Was der Fall ist - Thomas Duarte - E-Book

Was der Fall ist E-Book

Thomas Duarte

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Beschreibung

Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmäßigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt. Thomas Duartes Debütroman ist ein skurriles Erzählfeuerwerk, eine melancholisch-humoristische Poetik des Scheiterns. Er wird bevölkert von kauzigen Figuren, die auf vielfältige Weise die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft spiegeln.

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Seitenzahl: 344

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www.lenos.ch

Thomas Duarte

Was der Fall ist

Roman

Der Autor

Thomas Duarte, geboren 1967, aufgewachsen bei Basel. Er studierte Geschichte und Philosophie und arbeitete nach Aufgabe des Studiums zuerst als Tramchauffeur, dann als kaufmännischer Angestellter und Sachbearbeiter. Später Studium der Kulturwissenschaften und der Literaturwissenschaft. Was der Fall ist wurde 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet. Thomas Duarte lebt in Bern.

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © der deutschen Übersetzung

2021 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggrafik: D Line / shutterstock

eISBN 978 3 85787 994 4

www.lenos.ch

für Till

Das ganze Leben, Handlungen und Gedanken, besteht aus Fragmenten, aus Schichten, alles fliegt vorbei und rundherum ist zitterndes Kräuseln.

Ilya Kabakov

Inhalt

es nieselt

dasitzen

sich unterhalten

durcheinander sein

Sachen bearbeiten

aufschreiben

sich einrichten oder nicht

entschädigt werden

träumen

sich winden

sich ernähren

ordnen

ausschmücken

aus dem Fenster blicken

den Namen sagen

frei entscheiden

beurteilen

sich einen Überblick verschaffen

schwanken

rauchen

sich anfassen

auf und ab gehen

sich streiten

sich nützlich machen

riechen

miteinander schlafen

sich über sich selbst wundern

sich die Dinge vom Leib halten

aufräumen

vögeln

protokollieren

verstimmt sein

das ist traurig

bezahlen

geradeaus gehen

warten

zurufen

shoppen

zuhören

andeuten

es dämmert

davonlaufen

rot werden

erfinden

es spitzt sich zu

irgendwoher kommen

zum Fliessen bringen

wiederholen

jemanden bei sich unterbringen

graben

entlassen werden

es ist zu spät

den Revolver loswerden

auf die Knie fallen

weitermachen

tanzen

Dank

es nieselt

Die Polizei hat mich aufgefordert, darüber Bericht zu erstatten, warum ich unsere Putzfrau in meinem Büro untergebracht hatte. Oder genauer: Warum ich sie darin versteckt gehalten hatte. Meinetwegen, ich habe nichts zu verheimlichen. Ich habe ja schon auf dem Posten alles ausführlich zu Protokoll gegeben. Weshalb schon bringt man eine Frau bei sich unter? Sie gefiel mir, ja, was sonst? Es ist auch gar nicht die richtige Frage. Die Frage, die mich selbst beschäftigt, ist eher die, warum ich sie verraten habe.

Als ich den Polizeiposten betrat, war es etwa halb ein Uhr nachts. Ich war müde und fror. Den ganzen Abend war ich ziellos durch die Stadt geirrt. Die Sache mit der Jahresversammlung ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sie war schlecht gelaufen diesmal, und ich hatte mich ungeschickt angestellt. Das war zwei Tage früher gewesen, und Silvana hatte alle gegen mich aufgehetzt. Alles sei nur geschwindelt, hatte sie gesagt und sich dabei in die Pose der Grossreinemacherin geworfen. Alles, die Unterstützungsgesuche, mit denen sich unsere Organisation beschäftigt, die Abrechnungen, die Statistiken: ein einziger Schwindel! Und das Schlimmste: Bei ihren Nachforschungen sei sie auf zahlreiche zwielichtige »Finanztransaktionen« gestossen – sie sagte wirklich »Finanztransaktionen« und meinte damit wohl Banküberweisungen und Zahlungen aus der Kasse. Betrug!, sagte sie. Das riecht nach Betrug! Allerdings brauche es noch weitere Abklärungen, die Aktenlage sei noch undurchsichtig. Sie wedelte mit einem Klarsichtmäppchen, und ihre Vogelstimme überschlug sich beinahe. Bischoff und Dr. Schneider sassen nur stumm daneben und spielten die Entrüsteten. Albrecht lief grün an, und Dr. Graber, der Revisor, wurde blass, machte einen spitzen Mund und fing an zu schnaufen. Nur Charly sah mich ohne Vorwurf mit überraschtem und traurigem Blick an. Es ging ihnen dann im weiteren Verlauf der Versammlung nur noch darum, meinen Chef zu schützen und ihn von jeder Mitverantwortung freizusprechen. Er hatte ja ganz offensichtlich, so wiederholte Silvana mehrmals, von nichts etwas gewusst. Silvana war vielleicht auch so etwas wie meine Chefin, oder sie benahm sich wenigstens so. Mein Chef selbst sagte zu der ganzen Sache nichts, lächelte nur grimmig und schwieg, er wirkte so gar nicht mehr wie der wortgewandte und weitgereiste Abenteurer, als den wir ihn von früher her kannten. Mich liessen sie am Ende fallen. Auf einmal sprachen sie von mir als dem »Geschäftsführer«, dem man also auch die ganze Verantwortung zuschieben konnte. Früher war ich immer nur der Büroangestellte gewesen, einer ohne jede Entscheidungsgewalt. Im Grunde hätte mich das alles erleichtern müssen. Aber statt Erleichterung fühlte ich nur das Nahen einer noch nicht klar bestimmbaren Katastrophe. Man würde mich von meinen Aufgaben entbinden, so viel war vorauszusehen, aber welche weiter gehenden Forderungen, Strafanzeigen und moralischen Vorhaltungen würden damit verbunden sein? Und was würde mit dem Hinterzimmer zu meinem Büro geschehen, das ich seit längerem bewohnte, und was mit Mira, die ich inzwischen darin untergebracht hatte?

