"Was ist los mit dir, Europa?" - Friedhelm Hengsbach - E-Book

"Was ist los mit dir, Europa?" E-Book

Friedhelm Hengsbach

4,8
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Europa muss sich neu erfinden, wenn es überleben will "Was ist los mit dir, Europa?" fragte Papst Franziskus, als er mit dem Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet wurde. Die EU ist aus den Fugen geraten. Nationale Strömungen durchkreuzen die Verständigung und den Zusammenhalt. Die politische Klasse verliert sich im Asylstreit. Was hält den freien Fall auf? Friedhelm Hengsbach, Deutschlands führender Sozialethiker, fordert ein radikales Umdenken: gute Arbeit und Lebensperspektiven für die Jugend im Süden und Osten Europas. Einen institutionellen demokratischen Umbau, der Europa eine Stimme in der globalen Welt gibt. Faire Beziehungen zu Entwicklungs- und Schwellenländern, statt imperialer Handelsabkommen. Und mehr direkte Beteiligung des Volkes. Denn Europa kann mehr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 137

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Friedhelm Hengsbach

»Was ist los mit dir, Europa?«

Für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität!

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

978-3-86489-666-8

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
1 »Wie ein Riss in einer hohen Mauer«
1.1 Epochaler Wetterwechsel
1.2 Soziale Grundrechte deformiert
1.3 Fehlkonstruierte Währungsunion
1.4 Beispiellose Finanzkrise
1.5 Asymmetrisches Krisenmanagement
1.6 Verankerung der Finanzsphäre
2 Ohne Sozialunion keine EU
2.1 Die Europäischen Verträge
(1) Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt
(2) Struktur- und Anpassungsfonds
(3) Gemeinschaftscharta sozialer Grundrechte
(4) Sozialprotokoll und gemeinsame Zuständigkeit
(5) Kooperatives Sozialmodell
(6) Verbindliche Richtlinien
2.2 Was ist Solidarität?
(1) Fehldeutungen
(2) Präzisierung
(3) Solidarität und Markt
(4) Ortswechsel
2.3 Europäische Solidarität
(1) Föderaler Finanzausgleich
(2) Wettbewerbsföderalismus
(3) Verborgene EU-Solidarität
3 »Wir schaffen das!«
3.1 Verkehrte Weichenstellung
3.2 Verweigertes Asyl
3.3 Vertikaler Riss
3.4 Heldenhaft feige
3.5 Blutige Grenzen
3.6 Europas Mauer
3.7 Auf Augenhöhe?
3.8. Geflüchtete haben Rechte
(1) Die Regierenden in der Nachfolge der Zivilgesellschaft
(2) Grenzen der Aufnahmefähigkeit
(3) Eine biblische Erinnerung
(4) Das Recht auf Rechtfertigung
4 Schwingende Architektur
4.1 Europa-Skepsis
4.2 Charme des Nationalen
4.3 Zivilgesellschaft
4.4 Regionen
4.5 »Camino Europe«
(1) Glaubenskämpfe
(2) EU gegen Nationalstaaten
(3) Unionsmethode gegen Gemeinschaftsmethode
(4) Kompetenzgerangel
(5) Machtverschiebungen
(6) Vertragsverletzungen
(7) Gesichter und Persönlichkeiten
5 In Richtung Neustart
5.1 Der Brexit-Schock
5.2 Der Geist von Bratislava
5.3 Ungleiche Geschwindigkeiten?
5.4 Erkennbare Institutionen
5.5 Eine europäische Konstitution
5.6 »Deutschland, Deutschland …«
(1) Herfried Münkler
(2) Hans Kundnani
(3) Jürgen Habermas
(4) Heinrich August Winkler
(5) Resümee
Nachwort
Literatur

Vorwort

»Was ist los mit dir, Europa?« Diese Frage richtete Papst Franziskus an die Repräsentanten des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rates, als er im Vatikan den Aachener Karlspreis des Jahres 2016 entgegennahm. Wieso hatte sich das zuständige Kuratorium für den Papst entschieden? Früher riefen die Päpste weltliche Mächte um Hilfe – etwa den fränkischen König, die deutschen Kaiser oder die Franzosen. Wieso wechseln diejenigen, die helfen und die um Hilfe bitten, ihren Platz?

