Was hat Bill Gates mit Corona zu tun? - Rüdiger Maas - E-Book

Was hat Bill Gates mit Corona zu tun? E-Book

Rüdiger Maas

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Beschreibung

Ist die Corona-Krise an sich nicht schon verrückt genug? Zu all dem Chaos des turbulenten Jahres 2020 häufen sich auch Verschwörungstheorien. Wie entstehen solche Erzählungen eigentlich? Warum können Menschen sich dafür begeistern? Wann ist jemand dafür empfänglich? In mühevoller Datenrecherche erhoben Psychologe Rüdiger Maas und sein Team seit Beginn der Corona-Krise wöchentlich bundesweit Daten. Diese einzigartige Datensammlung bildet die Grundlage der Erforschung des Phänomens "Verschwörungstheorien". Sie erhalten psychologische Einblicke in die Anziehungskraft von Verschwörungstheorien und lernen zu verstehen, weshalb gerade während der Corona-Krise so viele Menschen offen sind für diese Art von Welterklärungen. Ergänzt und vervollständigt werden die Erkenntnisse der eigenen Erhebung durch solche aus der Psychologie, der Soziologie und der Philosophie. Darüber hinaus enthält das Buch Lösungsansätze und Handlungsanweisungen für den Umgang mit Verschwörungsgläubigen, die Datengrundlage der Erhebungen und eine chronologische Darstellung aller relevanten Geschehnisse während der Corona-Krise.

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Der richtige Umgang mit der falschen Theorie

Weitsicht vs. Sichtweite

Zweifel vs. Hoffnung

Hoffnung vs. Glaube

Durchblick vs. Durchdrehen

Krankheit vs. Unversehrtheit

Alt vs. Jung

Leitmedien vs. soziale Medien

Vernunft vs. Vernunftspanik

Wissenschaft vs. „Wissenschaft“

Theorie vs. Theorien

Theorie vs. Verschwörungstheorie

Marie vs. Hannah

Inhaltsverzeichnis

Anmerkung zu Beginn

Die Macht des eigenen Glaubens

Die Macht der eigenen Theorien

Corona – eine Frage der Macht

Das normale Vorgehen bei unterschiedlichen Sichtweisen

Corona – eine Frage der Psychologie

Die Psychologie hinter den Verschwörungsmythen

Der richtige Umgang mit der falschen Geschichte

Theorien über COVID-19 „from zero to hero“

Akteur*innen in der Corona-Pandemie

Literatur

Die Corona-Studien des Instituts für Generationenforschung

[…] jede Idee, sei sie auch noch so voll von Fehlern, hat einen zukunftsträchtigen Gehalt, der unter neuen Umständen die Forschung vorantreiben kann.

(Feyerabend 2016, S. 64)

Anmerkung zu Beginn

Das Begriffsfeld der „Verschwörungstheorie“ wird im vorliegenden Buch bewusst nicht verwendet, da es sich im originären Sinne bei dem Begriff „Verschwörungstheorie“ nicht um eine Theorie, sondern vielmehr um Erzählungen, Mythen, Glaube und Ansichten handelt. Theorien können nämlich nicht nur wissenschaftlich belegt, sondern auch wissenschaftlich widerlegt werden.

Bevorzugt wird deshalb im Folgenden von Verschwörungsmythen gesprochen. Menschen, die diese Geschichten verbreiten, werden als „Verschwörungserzähler*innen“ bezeichnet. Hannah ist im vorliegenden Buch so jemand. Menschen, die diesen Geschichten Wahrheit beimessen und an diese Geschichten glauben, werden „Verschwörungsgläubige“ genannt.

Nur was ist eigentlich die Wahrheit? Was ist Wissenschaft? Und wer versteht sie richtig? Versteht Marie wirklich die komplexe Wissenschaft hinter der Corona-Pandemie? Warum sollte man denn den Aussagen der gängigen Institute unhinterfragt Glauben schenken?

Sie werden bei der Lektüre des vorliegenden Buches erfahren, wieso Menschen sich alternativer Geschichten bedienen und wie man diesen in idealer Weise begegnet. Sie werden erfahren, wie „Verschwörungsmythen“ überhaupt entstehen und warum sie für viele Menschen eine so starke Anziehungskraft haben. Sie werden aber auch erfahren, dass sich beide Seiten – die Verschwörungserzählerin Hannah wie auch die „Vertreterin“ der Wissenschaft Marie – jeweils in ihrer eigenen Filterblase bewegen.