Ich hatte in jener Nacht nicht nach einem Polizeiposten gesucht, ich war nur ganz zufällig auf ihn gestossen. Ich war auf der Suche nach überhaupt nichts, höchstens nach einem Unterschlupf. Ich hatte auch Mira nicht verraten wollen. Das war keine Absicht, es ergab sich nur eins aus dem anderen. Auf einmal war ich stehen geblieben und hatte mich umgeblickt. Wo war ich überhaupt? Die Strasse, die ich entlanggegangen war, war mir unbekannt. Zum Schutz vor dem Regen stellte ich mich unter einen schmalen Erker und versuchte mich zu orientieren. Was für ein lästiger Sprühregen! Seit Stunden war er ohne Unterlass auf mich niedergegangen und hatte mich bis auf die Knochen durchnässt. Ich trug nur ein Hemd, es war Ende August, die Zeit der spätsommerlichen Hitze. Am Abend war die Luft noch lau gewesen, aber dann hatte es sich unerwartet stark abgekühlt. Zuerst war eine Unruhe aufgekommen, und es schien, als zöge ein reinigendes Gewitter auf, so sagt man ja, nicht wahr? Aber stattdessen füllte sich die Luft nur mit diesem kalten und staubigen Sprühregen. Er verschmierte die Schmutzflecke auf meinem Hemd und brannte auf den Kratzern an meinen Armen und in meinem Gesicht. Der Schmutz und die Kratzer kamen vom stundenlangen Umherkriechen zwischen den Blumenrabatten und den Dornbüschen draussen im Park bei der psychiatrischen Klinik. Vor einigen Wochen hatte ich dort einen goldenen Ring verloren, den ich unbedingt wiederfinden wollte, aber es war Neumond, und man konnte fast nichts sehen. Ausserdem riss ich mir dabei ein Loch in die Hose, ich werde darauf sicher noch zurückkommen. Was ich sagen will: Ich muss auf den diensthabenden Beamten einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck gemacht haben.

Von meiner Position unter dem Erker aus hatte ich auf der schräg gegenüberliegenden Seite eines kleinen, mit jungen Birken bepflanzten Platzes den Polizeiposten entdeckt. Ich hatte mich ganz einfach verirrt. Überraschenderweise war ich in eine Gegend geraten, die ich überhaupt nicht kannte. Das ist eigentlich ganz ausgeschlossen. Ich wohne in dieser Stadt seit meiner Geburt und hatte gemeint, alle ihre Gegenden genau zu kennen. Vielleicht war mir ja nur der Bau dieses Postens entgangen, er hatte vielleicht ein Gebäude ersetzt, ohne das die Umgebung für mich gleich nicht mehr wiederzuerkennen war. Zwischen all den steinernen Wohnblöcken aus der Nachkriegszeit wirkte er auf mich in seiner Flachheit und mit seiner gläsernen Hülle eher wie ein gestrandetes Raumschiff denn als fest im Boden verankertes Gebäude. Der Eingang war hell erleuchtet, die grossen, gitterlosen Fenster signalisierten, dass der Unbescholtene hier nichts zu befürchten hatte, dass er im Gegenteil jederzeit und voller Vertrauen durch die gläserne Schiebetür treten könnte und dass ihm, wäre er erst mal drinnen, womöglich gar geholfen würde.

Ich war zuerst zögernd und in einigem Abstand davor stehen geblieben, im fahlen Lichtkreis einer Bogenlampe, und hatte mich eigentlich gar nicht mehr bewegt. Trotzdem musste mich der Bewegungsmelder bereits erfasst haben, ich weiss nicht, wie, aber es handelte sich vielleicht um einen Infrarotmelder. Jedenfalls öffnete sich die Schiebetür mit einem gedämpften Schleifgeräusch, und aus der Öffnung schlug mir abgestandene Wärme entgegen – sozusagen im Tausch gegen die Wärme, die ich selbst dem Infrarotmelder hatte entgegenschlagen lassen. Unwillkürlich machte ich einen Schritt darauf zu. Im Eingang hinter der Tür stand eine sogenannte Informationstafel. Wollte ich sie entziffern, musste ich vollends eintreten. Hinter mir hörte ich wieder das Schleifgeräusch der Tür, und nach einem letzten Luftzug von draussen umschlang mich die Wärme auch von hinten. Augenblicklich begann ich am ganzen Leib zu zittern. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass ich wohl stark gefroren hatte. Gleichzeitig wurde mir schwindlig, ich war hungrig. Die Buchstaben auf der Informationstafel verschwammen vor meinen Augen.

Wenn ich noch umkehren wollte, dann gleich. Aber wo würde ich mich für den Rest der Nacht unterstellen können? In der nahe gelegenen Unterführung stank es nach Urin, das schreckte mich ab. Und die besseren, vor Regen und Zugluft geschützten Plätze waren schon alle von den Obdachlosen und Betrunkenen besetzt, ich wollte sie ihnen nicht streitig machen. Die Cafés öffneten erst um sechs. Und wer weiss, ob sie mich da überhaupt bedienen würden, in meinem Zustand. Demonstrativ würde ich mit dem Geld klimpern und knistern, das ich lose in der Tasche trug, aber würde das etwas helfen? Mein Vater hatte es mir gegeben, als ich ihn an diesem Nachmittag draussen bei der Klinik getroffen hatte, um ihn abzuholen. Ausgerechnet jetzt hatten sie ihn entlassen müssen! In meinem Büro sassen oder schliefen Mira und ihr Bekannter, ein Mann aus Bolivien. Oder genauer gesagt schliefen sie nicht im Büro, sondern in dem Hinterzimmer, das ich selbst eigentlich als Wohnung benutzte, Mira in meinem Bett und Ramón auf der Klappliege daneben. Und mehr Platz gab es da nicht. Natürlich hatten Mira und ich auch schon zu zweit in meinem Bett geschlafen, aber das hier war etwas anderes. Blieb also nur noch die Wohnung meines Vaters, wo ich ja schon zuletzt die Nächte verbracht hatte. Allerdings sträubte sich in mir alles dagegen, dorthin zurückzugehen, jetzt, wo auch er wieder dort wohnte. Aber was blieb mir anderes übrig?

dasitzen

Ich hatte mich schon wieder dem Ausgang zugewandt, da fühlte ich den gelangweilten und zugleich ungeduldigen Blick eines Beamten auf mir, der hinter einer weiteren, von Topfpflanzen umrahmten Glastür sass – ein einzelner Polizist hinter einem fast leeren Tisch – und der mich wohl schon seit längerem beobachtet hatte. Ich versuchte noch, auf der Informationstafel irgendeinen Fingerzeig zu bekommen, wie ich entweder meine Anwesenheit oder wenigstens einen diesbezüglichen Irrtum begründen konnte: »Fundbüro: 2. Stock« stand da beispielsweise samt Öffnungszeiten. Aber der Blick des Polizisten duldete keine weitere Verzögerung. Man musste sich ihm zuwenden, ja ihn sogar erwidern, wenn man sich nicht verdächtig machen wollte, noch dazu um diese Zeit.

