannesevangelium Kapitel 6)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Speisung der 800.000

Vorwort

Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland

Wie nah lasse ich die Flüchtlinge an mich heran?

Rebekka Gohla

Mein Freund Thorsten und die Flüchtlinge

Frank Bonkowski

Es begann mit einem „Shereve!“

Frank Bonkowski

Ein unvollkommenes Willkommen

Jennifer Zimmermann

Samir

Frank Bonkowski

Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union: Ausverkauf europäischer Werte?

Wolf-Dieter Just

Farid

Frank Bonkowski

Flüchtlinge in Deutschland und Europa – Wie schaffen wir das?

Sebastian Ludwig

Shivaa, die 11.000-Euro-Frau

Frank Bonkowski

Helfen? Eine verrückte Idee!

Martin Keune

Endlich wieder vereint: Fadi und Ahlam

Frank Bonkowski

Wie Oma nach Deutschland kam

Frank Bonkowski

Fremde werden Freunde

Martin Patzelt

Nah an den Menschen – zwei Helfer berichten von ihren Erfahrungen aus Syrien und Deutschland

Rebekka Gohla

Ein Sofa für eine Nacht

Mandy

„Wenn wir uns als Selbstbespaßungs-Verein sehen, haben wir was verpasst“ – Wie eine Kirchengemeinde in Berlin Hunderte Iraner aufnahm

Johannes Süßmann

Der Gott der Flüchtlinge. Eine Spurensuche zum Thema Flucht, Flüchtlinge und Heimatsuche in der Bibel

Roland Werner

Hier können Sie sich informieren

Die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Vorwort

Das Wort des Jahres 2014 war das Kunstwort „Lichtgrenze“. Die Gesellschaft für deutsche Sprache bezog sich mit diesem Wort des Jahres auf die Berliner Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Über 8000 weiße, leuchtende Ballons erinnerten damals auf einer Länge von 15 Kilometern an den Verlauf der Berliner Mauer und an die frühere Teilung der Stadt und unseres Landes. Was für ein entscheidender Tag nicht nur für unser Land, als diese Mauer 1989 fiel; und ein starkes Bild, als Tausende erleuchtete Ballons gen Himmel stiegen und die für wenige Tage noch einmal sichtbare Grenze ein letztes Mal verschwand. Nur zwei Jahre später, im Jahr 2016, wird in Deutschland und in Europa darüber diskutiert, ob offene Grenzen nicht wieder Zäunen und Schlagbäumen weichen sollen.

Schaffen wir das – mit offenen Grenzen, offenen Herzen und begrenzten Möglichkeiten‘?

Ich bin überzeugt, dass spätere Generationen Europa und Deutschland daran messen werden, ob wir die weltweite Jahrhundertherausforderung Migration und Flucht mit einem angemessenen Beitrag Europas und Deutschlands beantwortet und mitbewältigt haben.

Dabei ist schon sehr viel geschafft. Das Leben von Hunderttausenden schutzbedürftigen Menschen konnte gerettet werden. Sie sind nicht im Mittelmeer ertrunken oder vor hohen Zäunen und geschlossenen Stacheldrahtverhauen abgewiesen worden. Die Hilfsbereitschaft von Hunderttausenden Freiwilligen in Europa ist nach wie vor sehr groß. In Deutschland engagieren sich aktuell mehr Menschen bei der Aufnahme und Integration der geflüchteten Menschen als im Sport. Das ist ein weltweit wahrnehmbares Zeichen dafür, dass die Idee der Menschenrechte als die große Erzählung Europas noch immer eine kraftvolle und überzeugende Orientierung entfaltet. Diese Menschenrechte, zu denen das Recht auf Schutz vor Gewalt und Verfolgung gehört, offensiv zu vertreten und zu verteidigen ist eine der großen historischen Aufgaben der Mitgliedsländer Europas.