Franziskus kommt vom Ende der Welt, er redet vor den versammelten europäischen Eliten aus der Perspektive der südlichen Erdhalbkugel. Er ist den Geflüchteten in Lampedusa und auf Lesbos nachgegangen. Ihn treibt die Sorge um ein Europa, das sich den Ereignissen in der Welt ausliefert, ohne sie kreativ zu steuern und zu gestalten. Es verschanze sich hinter Mauern und ziehe die Zugbrücken hoch, es zerfasere nach innen in eine Vielzahl eigenwilliger Nationen. Jenes Europa der Menschenrechte und Demokratie wirke hilflos angesichts der Ausbrüche militärischer Gewalt, der Naturzerstörung und der bedrückenden Zahl abgehängter Jugendlicher in Südeuropa. Was ist los mit dir, Europa?

Die drei Präsidenten des Parlaments, der Kommission und des Europäischen Rates haben eine sehr persönliche Antwort gegeben. Donald Tusk hat einen flammenden Brief an seine Kollegen geschrieben und sie an Einigkeit angesichts der riesigen weltweiten, transatlantischen und inneren Verwerfungen gemahnt. Er hat an die Würde und den Stolz der Europäerinnen und Europäer appelliert, die durch die großen Leistungen der Union gerechtfertigt seien. Jean-Claude Juncker treibt die Sorge um, dass die Mitgliedsländer den Austrittswünschen des Vereinigten Königreichs nicht geschlossen genug begegnen. Und Martin Schulz bricht den angeblichen Kern Europas auf und macht die sozialen Risse zum Thema seines neuen Mandats. Ihn begleitet Jean-Claude Juncker begleitet mit der spitzen Bemerkung, dass er sich nicht traue, von Europa als einer Sozialunion zu sprechen, weil dann die Deutschen einen Schüttelfrost bekämen.

Nicht nur die europäischen Eliten reagieren auf den Papst. Was ist los mit dem Unbehagen und dem Ärger, den so viele Menschen in Europa empfinden – über die Regelungswut der Behörden, die in die private Alltagswelt hineinregieren, über den Schlamassel der Strukturen und Verfahren, die kaum einer mehr durchschaut? Wie konnte der tiefe Graben entstehen zwischen den Regierenden und den Bürgerinnen und Bürgern, dem ersten Souverän der Europäischen Union? Denk ich an Europa, empfinde ich wie jenes zwölfjährige Mädchen, das im Sommer 2016 in der Tiroler Volkszeitung ein Bild malte und dazu schrieb: »Letzte Nacht, kurz vor dem Schlafengehen, nahm ich den Globus in den Schoß, strich sanft mit den Fingern über die Welt und fragte, wo es weh tut … ›Überall‹, flüsterte sie.«

Das Weißbuch der Kommission zur Zukunft Europas hat mich überrascht. Schade, dass Jean-Claude Juncker bloß eine bunte Mischung aus der EU 27 gesammelt und zu fünf Szenarien gebündelt hat. Das erste Szenario lässt alles wie bisher weiterlaufen. Das zweite lenkt den Blick konzentriert auf den Binnenmarkt, ohne ihn sozial weiter einzubinden. Im dritten Szenario kooperiert eine »Koalition der Willigen« intensiver in den Bereichen etwa der Verteidigung, der inneren Sicherheit, der Finanz-, Arbeits- und Sozialpolitik, während die Differenz zu den übrigen Staaten größer wird. Im vierten Szenario bleiben weniger relevante Bereiche den Mitgliedsländern überlassen. Das fünfte Szenario umschreibt eine politische Vertiefung der EU in allen Bereichen, wohl ohne Aussicht auf Zustimmung. Die Umrisse der anderen Szenarien bleiben vage, lösen den bestehenden Wirrwarr der Institutionen, Verfahren und Kompetenzen in der EU nicht auf und sprengen langfristig den sozialen Zusammenhalt der EU.