Ich ging in seine Richtung auf die Tür zu, wieder eine Schiebetür, und schon öffnete auch sie sich ganz von selbst, fast lautlos allerdings, nur mit leisem Schaben.

Zwischen den Topfpflanzen blieb ich stehen. Entschuldigen Sie bitte, sagte ich, ich bin wahrscheinlich falsch hier, ich meine, ich wohne gar nicht in dieser Gegend.

Ich wollte damit sagen, es sei wohl nicht der für mich und mein Quartier zuständige Posten. Der Polizist winkte ab und bot mir einen Stuhl an, er war sehr zuvorkommend. Er stand sogar auf und rückte mir den Stuhl zurecht, offenbar wirkte ich so erschöpft, dass ich auf diese Hilfestellung angewiesen schien. Er selbst war zwar etwas beleibt und schon älter, und er machte nur langsame, bedächtige Bewegungen, aber sein Hemd spannte sich noch immer über den Muskeln seiner Brust und seiner Arme: Von mir hatte er nichts zu befürchten. Er sagte: Moment bitte!, und verschwand in einem Nebenraum.

Ich sah mich um. Es war – wie sagt man dazu? – ein Grossraumbüro. Es gab noch sechs oder sieben andere Tische, aber um diese Zeit arbeitete niemand an ihnen. Durch das Fenster sah ich den Platz vor dem Posten, hell erleuchtet vom Licht der Bogenlampe. In ihrem Lichtkegel glitzerte der Sprühregen. Es war eher ein Scheinwerfer, der Polizist musste mich also schon gesehen haben, als ich noch da draussen gestanden hatte. Vielleicht gab es ja für die Tür nicht einmal einen Infrarotmelder, überlegte ich mir jetzt, vielleicht hatte der Polizist einen Knopf an seinem Tisch, mit dem er sie öffnen konnte. Ich sah auf den Tisch. Es gab darauf nur einen Bildschirm und eine Tastatur, auf der Schreibunterlage lagen ein Taschenrechner und ein Blatt mit einer Konstruktionszeichnung. Ich sah jetzt zu der Tür, durch die der Polizist wieder hereinkommen musste. Neben ihr war ein verspiegeltes Fenster in die Wand eingefügt. Vermutlich gab es dahinter eine Art Überwachungsraum. Der Polizist hatte mich demnach unter Kontrolle. Ich versuchte ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen und sah auf die grosse Uhr oberhalb des Fensters. Es war null Uhr sechsunddreissig.

Er kam zurück mit einem Handtuch und mit einer Decke und mit einer Tasse Kaffee, und er sagte: Sie sehen ja ganz blass aus. Oder: Was ist Ihnen denn zugestossen? Oder: Sie zittern ja am ganzen Leib. Oder er sagte so etwas Ähnliches. Mit dem Handtuch sollte ich mich trocknen, die Decke konnte ich mir über die Schultern ziehen, der Kaffee war wohl da, um mich zu ermutigen. Der Polizist war geradezu fürsorglich. Er legte das Blatt auf seinem Tisch zur Seite und auch den Taschenrechner, setzte sich, schob die Tastatur an deren Stelle in die Tischmitte und umfasste sie mit beiden Händen. Sie waren breit mit dicken, behaarten Fingern; es sind Pranken, dachte ich bei mir. Es hatte etwas Vertrauenerweckendes, wie sie beinahe zärtlich die viel zu kleine Tastatur umfassten, aber natürlich auch etwas Bedrohliches. Er sah mich auffordernd an.

Es würde also nicht genügen, bloss dazusitzen und zu schweigen. Er erwartete, dass ich ihm irgendeine Geschichte präsentierte. Alle wollen sie immer eine Geschichte hören, sonst nehmen sie einem die Decke gleich wieder weg. Da ich weiterhin beharrlich schwieg, räusperte er sich und ergriff selbst das Wort.

Sie sind überfallen worden, sagte er. Er sprach langsam, mit Pausen an den falschen Stellen, in den Pausen griff er sich an die Nase.

Nein, nein, sagte ich. Nein.

Sie wurden angefahren, der Fahrer flüchtete, vielleicht ein Betrunkener, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf.

Sie sind selbst betrunken.

Ich trinke nicht, sagte ich und setzte mich gerade hin. Die Decke rutschte mir von den Schultern, ich zog sie mir wieder über.

Eine Schlägerei?, sagte er und mass mich mit seinem Blick. Es klang eher zweifelnd.

Nein, sagte ich, ich habe nur nach etwas gesucht.

Sie haben etwas verloren, sagte er.

Nein, sagte ich, das heisst ja, aber ich habe es wiedergefunden, deswegen bin ich nicht hier.

So, sagte er und wartete ein wenig. Ihre Frau hat sie rausgeworfen. Er blickte auf meine zerkratzten Arme. Sie hat vielleicht scharfe Fingernägel. Sie können es mir – er griff sich an die Nase – ruhig sagen. Das kommt öfter vor. Niemand spricht gern über so was.

Ich überlegte. Vielleicht hätte sich die Sache ja so darstellen lassen. Aber dann schüttelte ich den Kopf.

Sie ist gar nicht meine Frau, sagte ich. Und sie hat mich auch nicht rausgeworfen. Die Kratzer sind von einem Dornengestrüpp.

Sie brauchen sie nicht in Schutz zu nehmen, sagte der Polizist.

Ich nehme sie nicht in Schutz. Vielleicht würde ich es tun, wenn ich wüsste, wie. Es geht um unsere Putzfrau, Mira, so heisst sie, sie ist in meinem Büro, zusammen mit einem Bekannten von ihr, jedenfalls kann ich da im Moment nicht hin.

Warum wollen Sie denn mitten in der Nacht ins Büro?

Es gibt da ein Zimmer, in dem ich wohne, sagte ich, ein Hinterzimmer, genau genommen, fensterlos, mit einem schmalen Bett, neuerdings auch mit einer zusätzlichen Klappliege. Ich bewohne es seit längerer Zeit. Aber schon für zwei Leute ist es viel zu klein, geschweige denn für drei.

Sie wollen sie loswerden, sagte der Polizist. Oder Sie wollen vielleicht ihren Bekannten loswerden.