Das Jahr 2016 muss trotz aller Widerstände und unterschiedlichen Interessen zum Jahr der gemeinsamen Anstrengungen für eine gelingende Bemühung um Integration werden. Dabei müssen wir aus den Erfahrungen unserer Nachbarländer genauso lernen wie aus den nicht geglückten Erfahrungen, die wir in unserem Land gemacht haben.

Bezahlbarer Wohnraum, Kitaplätze, schnelles Erlernen der deutschen Sprache und schnelle Integration in Arbeitsprozesse der Asylbewerberinnen und -bewerber sind die prioritären Herausforderungen neben einer gemeinsamen europäischen Antwort, die jetzt ebenfalls dringend erforderlich ist.

An der Bewältigung dieser Herausforderung mitzuwirken ist nicht nur Aufgabe der Politiker, sondern aller Menschen, denen die Ideen der Menschenrechte und eines menschenwürdigen Zusammenlebens auf diesem unbegreiflich erwählten Planeten eben nicht egal sind.

Dazu bedarf es der Zusammenarbeit und der aktiven Unterstützung aller Menschen, die für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben aller Menschen eintreten wollen. Nach einem Jahrhundert der Gewalt und der Diktaturen sollten wir verstanden haben, dass Nationalismus und Extremismus in der europäischen Geschichte zu oft und immer wieder in die Katastrophe geführt haben. Die vorliegenden Beiträge sind lesenswerte und fundierte Mosaiksteine zu einem hoffentlich menschenfreundlichen Gesicht Deutschlands und Europas angesichts der immensen Herausforderungen.

Ulrich Lilie

Präsident Diakonie Deutschland

Wie nah lasse ich die Flüchtlinge an mich heran?

Rebekka Gohla

Es ist Mitte des Jahres 2015, und in den Nachrichten verfolge ich die aktuelle Lage. Immer mehr Menschen fliehen aus Ländern wie Syrien oder dem Iran, um dem Krieg zu entkommen. Eine Welle von Videos taucht in den sozialen Netzwerken auf. Darunter immer wieder Bilder von verzweifelten Müttern und Vätern, die ihre Kinder an der Hand halten oder auf dem Arm tragen.

Die Bilder sind zum aktuellen Zeitpunkt für niemanden mehr neu. Und ich könnte auch gar nicht sagen, wann die erste Flüchtlingswelle kam. Es kommt mir so vor, als sei es nie anders gewesen. Ich erinnere mich schon gar nicht mehr an die Zeit ohne die Massenquartiere in den Städten. Kein Wunder, immerhin sind Medien wie Fernsehen, Zeitungen und Radio vom Flüchtlingsdrama überflutet.

Ich fühle Mitleid mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Wie muss das sein? Wie fühlt es sich an, seine Freunde, die eigene Familie und das geliebte Zuhause zu verlassen, ohne zu wissen, wann und wo man landen wird? Was wird den Neuankömmlingen durch den Kopf gehen? Vielleicht Fragen wie diese: Wie werden die Menschen in dem neuen Land sein? Wie kommuniziere ich mit ihnen, wenn wir doch nicht dieselbe Sprache sprechen? Wovon werden wir Lebensmittel und einen Schlafplatz bezahlen?

Im Fernsehen sehe ich Berichte über Schleuser, die Flüchtlinge in ihren Lastwagen mitnehmen. Diese Menschen ersticken mitten in Europa auf dem vermeintlichen Weg in die Freiheit. Ich sehe Polizisten, die an der Grenze ein Interview geben und erzählen, wie sie die Lastwagen vorfinden. Einer dieser LKWs hat in der Verkleidung lauter kleine Beulen, die nach außen hin ausgebuchtet sind.

„Hier müssen Menschen verzweifelt versucht haben, aus dem Wagen zu gelangen“, sagt der Sprecher.

