Was dich spaltet - Bernadette Conrad - E-Book

Was dich spaltet E-Book

Bernadette Conrad

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Beschreibung

Warum bilden ausgerechnet Geschwisterbeziehungen den Schauplatz für Dramen, die eher zu den Eltern gehören als zu ihnen? Das fragt sich Kati, als zwischen ihr und ihrer jüngeren Schwester Eva aus kleinstem Anlass der Graben alten Schweigens wieder aufreißt. Zwar ist Eva mit Kati eng verbunden, aber sie steht anders zu den gemeinsamen Eltern. Dass Kati seit längerem der mit Krieg und Flucht verbundenen Geschichte des verstorbenen Vaters nachforscht, scheint den Graben eher zu vertiefen: Wer ist woran schuld? Und – geht es überhaupt um »Schuld«? Kann es in Familien unbelastete Nähe geben? Gibt es einen Weg aus dieser Blockade? Der Roman erzählt in prägnanter, empathischer Sprache ein Jahr in einer Familie, in die Geschichten aus vier Generationen hineinwirken.

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Seitenzahl: 327

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Bernadette Conrad

Was dich spaltet

Roman

© 2023 by :TRANSIT Buchverlag

Postfach 120307 | 10593 Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung: Gudrun Fröba

eISBN 978-3-88747-451-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Dank

Verwendete Literatur

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1

Leben Eltern ewig?

Es war nur ein Traum, Kati.

Sie setzte sich im Bett auf. Ihr Vater hatte dagesessen wie im Leben, mit dem Rücken zu ihr. Sie selbst im altbekannten Alarmzustand, rätselnd, welche explosive Stimmung sich in seiner Abgewandtheit verbergen mochte. Aber wie konnte das sein? Er war seit fast fünfundzwanzig Jahren tot. Dann hatte er sich umgedreht, ihr knapp und distanziert zugenickt, die Augen kaum zu erkennen hinter den dicken getönten Brillengläsern –, und sie hatte es genauso gemacht: genickt, ein knapper, distanzierter Gruß.

Etwas in ihr zittert, ein Nachbeben von weit her; eines, das nur noch im Traum bis zu ihr gelangen kann. Aber wieso überhaupt? Nach all der Zeit.

Draußen schlägt Frühling ans Fenster. Nach den eisigen Tagen mit Schnee und Frost ist es plötzlich so warm geworden, dass sie gestern beim Heimkommen den Mantel aufgeknöpft hat.

Kati atmet – ein, aus –, sie fühlt den Luftzug, sie hört den Vögeln zu und denkt: Verrückt, dass ihr nicht aufgebt. Ihr besingt den Frühling. Ihr singt die Autos nieder, die, jedes einzeln und laut übers Kopfsteinpflaster rattern. Singt über den Krach der Berliner Stadtreinigung hinweg, die da unten gerade unterwegs ist. Sie schloss die Augen noch einmal, nein, nicht zurück in den Traum. Aber die Kinder hatten Ferien, Ellie war schon aufgestanden, sie hatte sie rumoren hören, und Meerchen war bei Eva –, sie konnte noch liegenbleiben.

Man konnte kurz alles vergessen, den Baulärm, die nahe Autobahn. Den Traum langsam von sich wegrücken. Man konnte die Augen geschlossen halten, die Beine unter der Decke strecken, den Wind fühlen und sich an die Vögel halten.

Als sie in die Küche ging und Teewasser aufsetzte, wunderte sie sich. Wieso war es auch in Ellies Zimmer so still? Normalerweise drang Musik heraus, ein sicheres Zeichen ihrer Anwesenheit.

So früh, und ohne Bescheid zu sagen? Andererseits musste eine Fünfzehnjährige nicht auf Schritt und Tritt kontrolliert werden. Kati wartete neben dem Wasserkocher und schaute aus dem Fenster. Dann eben nicht. Dann würde sie sich gleich mit dem Tee an den Computer setzen.

Im Zimmer, am Schreibtisch, fiel es ihr ein.

Ende April. Jahrestag. Ein kühler Apriltag vor heute genau 26 Jahren, und sie steht wieder dort.

Die Hände fest um die heiße Tasse geschlossen, sieht sie sich stehen, im großen Flur des Elternhauses –, sich selbst, Vater, Mutter, und Diana, ihre beste Freundin, die mitgekommen war. Sie sieht an der Wand die zartbeige Textiltapete, die Bilder mit Landschaften und Blumenstilleben; sie sieht die dünnen Sichtschutzgardinen vor dem oberen Galeriefenster sich blähen im Luftzug der sich öffnenden und schließenden Tür.

Auf. Zu. Auf.

Keine fünf Minuten waren sie im Wohnzimmer sitzen geblieben, kaum dass Kati gesagt hatte, weshalb sie gekommen war.

»Raus, raus, raus, du Kriegstreiberin«, hatte der Vater mehr gezischt als gebrüllt, und Diana und sie vor sich hergeschoben zur Tür. »Nein, nicht gehen!«, hatte die Mutter gerufen, weinend, und sich gegen die Tür gelehnt. »Du Wahrheitsfanatikerin, das ist alles erlogen, ausgedacht, was fällt dir ein…«, lauter die Stimme des Vaters.

Damals hatte die Erde gezittert, sie hätte auch reißen können, dann wäre sie, Kati, in ein Bodenlos gefallen, das sie schon vorher, auf der Autofahrt hin zu den Eltern erwartet hatte, angstverkrümmt, zusammengefaltet auf Paketgröße, in den Fußraum des Beifahrersitzes gekauert, schlotternd – während Diana stoisch den Wagen steuerte, »… du schaffst das, Kati«.

Im Fußraum des Beifahrersitzes? Sie war auch damals schon erwachsen gewesen, Mitte zwanzig, und hatte mit Sicherheit nicht in den Fußraum eines Autos gepasst.

Aber so war Erinnerung, sie schuf ein Bild für die Angst, aus der sie in diesen Stunden bestanden hatte, ohne Rest. Danach, als es vorbei war, sie beide auf die Straße gewankt waren, sich in Dianas Auto gesetzt und Diana den Motor angelassen hatte, erst dann hatte sie wild zu schluchzen begonnen, und die ganze Fahrt bis zu Diana nachhause damit nicht aufhören können.

