Was ich weiß von dir - Meg Rosoff - E-Book

Was ich weiß von dir E-Book

Meg Rosoff

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Beschreibung

Ein chaotisches Roadmovie und eine liebevolle Familiengeschichte Meg Rosoffs neues Meisterwerk erzählt von Mila, einer sensiblen und scharfsinnigen Zwölfjährigen. Sie macht sich zusammen mit ihrem Vater auf die Suche nach dessen bestem Freund Matthew, der spurlos verschwunden ist. Zusammen fahren die beiden quer durch den Osten der USA bis hoch an die kanadische Grenze. Aber es ist auch die Geschichte einer besonderen Vater-Tochter-Beziehung, und darüber, wie unterschiedlich die beiden die Welt sehen. Mila findet Matthew schließlich und kann ihn zur Rückkehr bewegen. Was dann wird, kann sie nicht beeinflussen. Aber sie hat gelernt, dass die Suche manchmal mehr enthüllt als die Entdeckung. Geschichten über das Erwachsenwerden gibt es viele, aber nur wenigen Autoren gelingt es, sie so authentisch und einfühlsam zu erzählen wie Meg Rosoff.

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Seitenzahl: 238

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Meg Rosoff

Was ich weiß von dir

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Inhalt

Widmung12345678910111213141516171819202122232425262728293031

Für Brenda

1

Die erste Mila war eine Hündin. Ein Bedlington Terrier. Es ist gut, so was zu wissen. Ich finde es nicht schlimm, nach einer Hündin benannt zu sein. Genau genommen kann ich mir die Szene sogar gut vorstellen. Mila, hat mein Vater vermutlich gesagt, ist ein schöner Name. Er wusste nicht mehr, wo er ihn gehört hatte. Meine Mutter hat sich an den Hund erinnert und gefragt, ob das wirklich sein Ernst sei, und als er keine Antwort gab, hat sie gesagt: Na gut, in Ordnung. Mila. Dann hat sie mich angesehen und gedacht: Mila, meine Mila.

Ich glaube nicht an Wiedergeburt. Es ist unwahrscheinlich, dass ich die Seele der toten Hündin meines Großvaters geerbt habe. Aber bestimmte Punkte geben mir doch zu denken. War es reiner Zufall, dass meinem Vater am Morgen meiner Geburt der Name Mila einfiel? Dass er seine gerade mal eine Minute alte Tochter ansah und als Erstes an die Hündin dachte, an Mila? Warum?

Mein Vater und ich wollen nach New York fliegen, um seinen ältesten Freund zu besuchen. Aber gestern hat sich die Lage geändert. Die Frau seines Freundes rief an, um zu sagen, dass er verschwunden sei.

Verschwunden?, fragt Gil. Wie um Himmels willen meinst du das?

Fort, sagt sie. Kein Abschiedsbrief. Nichts.

Gil ist verwirrt. Nichts?

Ihr kommt doch trotzdem?, fragt die Frau.

Als Gil kurz schweigt und darüber nachdenkt, sagt sie: Bitte.

Ja, natürlich, sagt Gil und legt langsam den Hörer auf die Gabel.

Er kommt bestimmt zurück, sagt Gil zu Marieka. Er ist nur mal fort, um eine Weile nachzudenken. Du weißt ja, wie er ist.

Aber warum jetzt? Meine Mutter steht vor einem Rätsel. Er wusste doch, dass ihr kommt. Der Zeitpunkt ist … merkwürdig.

Gil zuckt die Schultern. Morgen um die Zeit ist er zurück. Da bin ich mir ganz sicher.

Marieka seufzt leise, sie scheint nicht sehr überzeugt, aber von meinem Platz aus kann ich ihr Gesicht nicht sehen. Was ist mit Mila?, sagt sie.

Ein paar Dinge weiß ich: Es sind Osterferien, ich muss nicht in die Schule. Meine Mutter arbeitet die ganze Woche in Holland, und allein kann ich nicht zu Hause bleiben. Mein Vater lebt in seiner eigenen Welt, darum ist es besser für ihn, wenn er beim Reisen jemanden bei sich hat, der auf ihn aufpasst. Die Flugtickets wurden schon vor zwei Monaten gekauft.

Wir werden also beide fahren.

Ich bin gern mit meinem Vater zusammen, wir sind ein gutes Team. Wie meine Namenspatronin, Mila die Hündin, weiß ich immer, wo ich bin und was ich tue. Ich neige nicht zu Verträumtheit und habe etwas von der Entschlossenheit eines Terriers. Wenn etwas auffällig ist, bemerke ich es als Erste.

