Was heißt hier noch real? - Claus Beisbart - E-Book

Was heißt hier noch real? E-Book

Claus Beisbart

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Beschreibung

Unser Zugang zur Wirklichkeit wird zunehmend durch Computer geprägt. Denn mit Hilfe von Computersimulationen lässt sich virtuelle Realität (VR) erzeugen. VR hilft in der Forschung, das Wissen zu erweitern. Sie wird in der Ausbildung eingesetzt, um medizinische Eingriffe oder das Lenken eines Flugzeugs zu üben. Schließlich verschafft sie uns in Spielen Erlebnisse, die in der bekannten Realität kaum zu haben sind. Letztlich können wir aber nur dann von VR profitieren, wenn wir wirklich verstehen, was sie ist und wie sie entsteht. Und wir müssen uns ebenso darüber klarwerden, ob der Aufenthalt in ihr unser Leben wirklich besser macht. Denn von virtuellem Brot allein können wir nicht leben. Müssen wir also auch der Original Reality (OR) treu bleiben?

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Seitenzahl: 216

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Claus Beisbart

Was heißt hier noch real?

Wirklichkeiten in Zeiten von Computersimulation und virtueller Realität

Reclam

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: © 2020 cybermagician/Shutterstock.com

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962247-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011472-8

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Was ist virtuelle Realität? Und wie entsteht sie?

VR-Ausrüstungen

Virtuelle Realität

Wie virtuelle Realität entsteht

Von der Computersimulation zur virtuellen Realität

Von anderen Technologien zur virtuellen Realität

Virtuelle Realität und andere Phänomene der Computerwelt

Fazit

Leben wir in einer computergenerierten Welt?

Das Gehirn im Tank

Gründe gegen das Gehirn-im-Tank-Szenario

Das Simulationsargument

Der Fehler im Argument

Fazit

Wie real ist die virtuelle Realität?

Was heißt hier schon »real«?

Der Realismus von David Chalmers

Gründe für den Realismus

Probleme mit dem Realismus (1): Die Vielzahl der Objekte und ihre Abhängigkeit von Interpretationen

Probleme mit dem Realismus (2): Die fragile Existenz der Objekte

Fiktionen

Fiktionalismus vs. Realismus und die Folgen

Fazit

Was darf ich in der virtuellen Realität tun?

Einwände gegen eine Ethik für die virtuelle Realität

Von den Folgen her gedacht (1): Kurzfristige Konsequenzen

Von den Folgen her gedacht (2): Längerfristige Konsequenzen

Von den Einstellungen her gedacht

Fazit

Was bringt mir die virtuelle Realität?

Der instrumentelle Wert von VR-Szenarien (1): Entwicklung von Fähigkeiten

Der instrumentelle Wert von VR-Szenarien (2): Wissenserweiterung

Der intrinsische Wert von VR-Szenarien

Die Erlebnismaschine

Unterschiede zwischen der Erlebnismaschine und der heutigen virtuellen Realität

Einen Garten pflegen – lieber in der gewöhnlichen oder der virtuellen Realität?

Fazit

Virtuelle Realität – Utopie oder Weltflucht?

Die Utopie der Welterschaffung

Die Utopie der grenzenlosen Wahlfreiheit

Die gegenwärtige Situation

Bleibt der OR treu!

Literaturhinweise

Personenregister

Sachregister

[9]Kapitel 1

Einleitung

Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch in meinem Büro. Links von mir öffnen sich Fenster zur Straße, und ich sehe, wie die Sonne auf die gegenüberliegenden Häuser scheint. Von der Straße dringt der Lärm von Autos zu mir herauf. Wenn es mal etwas ruhiger ist, höre ich nur noch die Lüftung meines kleinen Computers, der unter dem Schreibtisch platziert ist. Er hilft dabei, diesen Text zu schreiben. Aber im Prinzip könnte ich ihn ausschalten. Ich würde dann weiter an meinen Schreibtisch sitzen, müsste aber per Hand weiterschreiben.

Der Computer ist also ein kleiner Teil meiner Wirklichkeit. Er ist praktisch, ohne Frage, aber es scheint nicht viel von ihm abzuhängen.

Doch ist das wirklich so?