Wie konnte man so sein Elternhaus verlassen!? Wie konnte man nur!

Tee getrunken. Balkontür geschlossen. Durchgeatmet.

Sie sollte die Zeit nutzen, zum Arbeiten, bevor Meerchen, ihre Kleine, zurück wäre. In drei Tagen würde Eva sie bringen. Eva, Schwesterherz – und wieder starrte Kati Löcher in die Luft. Es hielt sie nicht auf dem Stuhl, sie öffnete die Balkontür noch einmal, lehnte sich in die Tür, sah im Glas ihr eigenes Spiegelbild. Schmale Schultern, wie meist etwas nach vorne gebeugt, wilde braune Locken, braune Augen, die ihr aus dem Spiegel immer ernster entgegenschauten als sie sich selbst empfand.

Dieser heutige Arbeitstag wollte nicht beginnen.

Wo genau warst du eigentlich damals gewesen, Eva? Und wo genau stehst du heute? Kati schloss die Balkontür, setzte sich, startete den Computer. Auch das, was sie hier tat, fand Eva abwegig; die Beschäftigung ihrer großen Schwester mit dem Erleben junger Soldaten, Katis Sammeln von Zeugenberichten, Feldpostbriefen, Tagebucheinträgen, ihre Suche nach den Stimmen derer, die jung den Zweiten Weltkrieg an der Front erlebt, und ihn überlebt hatten.

»Unser Vater war einer von ihnen, Eva«, hatte Kati hie und da Evas Unverständnis, ihrer fast ungeduldigen Abwehr, entgegengehalten; dein geliebter Papa. Das dachte sie nur, sagte sie nicht. Aber Eva winkte ab, schüttelte den Kopf, wollte sich nicht einlassen auf Gespräche über jene Zeit, die, wie sie sagte, doch »ewig her« war. »Ist denn in den letzten siebzig Jahren nicht genug über den Krieg geschrieben worden, Kati?«, hatte sie letztes Mal gefragt. Glaubte Kati tatsächlich, dass sie, so dermaßen lange danach, noch etwas hinzuzufügen hätte? »Drei Jahre beschäftigst du dich jetzt schon mit dieser Materie, richtig?«, hatte sie noch gesagt, mit gerunzelter Stirn. »Bist du denn da nicht völlig von deinen eigentlichen Themen weg? Hast du ein neues Buchprojekt? Verschenkst du nicht kostbare Zeit?«

Vielleicht, Eva. Vielleicht auch nicht.

Aber war das wichtig? Eva war, wie sie war; ihre wunderbare kleine Schwester, die nie ohne Arme voller Geschenke zu Ellie und Meerchen kam; strahlend, die einen mitreißen konnte mit ihrer Frische und Fröhlichkeit; Eva, der sie vertraute Mails schrieb, so, wie das eben gehen kann zwischen Schwestern.

Drei Jahre, genau. Geahnt hatte Kati es schon dort, in der Küche des alten Mannes in Vermont: dass hier noch etwas für sie zu tun wäre. Sie hatte damals schon geahnt, dass hinter dem fremden alten Mann in Vermont jemand anderes wartete.

Sie starrte am Computer vorbei aus dem Fenster.

Das mit dem Krieg, Vater, es hört nicht auf, mich zu beschäftigen. Wie alles zusammenhängt. Wie eins mit dem anderen zusammenhängt.

Fast fünfundzwanzig Jahre bist du tot und ich habe es versäumt, dich zu fragen. Zu spät, sagt man immer, Gelegenheit verpasst. Aber stimmt das? Hätte ich dich gefragt, würde ich dich fragen, wenn du noch am Leben wärest? Es gibt Gründe, warum man mit jemandem ins Gespräch geht. Oder warum man es nicht tut. Wer wärest du heute, ein verbitterter alter Mann? Jemand, der nochmal eine Kehrtwende gemacht, Dinge neu angeschaut hätte?

Du bist nicht mehr da, und in diesem leeren Raum – ja, was? Haben wenigstens die Fragen Platz?

Zwei Stunden aus dem Fenster gestarrt, Tee gekocht, Zigarette geraucht. Es war Mittag geworden.

Sie machte sich etwas zu essen, als das Handy eine Nachricht ankündigte. Ellie. »Liebe Mama, ich bin bei Papa vorbeigegangen. Bitte keine Sorgen machen. Hab dich lieb, Ellie«.

Bei Papa vorbeigegangen? Jetzt kam es ihr in den Sinn. Karl war für ein paar Monate in Berlin, es hatte sich beim Sender die Möglichkeit einer Vertretung ergeben, die er genutzt hatte. Natürlich. Ellie hatte davon erzählt, einmal. Und vermutlich hatte es sie getroffen, gekränkt, dass sie, Kati, nie nachgefragt, sich offensichtlich nicht besonders dafür interessiert hatte.

Wieso sollte eine Fünfzehnjährige nicht ihren Vater aufsuchen? War das wirklich etwas, aus dem sie so viel Abschied herausfühlen musste? Kati schaute durch die Balkontür nach draußen, wo der Wind an der Balkontür rüttelte, die Bäume vor dem Fenster bog.

Meine Kinder sind weg, ein Traum drängt in die Ritzen meines Tages, ich irre herum.

Raus. Sie wollte nach draußen. Mantel, Schal, Tür zugeworfen. Mit schnellem Schritt ging sie auf den Seitenstraßen dem Tempelhofer Feld entgegen, seiner Weite. Um den Fernsehturm stand ein weißer Rauch, oder war es eine abgerutschte Wolke. Immer gab es hier diese besondere Stille, die nie wirklich still war, dazu war die Autobahn viel zu nah, und die S-Bahn; der Stadtlärm ein gleichmäßiges Hintergrundrauschen, aber auf Distanz. Weit genug weg, dass es einem mitten im Lautsein leise vorkommen konnte; Frühlingswind in heftigen Windböen über die Landebahnen, ihr eigener Atem laut vom schnellen Gehen.

Was will ich hier? Was treibt mich um? Ich habe Arbeit und seltsame Träume. Meine Kinder sind nicht da, es geht ihnen gut. Im Café rührte Kati die Frage in ihren Kaffee ein. Schaute Eltern hinterher, die ihre Kinder an der Hand hielten, es sah aus wie ein einziger schlenkernder Arm.