Außerdem kann ich gut Rätsel lösen.

Als ich mit dem Packen fast fertig bin, kommt Marieka und sagt, sie und Gil hätten beschlossen, dass ich trotzdem mitfahre. In Gedanken ordne ich schon Anhaltspunkte, denke Möglichkeiten durch, suche nach einer Theorie.

Irgendwann in ferner Vergangenheit habe ich den Freund meines Vaters kennengelernt, aber ich erinnere mich nicht mehr an ihn. In unserer Familie gilt er als Legende, weil er meinem Vater mal das Leben gerettet hat. Ohne Matthew gäbe es mich nicht. Dafür würde ich mich gern bei ihm bedanken, nur hatte ich bisher noch keine Gelegenheit dazu.

Es kommt mir so lange vor, seit wir aus London weg sind. Damals war ich noch ein Kind.

Aber eigentlich bin ich immer noch ein Kind.

2

Ich weiß nicht viel über Mila die Hündin. Sie gehörte meinem Großvater, als er klein war und in Lancashire aufwuchs. Damals hielt man Hunde wie Mila noch zum Rattenfangen und nicht als Haustiere. Ich fand ein Foto von ihr in einem alten Album meines Vaters. Es enthält fast nur Bilder von Leuten, die ich nicht kenne. Das Foto zeigt Mila in geduckter Haltung, als würde sie am liebsten losrennen. Ich wüsste gern, wer hinter der Kamera steht. Vielleicht ist es mein Großvater, ein Junge, der so stolz auf seine Rattenhündin ist, dass er ein Foto von ihr aufbewahrt. Heute fotografieren viele Leute ihre Hunde, aber damals? Der Hund schaut geradeaus. Wenn es sein Hund wäre, würde er sich dann nicht nach ihm umdrehen?

Das Bild weckt eine tiefe Sehnsucht in mir. Saudade, würde Gil sagen. Portugiesisch. Die Sehnsucht nach etwas Geliebtem und Verlorenem, etwas Verschwundenem oder Unerreichbarem.

Ich kann nicht erklären, warum mich beim Betrachten dieses Fotos so ein trauriges Gefühl überkommt. Mila die Hündin ist schon seit achtzig Jahren tot.

Mein Vater wird von allen Gil genannt. Gils Kindheitsfreund ist aus dem Haus verschwunden, in dem er mit seiner Frau und dem Baby wohnt. Niemand weiß, wo er ist und warum er ging. Matthews Frau hat Gil angerufen, falls er es sich anders überlegen wollte. Falls er etwas gehört hätte.

Hatte er nicht. Damals nicht.

Wir fahren mit dem Zug zum Flughafen und dürfen keinesfalls unsere Pässe vergessen. Marieka sagt, ich soll gut auf mich aufpassen, und küsst mich. Sie lächelt und fragt, ob ich klarkomme, worauf ich nicke, denn da bin ich mir ganz sicher. Man kann Fähigkeiten nicht immer am Alter messen.

Die Zugtüren schließen sich, wir winken zum Abschied. Ich schmiege mich an meinen Vater und atme den Geruch seiner Jacke ein. Er riecht nach Büchern, Tinte, altem, auf dem Schreibtisch vergessenem Kaffee und Wolle, außerdem nach einem Hauch Kölnischwasser, das Marieka ihm mal gekauft und das er seit Jahren nicht mehr benutzt hat. Der Geruch seiner Haut ist zu vertraut, um ihn zu beschreiben. Ich fand es immer erstaunlich, dass nicht jeder Leute an ihrem Duft erkennt. Marieka sagt, schon deshalb sei ich ein bisschen wie ein Hund.

Ich habe beobachtet, wie Hunde auf der Straße an Fremden und anderen Hunden schnuppern oder an Leuten, die von irgendwo zurückkommen. Sie möchten ein Bild zusammensetzen, das auf Anhaltspunkten beruht: Wo bist du gewesen? Gab es dort Katzen? Hast du Fleisch gegessen? So in der Art. Ein Holzfeuer. Matsch. Zitronen.

Wenn ich ein Hund wäre und in einem Tweedjackett Bücher, Kaffee und Tinte riechen würde, bin ich mir nicht sicher, ob ich denken würde: Dieser Mann übersetzt Bücher. Doch genau das tut er.

Ich habe mich immer gefragt, warum Menschen so viele Sprachen entwickelt haben. Das verkompliziert alles. Es macht alles interessant, sagt Gil.