In der angeregten Debatte, die Mitte Februar im Europäischen Parlament darüber geführt wurde, wie die nähere Zukunft der Europäischen Union aussehen könnte, sehe ich die fünf Kapitel meiner sozialethischen Reflexion gespiegelt: Im ersten Kapitel schildere ich die sozialen Risse innerhalb und zwischen den Mitgliedsländern, die der Binnenmarkt und die Währungsunion verschärft haben. Im zweiten Kapitel bezweifle ich die Aussage der deutschen Kanzlerin: »Europa ist keine Sozialunion«, weil ihr die EU-Verträge widersprechen, die den solidarischen Zusammenhalt der Länder und Regionen einfordern. Das dritte Kapitel geht den Ursachen nach, wieso die Botschaft der drei Worte »Wir schaffen das« in Europa und in Deutschland gescheitert ist. Stattdessen lautet die Parole: »Wir schaffen die Abschiebung der Geflüchteten in Abfanglager außerhalb der EU.« Das vierte Kapitel ist gegen die auswuchernden EU-Gipfelspektakel geschrieben und betont den vielfältigen Charme nationaler und regionaler Identität. Im fünften Kapitel wird eine Konstitution der Europäischen Union skizziert – anstelle eines Europas ungleicher Geschwindigkeiten unter »besonderer Verantwortung Deutschlands«, das dazu neigt, die politische Dimension der Union auf Wirtschaft, Geld und Waffen zu verkürzen. Ein solches Europa nach deutschem Geschmack wäre kein solidarisches Europa.

1 »Wie ein Riss in einer hohen Mauer«

Das Motiv der gerissenen Mauer ist dem biblischen Buch Jesaja (Jes. 30,15) entnommen. Der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands hatte mit diesem Vergleich bereits 2009 die Folgen und Ursachen der beispiellosen Finanz- und Wirtschaftskrise auszumalen versucht. Er beschrieb die sozialen Risse, die innerhalb der Staaten der Europäischen Union und zwischen ihnen aufgebrochen waren. Wie konnte es dazu kommen, dass die Grundsätze der europäischen Verträge, die Solidarität unter den Mitgliedsländern zu stärken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, in ihr Gegenteil verkehrt wurden? Meine Antwort lautet: Das marktradikale Erbgut, das in den vergangenen 30 bis 40 Jahren weltweit die wirtschaftliche und politische Arena beherrscht hat, ist in die Konstruktion des Europäischen Binnenmarkts und der Währungsunion eingeflossen und hat dort große Schäden verursacht.

1.1 Epochaler Wetterwechsel

Zu Beginn der 1980er Jahre kündigte sich weltweit ein sozioökonomischer Wetterwechsel an. Botschafter jenes Umbruchs waren Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, und sie propagierten drei zentrale Ideen:

Erstens habe in modernen Gesellschaften der Markt alle gesellschaftlichen Verhältnisse durchdrungen und das Wesen menschlicher Beziehungen grundlegend verändert. Auf dem freien Markt begegneten sich Menschen als eigenständige Wirtschaftssubjekte, die Güter anbieten oder nachfragen und ausschließlich darauf bedacht seien, den eigenen Nutzen zu steigern. Auf Tauschhandlungen ließen sie sich nur dann ein, wenn sie dadurch einen Gewinn erzielten. Durch den marktwirtschaftlichen Wettbewerb und die privaten Eigentumsrechte werde die Preisbildung garantiert und Angebot und Nachfrage effizient aufeinander abgestimmt. In der Folge erzeuge die Selbststeuerung des Marktes einen höheren gesellschaftlichen Wohlstand als jede noch so akribische zentrale Planung.