Als sie viel später in der U-Bahn nachhause saß, hockte eine Nische weiter ein sehr kleiner alter Mann, die Brille so dick, dass dahinter die Augen fast verschwanden, ein spitzes nach vorn geschobenes Kinn, und erst als Kati dünne Beine in Gummistiefeln gegen die Rückwand stoßen sah, verstand sie, erschrocken: Es war ein Kind, dem das Schicksal ein Altmännergesicht verpasst hatte. Ein Kind, dessen Kinderhand der Vater, der daneben saß, irgendwann in seine nahm, und mit ihm den Waggon verließ.

2

Am frühen Abend wählte sie Evas Nummer: »Na ihr beiden, wie geht’s?«

Am anderen Ende Evas tiefe, etwas heisere Stimme. Meerchen fröhlich rufend im Hintergrund. Kati hörte sich selbst reden, schnell, viel – besinnungslos irgendwie, dachte sie, als sie den Hörer aufgelegt hatte. Zwischendurch unterbrach sie sich: »Entschuldige. Bin in einer seltsamen Stimmung, werde einen Traum nicht ganz los.« Den Traum hatte sie nicht erzählt. Eva hatte nicht nachgefragt.

Erst im Kino, in das sie später kurzentschlossen ging, rutschten andere Bilder an die Stelle der geträumten. Der erinnerten.

Was war das alles, was ich da im Gespräch mit ihr habe wegreden müssen?, fragte sie sich am nächsten Morgen kopfschüttelnd, nachdem sie die Spülmaschine ausgeräumt hatte und ziellos durch die Zimmer ihrer Töchter ging. An Ellies schwarzer Tagesdecke mit den vielen tanzenden weißen Figuren zupfte, als könnte sie ihre Tochter unter der Bettdecke hervorschütteln. Gedankenverloren Meerchens im Raum verstreute Kleider einsammelte. Eva hatte nicht viel zu Ellies überraschendem Aufbruch zu ihrem Vater gesagt, nur etwas vor sich hingebrummt, undeutlich, so dass Kati nachgefragt hatte.

»Was, Eva? Sag das nochmal, bitte.«

»Ich hoffe, der benimmt sich…«

Kati hatte erstaunt zurückgefragt: »Was meinst du damit?« »Na, ich hoffe, der weiß das zu schätzen, dass seine Tochter ihm die Ehre gibt. Überanstrengt hat er sich ja nicht gerade in den letzten Jahren, wenn ich das richtig sehe.« Nein, Eva mochte Karl nicht besonders, den sie allerdings auch nie wirklich kennengelernt hatte. Wenige Begegnungen bei Ellies Geburtstagen in den letzten Jahren, wenn er mal zufällig in Berlin gewesen war und es in seine Pläne gepasst hatte – aber auch dann war er immer wie auf dem Sprung gewesen. Kati sah jetzt noch Evas missbilligendes Gesicht vor sich, die gerunzelte Stirn über ihren großen braunen Augen, wenn sie Karl angeguckt hatte. Kann der nicht mal in den wenigen Stunden im Jahr, in denen er seine Tochter sieht, ganz für sie da sein?, hatte sie Kati gefragt.

Dieser Satz fiel ihr jetzt wieder ein, und sie dachte, ja, Eva, du hast Recht. Ich hoffe das auch, dass er mal merkt, was für ein feines Mädchen seine Tochter ist. Dass er ihr das auch mal zu verstehen gibt. Ihr Zeit schenkt. Umso mehr, als Ellie ja immer auch Micha vor Augen hatte, Meerchens Vater, der präsent war für sein Kind, der Meerchen das Gefühl vermittelte, er wäre immer um die Ecke, greifbar, erreichbar. Vor der Bibliothek schloss sie das Rad ab. Den heutigen Arbeitstag würde sie hier verbringen.

Abends rief Eva noch einmal an. Sie wechselten ein paar Sätze, als Meerchen sich an den Hörer drängelte. »Mama, hörst du? Wir sind heute beim Reiterhof gewesen, ich durfte wieder auf demselben Pferd reiten wie letztes Mal! Und morgen, Mama, morgen, nimmt Eva mich mit in ihr Büro!« Kati lauschte der glücklich aufgeregten Stimme ihrer kleinen Tochter. Meerchen im Tantenglück. Die Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch Eva hing zärtlich an ihrer Nichte. Wie an einer eigenen Tochter, dachte Kati, und schob den Gedanken sofort wieder weg. Meerchen, ihr ungeplantes Kind.

»Das klingt gut. Kannst du mir trotzdem Eva nochmal geben?«

»Wie geht’s dir denn eigentlich?«, fragte Eva. »Wenn jetzt sogar beide Mädchen weg sind, kannst du es doch mal richtig genießen, Zeit für dich zu haben, oder? Schnappst dir ein Buch, setzt dich ins Café…«

Sie kennt ihre große Schwester, dachte Kati, ich war eben immer eine Leseratte. Als Eva noch ein Kind gewesen war, Kati selbst aber schon jugendlich, hatte die Kleine oft die Räume des Hauses nach der Großen abgesucht. Kati wusste noch genau, dass sie manchmal extra nicht auf Evas Rufen geantwortet hatte, um in der Ecke des Gartens, in die sie sich zurückgezogen hatte, ungestört in ihrem Buch versinken zu können.

»Ja, schön wär’s. Heute habe ich aber ganz gut gearbeitet in der Bibliothek. Im Café tu ich mich schwerer mit dem Konzentrieren…«

»Ach so, ich dachte, du hättest dir jetzt ein bisschen freie Zeit nehmen können?« Eva klang erstaunt. »Und was machst du in der Bibliothek? Doch hoffentlich nicht wieder nach Kriegsbüchern suchen.«

»Naja, das würde ich ja nicht tun, wenn es mich nicht interessieren würde«, antwortete Kati mit einem leichten Anflug von Ärger. »Aber tatsächlich, nein, ich muss eine Übersetzung fertigstellen, habe bald Abgabe. Und wenn die Kinder zuhause wären, würde ich das zuhause machen. Aber so bin ich zwar nicht ins Café, aber wenigstens in die Bibliothek gegangen. Ist ganz schön, Menschen um sich zu spüren…«