Um Himmels willen, nein, sagte ich, keineswegs, sie sollte sich nur gelegentlich etwas anderes suchen. Auch der Bekannte, ja, der sollte sich auch etwas anderes suchen. Aber das ist alles nicht ganz einfach, sie hat hier keine Aufenthaltsbewilligung, wie soll sie etwas finden? Es ist alles in allem eine komplizierte Geschichte.

Soso, sagte der Polizist. Sie verstecken sie also bei sich.

Er begann jetzt, mit den Fingern auf seine Tastatur zu tippen. Pranken wie ein Bär, aber wieselflinke Finger, so sagt man doch?

Und wie kommen Sie dazu?

Es ist wirklich eine komplizierte Geschichte, murmelte ich.

Ach, sagte der Polizist, wissen Sie, fast alle, die hierherkommen, um uns was zu erzählen, halten ihre Geschichten für furchtbar kompliziert. Gewöhnlich stellt sich dann heraus, dass sie einfach, klar, übersichtlich und leicht zu durchschauen sind. Wenigstens für uns.

Der Polizist wartete ab. Mir war gerade etwas warm geworden, und meine Kleider begannen auf meinem Leib zu trocknen, den Kaffee hatte ich noch nicht ganz ausgetrunken. Ich wollte gerne noch ein wenig sitzen bleiben, wenigstens so lange, bis der Sprühregen nachgelassen hätte. Vielleicht würde ich ja auch noch eine oder zwei Tassen Kaffee bekommen. Irgendwie musste ich das Gespräch in Gang halten. Ich hätte vielleicht von der Jahresversammlung berichten können, um damit der angedrohten Anzeige wegen Veruntreuung zuvorzukommen. Aber stattdessen redete ich von Mira, deren Fall bei dem Beamten offensichtlich auf ein gewisses polizeiliches Interesse gestossen war. Ich kann mir das alles heute nicht mehr erklären. Es war vielleicht eine Art Geltungsdrang. Es war mitten in der Nacht, und alles schien unwirklich, und ich bildete mir ein, es wäre vollkommen egal, worüber ich redete. Ich hatte mich getäuscht, besser wäre gewesen, ich hätte geschwiegen.

sich unterhalten

Ja, sagte ich zum Polizisten und räusperte mich. Also das erste Mal habe ich Mira gesehen, als ich ganz gegen meine Gewohnheit die Verbindungstür zwischen dem Hinterzimmer und meinem Büro öffnete, noch bevor sie mit ihrer Arbeit zu Ende war. Das muss so Ende Mai gewesen sein. Unsere Putzfrauen wechselten immer, aber diese hier arbeitete schon längere Zeit für uns. Trotzdem hatte ich sie noch nie gesehen. Diesmal machte ich die Tür also auf, ich weiss nicht mehr, warum. Vielleicht hatte sie etwas gesungen, das mich rührte, das passiert mir manchmal. Und dann hatte sie vielleicht mitten im Lied aufgehört zu singen, wahrscheinlich, weil sie den Putzeimer hinaustragen musste. Als ich die Tür öffnete, war sie gerade hinausgegangen, das Büro war leer. Die Frage ist also, warum ich die Tür nicht gleich wieder zumachte, ich hätte genügend Zeit dafür gehabt.

Sie kam jeden Samstag und putzte mein Büro, immer zur selben Zeit, und währenddessen blieb ich im Hinterzimmer und sass auf meinem Bett oder an meinem Tisch und horchte auf die Geräusche, die die Putzfrau machte: das Knistern der Abfallsäcke, das Dröhnen des Staubsaugers, ihr Gesumm und ihren Gesang in einer Sprache, die ich nicht verstand. Einmal im Monat schrieb sie die Anzahl der Stunden, die sie gearbeitet hatte, auf einen Zettel und liess ihn auf meinem Bürotisch liegen. Am folgenden Samstag zählte ich dann das Geld, das wir ihr schuldeten, in einen Umschlag und legte ihn auf den Tisch. Sie nahm das Geld an sich und hinterliess dann wiederum mir die unterschriebene Quittung. Das war bis dahin unser einziger Kontakt gewesen, wenn man das einen Kontakt nennen kann. Mein Chef hatte sie eingestellt.

Diesmal öffnete ich also die Tür. Es roch nach Zitrone und Ammoniak. Mein Schreibtisch war poliert und die Kiste darunter geleert. Das war immer das Erste, was die Putzfrau am Samstag erledigte: die Kiste mit dem Altpapier leeren. Ich hörte das Poltern, wenn sie die Kiste auf ihren Rädern über die Schwelle in den Korridor hinaus und zum Lift hin rollte. Irgendwo im Keller steht der Sammelcontainer. Ganz zum Schluss wischte sie den Boden und leerte dann den Putzeimer draussen in den Ausguss.

Jetzt kam sie zurück. Summend und mit schlenkernden Armen und Händen erschien sie im Türrahmen gegenüber. Sie erschrak, als sie mich sah, verstummte augenblicklich und machte einen Schritt zurück. Und auch ich war natürlich überrascht, ich hatte sie ja noch nie gesehen, aber ich lächelte halb und murmelte etwas Beschwichtigendes: Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken, etwas in dieser Art. Ich deutete mit einer fahrigen Bewegung auf den Boden, er war noch feucht, und man konnte noch nicht darüber gehen: Alles schön sauber!, sagte ich laut und mit gekünsteltem Lachen. Frisch geputzt! Vielen Dank!

Moment mal, sagte der Polizist. Warum erzählen Sie mir das alles?

Sie haben danach gefragt, sagte ich.

Wonach habe ich Sie gefragt?

Wie ich dazu gekommen bin, sagte ich, Mira bei mir unterzubringen.

Ach so, sagte er und blickte zuerst mich an und dann auf seinen Bildschirm und dann wieder zu mir. Ja, genau, Ihre Putzfrau. Und das gehört also alles dazu?

Natürlich. Darf ich jetzt weitermachen?

Hm, sagte der Polizist. Weiter sagte er nichts. Aber er machte sich eine Notiz.