Das Institut für Generationenforschung hatte seit Anbeginn der Corona-Krise 2020 wöchentlich bundesweit repräsentative Umfragen durchgeführt, um diesen Phänomenen wissenschaftlich zu begegnen und dies mit Daten zu belegen. Diese Datengrundlage wurde für die Erstellung dieses Buches verwendet. Es handelt sich somit um ein Sachbuch mit Fachbuch-Charakter.

1. Die Macht des eigenen Glaubens

In den 1950er-Jahren, also weit vor Hannahs und Maries Dialog, lebte in Chicago eine Hausfrau namens Dorothy Martin, auch bekannt als Marian Keech, ihr Künstlername als Medium. Marian erhielt regelmäßig Nachrichten von jemandem namens Sananda; diese Sananda lebte auf dem Planeten Clarion.

Bevor sie diese Nachrichten erhielt, war Dorothy Martin ein Teil der Scientology-Church-Bewegung. Sie kannte sogar Lafayette Ronald Hubbard, den Gründer der Scientology Church, persönlich. Aber sie blieb nur so lange bei der Scientology Church, bis sie selbst als Empfängerin von Nachrichten in Erscheinung trat: Nachrichten aus einer anderen Galaxie. Wie ist denn das passiert? Warum eigentlich? Und weshalb nur sie?

Egal! Sie erhielt diese Nachrichten, dies muss als Fakt genügen, ähnlich wie wenn sich heute Corona-Promis zehn Jahre mit etwas „beschäftigt“ haben, indem sie „Fakten“ googeln. Marian war von Sananda und dem Planeten Clarion überzeugt – und eine beachtliche Menge anderer Menschen ebenfalls. Und so schaffte es Marian, eine ganze Anhängerschaft um sich zu versammeln, die ihr Glauben schenkte, ohne dass sie je einen Beweis für ihre Aussagen geliefert hätte. Diese Menschen gaben ihren Job, teilweise ihre Familie, Freunde und Wohnungen auf und folgten ihr, egal wohin. Denn für sie war Marian mehr als ein Medium, sie hätte schließlich die Retterin der Erde sein können! Denn neben den zahlreichen Nachrichten empfing sie nun auch Prophezeiungen über das Ende der Welt – alles direkt vom Planeten Clarion, lange vor 5G oder Internet.

Eine Hauptprophezeiung besagte schließlich, dass eine gewaltige Naturkatastrophe die Menschheit auslöschen würde. Nur gläubige Menschen, also jene, die an Marian und Sananda glaubten, würden es schaffen, mithilfe von Ufos gerettet zu werden – zusammengefasst also all jene, die sich direkt um Marian geschart hatten und dadurch Mitglieder ihrer Sekte waren. Marian konnte nun auch den größten Skeptiker und die größte Skeptikerin davon überzeugen, da sie ein genaues Datum angeben konnte, und das lag in naher Zukunft: Es war der 21. Dezember 1954!

Was war zu tun? Wie konnte man dieser Katastrophe entgehen? Wie die Liebsten retten? Leider hatten die Ufos nur eine begrenzte Kapazität und hätten nur die Gläubigsten unter ihnen mitnehmen können. Es entstand ein Wettkampf, denn der Tag des Jüngsten Gerichts war nicht mehr weit.

Nun war es endlich so weit: Aus Sicht der Anhänger*innen schienen die Vögel zu verstummen, der Boden unter den Füßen fühlte sich seltsam an, das Essen schmeckte nach Pappe und ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Auch das Fernsehen berichtete nur unnötige Dinge und das Radio spielte belanglose Musik. Der Tod schien zum Greifen nahe. Es fühlte sich tatsächlich an, als ob die Welt mit all dem Leben, all den Menschen, all den Geschichten und den großen Errungenschaften nun endgültig untergehen sollte. Alles vorbei, alles umsonst.

Und es geschah – richtig – nichts! Absolut gar nichts!