»Ernsthaft?« Kati sah Eva im Geiste vor sich, wie sie verständnislos den Kopf schüttelte. »Dann gehst du tatsächlich eher in die Bibliothek, als deine gemütliche Küche mal für dich allein zu genießen?«

Nun erzählte Kati ihr doch von der kippligen Stimmung, in die sie geraten war, von dieser Kraftlosigkeit, dem Gefühl, ohne die Kinder wie ins Leere zu fallen. »Wie soll ich das erklären«, murmelte sie, und folgte mit dem Blick dem Muster des Teppichs unter ihren Füßen. Zwei große blaugelbe Rauten, die auf Rot schwammen. Viele kleine Rauten, die auf einer Straße aus Gelb um das Innere des Teppichs herumliefen. »Dann sitze ich da mit meinem Kaffee, und sehe einen Fleck auf dem Tisch, vom letzten Essen, und meinst du, ich steh auf, um den Lappen zu holen? Oder nutze die Zeit, um den Wäscheberg mal etwas kleiner werden zu lassen?« Kati schwieg. Ich hasse das, dachte sie, diese Wackligkeit. Als wäre man porös geworden und könnte sich gegen nichts schützen, nicht gegen merkwürdige Ängste und nicht gegen anbrandende Einsamkeitsgefühle. Als hätte der Traum ein Leck geschlagen, die Erinnerung ein kleines Einfallstor in meiner Alltagsstabilität gefunden, durch das nun Kraft heraussickert.

Sie räusperte sich. »Da hat es jetzt tatsächlich geholfen, die Bude zu verlassen.«

Als Eva nichts sagte, setzte sie hinzu: »Naja, die effektivsten aller Tage sind es eben jetzt einfach nicht. Ich denke das selbst auch –, so selten wie ich das habe, ungestörte Arbeitszeit, Abende, an denen man weggehen könnte. Aber ich kriege es nicht hin… Alles läuft verlangsamt, alles, was ich in die Hände nehme, bleibt Stückwerk.« Sie schwieg, räusperte sich. »Na, Schluss jetzt«, sagte sie, »mehr Worte muss ich dazu nicht machen. Ich wollte dich gar nicht volljammern.« Sie stand auf, und lief im Raum umher, mit dem Hörer am Ohr.

»Hört sich nach müde und erschöpft an«, sagte Eva nur.

»Na sowas«, erwiderte Kati, »du bringst es mal wieder auf den Punkt. Was macht denn deine Büroetage, wissen sie, dass du deine Nichte morgen mitbringst?«

»Die sind gespannt wie Flitzebogen, was, Meerchen?«

Warum bespreche ich das mit ihr, fragte sich Kati, nachdem sie aufgelegt hatte. Sie ging in die Küche, kochte sich einen Kaffee. Abendkaffee. Nochmal versuchen, in die Arbeit zu finden. Ich sollte das nicht tun. Eva, die so gern Kinder hätte. Und die mit Andi auch einen Mann hat, den man sich hervorragend als Vater vorstellen kann. Warum wälze ich mit ihr diese Mutter- und Kind-Themen? Und warum beschreibe ich meine wacklige Stimmung ausgerechnet meiner geradlinigen, energiegeladenen Schwester, die solche Zustände vermutlich gar nicht kennt? Aber wir sind uns eben wieder nahegekommen. Schwesternsehnsucht. Sie schaute in den Kühlschrank, ein Rest Pfannkuchenteig, gestern noch in großer Menge angerührt. Für eine Nachtmahlzeit würde es reichen. Später. Jetzt erstmal mit dem Kaffee an den Schreibtisch.

Draußen Dunkel. Ein einziges Licht brannte in den beiden riesigen Gründerzeithäusern auf der anderen Straßenseite. Als ob niemand außer ihr mehr wach wäre. Oder fiel es ihr sonst, wenn die Mädchen in ihren Betten schliefen, nur nicht auf?

Vor dem Zubettgehen schaute sie noch in ihre Mails, und stutzte. Eva hatte geschrieben, so kurz nach dem Telefonieren?

Kati überflog die Mail und erschrak. Was war das denn? Die Schwester erinnerte sie daran, dass sich im nächsten Winter der Tod des Vaters zum fünfundzwanzigsten Mal jähren würde.

Der andere Jahrestag. Dann fielen ihr also in diesen Tagen gleich zwei von der Sorte vor die Füße.

Sie sei gerade dabei, schrieb Eva, aus den vielen Kindheits- und Familienbildern, die sich ja vor allem bei ihr in Kisten und Alben häuften, ein Buch zu machen, das an das Leben des Vaters erinnere. »Könntest du dir vorstellen, den Text dazu zu schreiben?«, schrieb sie. »Du bist ja die Frau der Worte in der Familie! Wir würden uns nach dem Gottesdienst bei uns treffen, zusammen mit Mutter, ich finde das wichtig. Und sind so Jahrestage nicht auch dazu da, dass man sich wieder mal bewusst wird, was Familie bedeutet?«

»Was Familie bedeutet.« Kati holte tief Luft. Ja, was bedeutete sie denn? War es Eva nicht bewusst, auf welch mühsam erkämpftem Boden sie beide standen? Geschwisterlandschaft, ihrer beider Territorium. War Eva nicht klar, was passieren konnte?

Kati wandte den Blick vom Bildschirm. Sie stützte das Kinn in die Hand und schaute aus dem Fenster. Nein, natürlich nicht. Eva stand woanders. Sie lebte nah bei der Mutter, sie war ihr nah. Und trotzdem, verflixt. Das hier konnte doch nicht gut gehen. Sie wollte das nicht. Sie wollte mit ihrer Schwester verbunden bleiben.

Was sollte sie antworten? Die Balkontür stand offen, draußen rauschte der Wind durch die Linden. Die Vögel schwiegen. Aus dem Radio in der Küche kam Klaviermusik. Genug für heute.

Wieso sollte ich das wollen –, über dich schreiben, Vater? Nichts zieht mich dahin, in eine Nähe zu dir. Das Gegenteil ist der Fall… Du bist so gründlich tot, so lange schon nicht mehr da, dass Raum für etwas anderes entstanden ist; ein leerer Raum, in dem ich nach dem suchen kann, der du warst, bevor ich dich kannte: ein Junge, ein Mann mit Namen Dietrich Claassen.