Heute fliegen wir nach Amerika, wo wir keine andere Sprache brauchen. Gil verwuschelt mir die Haare, nimmt aber nicht wirklich wahr, dass ich neben ihm sitze. Er ist in ein Buch vertieft, das ein Kollege übersetzt hat. Gelegentlich nickt er.

Meine Mutter spielt Geige in einem Orchester. Schramm schramm schramm, sagt sie, wenn es Zeit zum Üben ist, und schließt die Tür. Morgen fährt sie nach Holland.

Ich kneife die Augen zusammen und konzentriere mich auf einen Punkt in der Ferne. Ich bin schlau, schnell und treu. Ich hätte einen guten Rattenfängerhund abgegeben.

Saudade. Ob Gil das für seinen Freund empfindet? Wenn ja, lässt er es sich nicht anmerken.

3

Marieka kommt aus Schweden. Gils Mutter war portugiesisch-französisch. Ich brauche Graphiken, um die vielen Nationalitäten in meiner Familie zu verfolgen, aber das stört mich nicht. Mischlinge sind listig und gesund, sie leiden nicht an Fehlstellung der Hüften oder frühem Wahnsinn.

Meine Eltern waren über vierzig, als sie mich bekamen, aber ich halte sie genauso wenig für alt, wie sie mich für jung halten. Wir sind einfach wir.

Dass Gils Freund ausgerechnet verschwindet, wenn wir ihn besuchen wollen, ist schwer zu verstehen. Die Polizei glaubt nicht, dass er ermordet oder entführt worden ist. Ich kann mir vorstellen, dass Gil zur Tür hinausgeht und eine Zeitlang vergisst zurückzukommen, aber seine Verbindung zu uns wäre zu stark, er käme immer wieder nach Hause. Aber vielleicht sind Matthews Verbindungen lockerer.

Obwohl Gil und Matthew enge Freunde sind, haben sie sich acht Jahre lang nicht gesehen.

Das macht den Zeitpunkt seines Verschwindens recht seltsam. Um nicht zu sagen, unhöflich.

Ich freue mich, seine Frau zu sehen und langsam zu begreifen, was passiert ist. Vielleicht hat Gil mich deshalb mitgenommen. Hab ich schon erwähnt, dass ich gut im Rätsellösen bin?

Unsere Reisepässe sind in der Innentasche meines Rucksacks, sicher und bereit, beim Check-in vorgezeigt zu werden. Gil hat sein Buch abgelegt, er hängt irgendeinem Gedanken nach.

Wohin, glaubst du, ist Matthew gegangen?, frage ich ihn.

Es dauert ein paar Sekunden, bis Gil bei mir ist. Er seufzt und legt mir eine Hand aufs Knie. Ich weiß es nicht, Liebes.

Meinst du, wir finden ihn?

Er zuckt die Schultern. Matthew war ein Wanderer, schon als Kind.

Ich warte, was er als Nächstes über seinen Freund sagt, aber er schweigt. Im Kopf redet er immer noch. Ganze Sätze blitzen in seinen Augen auf. Ich kann sie nicht lesen.

Was?, sage ich.

Wie, was? Aber er lächelt.

Was denkst du?

Nicht weiter wichtig. An meine Kindheit. Ich kannte Matthew so gut wie mich. Wenn ich an ihn denke, ist er immer noch ein Junge, obwohl er schon ziemlich alt ist.

Er ist genauso alt wie du, sage ich, leicht von oben herab.

Ja, sagt er lachend und zieht mich an sich.

Die Geschichte aus Gils Vergangenheit geht so:

Er und Matthew sind zweiundzwanzig. Sie fahren per Anhalter nach Frankreich, kaum Geld in der Tasche. Dann über Frankreich in die Schweiz, dort wollen sie den Lauteraarhorn besteigen. Matthew ist der echte Bergsteiger. Alles läuft nach Plan, bis am zweiten Tag die Temperatur steigt. Lawinenwetter. Um sie herum donnern Schnee und Eis in die Tiefe. Gegen Abend zieht Dunst auf und umhüllt den Berg wie ein Mantel. Sie buddeln sich ein und hoffen, dass sich das Wetter ändert. Gegen Mitternacht frischt der Wind auf, der Regen wird zu Schnee.

Ich habe mir die Szene schon hundertmal vorzustellen versucht. Das erste Problem: Unterkühlung. Das zweite: Höhenluft. Mitten in der Nacht erkennt Matthew die ersten Anzeichen von Übelkeit bei seinem Freund und besteht darauf, dass sie absteigen. Gil will nicht. Die Zeit vergeht. Mit hämmerndem Kopf, krank, benommen und unvernünftig, schreit Gil Matthew an und stößt ihn von sich. Als er schließlich zusammenbricht, erschöpft von der Anstrengung und der dünnen Luft, möchte er nur noch dasitzen, im Schnee schlafen – und sterben.