Computer können heute ganze Welten generieren. In den Wissenschaften werden mit dem Computer Systeme simuliert, die sich Abermilliarden Kilometer in die Tiefen des Weltalls erstrecken. Der Computer kann sogar nachzeichnen, wie sich Galaxien bilden. Außerdem werden mit Computern immer mehr virtuelle Welten geschaffen, die der Unterhaltung dienen und beispielsweise als Spiele zu kaufen sind: Mit Hilfe des Computers können wir heute über ferne Länder fliegen. Wir können mit Superman durch Hochhausschluchten Bösewichten hinterherjagen. Ich muss nur eine Virtual-Reality-Brille aufsetzen, und schon befinde ich mich in einer anderen Welt.

[10]Doch wenn es heute so einfach ist, mit dem Computer Welten zu generieren: Was macht mich so sicher, dass ich mitsamt meinem Schreibtisch und der Straße nicht bloß Teil einer computergenerierten Welt bin?

2003 hat der schwedische Philosoph Nick Bostrom (geb. 1973) das sogenannte Simulationsargument formuliert. Wenn das Argument funktioniert, dann ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir in einer Computersimulation leben: Mein Körper, der Schreibtisch, an dem ich sitze, alle Gegenstände, die ich zu meiner Umgebung zähle, wären dann von einem Computer simuliert.

Unabhängig davon, ob das so ist, fragt es sich, ob es nicht besser wäre, mehr Zeit in den virtuellen Welten zu verbringen, die mir heute angeboten werden. Warum sitze ich noch in meinem Büro mit seinem Straßenlärm und nicht in einer virtuellen Berglandschaft, wo die Vögel zwitschern? Warum verlebe ich immer noch einen großen Teil meiner Freizeit in den engen Zimmern einer Stadtwohnung, anstatt einfach einmal einen Nachmittag durch Venedig zu bummeln – rein virtuell, versteht sich? Und ergeben sich mit der virtuellen Realität, kurz VR, nicht auch großartige Möglichkeiten für unsere Gesellschaft, ja die ganze Menschheit?

Die Tatsache, dass Computer Welten generieren, wirft also Fragen auf, Fragen, die mein bisheriges Selbstverständnis herausfordern und meine Lebensgestaltung in Frage stellen. Und die Fragen sind gar nicht so einfach zu beantworten. Sie hängen nämlich mit weiteren, tiefergehenden Fragen zusammen: Was bedeutet es eigentlich zu sagen, der Computer generiere Welten? Gibt es Argumente dafür, dass ich nicht bloß in einer Computersimulation lebe? Inwiefern haben wir es bei virtueller Realität mit Wirklichkeit zu tun? Und welchen Wert hat die Auseinandersetzung mit virtuellen Welten?

Diese Fragen führen uns zur Philosophie. Diese [11]interessiert sich schon seit langem dafür, wie die Realität wirklich beschaffen ist und wie wir zu ihr stehen. So argumentierte der griechische Philosoph Platon (428/427–348/347 v. Chr.), dass die sichtbare Natur nur ein Teil der Realität ist, und nicht einmal der wichtigste. Andere wie René Descartes (1596–1650) fragten, ob die Wirklichkeit, die wir wahrzunehmen glauben, bloß erträumt sein könnte. Und im 20. Jahrhundert erwog der amerikanische Philosoph Hilary Putnam (1926–2016) die Möglichkeit, dass unser Gehirn bloß in einem Tank schwimmt und durch einen Computer so stimuliert wird, dass sich unsere Erfahrungen einstellen. Dabei geht es der Philosophie nicht einfach darum, möglichst abseitige Szenarien zu entwerfen. Vielmehr will sie unser naives Wirklichkeitsverständnis herausfordern und dort verbessern, wo das nötig ist.

Außerdem fragt die Philosophie seit ihren Anfängen danach, was ein gutes Leben ausmacht und was wirklich wichtig ist. Vor über 2000 Jahren stellte Sokrates (469–399 v. Chr.) seinen Zeitgenossen die Frage, was unter guten menschlichen Eigenschaften wie Gerechtigkeit oder Mut zu verstehen ist. Als er dann in Athen angeklagt wurde, weil er die Jugend verderbe, versuchte er mit Argumenten aufzuzeigen, dass sein Leben gut war, und zwar nicht nur für ihn, sondern auch für den Staat. Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte später eine systematische Ethik, in der das Glück im Mittelpunkt steht. Dabei ging es ihm nicht nur um das Glück einer einzelnen Person, sondern auch um ein geglücktes Zusammenleben. Und bis heute wird in der Philosophie über das gute Leben und die gerechte Gesellschaft nachgedacht.