Kati starrte vor sich hin, die Hände auf der Tischplatte. Der Schreibtisch, die schön gedrechselten Beine. Der hölzerne Buchständer. Ja, Eva, ich lese tatsächlich eine Menge. Darunter auch Soldatentexte, Stimmen aus dem Krieg. Ich schreibe eine Menge. Aber das heißt doch nicht –

Was Familie bedeutet.

Verlassenheit winkte herüber.

Sie schüttelte den Kopf, fuhr den Computer herunter, es half nichts.

Übermorgen würde Eva hier sein, sie würde Meerchen zurück nachhause bringen, sie würden reden.

Sie holte Mehl aus der Speisekammer, Butter aus dem Kühlschrank, jetzt würde sie sowieso nicht schlafen können. Dann lieber den Kuchen gleich backen, so könnte sie morgen den ganzen Tag in der Bibliothek bleiben. Gedankenverloren deckte sie den Tisch, legte gelbe Servietten, kleingeblümt, neben die Teller. Nahm die Tassen der Kinder in die Hand, hielt in der Bewegung inne, stellte eine in den Schrank zurück.

Ellie hatte sich nicht mehr gemeldet.

3

Eva. Wie recht sie gehabt hatte, als sie Kati in der Bibliothek an den Regalen mit Kriegsbüchern vermutet hatte. Zwar hatte Kati tatsächlich auch an der Übersetzung gearbeitet, aber war nachher wie immer an den Reihen entlanggestreift mit der Literatur zum Zweiten Weltkrieg, ob da etwas Neues stand. Immer wieder kam Eva darauf zu sprechen, immer wieder stieß sie sich an diesem Interesse ihrer Schwester; sie, die ansonsten Katis Arbeit bewunderte, das literarische Übersetzen aus dem Englischen, die Sachbücher zur Literatur, die sie geschrieben hatte – umso mehr, so schien es, schüttelte sie über Katis hartnäckiges Graben in der jüngeren Geschichte, ihr Aufspüren von Stimmen, den Kopf. Kati hatte doch ihr Ding, ihren Erfolg –, wieso musste sie sich auf dies weite und vielbeackerte Feld begeben?

Sie wunderte sich seit drei Jahren und fand immer mehr –, war Kati denn nicht langsam mal fertig mit dem, was sie wissen wollte? Vor drei Jahren, als Kati und Ellie zurückgekommen waren aus Neuengland, hatte Kati ihr von dieser Spur erzählt, auf die die Reise sie gesetzt hatte, stockend, bewegt, und Eva hatte ihr Bestes gegeben, um Katis inneres Aufgewühltsein zu verstehen, und sollte sie es auch damals schon befremdlich gefunden haben, dann hatte sie es sich nicht anmerken lassen.

Eine Mutter-Tochter-Reise, bitte, Mama, hatte Ellie damals gebettelt. »Ich will dahin, wo du gelebt hast, als du klein warst.« Und da Eva sich voll Freude Ferien genommen hatte, um Meerchen zu sich zu holen, war es dann tatsächlich nach langer Zeit wieder einmal ganz ihrer beider Zeit, Katis und Ellies, gewesen.

Zweimal hatten sie Katis Tante Annie, die in Vermont lebte, früher schon besucht, aber das war lange her, es war noch in der Zeit vor Meerchens Geburt gewesen. Und so waren sie dies Mal beide, Kati und Ellie, jeweils eigenen Kindheitserinnerungen entgegengereist, freudig, erwartungsvoll, in eine Landschaft, in der alles zu ihnen sprach – jede weißlackierte Holzveranda, jeder Blaubeerpfannkuchen in einem Diner an der Straße – es war ein Schwimmen durch Gefühle gewesen. Bis sie, buchstäblich aus heiterstem Himmel, auf dem Weg zu Annie, auf einer hügeligen Straße in Vermont, in den Hurrikan geraten waren. (Ein Hurrikan, oder doch nur ein tropischer Sturm? Später hörte man mal diese, mal jene Bezeichnung. Aber spielte das eine Rolle? Für das, was nun plötzlich über sie hereingebrochen war, hatten sie sowieso keinen Begriff gehabt.)

Für New York angesagt, hatte sich der Sturm stattdessen über Vermont entladen. Sturzregen von oben, der wie kochendes Wasser übersprudelnde Bach neben dem Auto, im Nu hatte sich die Straße selbst in ein unaufhaltsam steigendes Wasser verwandelt –, »Fahren Sie da besser nicht mehr durch«, hatte ein Jeepfahrer aus einem anderen Auto herübergeschrien, und gerade rechtzeitig, gerade noch, bevor das Auto mit ihnen davonschwimmen würde, hatte Kati von der Straße abbiegen und die lange Zufahrt zu einem einsam liegenden Haus nehmen können.

Und da hatte er gestanden, der alte Mann in orangenen Regenkleidern, er hatte in den stürzenden Regen geschaut und als sie sich zu ihm auf die Veranda gerettet hatten, nachdenklich gesagt: »Seltsam ist nur, dass kein Wind geht. Ob wir im Auge des Sturms sind?«

Dann hatte er Kati und Ellie angeschaut, die vor ihm standen, Ellie eng neben ihrer Mutter, fröstelnd mitten im August –, »Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll.« Er hatte eine helle Stimme und helle blaue Augen. Sein Regenmantel tropfte. »Der ganze Keller ist voller Wasser«, sagte er, und schüttelte den Kopf. Kati beschrieb ihm, wo die Überflutungen begannen, wie sie in beide Richtungen immer weiter stiegen. Er musste das ja auch gesehen haben, seit drei Tagen brüllten im Fernsehen dick eingepackte, von Regen und Wind zerzauste Reporter vor irgendwelchen Stränden der südlichen Ostküste die neuesten Schreckensmeldungen über die Verwüstungen des Hurrikan ins Mikrofon, in ihren Augen Entsetzen und Faszination. Vorkehrungen für große Evakuationen in New York waren gezeigt worden, aber seltsamerweise war bei allen Warnungen und Vorbereitungen nie von Vermont die Rede gewesen, wo Kati und Ellie jetzt unterwegs waren, zweihundert Kilometer von der Küste entfernt, und nun – im Auge des Sturms?