Der Sozialpsychologe Leon Festinger und sein Team aus Psycholog*innen „schmuggelten“ sich als kleine Gruppe in diese skurrile Sekte ein und mimten die gläubigen Alien-Fans. Sie wurden von den Sektenmitgliedern als ihresgleichen wahrgenommen. Gute Schauspieler*innen und gute Psycholog*innen eben. Sie wollten untersuchen, wie die Sektenmitglieder mit der „Aufklärung“ umgingen, also in diesem Falle damit, dass sich die Prophezeiung des Weltunterganges nicht bewahrheiten würde. Löste sich nun alles in Wohlgefallen auf? Hatte Marian gelogen und es gab keine Sananda und auch keinen Planeten namens Clarion? War die Übersetzung falsch und auf Clarion sprach man gar kein Englisch? Oder meinten sie gar nicht die Erde?

Objektiv betrachtet hatte Marian, die von ihrer Prophezeiung absolut überzeugt war, die Unwahrheit prophezeit, die Unwahrheit gesagt oder schlicht gelogen. Die Sekte hätte sich in logischer Konsequenz auflösen müssen, Hass oder zumindest Verärgerung auf Marian hätte sich breitmachen müssen. Aber was passierte zur Verwunderung aller? Mitnichten löste sich die Sekte auf. Die Mitglieder waren nun sogar noch mehr gefestigt in ihrem Glauben, viel mehr als zuvor. Die Erde ging nicht unter, ja. Aber das war ganz und gar ihr Verdienst! Wie kräftig hatten sie gebetet und gehofft, dass es nicht eintrat. Ihre Gebete wurden schließlich erhört!

Wieso den neu gewonnenen Glauben wegen Tatsachen über Bord werfen? Was würde das bedeuten? Den Job aufzugeben, nach Salt Lake City zu ziehen und jahrelang einer Pseudoidee hinterherzulaufen? Die Vorstellung war unerträglich. Nein, Marian und Sananda und natürlich alle Anhänger*innen haben dafür gesorgt, dass die Erde und ihre Menschen überleben konnten. Die Ufos mussten nicht kommen. Und statt der Gruppe um Marian Dank entgegenzubringen, machten sich Außenstehende auch noch lustig! Undankbar und ungläubig – kann es etwas Schlimmeres geben? Ihre Gefolgschaft blieb Marian also treu, bis diese 1992 verstarb, allerdings unter dem Namen Schwester Thedra. Von der Staatsanwaltschaft und zahlreichen Anzeigen verfolgt, war sie nun gezwungen, ihre Identität immer wieder zu ändern – diese Ungläubigen und ihre irdischen Gesetze!

Betrachtet man das ganze Szenario einmal mit etwas Distanz, standen die Anhänger*innen ab dem 22. Dezember 1954 vor einem Dilemma. Alle waren mit der Diskrepanz konfrontiert: Stimmt das alles oder basiert alles auf einer einzigen Lüge? In der Gruppe brach der Konflikt zwischen Rationalem und Emotionalem aus. Schnell wurde jedoch die Lösung gefunden: Nur weil sie so gläubig waren, konnte die Menschheit überleben. Wenn Marian eine Betrügerin wäre und die Mitglieder ihr auf den Leim gegangen wären, was hätte das für ein unerträgliches Gefühl bei ihnen ausgelöst? Dem reinen „Herzen“ folgen und sich die Welt und ihre Rationalität zurechtzubiegen war da erfolgversprechender – zumindest für die eigene Psychohygiene.

Dieses Spannungsfeld nannte Leon Festinger im Anschluss „kognitive Dissonanz“. Er sah den inneren Konflikt als eine Art Misston, den niemand gerne hören möchte und deshalb kurzfristig leiser dreht. Ein mächtiges Phänomen, das uns alle täglich begleitet. Eine Frau kauft Schuhe, die eigentlich viel zu teuer sind, zudem noch unbequem, aber irgendwie passen sie perfekt zu dem Kleid. Zu welchem Kleid? Das gibt es ja noch gar nicht (und wenn sie ehrlich ist, wird es dieses Kleid vielleicht nie geben), aber nun sind die Schuhe schon gekauft. Deswegen war es richtig, denn falls ein passendes Kleid gefunden wird, müssen keine neuen Schuhe extra gekauft werden. Ähnlich wird es vermutlich auch im Falle der Handtasche sein. Festinger stellte dazu Folgendes fest:

If more and more people can be persuaded that the system of belief is correct, then clearly it must after all be correct.