Die Philosophie ist daher eine gute Gesprächspartnerin, wenn es um die virtuelle Realität, ihren Wert und ihre Bedeutung geht. Daher möchte ich in diesem Buch philosophische Überlegungen anstellen, um die tiefergehenden Fragen zu beantworten, die durch computergenerierte Welten [12]entstehen. Dabei werde ich mich nicht lange bei der Beschreibung von Erfahrungen aufhalten, die wir mit VR-Brillen und ähnlichen Geräten machen können. Diese Erfahrungen muss jede Person letztlich selbst machen – und der technische Fortschritt kann in diesem Feld rasant sein: Was man heute schreibt, ist vermutlich übermorgen schon veraltet.

Ich möchte vielmehr herausarbeiten, was virtuelle Realität eigentlich ist und welche Bedeutung sie für unser Leben bekommen könnte. Dabei werde ich die technologischen Entwicklungen, die hinter der virtuellen Welt stehen, nur insoweit schildern, als das für meine philosophischen Zwecke notwendig ist. Auch die ökonomischen Seiten sowie die kulturhistorische Bedeutung von virtueller Realität stehen nicht im Mittelpunkt dieses Buchs.1

Meine Überlegungen beginnen mit einer Verständigung darüber, was virtuelle Realität ist und wie sie im Computer erzeugt wird (Kapitel 2). In diesem Zusammenhang werden auch einige wichtige Begriffe definiert.

In Kapitel 3 untersuche ich das Simulationsargument von Bostrom. Dabei geht es wie gesagt um die Frage, ob wir nicht schon immer in einer Computersimulation leben. Ohne allzu viel vorwegnehmen zu wollen: Meiner Meinung nach geht das Argument zu weit. Wir können zwar nicht mit einem Beweis ausschließen, dass wir bloß in einer Simulation existieren, doch wahrscheinlich ist das nicht.

Wenn wir nicht in einer Computersimulation leben, dann können wir heute wählen zwischen der althergebrachten, gewöhnlichen Realität und den vielen virtuellen Wirklichkeiten, die der Computer generiert. Doch in welcher Weise existiert virtuelle Realität überhaupt? Um diese Frage geht es in Kapitel 4. Ich veranschlage den Realitätsgehalt von Computersimulationen eher gering, argumentiere aber, dass die virtuelle Realität uns neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Daher kann man fragen, was wir in der virtuellen Welt [13]tun dürfen. Kapitel 5 entwickelt deshalb eine Ethik für die virtuelle Welt.

In Kapitel 6 geht es dann um die Frage, welchen Wert ein Aufenthalt in der virtuellen Realität hat. Dabei liegt der Fokus auf der einzelnen Person. Kapitel 7 erweitert schließlich den Horizont der Untersuchung und fragt nach der gesellschaftlichen Bedeutung der virtuellen Realität.2

[15]Kapitel 2

Was ist virtuelle Realität? Und wie entsteht sie?

Noch sitze ich an meinem Schreibtisch. Noch dringt der Straßenlärm durch die offenen Fenster. Aber ich habe gehört, dass eine neue VR-Brille auf dem Markt ist. »Feel a new real™«, lese ich auf der Webseite und werde dann aufgefordert, in »epische Welten jenseits der Realität« einzutauchen. Im Spiel Gran Turismo 7 könnte ich beispielsweise an Autorennen durch spektakuläre Landschaften teilnehmen. Zu einer anderen Anwendung heißt es: »Komm in eine lebendige, atmende Welt voller gefährlicher Maschinen, Stammesgeschichten, spannender Quests und neuer sowie wiederkehrender Charaktere. Erkunde eine abwechslungsreiche Landschaft – begib dich auf eine Reise mit mehreren Pfaden, auf denen du dich überall umsehen musst, um die Geheimnisse der Berge zu lüften.«3

 

Doch was ist hier mit dem Eintauchen in neue Welten gemeint? Wie entstehen solche virtuellen Welten? Um diese Fragen soll es im nun folgenden Kapitel gehen. Dafür ist es nützlich, von VR-Brillen und ähnlichen VR-Ausrüstungen auszugehen und kurz diejenigen Erfahrungen zu beschreiben, die durch sie vermittelt werden.