Er hatte dann die Küchentür geöffnet und sie hereingebeten. Seine Tochter, eine ältere Frau mit grauem Rundschnitt, hatte sie loswerden wollen; sie saß am mit Papieren übersäten Küchentisch und schaute ihnen mit gerunzelter Stirn entgegen. Hart, klacker di klack, hatten ihre Absätze auf dem Holzboden geknallt, als sie zwischen Tisch und Telefon hin- und herlief, um Motels zu finden, in die sie die ungebetenen Gäste würde schicken können, oder die Polizei, die ihr eine Lösung des Problems sagen sollte, aber sie erreichte niemanden, die Absätze knallten wie Ausrufezeichen hinter dem, was sie nicht sagte: Haut ab.

Aber da war noch ihr Vater, der am Tisch saß, schweigend, den Rücken durchgedrückt, und der nun sagte: »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, sie dahin zu schicken, wenn niemand den Hörer abnimmt«, langsam, die Stimme hell und deutlich.

Und dann war eine zweite Tochter aufgetaucht, sie wohnte mit ihrem Mann in einem Haus auf dem Berg, die beiden hatten die Küche betreten, um kurz danach in den Keller zu gehen und Wasser zu schöpfen, aber schon in diesem kurzen Moment hatten sie wie mit Zauberhand die Atmosphäre verändert. Ein paar Minuten später hatte Ellie einen warmen Pullover an und bekam einen Teller mit Käsetoast hingestellt. Dann kamen sie zurück und luden Kati und Ellie ein zu sich in ihr Haus auf den Berg, sie öffneten die Tür zu ihrem Jeep. »Wir sind gerettet, Mama«, hatte Ellie gesagt, und, ja, so hatte sich das tatsächlich angefühlt, und Kati hatte, als sie im Jeep die steile Straße den Berg hochfuhren, noch gefragt, ob die ältere Schwester die jüngere wohl mochte dafür, wie sie einen Raum verändern konnte? Ob sie sie hasste?

Zwei Tage waren gefolgt, in denen der Himmel so blau war, als wäre nichts geschehen. Hätte man es nicht besser gewusst; hätte man nicht Dächer neben den Häusern liegen sehen und Schreckensbilder im Fernseher. Als ein paar Tage später eine komplizierte Strecke über Straßen, die unzerstört geblieben waren, im Internet angegeben wurde, auf der sie es am nächsten Tag bis zur Autovermietung schaffen könnten, und von dort aus in letzter Minute einen Zug zurück zum Flughafen bekommen würden, waren sie mit der Tochter und deren Mann noch einmal bei dem alten Mann vorbeigefahren, um sich zu verabschieden. Er hatte Ellie angelächelt; sie hatten am großen, mit Papieren übersäten Tisch gesessen und er hatte gefragt, wo in Deutschland sie wohnten. Ob Kati die Ostsee kenne? Dort sei er nach dem Krieg gewesen. An der Ostsee, bei Danzig. Er erinnerte die Landschaft sehr genau, die vielen kleinen Dörfer, die grüne Ebene, das Weichseldelta, sie hatte sich ihm eingeprägt, die Landschaft damals. Er hatte das gemocht, das viele Laufen, den Geruch nach Erde.

Und das war der Moment, in dem Kati dachte, dies ist eine Geschichte. Irgendwo hier hängen Dinge zusammen, aber wo genau? Der Zusammenhang war nicht damit erledigt, dass ihr Vater aus Danzig kam und gegen die Amerikaner gekämpft hatte –, auf der falschen Seite also. 1939 – da war der Vater vierzehn Jahre gewesen, kaum älter als Ellie heute. Krieg, Gefangenschaft, Flüchtlingslager, er hatte sie erlebt, die Schrecken des Jahrhunderts, hatte sie überlebt. Er war zehn Jahre nach dem Krieg, nach dem Studium, für einige Jahre nach Amerika gegangen, hatte sich später, zusammen mit der Mutter, ganz dort niederlassen wollen. Es war nicht viel, was Kati über diese Jahre wusste; er war ein großer Schweiger gewesen, der Vater, so dass sie sich als Kind auf jeden Ortsnamen, jede Judy oder Harriet, die er mal kannte, gestürzt hatte; ersehnte Beute für die Sehnsuchtsfantasie des Kindes, das alles nutzte, um sich das Glücks- und Herkunftsland Amerika auszumalen.

War sie dem nachgereist, bis hierhin?

Und nun war da, auf einmal, wie aus dem Nichts, dieser fremde Mann, der einen leeren Raum füllte, mit Beschreibungen aus einem grünen waldigen Europa, und sie dachte: Was für eine Geschichte ist das hier, vom Gerettet- und vom Verschontwerden, und von wer weiß was noch?

Die ältere Tochter hatte sich nicht mehr blicken lassen. »Sie geht immer weg, wenn Vater erzählt«, hatte die jüngere entschuldigend gesagt, und dann wie zu sich selbst: »Sie hat weit weg gelebt, ist dann wieder zurückgekommen. Aber ob sie überhaupt hier sein will? Überall breitet sie ihren Papierkram aus«, und den Kopf geschüttelt.

Ich kenne das, hatte es Kati auf der Zunge gelegen, zu sagen. Ich weiß, wie das ist, wenn man eine geographische Entfernung sucht, die der seelischen Entfremdung entspricht. Ich kenne die verzweifelten, seltsamen Konstruktionen von zuhause, das Anhäufen von Büchern oder Papieren um sich herum, als wären sie eine Verlängerung von einem selbst; als könnten sie einen binden, an einem Ort verankern. Aber gesagt hatte sie nichts.

Sie waren noch einmal hoch auf den Berg gefahren, und Kati hatte beim einfallenden Abendlicht auf der fremden Veranda gesessen, und Ellie in irrem Tempo mit einem Minitraktor die Wiese hinunter rasen sehen, auf den diese netten fremden Menschen sie gesetzt hatten, und sie hatte an ihren Vater gedacht. Früh hineingeraten in Zonen von Krieg und Schuld, hatte er nicht hinausgefunden. War nicht verschont geblieben, hatte andere nicht verschont. Nie hatte er nur annähernd etwas Ähnliches ausgestrahlt wie der alte Mann hier; eine Art friedlicher, heiterer Ruhe, sogar im Auge des Sturms. Was hatte es auf sich gehabt mit dem Schweigen ihres Vaters – was genau enthielt die Kapsel seines Schweigens? Etwas jedenfalls, das Gift aussonderte, in kleinen Mengen, das in den Knochen saß bis heute.