Furchtbare Bilder. Oder das Bild von dem kleinen Jungen in seinem roten Shirt, der am Strand angespült wurde – ertrunken, liegen gelassen. Das Bild geht um die Welt. Empörungsschreie. Betroffenheit. Aber es ist weit weg, trotz allem. Ein anderes Video verbreitet sich so schnell und vehement über die sozialen Medien, dass ich es mir eines Tages auch anschaue. Das Hilfswerk „Samaritan‘s Purse“ hat dieses Video veröffentlicht. Es zeigt, wie Helfer dieser Organisation am Strand nach Flüchtlingsbooten Ausschau halten. Befindet sich ein Boot in der Nähe der Küste, helfen sie den Menschen sicher an den Strand zu gelangen. Sie tragen Kinder aus dem Wasser und stützen Menschen, die sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten können. Sie versorgen die Ankommenden medizinisch und geben ihnen Essen und Trinken. Sie kümmern sich um diese Menschen, die nicht nur äußere Verletzungen davongetragen haben, sondern auch innerlich schwer verwundet worden sind.

Ich sehe das Video an und muss weinen, weil ich mich frage, wie Gott sich wohlfühlt, wenn er die Not dieser Menschen sieht. Könnte ich dort helfen? Würde ich es schaffen, an der Küste auf Menschen zu warten, lebendige und tote, um sie in Empfang zu nehmen? Sicher bin ich mir nicht. Aber es passiert nicht in meinem Land, es passiert Hunderte oder sogar Tausende Kilometer weit weg. Betrifft es mich da? Kann ich überhaupt helfen?

Flüchtlinge in meiner Stadt

In einem Stadtteil in Mülheim an der Ruhr befindet sich das Lagerhaus von „Willkommen in Mülheim“. Diese Initiative erzählt eine echte Erfolgsgeschichte. Schon länger engagieren sich hier Privatmenschen, nehmen Kleiderspenden und Haushaltsartikel entgegen, sortieren sie und teilen sie dann an Flüchtlinge aus. Zu den Öffnungszeiten bilden sich stets Schlangen bis vor die Tür. Die Initiative spricht sich schnell herum, und so bringen immer mehr Menschen Spenden hierher. Eine weitere Besonderheit von „Willkommen in Mülheim“ ist sicherlich, dass hier Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen arbeiten. Vor allem die Flüchtlinge, die schon länger da sind und ein wenig Deutsch sprechen, sind eine große Hilfe. Sie können übersetzen, Fragen beantworten und vermitteln.

„Willkommen in Mülheim“ entstand bereits vor einigen Jahren. Der Gründer und Leiter des Vereins suchte damals via Facebook Spenden für eine Familie. Was sich daraus entwickelte, konnte zu dem Zeitpunkt noch keiner ahnen. Selbst von weit her bringen mittlerweile Menschen volle Autoladungen mit Kleidung, Hygieneartikeln, Spielsachen und Möbeln. Längst haben sogar einige Zeitungen und Fernsehsender bundesweit über die Initiative berichtet. Eine beeindruckende Arbeit, gestemmt von Ehrenamtlichen, denen die fremden Menschen am Herzen liegen. Wer hierherkommt, lernt schnell neue Menschen kennen und erfährt auch mehr über die Geschichten der Neuankömmlinge.

Direkt gegenüber dem Lagerhaus befindet sich das Gemeindehaus der Credo-Gemeinde, einer evangelischen Freikirche des Mülheimer Verbandes. Pastor Timm Oelkers und seine Frau wollten schon lange gerne mehr sozial-diakonisch arbeiten – am liebsten mit Menschen mit Migrationshintergrund. Doch der Stadtteil, in dem sich die Gemeinde befindet, ist der wohl gut betuchteste Stadtteil in Mülheim, mit einem geringen Ausländeranteil. Als „Willkommen in Mülheim“ sein Warenhaus ausgerechnet gegenüber eröffnet, scheint das perfekt zu passen. Und als dann im Winter die Wartenden in der Kälte stehen müssen, bis sie ins Lagerhaus können, entsteht die Idee eines Flüchtlingscafés.