Im Lauf der folgenden elf Stunden schleppt Matthew unter Aufbietung all seiner Überredungskünste Gil den Berg hinunter. Immer wieder sagt er ihm, dass man sich im Schnee nicht hinlegen darf. Dass man in jedem Fall weitergehen muss.

Sie kommen sicher unten an, und Gil schwört, nie wieder einen Berg zu besteigen.

Und Matthew?

Er war verrückt danach, sagt Gil.

Er hat dir das Leben gerettet.

Gil nickt.

Wir schweigen beide, und ich denke: Und trotzdem.

Und trotzdem. Ohne Matthew hätte Gils Leben nicht gerettet werden müssen.

Der Hasardeur und sein Spielzeug.

Wenn ich an den Ausgang dieses Abenteuers denke, frage ich mich, ob wir zu einer Art kosmischen Ausgleichs bestimmt sind: Diesmal helfen wir Matthew, dem Mann, der noch nie gerettet werden musste.

Vielleicht sind wir dazu berufen, den Energiefluss im Universum ins Lot zu bringen.

Wir erreichen den Flughafen. Gil nimmt unser Gepäck, und wir steigen aus dem Zug. Auf der Rolltreppe nach oben pingt eine SMS auf seinem Handy.

Mein Vater kennt sich nicht gut mit Handys aus, deshalb reicht er es mir, und ich zeige ihm die Nachricht: Immer noch nichts, steht da, unterschrieben mit Suzanne. Matthews Frau.

Wir sehen uns an.

Los jetzt, sagt er, stapelt unser Gepäck auf einen Wagen, und wir trotten eine ewig weite Strecke zum Terminal – so jedenfalls kommt es mir vor. Beim Check-in bitte ich um einen Fensterplatz. Gil ist nicht wählerisch. Wir beantworten die Fragen über Bomben und spitze Gegenstände, wühlen in unserem Handgepäck nach Flüssigkeiten, nehmen unsere Bordkarten und schließen uns der langen Schlange in der Halle für internationale Abflüge an. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Beobachten von anderen Leuten, rate ihre Nationalitäten und Beziehungen. Amerikanische Gesichter, fällt mir auf, wirken offener. Ob sie deshalb wohl aufgeschlossener sind? Ich weiß es noch nicht.

Im Duty-free-Shop kauft Gil eine Zeitung und eine Flasche Whiskey, dann gehen wir zum Gate. Als wir ins Flugzeug steigen, denke ich immer noch an jene Nacht auf dem Berg. Was bedarf es, einen desorientierten Mann von der Größe Gils stundenlang durch eisigen Schnee und Dunkelheit abwechselnd zu schleppen und zu tragen!

Er mag andere Fehler haben, dieser Freund von Gil, aber an Entschlossenheit mangelt es ihm nicht.

4

In New York holt uns Suzanne vom Flughafen ab. Wir sind müde und zerknautscht. Sie entdeckt Gil, als er versucht, sein Handy in Gang zu kriegen, und ich stupse ihn an, um sie ihm zu zeigen. Sie ist nicht alt, wirkt aber verkniffen, als hätte jemand vergessen, sie zu gießen. Neben ihr steht ein Buggy, in dem trotz des Rummels und Lärms ein Kind schläft. Seine Arme ragen seitlich aus dem wattierten Schlafsack. Es trägt eine blau gestreifte Mütze.

Gil küsst Suzanne und sagt: Lange nicht gesehen. Dann späht er zu dem Kind hinab und sagt: Hallo.

Das ist Gabriel, sagt Suzanne.

Hallo, Gabriel, sagt Gil.

Gabriel kneift die Augen zusammen, wacht aber nicht auf.

Und Mila, sagt Suzanne. Du hast dich sehr verändert.

Damit meint sie, dass ich mich seit meinem vierten Lebensjahr verändert habe, dem Jahr unseres letzten Besuchs. Damals lernte ich Gabriels älteren Bruder Owen kennen. Er war sieben, und ich weiß nicht mehr viel von ihm, auch wenn wir uns auf einem Foto, das Gil von uns hat, an den Händen halten.

Ich streichle Gabriels Faust mit dem Finger, worauf er sie öffnet und ihn umklammert, immer noch schlafend. Sein Griff ist fest.

Tut mir leid, dass es so gekommen ist, sagt sie und schüttelt den Kopf. Nicht gerade lustig für euch. Sie wendet sich an Gil. Lass uns gehen. Wir können im Auto reden.