Sie war etwa so gross wie ich, fuhr ich fort, hager und hakennasig, mit kurzgeschorenen Haaren und raschen Augen, schmalhüftig und mager, aber mit kräftigen Schultern. Ihre Schultern und ihre geröteten Arme waren entblösst und glänzten vom Schweiss. Ich nahm den wässrigen und leicht stechenden Duft wahr, der sich im Raum ausbreitete, der nicht von den Putzmitteln stammte und den ich auch schon das eine oder andere Mal gerochen hatte, nachdem sie am Samstag gegangen war, allerdings ohne zu wissen, woher er kam. Ich sog ihn auf mit meiner Nase und hatte sofort den Wunsch, an ihren Schultern zu riechen, aber ich hielt mich zurück. Ihre Beine steckten in groben, weiten, hellen Hosen, ihre Füsse in ausgetretenen, wildledernen Schuhen. Auch sie sah mich an, aber mehr so wie einen Gegenstand unter anderen, einen, den sie beim Putzen übersehen hatte. Und dann blickte sie an mir vorbei und deutete auf die Tür, in der ich stand, und auf das Hinterzimmer und sagte etwas Undeutliches, das ich nicht verstand.

Nein, da brauchen Sie nicht zu putzen, sagte ich aufs Geratewohl, und dann, weil ich ja gar nicht wusste, wonach sie gefragt hatte: Na ja, ich wohne hier. Ich redete laut und mit ausfahrenden Gesten, als ob ich zu einer Taubstummen spräche. Ich begann auch dem Polizisten gegenüber zu gestikulieren, dabei rutschte mir wieder die Decke von den Schultern, aber mir war nicht mehr kalt.

Ich redete weiter, wahrscheinlich aus einer Verlegenheit heraus, ihr Geruch machte mich ganz nervös. Ich dachte, sie würde mich sowieso nicht verstehen. Aber darin täuschte ich mich. Ausserdem fühlte ich mich ihr irgendwie überlegen, bloss weil sie eine Putzfrau war, während ich doch immerhin an einem Tisch arbeitete.

Früher wohnte ich in der Stadt, sagte ich zu ihr, bei meinem Vater, genau genommen. – Das Büro liegt etwas ausserhalb, erklärte ich dem Polizisten. – Mein Vater wohnt da immer noch. Und meinen Arbeitsplatz hatte ich zuerst oben bei meinem Chef, bis wir dann dieses Büro hier samt Hinterzimmer dazumieten konnten, oder – so sagte ich erläuternd zum Polizisten – Dr. Schneider, der Besitzer des Hauses, hat es uns vielmehr zur Verfügung gestellt. In dem Hinterzimmer übernachtete ich zuerst nur gelegentlich, ich legte einfach eine Matratze hinein, für mehr war da gar kein Platz. Der Vormieter hatte alle seine Sachen darin stehenlassen. Es muss so eine Art Archiv gewesen sein, das ganze Zimmer war voller alter Akten über Gott weiss was, ich sah sie mir gar nicht so genau an. Wahrscheinlich war er Anwalt gewesen oder Baubiologe oder Familienhistoriker – oder so etwas Ähnliches. Ich warf alles weg, niemand kümmerte sich darum, und dann stellte ich stattdessen ein paar von meinen Möbeln hinein.

Anwalt oder Baubiologe oder was?, sagte der Polizist.

Ein Freiberufler eben, sagte ich zum Polizisten, was genau, war mir egal. Und weiter zur Putzfrau: Ich stelle mir vor, dass er ganz unerwartet gestorben ist. »Mitten aus dem Leben gerissen«, so was liest man doch manchmal in den Todesanzeigen. Und dieses Zimmer, in dem ich schlafe, und dieses Büro, in dem ich arbeite – ich wies zuerst in die eine, dann in die andere Richtung –, seien ja auch für mich der Mittelpunkt meines Lebens. Und so wie der Baubiologe oder Familienhistoriker oder was stünde auch ich in diesem Büro oder noch genauer in dieser Zwischentür genau in der Mitte meines eigenen Lebens, hin- und hergerissen zwischen Schlaf und Arbeit.

Sie lächelte halb und kniff ihre Augen zusammen. Ihr Blick wanderte unablässig über alles hinweg, was es in dem Büro zu sehen gab. Ich wollte, dass sie noch etwas dablieb, und dachte, es würde helfen, wenn ich einfach weiterredete. Ich nickte mit dem Kopf in Richtung des Hinterzimmers, der Boden war jetzt trocken, und sie kam quer durch das Büro zu mir herüber. Sie stellte sich neben mich und blickte in das Zimmer. Jetzt, wo sie ganz nahe bei mir stand, stieg mir ein scharfer Geruch nach Deodorant und Schweiss und Schmierseife direkt in die Nase.

Ehrlich gesagt, sagte ich zu dem Polizisten, wissen weder mein Chef und erst recht nicht meine Chefin, dass ich sozusagen im Büro schlafe. Wozu auch? Vielleicht ist es ja nicht einmal erlaubt, in so einem Zimmer zu wohnen, so von Gesetzes wegen. Vielleicht weil es darin kein fliessendes Wasser gibt und so gut wie kein Tageslicht, es gibt nur so ein Oberlicht über der Zwischentür. Dazu wissen Sie sicher Genaueres.

Ich blickte den Polizisten fragend an.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

Ich zuckte mit den Schultern und nahm den letzten Schluck Kaffee.

Das Hinterzimmer ist schlauchförmig, erklärte ich dem Polizisten. Darin stehen ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl, auf dem Tisch standen ein Teller, eine Tasse und ein Glas mit Gurken. Ganz hinten führt eine weitere Tür in eine Abstellkammer, daneben gibt es ein Regalbrett, auf dem drei Bücher, eine Schachtel mit Papieren und dem Schreib- und dem Nähzeug standen, dazu zwei Ersatzglühbirnen, die ich nicht weggeräumt hatte.

Ich räume sonst immer alles gleich weg, sagte ich zu der Putzfrau, hinten in die Abstellkammer, ich habe da auch einen Kühlschrank.

Sie nickte jetzt, und ihr Lächeln wurde breiter.

Mir fiel ein, dass sie vielleicht Durst hatte. Ich bat sie in das Zimmer herein und bot ihr den Stuhl an. Rasch säuberte ich den Tisch, räumte den Teller und die Tasse weg, liess aber das Gurkenglas stehen, wies mit der Hand darauf, gab ihr ein Glas Wasser. Sie setzte sich und trank und ass. Es schien, als mochte sie Gurken. Währenddessen blieb ich neben dem Tisch stehen und beobachtete sie.

Ihr Blick schweifte im Zimmer umher, so als ob es darin etwas zu sehen gegeben hätte.