Am nächsten Morgen war der Jeep mit ihnen den Berg hinunter gefahren zum weißen Haus, wo das Mietauto stand und sie sich nun verabschiedeten. Nicht von der ältesten Schwester, sie war unsichtbar geworden. »Nice to know you«, hatte der alte Mann genickt und gelächelt. »Very nice.« Und hätten sie nicht allesamt Riesenglück gehabt, einfach Glück, im Auge des Sturms? Dann stand er auf der Veranda, neben sich Tochter und Schwiegersohn, die amerikanische Flagge flatterte, und er winkte hinter ihnen her.

4

»Hallooo, Mama! Haaallo, Ellie!« Meerchens Rufen schallte durchs Treppenhaus. Kati öffnete die Wohnungstür, schaute ihnen entgegen. Zweimal blond und langhaarig kam da die Treppe herauf. Meerchen mit Lockenmähne, dünn und drahtig, mit den blauen Augen ihres Vaters. Eva langsamer dahinter, elegant wie immer, enge Hose, hochhackige Sandalen, sie hatte den Blick auf den Stufen, schaute kurz hoch, als Kati auch sie in die Umarmung ziehen wollte.

»Lass mich erstmal die Jacke ausziehen, ist zu warm…« Eva schüttelte ihre Haare, legte den Mantel über einen Stuhl. Meerchen rannte weiter in ihr Zimmer. »Meerchen, Ellie ist nicht da!«, rief Kati ihr hinterher, aber sie war schon in Ellies Zimmer verschwunden.

»Willst du Kaffee?« »Später, erstmal Wasser.« Kati öffnete das Küchenfenster, eine Blaumeise pickte im Balkonkasten, dann saßen sie einander gegenüber. Schwiegen.

»Warum hast du nicht geantwortet?« Evas braune Augen mit den langen Wimpern, größer als ihre eigenen mandelförmigen, schauten direkt. Auge in Auge. Sie ist wütend. Und aufgeregt. Sie sieht schön aus. Wie sie das schafft, geschminkt so ungeschminkt auszusehen. Kati schwieg, schaute weg, aus dem Fenster.

»Ich hab’s versucht. Aber ich weiß, ehrlich gesagt nicht …«, Kati schaute schnell zu Eva hinüber, »… wie. Ich meine, wieso sollte ausgerechnet ich die Richtige für diese Aufgabe sein?«

Eva lachte kurz auf, erstaunt. »Die Richtige? Es gibt nur ein ältestes Kind, und das bist du.« Kati schwieg. »Aber natürlich…«, schob Eva rasch nach, »auch die Richtige. Du kannst schreiben.« Sie hob Bücher vom Bücherstapel, der neben ihr auf dem Küchentisch lag. »Stimmt doch … du liest und schreibst Tag und Nacht, sogar in der Küche.«

Kati schwieg.

»Kati, ich verstehe es nicht. Du schreibst mir Mails über alles Mögliche, aber wenn ich dich nach etwas frage, wo es um was – jedenfalls um etwas Wichtiges geht, dann krieg ich keine Antwort. Warum?«

Kati schaute ihre Schwester an. Stellte sie sich dumm? Der Versuch, eine Welt zu erklären. Es ist das, was ich mein ganzes Leben gemacht habe, nach den richtigen Worten suchen. Wenn ich sie finden würde, hatte sie immer gedacht, dann. Dann würde die Mutter, diese allzeit freundliche Frau; dann würde ihre schöne Schwester, dann würden sie – ja, was?

Aber es waren nicht die richtigen Worte, auf die es ankam.

Kati riss das Fenster ganz auf. »Eva… Was meinst du damit? Das ist doch nicht irgendeine Frage. Was erwartest du von mir?« –

Eva schnitt ihr das Wort ab. »Du willst also nicht.« Sie saß still da. »Aber Kati, ganz ehrlich…« Für einen Moment sah Kati wie in einem Blitzlicht ihre kleine Schwester, viel jünger als heute, vor sich. »Wieviel Zeit muss denn noch vergehen, damit das alles – normal wird, ich meine … damit es sich entspannt. Soll das jetzt immer so bleiben?«

Vorsicht, Eva. »Ich mach mal Kaffee«, murmelte Kati und stand auf. »Eva … das kam ziemlich plötzlich. Lass mich noch etwas nachdenken.«

»Was glaubst du, Kati, wie lang ich mich damit rumgeschleppt habe. Meinst du, ich wüsste nicht, dass das alles nicht so einfach ist? Glaub nicht, dass ich so eine Frage mal eben aus dem Ärmel schüttele.« Sie stand auf, ging zum Fenster, ignorierte den Kaffee, den Kati ihr hinstellte.

»Aber Eva, geht es nicht um –«

»Das Leben bleibt doch nicht stehen, Kati!« Das kam wie aus der Pistole geschossen.

Kati sagte nichts. Eva schaute weiter aus dem Fenster. Bereute sie es, ihrer älteren Schwester wieder so nahe gekommen zu sein? Es war noch nicht so lange her, zerbrechliche sechs Jahre, dass sie sich wieder trafen, sprachen, telefonierten, mailten. Jahre, in denen Eva die Kinder hatte größer werden sehen, sie immer wieder zu sich geholt hatte, Eva, die Schöne, die Lustige, die Großzügige; Eva, die Ellie und Meerchen liebte, geliebt wurde. Jahre, in denen wir beide Kaffee getrunken und uns zurückgetastet haben ins Schwestersein.

Und nun kam Eva mit diesem Jahrestag. Du und ich, die wir es nicht einmal fertigbringen, entspannt über unsere Eltern zu reden. Aus Meerchens Zimmer kam ein kurzer Schrei. »Mama!« Kati sprang auf.

Meerchen war nicht in ihrem Zimmer, sondern in dem ihrer Schwester. Hatte Ellies Bett zerwühlt, sich zu deren weißem Plüschwolf gelegt, der immer neben ihrem Kopfkissen lag. Dort lag sie und wies zum Fenster. »Mama, hast du das nicht gehört, den Knall an der Scheibe! Ein Vogel!«

Kati öffnete die Balkontür. Sah den Vogel benommen am Boden, taumelnd. »Mama, lebt er noch?« Sie hockten nebeneinander, bis er losflog, etwas schief am Anfang, dann aber geradewegs in die Luft und auf und davon. Meerchen seufzte auf und rannte an ihr vorbei, in ihr Zimmer.