Das Auto ist laut, und sie sprechen leise, ich verstehe das meiste ihrer Unterhaltung nicht. Gabriel ist hinten bei mir, er schläft in seinem Autositz. Manchmal öffnet er die Augen, streckt eine Hand aus oder tritt mit den Füßen, aber er wacht nicht auf. Ich lasse ihn wieder meinen Finger halten und höre Suzanne sagen: Tja, ich hoffe, deine Entscheidung war richtig. Sie sagt es auf eine Weise, die nahelegt, dass seine Entscheidung absolut falsch war, und ich bin sicher, sie meint damit, dass er mich mitgebracht hat.

Es hat angefangen zu regnen.

Ich schlafe zum rhythmischen Rauschen der Scheibenwischer und dem leisen Gemurmel von Gil und Suzanne ein. Normalerweise würde ich versuchen mitzuhören, aber ich bin zu müde, es interessiert mich nicht. Gabriel hält immer noch meinen Finger.

Als ich aufwache, ist es dunkel. Die Straße ist schmal und ruhig, fast verlassen, es regnet nicht mehr. Ich sage nichts, schaue nur hinaus in den Wald und hoffe, vielleicht ein Reh oder einen Bären zu entdecken. Gil und Suzanne unterhalten sich nicht mehr, das Auto ist voll mit heimlichen Gedanken. Die von Suzanne sind erstaunlich klar, die von Gil gedämpft und leise. Wahrscheinlich denkt er über Matthew nach. Es ist ein Rätsel, das uns alle drei beschäftigt. Wo ist Matthew? Und warum ist er fort?

Suzannes Gedanken klingen wie eine hängengebliebene CD. Verdammt verdammt verdammt verdammt verdammt.

Was ich weiß: Matthew und Suzanne unterrichten beide an der Universität in der Stadt. Matthew ist vor fünf Tagen verschwunden, acht Monate nach dem Beginn des akademischen Jahrs, vierzehn Monate nach Gabriels Geburt. Er hat nichts mitgenommen, weder Kleidung zum Wechseln oder seinen Pass noch Geld. Am Morgen ging er zur Arbeit, verabschiedete sich wie immer und kam nie in der Uni an, um seinen Kurs zu geben.

Sein Verschwinden an sich finde ich gar nicht so seltsam. Die meisten von uns werden von einer Art Fliehkraft an einem Ort gehalten. Wenn diese Kraft aus irgendeinem Grund versagt, könnten wir in die verschiedensten Richtungen davonfliegen. Aber was hat es mit dem Nicht-mehr-Zurückkommen auf sich? Wegbleiben ist beängstigend und schmerzhaft. Und wer würde ein Baby verlassen? Das empfinde selbst ich als extrem, als einen Mangel an Liebe.

Ich denke scharf nach. Was könnte der Grund sein, Weggehen als einzigen Ausweg zu sehen?

Dazu fällt mir Folgendes ein:

Verzweiflung (weswegen?)

Angst (wovor?)

Wut (warum?)

Ich weiß wenig über Matthew und Suzanne. Nach unserer Ankunft werde ich versuchen, die näheren Umstände zu ergründen. Es gibt immer Antworten. Manchmal ist die richtige Antwort

Alles oben Genannte.

5

Als Gil mir erzählt hat, dass Matthew und Suzanne in einem Holzhaus im Bundesstaat New York leben, hatte ich mir ein altmodisches Holzhaus vorgestellt, aus dessen Steinkamin Rauchkringel aufsteigen, mit einem Schaukelstuhl auf der Veranda und frei herumlaufenden Hühnern im Garten. Ihr Haus ist völlig anders. Ich wollte mein ursprüngliches Bild solange wie möglich im Kopf behalten, aber es verschwand, sobald ich vor dem echten stand. Das echte Haus ist alles andere als normal und auch keine Holzhütte. Man muss sich einen riesigen Würfel vorstellen, dessen Flächen in jeweils vier Glasquadrate unterteilt sind. Das Dach ist ein großes, schräg aufgesetztes Holzquadrat, damit Schnee und Regen abgleiten.

Es liegt mutterseelenallein zwischen Bäumen, und Suzanne hat das Licht brennen lassen, als sie wegfuhr. Es sieht aus wie ein schönes Raumschiff, das zufällig auf einer Lichtung gelandet ist, und schimmert in der schwarzen Nacht. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie ein so schönes Haus gesehen. Als Suzanne den Motor ausschaltet, ist mein erster Gedanke, dass ich aus so einem Haus nie weglaufen würde.