[16]VR-Ausrüstungen

Der wichtigste Bestandteil einer heute handelsüblichen VR-Ausrüstung4 ist ein Headset. Oft werden die VR-Ausrüstungen deswegen »VR-Headsets« oder »VR-Brillen« genannt. Diese Bezeichnungen sind jedoch etwas ungenau, da VR-Ausrüstungen in der Regel zusätzliche Teile haben, insbesondere sogenannte Touch-Controller. Das sind grob gesagt Griffe, die ich in die linke und rechte Hand nehme.

Wenn ich das Headset anschalte und auf den Kopf setze, dann sehe ich durch die Gläser noch grob meine Umgebung. Ich werde zunächst aufgefordert, meine Spielzone zu definieren. Das ist diejenige Zone, die mir nachher für Bewegungen zur Verfügung steht. Denn ich soll ja bei meinem Aufenthalt in virtuellen Welten nicht an einen Schreibtisch oder einen Stuhl aus der gewöhnlichen Realität stoßen. Ich muss daher mit einem Touch-Controller auf dem Boden eine Linie um mich herumziehen. Diese wird von der Software nach oben gezogen, so dass sich um mich ein Netz bildet. Später während des Aufenthalts in der VR lässt mich die Brille sofort meine echte Umgebung sehen, sobald ich den Bereich innerhalb des Netzes verlasse. So kann ich jederzeit aus der virtuellen Realität aussteigen und wieder an meinen Schreibtisch gehen.

Sobald ich innerhalb meiner Spielzone bin und meine Einstellungen bestätigt habe, bekomme ich erstmals virtuelle Realität zu sehen – die Gläser der Brille zeigen mir Bilder, die ein Computer generiert. Ich befinde mich in einer Landschaft, die nicht fotorealistisch aussieht, sondern etwas schemenhaft wie in einem Comic oder Zeichentrickfilm. Das Tolle dabei ist, dass ich mich umdrehen und so andere Teile meiner Umgebung in den Blick nehmen kann. Und innerhalb meiner Spielzone kann ich mich in der virtuellen Welt so bewegen, wie ich es in der gewöhnlichen Welt tue.

[17]Technisch basiert das darauf, dass das Headset Sensoren enthält, die die Lage und die Orientierung meines Kopfes vermessen. Die entsprechenden Daten nutzt der Computer, um die Bilder in den Brillengläsern meiner Kopfstellung anzupassen. Ich bekomme also genau das zu sehen, was ich sehen würde, wenn ich in einer dreidimensionalen Umgebung stehen würde. Wenn ich mich dementsprechend einmal um meine Achse drehe, dann sehe ich zum Schluss wieder das, was ich anfangs gesehen habe.

Insgesamt werden mir damit in einem virtuellen Szenario (VR-Szenario) eine Position und Perspektive zugewiesen, die ich innerhalb der Spielzone durch mein Verhalten verändern kann. Das ist anders als in Filmen, in denen ich das gefilmte Geschehen aus der Perspektive der Kamera beobachte, ohne einen Einfluss auf die Kameraposition zu haben.

Bevor man zum ersten Mal eine VR-Ausrüstung benutzt, empfiehlt es sich, ein Tutorial zu absolvieren, mit dessen Hilfe man vor allem lernt, die Touch-Controller zu verwenden. Dabei erscheinen Pendants meiner Hände dort im Gesichtsfeld, wo sich meine echten Hände befinden. In gewisser Hinsicht werden also meine Hände in die virtuelle Realität montiert. Indem ich meine Finger bewege, kann ich sogar nach Gegenständen in der virtuellen Welt greifen. Ach ja, Ton gibt es natürlich über das VR-Headset auch. Fast alle kommerziell erhältlichen VR-Szenarien wurden mit Musik oder Geräuschen unterlegt.