Zweitens habe sich mit dem weltweit wachsenden Wohlstand das Gewicht der Geld- und Gütermärkte verändert. 1971 kündigten die USA ihre Selbstverpflichtung auf, Forderungen in US-Dollar zu einem festen Wechselkurs gegen Gold einzutauschen, und der US-Dollar wurde drastisch abgewertet. Daraufhin erhöhten die Öl exportierenden Länder zweimal den Rohölpreis, was in der ganzen Welt dramatische monetäre und realwirtschaftliche Schocks auslöste. Gewaltige Finanzströme flossen aus den Industrieländern in die Öl exportierenden Länder und wieder zurück. Die Finanzmärkte und die Zahl der Finanzunternehmen expandierten in einem nie gekannten Ausmaß. Das Volumen und die Geschwindigkeit der Finanzgeschäfte koppelten sich mehr und mehr von der Realwirtschaft ab. Die Finanzwirtschaft gab seitdem den Ton an, und die Realwirtschaft hatte nach der befohlenen Melodie zu tanzen.

Drittens führe die ausufernde Bereitstellung öffentlicher Güter wie Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrsleistungen dazu, dass knappe und kostbare Ressourcen in einem unvorstellbaren Ausmaß verschwendet werden. Denn meistens stehen solche Güter unter dem Vorwand gleicher Gerechtigkeit allen Mitgliedern moderner Gesellschaften ohne eine Gegenleistung zur Verfügung. Zudem werden sie im Unterschied zu privaten Angeboten, die dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb unterliegen, meist weniger effizient hergestellt, bürokratisch gelenkt und überteuert bereitgestellt. Deshalb sollten der Wettbewerb des freien Marktes und individuelle Verfügungsrechte Vorrang haben vor öffentlicher Bewirtschaftung und Zuteilung.

Der marktradikale, kapitalorientierte und privatlastige Wetterwechsel hat sich über den Nordatlantik hinweg nach Großbritannien und von dort in Richtung des europäischen Kontinents ausgebreitet. Jene drei Parolen einer »neuen Wirtschaftspolitik« ließen das Baugerüst solidarischer und umlagefinanzierter Sicherungssysteme instabil werden, das während der unmittelbaren Nachkriegszeit in Europa errichtet worden war. Sie haben massiv auf die Struktur des Binnenmarkts und der Währungsunion eingewirkt und dem sozialen Zusammenhalt der Europäischen Union Risse zugefügt.

1.2 Soziale Grundrechte deformiert

Inmitten der eingetretenen sozioökonomischen Großwetterlage – die Mittelmeerländer Griechenland, Spanien und Portugal waren gerade den Europäischen Gemeinschaften beigetreten – veröffentlichte die Europäische Kommission 1985 das Weißbuch zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes. Darin waren 300 Vorschläge aufgelistet, wie das Ziel, den europäischen Binnenmarkt bis Ende 1992 zu vollenden, erreicht werden könnte. Die Liberalisierung des grenzüberschreitenden Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital wurde als die »vier großen Freiheiten« proklamiert und sollte gigantische Vorteile bringen: Ersparnisse von 430 Milliarden DM, zusätzliches Wachstum, Preissenkungen, Entlastung öffentlicher Haushalte, eine positive Handelsbilanz und fast zwei Millionen neu geschaffene Arbeitsplätze. Zwar blieben die tatsächlichen Auswirkungen hinter solchen Verheißungen zurück, aber in Spanien und Portugal gab es einen beachtlichen Wirtschaftsaufschwung.

Zunächst bezogen sich die »großen Freiheiten« des Binnenmarkts in erster Linie auf Industriewaren. Doch der erweiterte Markt erzeugte eine Dynamik, den grenzüberschreitenden Wettbewerb auch auf Dienstleistungen und Arbeitskräfte auszudehnen. Der Europäische Rat hatte im Jahr 2000 das extrem ehrgeizige Ziel vorgegeben, »die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen«. Der niederländische Politiker Frits Bolkestein sah darin den Auftrag, eine Dienstleistungsrichtlinie zu entwerfen, die alle »Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden«, umfassen sollte. Die Kommission vertrat den grundsätzlichen Vorrang dieser Richtlinie gegenüber allen anderen Richtlinien und Verordnungen. Auch sollte die Herkunftslandregel für sie gelten. Nach europaweiten Demonstrationen brachte das EU-Parlament über 200 Änderungsanträge ein, die zahlreiche Ausnahmen vorsahen, und das Wechselspiel zwischen Parlament, Kommission und Rat brachte weitere Änderungen und Kompromissformeln hervor.