(Festinger et al. 1956, S. 28)

Sinngemäß gilt also nach Festinger: Wenn mehr und mehr Menschen davon überzeugt werden können, dass das Glaubenssystem korrekt ist, dann muss es auch richtig sein. Später definierte Festinger vier Ablaufschritte, in denen eine kognitive Dissonanz entsteht (Festinger 1962):

1. Damit eine kognitive Dissonanz überhaupt auftritt, muss das Verhalten freiwillig erfolgt sein. Wäre die Frau zum Kauf dieser Schuhe gezwungen worden, würde sie ihren Kauf im Nachhinein niemals rechtfertigen wollen. Sie fände die Schuhe schlichtweg zu teuer und zu unbequem! In unserem Fall steht also am Anfang der Wille der Frau, die teuren und unbequemen Schuhe zu kaufen.

2. Im zweiten Schritt der kognitiven Dissonanz wird das eigene Verhalten als widersprüchlich empfunden. Nachdem sie die Schuhe einen Tag lang getragen hat, merkt die Frau, dass sie absolut unbequem sind, zusätzlich hört sie von einer Freundin, dass diese das gleiche Paar Schuhe für einen deutlich geringeren Preis gekauft hat.

3. In der Folge tritt physiologische Erregung ein, der dritte Schritt der kognitiven Dissonanz. Die Frau ärgert sich über ihr misslungenes Kaufgeschäft. Als sie von ihrer Freundin auf ihre teuren Schuhe angesprochen wird, reagiert sie gereizt und aggressiv.

4. Damit ist der vierte Entstehungsschritt der kognitiven Dissonanz eingeläutet: Die Frau ärgert sich über das herausgeworfene Geld und somit über ihr eigenes Verhalten. Ihre Kognitionen befinden sich in einer „Dissonanz“, das heißt, sie harmonieren nicht mit dem Verhalten der Frau. Sie fühlt sich unwohl.

Menschen, die diesen Prozess der Dissonanz-Entstehung durchlaufen haben, befinden sich in einem unangenehmen Erregungszustand und wollen diesen wieder auf ein angenehmes Level herunterfahren. Um das zu schaffen, gestehen wir uns oft nicht einfach den Fehler ein und ändern in Zukunft unser Verhalten. Es ist eben nicht so leicht, sich selbst die Schuld für das eigene Verhalten zu geben. Ebenso wenig wird die Frau aus ihrem Schuhkauf Konsequenzen für ihr zukünftiges Verhalten ziehen.

Stattdessen ändern wir einfach das Bild, die Rahmung, also unsere Kognition, die Umwelt, all das, was rational wahrgenommen worden ist, und fühlen uns durch diese „Anpassung“ sogar noch wohler als zuvor. Diesen Prozess nannte Festinger die Dissonanz-Auflösung: Um sich ihren Fehler nicht eingestehen zu müssen, wird die Frau nun versuchen, ihren misslungenen Schuhkauf gedanklich in einen gelungenen umzuwandeln. Dazu ändert sie die Kognitionen, die zu dem unangenehmen Zustand geführt haben, derart, dass sie mit dem Verhalten des Schuhkaufs wieder in Übereinstimmung kommen. Sie kann beispielsweise den Kauf eines Kleides in Betracht ziehen, der wiederum den Schuhkauf rechtfertigt; sie hat also die dissonanten Kognitionen durch konsonante Kognitionen ersetzt, die ihren Schuhkauf stützen. Sie kann den Vorfall aber auch verdrängen, indem sie ihren misslungenen Kauf ihrem Mann gegenüber verschweigt und somit die dissonanten Kognitionen ignoriert.

Das Phänomen der kognitiven Dissonanz trat auch bei Marians Gefolgschaft auf. Nachdem sich Marians Prophezeiung nicht bewahrheitet hatte, mussten die Menschen auf kognitive Bewältigungsstrategien zurückgreifen:

Denn sie hatten sich freiwillig der Sekte angeschlossen. Dass die Ufos nicht am Himmel erschienen waren, empfanden sie daher als widersprüchlich und waren deswegen nun verständlicherweise aufgebracht. Kein Wunder also, dass sie versuchten, sich die Situation zu erklären – ihr ganzes Leben schien davon abzuhängen – und tat es tatsächlich auch. Man denke nur an die zahlreichen Mitglieder, die ihre Existenz im „Real Life“ für den Glauben an Marians Visionen aufgegeben hatten. Folglich wurden die dissonanten Kognitionen durch konsonante Kognitionen ersetzt: Es war richtig und wichtig, und Gott sei Dank blieb ich meinem Verhalten treu! Marian sei Dank, dass wir überlebt haben!