Hinter der Möglichkeit, mit den Touch-Controllern in die virtuelle Realität einzugreifen, steht im Kern dieselbe Technik, die auch im Headset verborgen ist. In die beiden Griffe sind Sensoren eingebaut, die die Positionen der Hände erfassen. Durch das Bedienen von unterschiedlichen Knöpfen entstehen zusätzliche Daten, die dem Computer zugespielt werden, so dass er meine Hände und ihre Tätigkeiten in die virtuelle Realität einbauen kann. Gute Touch-Controller [18]verwandeln dabei nicht nur die Bewegungen meiner Hände in Signale, auf deren Basis die Bilder in den Displays gesteuert werden. Vielmehr wirken sie umgekehrt auch auf meine Hände ein. So spüre ich etwa den Widerstand eines Bogens, den ich spannen möchte. Damit wird die Widerständigkeit der Welt simuliert, die ich auch sonst erfahre, wenn ich etwas tue.

Viele VR-Ausrüstungen haben weitere Finessen, die auf neuester Technik basieren, etwa VR-Handschuhe, die haptische Reize vermitteln. Dadurch kann sich ein Gegenstand in der virtuellen Realität für mich wie ein weicher Teddybär oder ein nasser Waschlappen anfühlen. Damit die Bewegung in virtuellen Räumen nicht über Tastendrücke der Touch-Controller, sondern mit den Beinen erfolgen kann, wurden spezielle Geräte entwickelt, ja sogar richtige Zimmer eingerichtet, die es erlauben, Bewegungen im echten Raum in ein VR-Szenario zu übersetzen.5 Solche Zimmer und andere fortgeschrittene VR-Technologien werden inzwischen auch in immer mehr Museen und Freizeiteinrichtungen eingesetzt.6

Das Prinzip hinter all diesen Technologien ist immer dasselbe: Die Ausrüstungen erzeugen abhängig von unserer Position und unseren Handbewegungen diejenigen Sinneseindrücke, die wir in einer anderen Umgebung, eben einer virtuellen Welt, haben würden. Sinneseindrücke aus der Umgebung, in der wir uns wirklich befinden, in der wir uns also die VR-Ausrüstung anziehen, werden hingegen unterdrückt. Damit positionieren sie uns in einer anderen dreidimensionalen Welt als jener, in der wir uns wirklich befinden. Wie die virtuelle Welt aussieht, in der wir uns befinden, hängt vom Computerprogramm oder der Computeranwendung ab, die wir auswählen. Viele virtuelle Welten sind als Spiele gestaltet.7 Jedes Spiel eröffnet uns dabei eigene Handlungsmöglichkeiten, etwa ein Auto zu lenken oder mit Pfeil [19]und Bogen auf Roboter-Tiere zu schießen. Es gibt aber auch Programme, die nicht einfach als Spiel gestaltet sind.8

Wenn ich gerade gesagt habe, wir lenkten ein Auto oder schössen mit Pfeil oder Bogen, dann klingt das so, als ob es die Autos oder Pfeil und Bogen tatsächlich gäbe. Wir beschreiben das, was wir mit Hilfe von VR-Ausrüstungen erfahren, indem wir auf eine Art und Weise von dem Gesehenen sprechen, als ob es dieses gäbe. Das ist ganz natürlich, denn unsere üblichen Wahrnehmungen beschreiben wir ja auch, indem wir die Dinge nennen, die wir sehen oder fühlen.

Allerdings ist unklar, in welchem Sinn es die Autos und die Berggegend aus den genannten Spielen wirklich gibt. Diese Frage kann nur mit Hilfe einer genaueren philosophischen Untersuchung beantwortet werden, wie sie in Kapitel 4 erfolgt. Das bisher Gesagte ist daher bloß als Beschreibung derjenigen Eindrücke zu verstehen, die wir im Umgang mit VR-Ausrüstungen empfangen. Um vorsichtig zu benennen, was sich uns beim Gebrauch von VR-Ausrüstungen darbietet, spreche ich im Folgenden von VR-Szenarien oder virtuellen Szenarien. Solche VR-Szenarien werden heute gerne auch virtuelle Welten oder virtuelle Realitäten genannt. Als Typus eines neuen Phänomens spricht man dann von der virtuellen Realität im Singular (auf Englisch: virtual reality, abgekürzt VR). Ich werde mich diesen Redeweisen anschließen, dabei aber nicht gleich annehmen, dass wir es wirklich mit Realität zu tun haben.