Sie müssen wissen, sagte ich zum Polizisten, dass ich in dem Zimmer schlafe und gelegentlich etwas esse, mehr nicht. Es steht nichts Überflüssiges darin herum, auch keine sogenannten persönlichen Gegenstände. Ich habe eine entschiedene Abneigung gegen jede Art von persönlichen Gegenständen: die Habseligkeiten, die Erinnerungsstücke, den Hausrat.

Allerdings blieb der Blick der Putzfrau jetzt ausgerechnet auf den drei kleinen Bildern ruhen, die hinten in der Ecke hingen, der einzigen Dekoration im Raum.

Die sind noch von meinem Vormieter, sagte ich entschuldigend, ohne genau zu wissen, wofür ich mich eigentlich entschuldigte. Ich habe sie vor Jahren beim Ausräumen hinten in der Abstellkammer gefunden.

Ich begann mich darüber zu ärgern, dass ich sie in das Zimmer hereingelassen hatte nur wegen ihres Gesangs von vorhin und dann wegen ihres Geruchs und wegen ihrer schweissglänzenden Schultern.

Na ja, sagte ich, das Zimmer ist nicht sehr gross, und ich machte dazu eine komplizierte und unwirsche Handbewegung.

Sie richtete ihre Augen jetzt auf mich. Es lag keine Neugierde darin, sie hob nur die Stirn ein wenig. Auch keine Verachtung, sie schürzte nur kaum merklich die Lippen. Sie lächelte auch nicht mehr, es war nur ein Zucken in ihren Augen. Sie sagte: Na ja, es ist gross genug.

Ich sah sie an, und unsere Blicke begegneten sich zum ersten Mal. Sie sprach also Deutsch. Etwas zögernd und mit einem kehligen Akzent zwar, aber immerhin. Bis zu diesem Moment hatte ich den Eindruck gehabt, ich könnte sagen, was immer ich wollte, es würde folgenlos bleiben. Aber jetzt fragte ich mich, worauf ich mich da eingelassen hatte.

Der Polizist nickte und brummte.

Aber ja, sagte ich schliesslich, es ist gross genug, Sie haben vollkommen recht. Alles ist eine Frage des Masses.

Sie sass mit gerunzelter Stirn da, was vielleicht nur an der sauren Gurke lag, auf der sie gerade kaute. Sie schluckte sie herunter, lächelte auf einmal wieder – ihre Zähne blitzten zwischen ihren Lippen hindurch, sie waren nicht ganz gleichmässig – und sagte dann: Da wo ich herkomme, lebten die Leute früher in Zelten. Manchmal versuche ich, es mir vorzustellen. Meine Grosseltern hatten noch in Zelten gewohnt, als sie Kinder waren. Das Land war damals eine abgelegene Provinz der Sowjetunion. Den Sowjets war die Sache mit den Zelten irgendwie suspekt gewesen, und sie trieben die Leute in die Städte oder hungerten sie regelrecht aus. Wer Glück hatte, fand Arbeit in einer Fabrik und kam in einer Ein- oder Zweizimmerwohnung unter. Meine Grosseltern schwärmten von ihrer Kindheit wie von einer goldenen und mythischen Vorzeit, so dass zuletzt die Erinnerung nicht mehr von der Erfindung zu unterscheiden war, wenigstens für mich. Es waren grosse Zelte gewesen, trotzdem war es eng darin. Sie mussten nicht nur den zahlreichen Bewohnern, sondern auch dem ganzen Hausrat Platz bieten, und man konnte darin auch nicht überall aufrecht stehen. Aber das war alles gar nicht entscheidend. Entscheidend war vielmehr, dass in den Zelten immer ein Wind ging, so erzählten sie. Ein gezähmter und geordneter und gebändigter Wind, aber doch ein Wind. Irgendwo blies er immer herein, durchs Kaminloch, durch die Nähte, selbst wenn alles geschlossen war wegen der Kälte oder wegen der Hitze oder wegen des Sturms, und woanders wieder hinaus. Der Wind, so stelle ich es mir vor, der Wind selbst war der Raum, in dem die Leute lebten, er vertrieb die schlechten Gerüche und die schlechten Stimmungen und die Kochdämpfe und liess das Zelt grösser scheinen, als es war. Aber er überbrückte auch grosse Entfernungen und rückte das weit weg Liegende näher heran, denn einmal kam er vom Meer her, ein anderes Mal aus der Steppe oder dann von den Bergen herab, und jedes Mal trug er andere Gerüche mit sich. Später stand bei meinen Grosseltern immer irgendwo ein Fenster offen, alle Leute bei uns hatten immer irgendwie die Fenster offen, selbst wenn es kalt war draussen und sie deswegen froren.

Ich hatte mich auf das Bett gesetzt und ihr mit wachsendem Erstaunen zugehört. Sie sprach langsam und überlegt und beinahe fehlerfrei, manchmal suchte sie nach einem Wort, fand aber schliesslich immer das passende. Ihre Stimme war rau, heiser, um nicht zu sagen röchelnd, beinahe hustend, auch das gefiel mir. Was mich aber am meisten erregte, war die Sache mit dem Wind. Es war etwas, über das ich noch nie nachgedacht hatte.

Ja, sagte ich. Möglicherweise ist es ganz egal, wie gross ein Zimmer ist. Der Unterschied ist eher, ob der Wind hereinkann oder nicht. Ich selbst kann ihn nicht ausstehen, den Wind. Mein Zimmer hat nicht einmal ein Fenster, das gefällt mir daran. Es gibt nur diese Klappluke hier über der Verbindungstür – ich zeigte auf das Oberlicht –, und die führt noch nicht einmal nach draussen, sondern nur in mein Büro. Aber – so fiel mir auf einmal ein, und ich zögerte einen Moment – womöglich ist es gar nicht der Wind, den ich nicht ausstehen kann. Ich glaube, was ich meine, ist eher der Durchzug. Wenn ich es mir recht überlege, ist es sogar möglich, dass es hierzulande überhaupt keinen Wind gibt, auch draussen nicht, nicht mal eine Mütze voll davon. Mit dem Wind könnte ich mich vielleicht noch anfreunden, wenn es denn nötig wäre. Aber es ist ja gar nicht nötig. Wie weit ich mich auch zurückzubesinnen versuche, ich kann mich an keinen Wind erinnern. Ein windloses Land, das hier, nichts als Durchzug. Die Leute verwechseln das.