„Im Sommer konnten die Menschen auf Plastikstühlen draußen warten und saßen dort, während die Kinder auf dem Hof spielten. Aber im Winter war es zu kalt für sie“, erzählt mir der Pastor.

Kurzerhand öffnet die Gemeinde jeden Samstagnachmittag ihre Türen. Mit ihrem Flüchtlingscafé bietet sie so eine Möglichkeit, in gemütlicher Atmosphäre einen Kaffee zu trinken, Gebäck und Obst zu essen und Kontakte zu knüpfen. Hier könnte ich helfen, in meiner Stadt.

An einem Samstag im Sommer gerate ich „zufällig“ mitten ins Flüchtlingscafé. Eigentlich wollen meine Freundinnen und ich nur schnell Flyer abgeben. Aber es werden dringend helfende Hände gesucht, und so bleiben wir.

Es ist ein wuseliger Nachmittag. Immer mehr arabische Familien kommen, nehmen sich Kaffee und Kuchen und lassen ihre Kinder währenddessen im Spielbereich spielen. Es ist laut, die Kinder rufen und lachen, die Männer unterhalten sich, und die Frauen versuchen, ihre Familien zusammenzuhalten. Ich stehe hinter der Theke und schneide Kuchen und Obst. Einer der Gäste spricht ein paar Brocken Deutsch und Englisch. So wird ein kurzes Gespräch möglich. Er ist schon ein paar Monate in Deutschland und wurde von der Stadt in einer Wohnung untergebracht, in der er mit anderen Flüchtlingen lebt. Er ist vor allem hier, um für seine Landsleute zu übersetzen.

Am Ende des Nachmittags kenne ich zwei Initiativen, bei denen ich mich engagieren könnte, um etwas für die Flüchtlinge zu tun. Aber wie nah will ich sie an mich heranlassen?

Als ich ein paar Tage später im Auto sitze und im Lokalradio die Nachrichten höre, erklärt der Sprecher, dass noch in dieser Woche bis zu 150 Menschen in ein Erstaufnahmelager in einer Sporthalle einziehen werden. Gemeinsam mit drei Freundinnen überlege ich, wie wir den Menschen am besten helfen können.

Die Flüchtlinge kommen von der ersten Registrierung in Dortmund mit Bussen in unsere Stadt, und als sie aussteigen, haben sie all das bei sich, was ihnen noch gehört – das ist meist nur die Kleidung, die sie am Körper tragen. Meine Freundinnen und ich möchten gerne in irgendeiner Form helfen. Durch den Verein „Willkommen in Mülheim“ sind die Menschen mit Kleidung und Hygieneartikeln versorgt, sodass wir überlegen, an einer anderen Stelle anzusetzen: Wenn wir Spielsachen mitnehmen und Bastelmaterial, könnten wir den Kindern etwas Abwechslung bieten. Ein Programm oder feste Aktionen gibt es im Quartier nicht. Die Credo-Gemeinde hat bereits Kontakte zur Leitung des Erstaufnahmelagers geknüpft, sodass wir uns mit einigen ehrenamtlichen Helfern verabreden und gemeinsam mit ihnen ein Spiele-Angebot ausarbeiten.

An einem sonnigen Nachmittag ist es so weit. Vor dem Quartier treffe ich mich mit einigen anderen Helfern. Wir haben Spiele und Bastelsachen dabei, um mit den Kindern auf dem Schulgelände, auf dem die Turnhalle steht, zu spielen. Im Massenquartier angekommen, begrüßen uns Mitarbeiter der Johanniter Unfallhilfe. Sie leiten das Quartier gemeinsam mit dem Deutschen Roten Kreuz. Innerhalb von Stunden haben sie in dieser Woche Betten aufgebaut und mit Bauzäunen Parzellen abgetrennt, damit die Menschen wenigstens einen Hauch von Privatsphäre haben. Es ist ruhig – fast so, als seien die Menschen noch gar nicht da. Der hintere Bereich des Schulhofs ist voll mit großen Zelten. Eines zum Essen, eines als Aufenthaltsraum und eines für Gebete. Eine der Frauen aus unserer Gruppe spricht ein wenig Arabisch. Das macht den Anfang leichter. Wir gehen durch die Turnhalle und laden die Kinder ein, mit uns zu kommen.