Das wachsende Gewicht des Binnenmarkts, ohne dass dieser sozialrechtlich eingebettet wurde, hat die Balance zwischen den wirtschaftlichen Grundfreiheiten und den sozialen Grundrechten abhängig Beschäftigter verschoben. Zusätzlich verstärkt wurde diese Tendenz noch durch einige Grundsatzentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs: Im »Cassis de Dijon«-Urteil bekräftigte er, dass Waren, die zum Beispiel in Italien legal produziert und vermarktet werden, auch in Deutschland verkauft werden dürfen. Ein weiteres Grundsatzurteil untersagte es schwedischen Gewerkschaftern, die Schule einer Kommune in Schweden zu blockieren, in der eine lettische Firma Renovierungsarbeiten durchführte, ihre Arbeiter jedoch nicht nach dem schwedischen Flächentarif entlohnte. Die Richter erklärten, die Blockade sei mit der europäischen Dienstleistungsfreiheit unvereinbar. Im Einklang mit einer Stellungnahme der Kommission urteilt der Gerichtshof demnächst darüber, ob die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer, die in Deutschland gilt, den freien Wettbewerb des Binnenmarkts verzerrt. Es ist nicht auszuschließen, dass den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarkts ein Vorrang eingeräumt wird gegenüber den sozialen Grundrechten der abhängig Beschäftigten.

1.3 Fehlkonstruierte Währungsunion

Im Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft trat, wurde vereinbart, bis spätestens 1999 die gemeinsame Währungsunion zu verwirklichen, die zunächst von elf Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eingeführt wurde. Das Währungssystem hat zwei Konstruktionsfehler, die auf deutschen Druck hin zustande kamen. Es verfügt nämlich nur über zwei monetäre, isoliert verankerte Schlüsselgrößen:

Die Europäische Zentralbank ist verpflichtet, die Stabilität des Güterpreisniveaus zu gewährleisten. Dazu bedient sie sich eines einzigen Instruments, des gleichen Nominalzinsniveaus im gesamten Währungsraum. Wenn die Mitgliedsländer eine voneinander abweichende Inflations-, Beschäf­tigungs-, Wachstums- und Fiskalpolitik verfolgen, sind regionale Ungleichgewichte, nämlich Überschüsse beziehungsweise Defizite der Zahlungsbilanzen der Mitgliedsländer unvermeidlich. Die deutsche Wirtschaft beispielsweise erzielt seit Jahrzehnten strukturelle Exportüberschüsse, die entsprechende Defizite anderer europäischer Länder, die Hauptimporteure deutscher Güter sind, nach sich ziehen.

Die zweite Schlüsselgröße ist die Vorgabe, die öffentlichen Haushalte auszugleichen, indem die Höhe der jährlichen Neuverschuldung auf drei Prozent und das Volumen der Gesamtschulden auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gedeckelt bleibt. Die regionalen Ungleichgewichte innerhalb des Währungsraums wurden politisch jedoch asymmetrisch bewertet. Während jene Länder, die Defizite der Leistungs- und Zahlungsbilanz aufweisen, öffentlich als »Defizitsünder« gebrandmarkt wurden, gelang es den Regierenden der angeblich erfolgreichen Länder, dass ihre nicht weniger problematischen Bilanzüberschüsse nicht beanstandet wurden.