Diese Erkenntnis begeisterte mich. Noch die geringsten Erkenntnisse begeistern mich, wie haltlos sie auch sein mögen.

Mira musste es wohl bemerkt haben, denn sie schwieg wieder und wiegte leise den Kopf, wie um meine Worte abzuwägen. Sie wollte mir weder widersprechen noch mir recht geben. Ausserdem hatte ich sie unterbrochen, sie musste ihren Faden wiederfinden.

Der Wind, fuhr sie fort, kündigt sich mit Vorahnungen an und kommt doch immer unerwartet. Er kommt von weit her und schickt seine Gerüche voraus, im Frühjahr die Blütendüfte, im Sommer den Geruch von Fäulnis. Der feuchte Südostwind weht die Stechmücken her, der trockene Wind aus dem Westen weht sie wieder weg und lässt alles verdorren. Wenn die Spinnen ihre Netze verkleinern, werden die Zeltbahnen festgezurrt und die Tiere laufen gelassen, damit sie sich einen Unterschlupf suchen können. Die Winde halten die Zeit in Gang. Der Sturmwind ängstigt uns, die Frühlingsbrise erregt uns. Bei Windstille steht auch die Zeit still, die Götter schweigen, aber auch die bösen Geister. So erzählten es meine Grosseltern.

Der Durchzug, antwortete ich, ersetzt nur die stickige Luft durch stinkige. Er kreist auf kleinen, berechenbaren Bahnen. Er entsteht im Versteckten, in engen Winkeln, in einem Luftschacht beispielsweise, oder wo man es nicht denken würde, in der heissen und erstarrten Luft über einer sommerlichen Strasse. Der Durchzug kündigt sich nicht an, kommt aber nie unerwartet. Trotzdem erschrickt man, wenn er die Türen zuschlägt. Das liegt daran, dass er sich so ganz plötzlich aufbläht wie ein Oberst vor seiner Truppe. Und genauso plötzlich sackt er wieder in sich zusammen. Im Sommer trägt der Durchzug den Staub ins Haus und lässt uns husten. Im Winter bringt er Erkältungen und lässt uns wieder husten. Wenn die Leute hierzulande von jemandem sagen, er habe einen windigen Charakter, so tun sie dem Wind unrecht, sie verwechseln ihn mit der Zugluft, sie kennen nichts anderes.

Ich war etwas ausser Atem geraten und wurde verlegen. Warum bloss hatte ich mich so ereifert? Zu so was lasse ich mich sonst so gut wie nie hinreissen. Aber gut, hatte nicht sie damit angefangen? Sie drehte ihr Glas zwischen den Händen, sie war vielleicht auch verlegen.

Ihr Oberkörper bewegte sich schräg nach vorn und wieder zurück. Es war das Wiegen ihres Kopfes von vorhin, das sich wellenförmig in ihrem Körper ausgebreitet, sich nach unten ausgedehnt und verselbständigt hatte. Wir sahen beide irgendwohin.

Auf einmal gab sie sich einen Ruck und stand auf, und ich murmelte noch etwas und machte wohl eine Bewegung auf sie zu, und sie machte ein abwehrendes Zeichen mit der Hand und ging mit raschen Schritten hinaus.

durcheinander sein

Der Polizist auf der anderen Seite des Tisches hatte die Tastatur zur Seite geschoben und stattdessen die Konstruktionszeichnung vor sich hingelegt. Ich konnte nicht erkennen, um welche Art Konstruktion es sich handelte, um ein Modellflugzeug oder um eine Kommode oder um einen Wintergarten vielleicht. Irgendetwas war ihm eingefallen, er dachte angestrengt nach, zeichnete nichts, steckte den Bleistift in den Mund. Vermutlich findet sich also von dem, was ich hier aufschreibe, kaum etwas im Protokoll wieder. Es sei denn, der Polizist hat das Protokoll hinterher aus dem Gedächtnis noch ergänzt. Er hat vielleicht ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und vielleicht hörte er zu und konstruierte im selben Moment, vielleicht kann er so was. Gelegentlich machte er Brummgeräusche in verschiedenen Tonlagen, vielleicht zum Zeichen seines Einverständnisses oder seiner Ablehnung oder seiner Verärgerung oder seiner Gleichgültigkeit, oder es betraf gar nicht mich, sondern nur seine Zeichnung.

Ich liess mich dadurch nicht beirren und redete weiter: Nachdem Mira gegangen war, wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Das passiert mir nur selten. Ich ging hinüber ins Büro und fragte mich, ob ich etwas arbeiten sollte. Aber ich fand nichts. Ich blickte mich um. Alles war aufgeräumt und sauber, die Ordner der Wand entlang aufgereiht, die Altpapierkiste leer. Es ist eine graue Plastikkiste, stapelbar, wie sie sie bei der Post verwenden. Sie ist wichtig für meine Arbeit, wissen Sie. – Der Polizist kaute auf seinem Bleistift herum. – Im Verlauf der Woche fülle ich sie mit dem Papier, das ich nicht mehr brauche. Was es mit meiner Arbeit auf sich hat, werde ich Ihnen gleich noch erklären müssen.

Probehalber setzte ich mich an den Schreibtisch, mit den Füssen bewegte ich die Kiste hin und her, sie stand auf einem Transportroller, und ich blätterte unwillkürlich durch den Stapel unerledigter Arbeiten. Normalerweise arbeite ich an den Wochenenden nichts. In der Zeit von Freitagabend bis Montagmorgen tat ich so, als gingen mich die Stapel und die Ordner überhaupt nichts an. Aber Miras Auftauchen hatte mich ganz durcheinandergebracht. Ich meine, ihre blossen Schultern und ihre Arme und so, Sie wissen schon. Und dann ihre Stimme, dieser raue und kehlige Tonfall, und das, was sie mir gesagt hatte. Und dabei hatte ich nicht im Entferntesten damit gerechnet, mit ihr überhaupt so etwas wie ein Gespräch führen zu können. Das hatte mich alles irgendwie auf dem falschen Fuss erwischt.

Sie hatten sie unterschätzt, sagte der Polizist plötzlich und ohne von seiner Zeichnung aufzublicken.

Ich war überrascht. Er hatte lange nichts gesagt, und ich wusste darauf nichts zu antworten.

Möglicherweise, sagte ich.

Sie sollten denselben Fehler nicht auch bei mir machen, brummte er.

Darüber musste ich einen Moment lang nachdenken.

Nein, sagte ich dann und nickte.