Suzanne schließt die Tür auf. Am anderen Ende des Raums liegt ein großer weißer Deutscher Schäferhund. Er hebt den Kopf, als wir eintreten. Suzanne begrüßt ihn nicht. Sie marschiert schnurstracks weiter, als wäre er Luft. Er scheint daran gewöhnt zu sein und steht auf, um ihr aus dem Weg zu gehen. Ich nähere mich ihm, und als ich mich hinknie und ihn streichle, bleibt er ganz still stehen. Er hat schöne braune Augen und verströmt Einsamkeit in Wellen.

Es ist also Matthews Hund. Auf seinem Namensschild steht Honey.

Die meisten Wände im Haus sind mit Bücherschränken gesäumt, und da steht ein großer Ofen mit Glasfront, in die »Öko-Brenner« eingraviert ist. Er verbrennt auch den Rauch, sagt Suzanne.

Ich frage mich, wie er das wohl macht.

Sämtliche Bücherschränke haben eingebaute kleine Leuchten, ebenso Wände und Decken, es sieht aus, als würde das Haus zwinkern.

Das ist wirklich schön, sage ich zu Suzanne, die Gabriel aus seinem wattierten Schlafsack hebt. Inzwischen ist er wach und guckt wie eine kleine Eule. Er winkt Honey mit den Händen zu, die ihn ernst betrachtet. Suzanne zeigt zur Tür. Raus, sagt sie, und Honey trottet aus dem Zimmer.

Es wurde von einem Architekten gebaut, dem das Geld ausging, sagt Suzanne. Aber es hat ihn berühmt gemacht, und jetzt hat er sich das gleiche Haus noch mal gebaut, nur größer. Er nennt es Schachtelhaus.

Auf unserem Rundgang durchs Haus sammle ich Bilder wie eine ständig klickende Kamera. Ich kann mich nicht entsinnen, wie Matthew aussieht, und es gibt keine Bilder, die mich an ihn erinnern könnten. Kein Hochzeitsbild von ihm und Suzanne oder von ihm mit Gabriel. Oder nur von ihm.

Klick.

Andere Einzelheiten stechen mir ins Auge. Ein Paar schmutzige Schuhe. Ein Stapel Rechnungen. Ein gesprungenes Fenster. Eine geschlossene Tür. Ein Kleiderhaufen. Ein Skateboard. Ein Hund. Klickklickklick.

Mein erster Eindruck? Dies ist kein glückliches Haus.

6

Meine beste Freundin in London heißt Catlin. Sie hat Haare wie Stroh, dünne Arme und Beine, und seit wir sieben oder acht waren, sind wir nach der Schule immer zu ihr gegangen, weil es näher war, aber auch wegen eines Geheimgangs unterm Dach, den man durch eine Tür an der Hinterwand eines alten Schranks erreichte. Perfekt für ein Clubhaus.

Wir entwarfen Codebücher, verstauten unser Taschengeld in einer Schachtel unter den Dielenbrettern und schmiedeten Pläne, wo wir uns verstecken könnten, wenn der Feind in Camden einmarschieren würde. Da Catlin total auf Logistik stand, zeichneten wir oft Karten von unterirdischen Fluchttunneln in ganz London, die mit Abwasserkanälen und stillgelegten U-Bahnhöfen verbunden waren.

Alle, die wir kannten, stuften wir danach ein, welches Sicherheitsrisiko sie in einer Notlage darstellen würden. Cat und ich hatten absolute Unbedenklichkeitsbescheinigungen und waren jeweils Staatschefin und Sicherheitschefin. Gil war oberster Codeknacker mit Vier-Sterne-Unbedenklichkeitsbescheinigung. Marieka war Einsatzleiterin. Fünf Sterne.

Mit Catlins Eltern war es etwas schwieriger. Ihr Vater schrie ständig herum, arbeitete viel, und wenn er mal zu Hause auftauchte, ging man ihm am besten aus dem Weg. Er und ihre Mutter redeten kaum miteinander. Wir machten sie zu Protokolloffizieren, ein mysteriöser Titel mit nur drei Unbedenklichkeitssternen. Erst dachte ich, Catlin wäre vielleicht beleidigt, dass ihre Eltern niedrigere Ränge hatten, aber es schien sie nicht zu stören.

Eines Tages, auf dem Weg zur Schule, sagte Catlin in ihrer gewohnt beiläufigen Art: Meine Eltern mögen sich nicht. Sie schaute mich an und beobachtete meine Reaktion.