Alle Außenstehenden können dies natürlich nur schwer nachvollziehen, da sie davon ausgehen, dass Marian ja erst diesen Widerspruch produziert hat. Die kognitive Dissonanz entsteht nämlich, wenn wir das Gefühl haben, unfähig, unwissend oder unmoralisch gehandelt zu haben und unsere Haltung, unser Verhalten oder unser Handeln negative Folgen für uns oder für Dritte hat oder haben könnte.

Mit diesem neuen Wissen versuchen wir nun, den Dialog von Hannah und Marie nachzuvollziehen.

Marie fühlt sich in ihrer Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis, zu der sie freiwillig tendiert, wohl und wird alles dafür tun, diese nicht zu verlassen. Hannah hat sich dagegen für einen alternativen, für sie einfacheren und nachvollziehbareren Weg entschieden, den sie ebenfalls nicht so ohne weiteres verlassen wird. Beide haben ihren Weg freiwillig gewählt und fühlen ein Unbehagen bei der Vorstellung, die andere Seite könnte recht haben.

Wenn Hannah behauptet, die „Wissenschaft“ stecke mit der Politik unter einer Decke, wird Marie behaupten, dass es nicht nur die eine Wissenschaft gebe, sondern – gerade auf die Corona-Pandemie bezogen – eine Vielzahl unterschiedlicher medizinischer Wissenschaften zum Zuge kommen: Virologie, Epidemiologie, Immunologie und viele weitere mehr. All diese Wissenschaften verfahren nach einer streng definierten Methodik und beobachten die Welt mit ihrer jeweils eigenen wissenschaftlichen „Brille“. Wenn Marie behauptet, die Politik habe die Corona-Pandemie mittels der getroffenen Maßnahmen gut eingedämmt, behauptet Hannah, dass das passiert sei, weil das Virus nicht existiere und nur ein inszenierter Komplott sei. Beide befinden sich in ihrer eigenen gedanklichen Welt, die nicht mit der jeweils anderen vereinbar ist. Paul K. Feyerabend, ein Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, erklärt uns dieses Phänomen wie folgt: Jede Theorie färbt unsere Sichtweise auf die Welt und setzt uns eine „Brille“ auf. Glaube ich an Theorie A, kann ich eben nur die Dinge in meiner Umgebung sehen, die „Brille A“ erkennbar machen kann. Unsere Wahrnehmung wird so hochselektiv, weil sie theoriegeleitet ist. Obwohl die Welt eine Vielzahl von Phänomenen bietet, sehe ich doch nur das, was mir meine Theorie suggeriert. Eine Welt, die ich mir eben nur in dieser bestimmten Weise vorstellen kann – Personen, die die „Brille B“ aufhaben, erscheinen mir mit ihrer Weltsicht fremd. Die Geschütze, um diese Welt zu verteidigen, wurden bereits aufgefahren: Die eingefahrenen Logiken von Marie und Hannah sind die Schwerter. Sie verhindern einen gemeinsamen Mittelweg. Die beiden sprechen schlichtweg aneinander vorbei – mehr noch: Beide sprechen quasi mit Unterstützung der jeweils anderen über sich selbst. Zwei isoliert geführte Monologe also.

Hätten nun dennoch beide das Wissen über die kognitive Dissonanz im Gepäck, hätten sie vielleicht ganz anders miteinander diskutiert. Sie könnten dann verstehen, wieso sich das Gegenüber auf diese Weise und wieso sie sich selbst auf jene Weise rechtfertigen. Solange aber beide auf ihrer Realität beharren und nicht aufeinander ein- und zugehen, treten sie auf der Stelle.