Virtuelle Realität

Auf der Basis unserer bisherigen Erkenntnisse zu VR-Ausrüstungen können wir nun allgemeiner eingrenzen, was unter dem Stichwort virtueller Realität behandelt werden soll. Weil ich den eigentlichen Status der virtuellen Realität [20]noch offenlassen möchte, gehe ich von den Geräten aus. Solche Geräte sollen dann als VR-Ausrüstungen gelten, wenn sie in einer Person Wahrnehmungseindrücke erzeugen, die in hohem Maße den folgenden Bedingungen genügen:

Immersion: Die Wahrnehmungseindrücke hängen so von der Position und der Bewegung der Person ab, dass diese den Eindruck gewinnt, in einem dreidimensionalen Szenario eine veränderbare Position einzunehmen.

Interaktivität: Die Ausrüstung reagiert auf das Verhalten der sie nutzenden Person und macht die Wahrnehmungseindrücke so von diesem Verhalten abhängig, dass die Person den Eindruck gewinnt, sie könne handeln.

Ausblendung: Die echte Umgebung, in welcher die Person die Ausrüstung angelegt hat, wird ausgeblendet. Aus dieser Umgebung gelangen keine Eindrücke mehr zur Person.

Differenz: Die Ausrüstung erzeugt Wahrnehmungseindrücke, die sich signifikant von denjenigen unterscheiden, die eine Person ohne die Ausrüstung haben würde.9

Diese vier Bedingungen können jeweils in unterschiedlichem Ausmaß erfüllt sein. So ist die erste Bedingung (Immersion) nur dann vollständig erfüllt, wenn die VR-Ausrüstung alle unsere Sinne anspricht und wenn die Eindrücke, die wir so bekommen, vollständig von der Position abhängen, die wir im VR-Szenario haben. Viele bekannte VR-Ausrüstungen beziehen aber den Tast-, den Geruchs- und den Temperatursinn gar nicht ein. Die Temperatur, die ich mit meinen Armen fühle, hängt daher nicht davon ab, wo ich mich in einem bestimmten VR-Szenario befinde, sondern von meiner Position in der gewöhnlichen Welt. Die erste Bedingung ist dann nur zu einem gewissen Grad erfüllt.

Auch die zweite Bedingung (Interaktivität) ist bei [21]handelsüblichen VR-Ausrüstungen nicht vollständig erfüllt. So erfassen nicht alle Geräte die Bewegungen der Beine. Daher ist es meist nicht möglich, mit einem Tritt in das wahrgenommene VR-Szenario einzugreifen.

Die dritte Bedingung (Ausblendung) wird oft ebenfalls verletzt, wenigstens teilweise. Aus der Umgebung, in der die Ausrüstung angelegt wird, können oft noch einige Eindrücke zur Person durchdringen, die die Ausrüstung nutzt. Das ist durchaus wünschenswert, denn die Person sollte etwa noch einen Feueralarm mitbekommen.

Die vierte Bedingung (Differenz) wird dagegen von den üblichen VR-Ausrüstungen in hohem Maße erfüllt. Die phantastischen Landschaften oder Gebäude, die sich unseren Sinnen darbieten, unterscheiden sich nun einmal deutlich von den Zimmern, in denen wir die Geräte anlegen.

Allerdings sind auch hinsichtlich der vierten Bedingungen Abstufungen möglich. So lassen sich im Rahmen der sogenannten Augmented RealityVR-Brillen dazu nutzen, viele Eindrücke aus der Umgebung in leicht modifizierter Form an uns weiterzugeben (wir werden unten noch kurz auf Augmented Reality eingehen).

Weil sich die Bedingungen insgesamt mehr oder weniger erfüllen lassen, gibt es ein Spektrum von Möglichkeiten. So erfüllt eine Spielekonsole mit einem Monitor und einem Joystick die Bedingungen ein Stück weit, ist aber einer VR-Ausrüstung unterlegen, die mit Headset und Touch-Controllern mehr Immersion und Interaktion erlaubt. Daher könnte man eigentlich sagen, gewisse Ausrüstungen seien in höherem oder geringerem Masse VR-Ausrüstungen oder generierten mehr oder weniger gut VR-Szenarien. Für die Zwecke dieses Buches ist es aber einfacher, einige Ausrüstungen einfach als VR-Ausrüstungen zu bezeichnen, wenn die Bedingungen insgesamt hinreichend gut erfüllt sind.