Den Nachmittag verbringen wir mit den Kindern und ihren Müttern. Eine von ihnen ist mit Drillingen schwanger. Wie es wohl sein muss, so eine beschwerliche Reise zu machen, während man nicht nur die eigenen Kinder an der Hand hat, sondern auch die Verantwortung für drei kleine Wesen in seinem Körper? Wir hören von der abenteuerlichen und gefährlichen Reise einer anderen Familie. Sie sind drei Tage und drei Nächte in einem Lastwagen mitgefahren, haben nur Bananen gehabt, die sie den Kindern und ihrem Baby zu essen geben konnten. Am Ende der Reise setzte der Fahrer sie an einer Hauptstraße ab und fuhr weiter. Erst an einer Tankstelle erfuhren sie, in welchem Teil des Landes sie sich aufhielten. Diese Geschichten klingen wie aus einem falschen Film. Wie können diese Menschen vor uns tatsächlich solche Dinge erlebt haben?

Wir verständigen uns mit Händen und Füßen. Einer der Bewohner spricht Italienisch, sodass sich eine von uns mit ihm unterhalten kann. Alles andere läuft über Zeichen und viel Lachen. Die Menschen sind unheimlich wissbegierig und reden alles nach, was sie an deutschen Worten aufschnappen. Sie zeigen auf den Stift oder die Schere, auf den Ball und das Springseil und wollen wissen, wie all diese Dinge heißen. Ein Junge kommt angelaufen und möchte Seilspringen. Bei jeder Umdrehung zählt er auf Deutsch, bis er nach der Zwölf nicht mehr weiterweiß.

Ich sitze in einem der Zelte neben einer Jugendlichen. Ihr Name ist Ania (Name geändert), und sie überrascht mich, denn sie spricht gut Englisch. Das habe ich nicht erwartet. Wir unterhalten uns, und sie erzählt mir etwas über ihre Familie.

„Ich bin mit meiner Mutter und meinem Bruder hierhergekommen“, erzählt sie. „Mein Vater musste in Albanien bleiben.“

Während wir reden, setzen sich ihre Mutter und ihr Bruder zu uns. Plötzlich beginnt Ania zu weinen.

„Ich möchte einfach nur in Freiheit leben. Ich möchte frei sein und Ärztin werden. Das ist mein größter Wunsch. Dann kann ich auch Menschen helfen.“

Sie sieht zu ihrer Mutter herüber. Auch sie weint jetzt. Ich nehme Ania in den Arm und lege meine andere Hand auf den Arm ihrer Mutter. Mir ist mehr als bewusst, dass ich ihnen nicht helfen kann. Ich kann ihre Situation nicht verändern und auch nicht dafür sorgen, dass sie bleiben können. Wenn ich ein Wort für sie einlegen könnte, würde ich das tun. Aber ich wüsste nicht einmal, wo! Also sitze ich einfach bei ihnen am Tisch und versuche da zu sein, zu trösten, mitzufühlen. Ihre Mutter spricht kein Englisch.

„Ania, kannst du deiner Mama übersetzen, dass ich es schön finde, euch kennenzulernen?“, bitte ich die 17-Jährige.