1.4 Beispiellose Finanzkrise

Nachdem das internationale Finanzregime der Nachkriegszeit mit festen, jedoch anpassungsfähigen Wechselkursen aufgegeben worden war, bewegten sich die Devisenkurse relativ frei. Die USA entschieden sich zunächst für eine lockere Geldpolitik, änderten diesen Kurs 1981 dann aber drastisch. Weil daraufhin die Zinsen stiegen, gerieten zahlreiche Entwicklungsländer unter Druck – 40 von ihnen erklärten sich 1983 für zahlungsunfähig. Europäische Länder experimentierten mit einer »Währungsschlange«, die jedoch mehrmals spekulativen Attacken ausgesetzt war. Auf die globale Rezession nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus reagierten die USA mit einer extrem expansiven Geldpolitik. Zugleich versprachen junge IT-Unternehmer, mit Hilfe einer technikbasierten »New Economy« ein inflationsfreies, stetiges Wachstum zu erzeugen. In der Folge kam es zu der so genannten Technologieblase, die im Jahr 2000 platzte. Zehn Jahre später explodierten die Vermögenspreise und die Börsenkurse von Neuem. Die öffentlichen Aufseher und Kontrolleure waren davon überzeugt, dass sie bloß das Güterpreisniveau aufmerksam beobachten müssten. Die Informationseffizienz der Aktienkurse und die Selbstheilungskräfte der monetären Sphäre seien immun gegen extreme Störungen, meinten sie. Und so bildete sich die verhängnisvolle Kette von US-Immobilienkrise, globaler Finanzkrise und öffentlicher Schuldenkrise. Manche fühlten sich an die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erinnert. Der Krise war ein Umbau des europäischen Finanzregimes, das stark von Kreditbeziehungen zwischen Banken und Großunternehmen bestimmt war, in ein angloamerikanisches, kapitalmarktorientiertes System vorausgegangen. Finanzakteure propagierten die Kapitalmärkte als fünfte Gewalt in der Demokratie. Um für das mobile Kapital attraktiv zu sein, müssten die Staaten ihre Steuer- und Sozialsysteme den Erwartungen der Finanzmärkte anpassen. Daraufhin wurden beispielsweise in Deutschland unter Gerhard Schröder die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze beschlossen. Der Sozialstaat mutierte in einen »aktivierenden Wettbewerbsstaat«: Von den Bedürftigen wurde erwartet, dass sie erst eine Vorleistung erbringen, bevor ihnen geholfen wird. Arbeitsverhältnisse wurden systematisch entregelt. Den Kernbelegschaften stehen nun Randgruppen, unfreiwillige Teilzeitarbeiter, Leiharbeitnehmer, prekär oder befristet Beschäftigte gegenüber. Die solidarischen Sicherungssysteme wurden deformiert, Höherverdienende dagegen als angebliche Leistungsträger steuerlich entlastet. Die Schere der Verteilung von Einkommen und Vermögen hat sich stark geöffnet. Unterbrochene Phasen der Erwerbsarbeit stabilisieren nun eine Armutsquote und machen Altersarmut unausweichlich. Die Gesellschaft ist durch politische Fehlentscheidungen polarisiert worden.

Als der Kern der Finanzkrise sich als Bankenkrise und insbesondere als Krise des Investmentbanking herausstellte, haben die Zentralbanken einen Strom an Liquidität fast zum Nulltarif in das Bankensystem fluten lassen. Zugleich konnten die Finanzakteure die Staaten dazu nötigen, ihre monetären Forderungen sowie die der Anteilseigner abzusichern, deren Verbindlichkeiten dagegen zu übernehmen und so die gesamte Bevölkerung in die Schuldenhaftung einzubeziehen. Mit Bürgschaften, Kapitalbeteiligungen und der Übernahme vergifteter Wertpapiere in öffentliche Banken haben die Staaten private Banken schnell, hastig und »alternativlos« gerettet. Die allgemeine Folge war eine explosive Verschuldung der Staaten. Den Banken gelang es in der Folgezeit, das eigene Versagen in eine Krise der Staatsverschuldung und insbesondere in eine Verschuldungskrise peripherer Staaten des europäischen Währungsraums umzudeuten. Diese waren zunehmend spekulativen Attacken institutioneller Finanzinvestoren ausgeliefert. In den Maastricht-Vertrag war 2002 eine so genannte »No-Bailout-Klausel« eingefügt worden, die besagt, dass in der Europäischen Union keine Gemeinschaftshaftung leistungsfähiger Staaten für die Schulden leistungsschwächerer Staaten zulässig ist. Kein Mitgliedsland sollte für die Verbindlichkeiten eines anderen haften müssen. Für die EU-Staaten sollte gelten, was für private Gläubiger und Schuldner auf den Finanzmärkten gilt.