Dabei dürfen wir die Latte für VR-Ausrüstungen nicht zu [22]hoch legen. Denn wir Menschen können uns bereits in VR-Szenarien verlieren, wenn die Bedingungen nicht vollkommen erfüllt sind. Oft vergessen wir die Realität um uns herum schon dann, wenn wir bloß ein Computer- oder Videospiel spielen. Dabei erfolgt die Positionierung im VR-Szenario oft nur mit einer Maus, und die Interaktionsmöglichkeiten bleiben recht bescheiden. Trotzdem konzentrieren wir uns oft so sehr auf das Spiel, dass wir ganz in ihm aufgehen. Daher werde ich häufig auch Computer- und Videospiele als Beispiele für virtuelle Realität behandeln, insofern sie den Spielenden mit Hilfe eines Monitors den Eindruck geben, sich in einer anderen Welt zu befinden.

Wie virtuelle Realität entsteht

VR-Ausrüstungen sind dadurch definiert, dass sie Eindrücke oder Erfahrungen mit gewissen Eigenschaften wie Immersion erzeugen. Aber wie genau tun sie das? Woher kommen die Bilder und Töne, die der Person den Eindruck vermitteln, sie befinde sich in einem anderen Szenario, einer anderen Welt?

Letztlich ist dafür ein Computer verantwortlich. Das Headset und die Touch-Controller funktionieren nur dann wie gewünscht, wenn sie an eine Konsole oder einen anderen Computer angeschlossen sind. Dort wird andauernd ein Computerprogramm ausgeführt, was einigen Strom verbraucht. Wegen der entscheidenden Rolle des Computers sprechen daher einige nur dann von virtueller Realität, wenn diese durch einen Computer generiert wird.10 Entsprechend der oben gegebenen Definition ist der Computer für VR-Ausrüstungen nicht notwendig, doch beruhen de facto alle VR-Ausrüstungen, die heute von Interesse sind, auf dem Computer.

[23]Wie erzeugt der Computer das VR-Szenario, in das wir mit Hilfe der VR-Ausrüstung eintauchen? In diesem Zusammenhang ist die Technik der Computersimulation entscheidend. Computersimulationen kommen ursprünglich aus den Wissenschaften. Sie werden etwa für die Wettervorhersage oder die Prognose der Klimaerwärmung eingesetzt. Schauen wir uns daher als Beispiel an, wie Computersimulationen in die Erforschung des Wetters Einzug hielten. Auf dieser Basis lässt sich gut verstehen, wie Computer VR-Szenarien generieren.

Das Wetter von morgen interessiert die meisten Menschen. Daher gab es schon früh Versuche, das Wetter vorherzusagen. Eine ganz einfache Regel lautet, dass das Wetter morgen genauso ist wie das Wetter heute. Die heutigen Wettervorhersagen sind aber deutlich verlässlicher als diese einfache Regel. Entscheidend dafür war zunächst die Erkenntnis, dass das Wetter durch Vorgänge in der Atmosphäre hervorgebracht wird, die sich mit Hilfe von physikalischen Naturgesetzen beschreiben lassen. Diese werden durch mathematische Gleichungen, die sogenannten Navier-Stokes-Gleichungen, ausgedrückt. Der Norweger Vilhelm Bjerknes (1862–1951) bezog diese Gleichungen 1904 erstmals auf die Atmosphäre, um zu zeigen, wie das Wetter vorhergesagt werden könnte.11

Die Gleichungen, welche die Gesetzmäßigkeiten in der Atmosphäre ausdrücken, verbinden mehrere physikalische Größen wie etwa den Luftdruck und die Temperatur miteinander. Diese physikalischen Größen können unterschiedliche Werte annehmen: Die Temperatur kann beispielsweise 12 oder 24 Grad betragen. Weil die Werte der physikalischen Größen veränderbar sind, sagt man, dass diese Größen in die Gleichungen als Variablen eingehen. Die Gesetze besagen dann aber, dass die Werte der genannten physikalischen Größen nicht völlig unabhängig voneinander sind. Wenn die [24]Werte gewisser Variablen gegeben sind, dann sind auch die von anderen Variablen eindeutig bestimmt.