Sie übersetzt diesen einfachen Satz für ihre Mutter, und diese antwortet mir auf Albanisch. Ania dolmetscht: „Wir haben Angst, dass wir zurückmüssen. Wir wissen nicht, was mit uns passiert und wie es weitergeht – aber wir haben Angst, dass alles umsonst war und wir nicht bleiben dürfen.“

In diesem Moment fehlen mir die Worte. Denn ich weiß sehr genau, dass nur 0,03 Prozent der Menschen aus diesen „sicheren“ Staaten bleiben dürfen. Die Bleibechancen, um ihren Traum von einem Leben in Deutschland zu verwirklichen, sind verschwindend gering. Umso schwerer ist es, nun die richtigen Worte zu finden. Es ist nicht meine Aufgabe, sie über diese Fakten aufzuklären, und so sitzen wir weiterhin zusammen und sprechen miteinander.

Die Flüchtlingsströme nehmen in einem Ausmaß zu, das sich niemand so vorgestellt hätte. Recht schnell zeigen sich erste große Schwierigkeiten. Die Situation im Land und in der Politik scheint unübersichtlich. Die Neuankömmlinge im Massenquartier wechseln alle drei Wochen und werden auf andere Flüchtlingsquartiere verteilt. Mittlerweile hat sich ein fester Stamm an Helfern entwickelt, die an zwei Nachmittagen in der Woche ins Quartier fahren. Seifenblasen, Springseil, Bälle, Notizblöcke und Bastelmaterialien werden zum ständigen Begleiter. Die Familien sind nach wie vor sehr dankbar über die Abwechslung, die ihnen etwas von ihrer Langeweile nimmt. Aber auch die hauptamtlichen Helfer versuchen, sich Zeit zu nehmen, und üben mit den Bewohnern auf Zeit ein paar Worte Deutsch. Das Gespräch mit der Familie aber, die Angst vor einer Abweisung hat, hängt mir noch lange nach. Erst auf dem Rückweg nach Hause merke ich, wie anstrengend diese Begegnungen waren. Anstrengend, weil so viele neue Reize auf mich eingeströmt sind und weil es schwer ist, eine emotionale Distanz zu halten, wenn die Schicksale der Menschen so real werden.

Die Flüchtlinge in meiner Gemeinde

Im ganzen Land kommen täglich immer neue Flüchtlinge an. Auch bei uns in der Stadt entstehen mehr Wohnräume für sie. Kleine Dörfer aus Containern und Holzhütten werden geplant und aufgebaut. In dieser Zeit passieren viele Dinge parallel. Einige dieser Arbeiten laufen bereits länger, andere entstehen kurzfristig. Schnell zeigt sich, dass auch unsere Gemeinde vor neuen Herausforderungen steht. Es ist klar, dass wir als Christen mit von der Partie sein wollen, wenn es darum geht, den Menschen zu helfen, die hier Zuflucht suchen.

Eines Tages stehen einige junge Männer vor der Tür meines Gemeindehauses und klingeln. Sie suchen nicht speziell Hilfe, sondern möchten Kontakte knüpfen. Sie sind erst seit ein paar Tagen in einem großen Wohnhaus in der Nähe der Gemeinde untergebracht. Hier leben sie immer zu viert in einer Wohnung – wie eine multikulturelle WG.

Mit der Zeit finden immer mehr Menschen den Weg in unsere Gemeinde. Klar, dass die Flüchtlinge Deutsch lernen müssen, um hier leben und sich integrieren zu können. Die Sprachkurse der Volkshochschule und anderer Anbieter sind überfüllt. Es fehlt an Lehrkräften, um den Bedarf komplett abzudecken. Deshalb entscheidet unsere Gemeinde, Deutschkurse anzubieten. Im Internet gibt es hilfreiches Material im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ oder „Deutsch für Migranten“. Im Gemeindehaus können die Flüchtlinge an mehreren Tagen pro Woche an Computern lernen. Immer sind ehrenamtliche Helfer anwesend, die als Lehrer einspringen. Auch Nichtgemeindemitglieder engagieren sich in diesen Kursen. Sie wollen helfen und so Teil dieser Arbeit werden.