Das ist bei vielen Eltern so, sagte ich, weil ich sie nicht verletzen wollte.

Wahrscheinlich lassen sie sich scheiden, sagte sie.

Ich dachte schon, sie weint vielleicht, weil sie seltsam klang, aber als ich mich zu ihr drehte, ging sie mit einem verrückten Grinsen in die Hocke, schnellte dann wie eine Sprungfeder in die Luft und schrie beinahe glücklich: ICH HASSE SIE!

Für ein eher kleines Mädchen hat sie eine sehr laute Stimme.

Durch das Schreien schien es ihr besserzugehen, obwohl ich bezweifle, dass sie die Wahrheit sagte. Die meisten Leute hassen ihre Eltern nicht wirklich, auch wenn sie schrecklich sind. Ihre Mutter ist jedenfalls nicht schrecklich. Sie brachte uns immer Kekse und Getränke auf einem Tablett nach oben unters Dach, wo wir Pläne für die Invasion schmiedeten. Sie klopfte nie an, sondern stellte es nur leise neben die Schranktür. Dafür mochte ich sie, auch wenn sie immer leicht schlafwandlerisch wirkte. Das Haus als Ganzes kam mir seltsam gedämpft vor, als hätte jemand alle Farben mit einem Strohhalm abgesaugt. Ich fragte mich, ob Catlin auffiel, wie sehr es sich von anderen Häusern unterschied, oder ob es für sie ganz normal war.

In diesem Jahr gingen Catlin und ich zum ersten Mal nicht in die gleiche Klasse. Sie war plötzlich wild und laut – rollte ihren Schulrock am Bund ein, damit er kürzer wurde, und gab sich mit älteren Jungen ab, die alten Leuten im Bus Angst einjagten, weil sie fluchten und Zigaretten rauchten. Es war komisch, nicht mehr täglich mit ihr nach Hause zu gehen, aber irgendwann gewöhnte ich mich daran. Wenn ich an ihrem Haus vorbeiging, musste ich manchmal aufpassen, dass ich nicht aus Gewohnheit zu ihr abbog.

Wir gingen uns nicht unbedingt aus dem Weg, und sie fehlte mir auch nicht unbedingt, denn für mich war sie jemand geworden, den ich nicht mehr kannte. Aber mir fehlte jeden einzelnen Tag das Mädchen, das einst meine Freundin war. Am schlimmsten war es, wenn sich unsere Blicke zufällig trafen und sie wegschaute.

Dann, am letzten Schultag vor den Ferien, kam sie von hinten zu mir gerannt und schrie Bum!, ganz so wie früher, und wir liefen schließlich zusammen nach Hause und taten, als wäre alles normal.

O mein Gott, sagte Catlin mit großen Augen. Hast du Miss Evans als Osterhasen gesehen?

Miss Evans ist unsere Sportlehrerin. Sie hat einen richtigen Knall und lässt keine Gelegenheit aus, sich als Weihnachtsmann, Karl Marx oder Harry Potter zu verkleiden.

Très peinlich, sagte ich.

Très très peinlich!! Sie tanzte um mich herum und flatterte dabei mit den Händen wie eine alberne Ballerina.

Dann gingen wir weiter.

Bist du über Ostern da? Ihr Tonfall war beiläufig, und ihr Kopf steckte fast in der Schultasche, weil sie nach einem Lippenstift suchte.

Die Frage kam überraschend, denn was war mit ihrer neuen coolen Freundesclique? Ich muss nach New York, sagte ich. Wir besuchen einen alten Freund von meinem Dad.

Sie antwortete nicht, und ich hatte das Gefühl, als müsste ich mich für mein Wegfahren entschuldigen, was lachhaft war, da sie seit Monaten kaum mit mir geredet hatte.

Vor ihrem Haus verabschiedete sie sich nicht mal, ließ mich einfach stehen und rannte den Weg hoch, als wäre sie wütend. Ich überlegte, ob es daran lag, weil ich wegfuhr und sie nicht oder weil sie vielleicht wieder meine Freundin sein wollte, wenn mir das gerade nicht passte.

Hey, Cat!, rief ich ihr hinterher. Ich erzähl dir später, wie Amerika ist! Aber sie war schon halb durch die Tür und drehte sich nicht um.

Ich starrte auf die zufallende Tür, und gerade als ich weitergehen wollte, sah ich ihr körperloses Gesicht durchs Fenster zu mir herausschauen. Dann krochen ihre Hände die Scheibe hoch, als gehörten sie einem Fremden, sie zog eine grässliche Fratze und fing an, sich zu strangulieren, dann streckte sie die Zunge raus, verdrehte die Augen und ließ sich nach unten sinken.