Als Kati zurückkam, war die Küche leer. Ich fasse es nicht, dachte Kati. Sie ist einfach gegangen. Wie kann sie nur? Sie sank auf den Stuhl, schaute in den immer noch hellen Tag vor dem Fenster.

»Mama?« Meerchen stand in der Tür. »Warum machst du denn kein Licht an? Bist du müde? Und wo ist Eva? Sie hat gar nicht Tschüss gesagt!« Große blaue Augen. Vorsichtiges, sehr sanftes Näherkommen. Anlehnen.

»Na komm. Ich bring dich mal ins Bett.«

Viele Gesteinsschichten, eine im Grunde unüberschaubare Landschaft. Kosmos Erinnerung, was da lag, lastete. Aus dem man bestand. Das konnte gesichtet, besichtigt werden. Das wollte, das musste. Das, was sich der Beschreibung entzog: ein dünner Faden, giftige Farbe, mäanderte durch alle Schichten, bahnte sich einen Weg, färbte alles ein. Alles war anders gewesen, als es lange geschienen hatte. Alles war anders, als man lange gedacht hatte.

Kati saß auf dem Sofa. Sie hatte nichts mehr gemacht, keine Spülmaschine ausgeräumt, die Mails nicht erledigt, sogar die Kaffeetassen standen noch auf dem Tisch. Die immer gleichen Gedanken zogen in Endlosschleife durch den Kopf: Stand Eva womöglich doch an einem ganz anderen Ort, als sie, Kati, gemeint hatte? Sie griff nach dem Handy, warf einen Blick auf die Uhr, nach elf. Vielleicht wäre Diana ja noch wach? Hi, schläfst du schon?, tippte sie ins Handy.

Zwei Minuten später summte das Telefon. »Ich habe dich nicht geweckt, oder?«, fragte Kati.

Sie hörte Diana gähnen. »Alles ok. Und du, wieder mal später Vogel, hmm? Erzähl.« Kati erzählte von Evas Besuch, von ihrem jähen Aufbruch. »Komisch«, murmelte Diana. »Wieso ist sie denn so verletzt?« Kati schwieg. »Und weißt du, was sie noch sagte, bevor ich dann zu Meerchen rübergerannt bin? Ich solle mal endlich erwachsen werden. Irgendwann müsse sogar ich meine Kindheit hinter mir lassen.«

Diana schnalzte mit der Zunge, schwieg. »Da packt sie ja einiges zusammen.«

»Meine kleine Schwester«, sagte Kati, »ich fass es nicht.«

Sie schwiegen gemeinsam. Kati sah Diana vor sich, den nachdenklich gesenkten Kopf, das dichte rotbraune Haar ein Vorhang vor ihrer Konzentration. Sie hatte das gleich gemocht, damals, als sie sich im Studium kennengelernt hatten: Dianas Art, zuzuhören. Diana ließ sich Zeit. Ließ sich nicht hetzen.

»Irgendwie herablassend«, sagte Diana. »Was hat sie denn?«

»Ja, und was meint sie überhaupt? Immerhin ziehe ich zwei Kinder groß.« Kati bewegte die kalten Zehen in den dicken Socken, Frühling hin oder her, gleich würde sie sich eine Wärmflasche machen müssen.

Diana seufzte. »Dabei hattet ihr so eine gute Art miteinander gefunden. Sowas wie jetzt gab’s in den letzten Jahren nicht, oder?« »Nein«, sagte Kati traurig. »Das gab es nicht.«

»Vielleicht tut es ihr inzwischen auch leid? Wer so impulsiv geht, müsste sich ja dann irgendwann wieder melden, meinst du nicht?«

Nach dem Telefonat war sie hellwach. Später Vogel, dachte sie, genau. Später Vogel flattert wieder. Sie räumte das Geschirr auf und setzte sich noch einmal an den Schreibtisch, versuchte, den Weg zurück ins Buch zu finden.

Aber die Gedanken schwirrten, umkreisten die Schwester; Eva, die es leichter gehabt hatte mit dem Vater; auch mit der Mutter, der beide immer dankbar gewesen waren für ihre Leichtigkeit… Wohingegen es sie selbst schon als Kind nach unten gezogen hatte –, zu den Fragen, den Themen, die sie unter den Dingen des Alltags erahnte, deutlich, unübersehbar, so dass sie, Kati, oft nicht verstanden hatte, wieso andere sie nicht sahen. »Komm, Kätchen«, hatte die Mutter das manchmal aus ihrem Gesicht wegzustreicheln versucht, »mach nicht so ein ernstes Gesicht. Du siehst viel hübscher aus, wenn du lächelst…« Das war nicht gut gewesen, auch nicht klug. Kinder suchten sich ihre Rolle in der Familie ja nicht aus. Sie hantierten mit dem, was sie vorfanden, dem Unausgesprochenen vor allem. Den rätselhaften Trümmern, die sie unter dem scheinbar so stabil gebauten Familienhaus witterten. Sie hatte sich nicht verschließen können vor der Schwere, gegen die sie den Vater täglich ankämpfen sah. Wieviel von dieser Schwere stammte aus seinen Jahren im Krieg, über die er nicht sprach?

Ich Kind aus Friedenszeiten weiß nicht einmal, welches die richtigen Fragen wären. Die richtigen Fragen, um einen Begriff zu bekommen. Und so greife ich zu den Sätzen derer, die wie du, Dietrich, dabei gewesen sind. Zeugen. Sie, die einen Begriff (von Krieg, tödlicher Gefahr, legalem Töten, legalisierter Gewalt) hatten, die überlebten und danach nicht schwiegen, sondern schrieben. Nehme ihre Sätze wie Haltegriffe in die Hand, um mich auf dem Weg in dein unbekanntes Leben voranzutasten. Wem sonst sollte ich auf diesem Weg glauben können? Fremde Sätze wie Maßbänder, die ich mir leihe, um sie durch den unabsehbaren Raum zu legen.