Ein plastischeres Beispiel hierfür ist die Zahl 6, die von der gegenüberliegenden Seite als 9 wahrgenommen werden kann. Je nach Position, Kontext oder Verständnis hat einer oder eben beide recht. Ähnlich verhält es sich damit, wenn religiöse Personen mit atheistischen diskutieren. Die Atheistin fängt mit der Logik an, der Gläubige mit Glauben – und der gemeinsame grüne Zweig verschwindet in weiter Ferne. Die Religion stiftet in der Regel Hoffnung, die Verschwörungserzählung nährt sich jedoch vom Zweifel, sie kann sogar Hoffnung nehmen; sie ist oft in sich inkohärent oder nicht schlüssig und bedient sich deshalb immer weiterer Alternativerzählungen, um das Gesamtbild stimmig erscheinen zu lassen.

There is no glory in prevention.

Prof. Dr. Christian Drosten (2020)

2. Die Macht der eigenen Theorien

Haben Sie schon einen Mikrochip von Bill Gates unter der Haut?

Wieso sollte der junge Teil der Bevölkerung Corona-Einschränkungen hinnehmen, wenn doch anscheinend ohnehin nur die Älteren gefährdet sind? Diese Frage stellen sich zurzeit viele Menschen. Und die Antworten darauf scheiden die Geister.

Es gibt natürlich nicht nur Menschen, die für oder gegen die Corona-Maßnahmen sind, sondern auch diejenigen, die sich unsicher sind, sich aber eines kritischen Verstandes bedienen. Doch wem sollte man in diesen Zeiten Glauben schenken angesichts der Flut an Informationen, die täglich über die Corona-Krise auf uns einprasseln?

Wem man in der Corona-Krise Glauben schenken sollte, kann man nicht beantworten. Allerdings kann man der Frage auf den Grund gehen, warum wir Menschen in dieser Zeit überhaupt mit solchen Fragen konfrontiert werden und uns selbst damit konfrontieren, was also die Ursache unseres Zweifelns ist.

Unsicherheit ist gut. Sie bedeutet, dass Veränderung in der Luft liegt. Und Veränderung braucht den Zweifel, das Nachdenken, das Neujustieren und die damit einhergehende Unsicherheit. Und Dinge zu verändern […] dauert. Das geht nicht über Nacht.

Tupoka Ogette (2020)

Das sogenannte Präventionsparadox, das erstmals 1992 vom britischen Epidemiologen Geoffrey Rose beschrieben wurde, bietet uns eine Hilfe, um die zweifelnde Corona-Gesellschaft besser verstehen zu können (Rose 1992, zitiert in Heinrich-Böll-Stiftung 2017, S. 270). „Prävention“ bezieht sich im Allgemeinen auf vorbeugende Maßnahmen, vor allem im Gesundheitsbereich; „Paradox“ bedeutet schlichtweg Widerspruch.

Präventive Maßnahmen gelten dann als widersprüchlich, wenn sich genau dank dieser Maßnahmen das befürchtete Szenario eben nicht einstellt. Sobald die Maßnahmen ihre Wirkung zeigen, ist die ursprüngliche Gefahr nicht mehr wahrnehmbar; durch die positive Wirksamkeit ist die Ursache, weswegen die Maßnahmen ergriffen worden sind, nicht mehr spürbar. Obwohl die Prävention also erfolgreich war und größeren Schaden verhindern konnte, wird sie bei den Menschen nicht als erfolgreich wahrgenommen. Im Nachhinein entsteht sogar der Eindruck, dass alles völlig übertrieben worden sei, denn die negative Wirkung für den einzelnen Menschen blieb aus. Für die Bevölkerung bringt die Maßnahme zwar einen hohen Nutzen, dem einzelnen Menschen dagegen oft nur wenig – eben weil der Einzelne die Wirkung nicht spüren konnte.

Das ist gerade in Deutschland passiert: Da hierzulande rechtzeitig und umfassend Bildungs- und Erziehungseinrichtungen geschlossen, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen erlassen und großflächig Testungen durchgeführt wurden, konnten sich die Menschen nicht mehr ungehindert anstecken. Genau deshalb konnte die Kurve abgeflacht werden, die Über lastung des Gesundheitssystems blieb aus, die Intensivbetten mussten nicht alle genutzt werden. Genau dies war und ist für die Personen, die nicht direkt mit dem medizinischen Bereich zu tun haben oder keine COVID-19-Fälle im näheren Umfeld hatten, nicht greifbar, spürbar, wahrnehmbar. Warum also diese ganzen störenden Maßnahmen, die mich wochenlang einschränken? Wo ist nun diese befürchtete Pandemie?