Wiedersehen!, rief ich noch mal und winkte.

Eine Minute später bekam ich eine SMS von ihr. Sie lautete: Bring mir ein amerikanisches Osterei mit.

Und ich antwortete: Heb mir eins aus London auf.

Und sie wieder: OK.

Und ich: OK.

Darauf sie: Aber bitte ein großes.

Und ich: Dito.

Danach ging es uns beiden besser.

7

Ich bin benommen, und mir ist leicht übel vom Jetlag. Suzanne bringt mich in ein kleines Zimmer neben dem Büro mit einem eingebauten Bett. An einem Ende meines Betts ist eine Glaswand mit Blick auf den Wald. Sie zeigt mir, wie die Jalousie funktioniert, aber ich lasse sie offen. Ich bin so müde, dass ich mich nicht daran erinnere, wann ich eingeschlafen bin, und als ich aufwache, ist es schon Mittag am nächsten Tag. Die Bäume brechen das Licht in kleine Fragmente, der Himmel ist blau und klar. Die Aussicht könnte sich kaum deutlicher unterscheiden von unserer in London, wo man hauptsächlich andere Häuser sieht.

Gil bringt mir einen Milchkaffee ans Bett. Er lächelt, wirkt aber zerstreut. Da ich inzwischen hellwach bin, überfliege ich das Zimmer – ein kleiner Schreibtisch, ein Drehstuhl aus Metall, zwei Paar ordentlich in die Ecke gestellte Turnschuhe. Auf einem Bücherregal stehen das Guinness Buch der Rekorde von ein paar Jahren zuvor, ein Überlebenshandbuch der US-Armee, eine sehr alte Ausgabe der Schatzinsel mit einem abgegriffenen Ledereinband, ein hoher Stapel Schulhefte und Sportzeitschriften. Gleich darüber ist ein Bord mit silbernen Schwimmpokalen, und plötzlich wird mir klar, dass ich in Owens Zimmer bin. Da ist ein Bild von ihm mit Suzanne in einem Silberrahmen. Er hat den Arm um ihre Schultern gelegt und ist schon ein paar Zentimeter größer. Das Zimmer ist geputzt und staubfrei, aber auf der Kommode befinden sich noch ein Schlüsselbund, eine Geburtstagskarte und eine Schale mit Münzen, als könnte er jeden Moment hereinkommen und sie holen.

Gil bemerkt die Richtung meines Blicks. Komm zum Frühstück, wenn du fertig bist, sagt er. Hast du gut geschlafen?

Ich nicke. Und du?

Er zuckt die Schultern. Honey erscheint in der Tür, stumm wie ein Geist. Ich strecke die Hand aus, sie leckt daran.

Nichts Neues?, frage ich, und er schüttelt den Kopf.

Werden wir ihn suchen?

Das muss ich mir noch überlegen, sagt er. Vielleicht.

Am liebsten würde ich sagen: Was ist, wenn er ermordet wurde? Oder sich vor einen Zug geworfen hat? Aber ich verkneife es mir. Daran hat Gil vermutlich auch schon gedacht. Er muss sich einreden, dass es nicht so ist. Ich nehme an, er will den Schein wahren und so tun, als glaube er, dass sein Freund noch lebt, um mich nicht zu beunruhigen, aber das bezweifle ich. Zu den Fehlern meines Vaters gehört übertriebene Ehrlichkeit. Und Zerstreutheit natürlich.

Wo, glaubst du, könnte er sein? Und was ist, wenn wir ihn nicht finden? Ob er uns Bescheid gibt, wie es ihm geht?

Perguntadora. Mein Vater spricht das Wort mit einem leichten Lächeln aus. Es ist Portugiesisch und beschreibt jemanden, der zu viele Fragen stellt; er verwendet das Wort als Spitznamen für mich, seit ich mich erinnern kann. Eins nach dem andern, sagt er. Trink deinen Kaffee. Geh unter die Dusche. Zieh dich an. Komm runter zum Frühstück – er schaut auf die Uhr – zum Mittagessen. Wir reden mit Suzanne und machen einen Plan. O.k.?

O.k. Ich hole mir saubere Sachen aus dem Koffer und nehme das Handtuch, das neben meinem Bett liegt. Honey beobachtet mich ernst. Sie wirkt wie ein entlaufener Hund, nur dass nicht sie entlaufen ist, sondern ein anderer.

Ich nehme mein Handy, mache ein Bild und schicke es Catlin per SMS. Jede Menge Bäume in New York.