Ein paar Monate später melden sich einige der Kursbesucher zur Taufe an. Sie sind gekommen, um Hilfe zu suchen, haben Fragen im Gepäck und wollen mehr über Gott und Jesus wissen. Ihr traditioneller Glaube hat ihnen nicht den Halt in ihrem Leben gegeben, den sie gesucht haben. Teilweise wurden sie sogar ihres Glaubens wegen aus ihrer Heimat vertrieben. Und so entscheiden sich ganze Familien für Gott. Die Freude ist groß, und es wird ein bunter Gottesdienst, in dem sie Zeugnis von dem geben, was sie mit Gott erleben. Ich spüre neben der Freude aber auch meine Zweifel und Ängste. Ich habe von anderen gehört, dass sich viele Menschen aus den arabischen Ländern auch deshalb taufen lassen, weil sie dann als religiös verfolgt gelten und nicht mehr abgeschoben werden können. Sind die Motive dieser Menschen, die sich taufen lassen wollen, echt, oder suchen sie eine Möglichkeit, bleiben zu dürfen?

Ich denke über diese Frage nach und komme schnell zu dem Schluss, dass es nicht in meinem Ermessen liegt, das zu beurteilen. Gott sieht jeden von uns, und er weiß, wie es in unserem Inneren aussieht. Aber manchmal spüre ich auch meine Angst. Wenn Muslime zum Christentum konvertieren, sind sie der Gefahr ausgesetzt, von Freunden oder Familie drangsaliert zu werden. Immer wieder habe ich von Christen gehört, die als ehemalige Muslime ihre Familien und ihr Land verlassen mussten, weil diese ihnen mit dem Tode drohten. Was, wenn die Familien davon hören? Wie werden sie reagieren? Werden wir als Gemeinde eines Tages dadurch Schwierigkeiten haben?

Diese Gedanken gehen mir immer wieder durch den Kopf und werden für mich zur Herausforderung, wenn ich den Gästen und neuen Mitgliedern der Gemeinde offen begegnen will. Gleichzeitig muss ich lernen, mit meiner Skepsis umzugehen. Ich glaube aber auch, dass es ein großes Privileg ist, als Gemeinde auch solche Taufen zu erleben, bei denen sich ehemalige Muslime oder eben anders Glaubende Jesus zuwenden. Das ist es, was ich versuche in meinen Gedanken überwiegen zu lassen.

Gerade in einer großen Gemeinde wie meiner ist es aber leicht, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Die Flüchtlinge sind in meiner Gemeinde – aber wie nah lasse ich sie wirklich an mich heran?

Der Fremde auf meinem Sofa

Im Internet lese ich von Mandy. Sie ist Bloggerin und lässt täglich viele Leser über Facebook und auf ihrer Homepage an ihren Erlebnissen und Gedanken teilhaben. So erfahre ich, dass sie und ihr Mann Flüchtlinge bei sich aufnehmen und ihnen für ein oder zwei Nächte einen Schlafplatz anbieten. Das finde ich spannend, und so stelle ich ihr meine Fragen, weil mich nun doch interessiert, wie das so ist!

In Berlin, vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, stehen die Neuankömmlinge mitunter mehrere Wochen Tag für Tag an, um sich registrieren zu lassen. Zwar werden viele von ihnen in Bussen zu anderen Quartieren gebracht, aber einige finden keinen Platz mehr im Bus. Sie müssen bis zum nächsten Tag warten – immer in der Hoffnung, dass dieser Tag eine Registrierung und somit auch eine Unterkunft für sie mit sich bringt. Es ist Ende November, und die Nächte sind eisig kalt.

Mandy kommt immer wieder an diesem Ort vorbei, und sie merkt bald, dass es ihr abends auf ihrem Sofa immer schwerer fällt, in Ruhe den Abend zu genießen, während draußen in der Kälte Menschen mit Temperaturen um den Gefrierpunkt zu kämpfen haben. Sie erkundigt sich, wie sie helfen kann, und kommt so über eine Facebook-Gruppe auf eine Webseite, auf der sie ihr Sofa anmeldet. Ein Gästezimmer