In die Navier-Stokes-Gleichungen gehen nun nicht nur Größen wie Luftdruck und Temperatur, sondern auch deren Änderungsraten ein. Diese beschreiben, wie sich die Größen mit der Zeit verändern. Damit kommt die zeitliche Entwicklung ins Spiel: Die Gleichungen beschreiben die Zeitentwicklung der Atmosphäre. Sind die Werte der physikalischen Größen und ihrer Änderungsraten für einen bestimmten Anfangszeitpunkt bekannt – sind also sogenannte Anfangsbedingungen gegeben –, dann wird die weitere Entwicklung der Atmosphäre durch die Gleichungen bestimmt. Man kann daher ausrechnen, wie sich die Atmosphäre weiterentwickelt. Daraus ergibt sich eine Vorhersage, wie sie für die Wettervorhersage gewünscht wird. In der Mathematik konnte man sogar zeigen, dass die Anfangsbedingungen den Zeitverlauf für sogenannte deterministische Systeme eindeutig festlegen. Das Wetter ist nun wenigstens annäherungsweise ein deterministisches System.

Insgesamt schuf Bjerknes mit seinen Erkenntnissen die Grundlagen für eine wissenschaftlich fundierte Wetterprognose. In der Praxis half Bjerknes’ Vorschlag aber erstmal nicht weiter. Die entscheidenden Gleichungen waren zwar bekannt, doch ließen sie sich nicht lösen. Das liegt daran, dass die physikalischen Größen in der Atmosphäre nicht nur von der Zeit, sondern auch vom Ort abhängen. In der Schweiz ist es meist wärmer als in Norwegen, und in höheren Schichten der Atmosphäre ist es kälter als in tieferen. Die Navier-Stokes-Gleichungen berücksichtigen dies, indem sie jedem Ort in der Atmosphäre physikalische Größen zuweisen. Dadurch haben wir es mit einer riesigen Menge an physikalischen Größen zu tun: Für jeden Ort gibt es Größen wie Temperatur und Druck. Daraus ergeben sich zwei Probleme:

[25]Man muss die Temperatur an jedem Ort kennen, um den Anfangszustand bestimmen und die Gleichungen lösen zu können.

Es ist wahnsinnig kompliziert, die Gleichungen zu lösen. Wir haben es mit extrem vielen Variablen zu tun, daher können wir die Gleichungen nicht mit ein paar bekannten mathematischen Funktionen lösen, wie das in anderen Fällen möglich ist.

Es waren also weitere Schritte notwendig, um die Wettervorhersage zu verbessern. Dabei war der Computer entscheidend.

Der nächste Schritt bestand in einer Vereinfachung, »Diskretisierung« genannt. In der Meteorologie wird die Atmosphäre dabei gedanklich in Blöcke zerlegt. Die Blöcke erhält man etwa, indem man die Erdoberfläche mit einem Netz von Dreiecken überzieht. Bei aktuellen Simulationen haben diese eine Seitenlänge von etwa 10 km. Wenn man nun ausgehend von einem Dreieck auf der Erdoberfläche in die Höhe geht, ergibt sich eine Säule. Diese wird gedanklich in ca. 90 aufeinanderliegende Blöcke unterteilt. Wenn man analog für alle Dreiecke auf der Erdoberfläche vorgeht, dann ergibt sich eine gedankliche Aufteilung der Atmosphäre, die die Erde umhüllt.

Die entscheidende Idee besteht nun darin, nur noch jedem Block konkrete Werte für die physikalischen Größen zuzuordnen. Die Temperatur variiert dann nicht mehr kontinuierlich zwischen der Schweiz und Norwegen, sondern springt von Block zu Block ein wenig hin und her.

Eine ähnliche Diskretisierung wird auch in Bezug auf die Zeit vorgenommen. Die Zeit wird also in Zeitintervalle einer bestimmten Länge zerlegt, beispielsweise den Zeitraum zwischen 12 und 15 Uhr, den zwischen 15 und 18 Uhr und so weiter. Für jedes Zeitintervall werden die Werte der physikalischen Größen nur einmal berechnet.12

[26]Mit Hilfe der Diskretisierung wird es für die Meteorologie einfacher, einen Anfangszustand festzulegen. Immer noch braucht man sehr viele Werte physikalischer Größen, doch hat man nach und nach ein passendes Netz von Messstationen aufgebaut, so dass man einigermaßen vernünftig abschätzen kann, was der Anfangszustand ist.