Sachen bearbeiten

Ende Mai ist das gewesen, haben Sie gesagt, nicht wahr?, hielt der Polizist fest.

Ich könnte sicher das genaue Datum herausfinden, wenn Sie es brauchen, sagte ich.

Der Polizist verzog seinen Mund und machte eine ungewisse Miene und tippte umständlich etwas mit der linken Hand in die Tastatur, sagte aber nichts weiter.

Ich weiss noch, dass am Montag darauf mein Chef zu mir herunterkam. Er kommt ja nur sehr selten, wissen Sie, und wenn er kommt, schlurft er nur langsam in meinem Büro auf und ab. Mein Chef ist ein älterer, schweigsamer und ein wenig trauriger Herr. Früher war er jung, umtriebig und energisch, voller Einfälle. Heute aber ist er alt, zaudernd und unentschlossen. Er ernährt sich von Dörrfrüchten, von denen er immer welche in einem Papiersack mit sich herumträgt. Einige hält er in der Hand oder lässt sie fallen, und zwei oder drei – wer kann das schon so genau wissen – wendet er kauend und saugend im Mund hin und her. Sein Büro liegt in einem der oberen Stockwerke. Ich war schon lange nicht mehr bei ihm oben gewesen. Vielleicht weil mir vor dem Durcheinander grauste, das dort herrschte. Tisch und Fussboden waren vor lauter Papier kaum zu sehen, dazwischen die Überreste seiner Mahlzeiten und Becher mit verschimmelndem Kaffee. Wenn er sich an den Tisch setzte, suchten seine Füsse einen Platz zwischen einem Drucker, einem überquellenden Papierkorb, zerknüllten Papieren und einem alten Plattenspieler. Zum Plattenspieler gehörten auch einige Schallplatten mit alten Gassenhauern. Früher, als ich noch kein eigenes Büro hatte und noch dort oben bei ihm arbeitete, fingerte er sie manchmal aus dem Regal heraus und legte sie auf – La Mer von Trenet, Kauf dir einen bunten Luftballon, vielleicht kennen Sie das.

Um die Aufmerksamkeit des Polizisten zu erregen, trällerte ich eine Melodie vor mich hin und schnippte dazu leise mit den Fingern. Er sah von seinem Blatt auf.

Aber nein, sagte ich, davon erzähle ich jetzt nicht, ich weiss gar nicht, wo die Schallplatten alle hingekommen sind. Ich könnte jedenfalls so nicht arbeiten. Mein Büro muss immer aufgeräumt sein, früher aus dem Bedürfnis heraus, mich jederzeit davonmachen zu können, inzwischen aus blosser Gewohnheit. Aber ganz so aufgeräumt wie hier bei Ihnen ist es natürlich nicht.

Mein Blick fiel auf die hintere Wand des Postens, an der ein Poster mit einer Berglandschaft hing.

Franz, so sagt es jeweils meine Chefin, Franz arbeitet an einem »Buch über den Zustand der Welt«. Seit langem schon. Er ist sehr viel in der Welt herumgekommen, früher wenigstens, er weiss also sehr viel davon. Von der Welt, meine ich. Ausserdem kriegen wir von überall her diese Unterstützungsgesuche, da steht ja auch alles Mögliche drin. Auf diese Weise habe auch ich mir einige Kenntnisse aneignen können, zumindest geographischer Art. Vielleicht muss ich Ihnen kurz erklären, was wir überhaupt machen, sagte ich zu dem Polizisten.

Das müssen Sie keineswegs, sagte er, aber wenn Sie es unbedingt möchten, bitte!

Ich tu es gern, sagte ich. Unser Tätigkeitsfeld ist die »Gewährung finanzieller Unterstützung an Gesuchstellende in aller Welt auf Anfrage hin«, so lautet genau der statutarische Zweckartikel, ich habe ihn mir gemerkt. Er stammt noch aus der Zeit vor meiner Anstellung. Keine Ahnung, wer das formuliert hat und wogegen man sich damit hatte absichern wollen. Ein unmöglicher Satz, die Doppelung von Gesuch und Anfrage: Wahrscheinlich wollte man verhindern, dass der Verein – rechtlich sind wir als Verein organisiert –, dass er also ganz ohne Anfragen, ohne ein eigentliches Gesuch, sozusagen ins Blaue hinein Gelder spricht. Vermutlich war schon ein gewisses Misstrauen entstanden, oder dem anfänglichen, grenzenlosen Vertrauen in meinen Chef sollten gewisse statutarische Grenzen gesetzt werden, eine reine Vorsichtsmassnahme. Übrigens steht in den ganzen Statuten nichts über den möglichen Inhalt der Anfragen, nur Formvorschriften. Dass man über sie Buch zu führen habe, Abrechnungen zu erstellen, Statistiken anzufertigen, Rechenschaft abzulegen. Dafür bin ich damals auch angestellt worden, mein Chef wäre mit all diesen Dingen heillos überfordert gewesen. Aber wofür wir so im Grossen und Ganzen finanzielle Unterstützung gewähren sollen, davon ist in den Statuten nicht die Rede. Ob beispielsweise im Falle von Krankheit oder Behinderung, im Falle von ungerechtfertigter staatlicher Verfolgung oder von wirtschaftlicher Ausbeutung, ob für gemeinnützige dörfliche Projekte, Projekte im Bildungsbereich oder Projekte zur Verbesserung der Lebensmittelversorgung oder im Fall von was auch immer. Das alles lassen die Statuten völlig offen. Es ging wohl darum, einerseits eine gewisse Kontrolle zu ermöglichen, andererseits aber den Spürsinn meines Chefs und seine Vorliebe gerade für abseitige Fälle nicht unnötig einzuengen. Ausserdem hatte er ja zu Beginn vor allem sein eigenes Geld in die Sache gesteckt, damit konnte er schliesslich machen, was er wollte, die anderen Geldgeber waren erst nach und nach dazugekommen. Seine Familie war äusserst wohlhabend gewesen, und er hatte das ganze Vermögen geerbt. Kinder hat er keine, er lebt allein in einer grossen Villa, kaum jemand ist schon einmal dort gewesen. Er hat auch keine Frau, hatte auch früher keine, aber über sein Liebesleben weiss niemand so genau Bescheid.

Sie sind also so eine Art Hilfswerk, sagte der Polizist. Offenbar hörte er doch ziemlich genau zu, auch wenn es die meiste Zeit nicht diesen Anschein machte.