Was ist wirklich wichtig im Leben? - Hans-Otto Thomashoff - E-Book

Was ist wirklich wichtig im Leben? E-Book

Hans-Otto Thomashoff

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Beschreibung

Nicht verzagen, Eltern fragen

Kinder stellen nicht nur typische Warum-Fragen nach Dingen des Alltaglebens, sondern auch übergeordnete, existenzielle Fragen, zum Beispiel: Warum streiten Menschen? Was ist Liebe? Was passiert, wenn wir tot sind?

Basierend auf dem Wissen der Neurowissenschaft beantwortet der renommierte Psychiater Hans-Otto Thomashoff diese Fragen exemplarisch. Jeder Frage folgt eine mögliche erklärende Antwort. Eingebettet in unser kulturelles Umfeld kristallisieren sich dabei Werte heraus, die zu vermitteln und zu leben es sich lohnt.

Ein spannend zu lesendes Elternbuch, das hilft, Kinderfragen zu beantworten – und viel über sich, das Elternsein und das Leben selbst zu erfahren.

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Seitenzahl: 218

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Der Autor

Hans-Otto Thomashoff ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse in eigener Praxis in Wien sowie promovierter Kunsthistoriker und Naturfotograf. Er ist Ehrenmitglied des Weltpsychiatrieverbandes, Aufsichtsratsmitglied in der Sigmund-Freud-Privatstiftung und Mitglied des internationalen P.E.N-Clubs. Außerdem ist er Autor zahlreicher Sachbücher und Fachpublikationen.

Das Buch

Kinder stellen nicht nur typische Warum-Fragen nach Dingen des Alltaglebens, sondern auch übergeordnete, manchmal existenzielle Fragen, zum Beispiel: Warum streiten Menschen? Was ist Liebe? Was passiert, wenn man tot ist?

Basierend auf dem Wissen der Neurowissenschaft beantwortet der renommierte Psychiater und Autor Hans-Otto Thomashoff diese Fragen exemplarisch. Jeder Frage folgt eine mögliche erklärende Antwort. Eingebettet in unser kulturelles Umfeld kristallisieren sich dabei Werte heraus, die zu vermitteln und zu leben sich lohnt.

Ein spannend zu lesendes Elternbuch, das hilft, Kinderfragen zu beantworten – und viel über sich, das Elternsein und das Leben selbst zu erfahren.

Hans-Otto Thomashoff

Was ist wirklich wichtig im Leben?

So vermitteln Eltern ihren Kindern Werte

Kösel

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Copyright © 2021 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: zoiao/Shutterstock.com

Redaktion: Cordula Hubert, Olching

ISBN978-3-641-26004-0V001

www.koesel.de

Gewidmet allen Eltern, die die Fragen ihrer Kinder ernst nehmen

Inhalt

Einleitung

Warum muss ich immer machen, was du willst?

Hast du eigentlich immer recht?

Warum muss ich vor euch schlafen gehen?

Warum muss ich in die Schule gehen?

Warum kann ich nicht den ganzen Tag am Computer sitzen?

Warum streiten Menschen?

Was ist Liebe?

Was muss ich alles haben, um glücklich zu sein?

Was passiert, wenn wir tot sind?

Grundlagen für eine wertebezogene Erziehung

Literaturhinweise

Der Autor

Einleitung

Wer Kinder hat, der kennt das: Fragen über Fragen. Und nicht immer kennen wir als Eltern die Antworten. Doch das macht nichts. Denn gerade wenn wir uns spontan einmal nicht auskennen, sollten wir uns anstecken lassen von der Neugier unserer Kinder und selbst nach den passenden Antworten suchen. Das ist nicht immer einfach. Meist greifen wir dann auf das zurück, was wir selbst einmal gelernt haben, oder auf das, was andere uns sagen: im Familien- und Freundeskreis, in Ratgebern oder heutzutage auch im weiten Wissensfundus des Internets. Wer von uns hat nicht schon in den zahllosen Seiten und Foren gestöbert, in denen uns erklärt wird, was wir unseren Kindern alles erklären sollen und wie?

Vieles von dem, was wir dort finden können, ist gut gemeint und nachvollziehbar beschrieben. Und doch bewährt es sich oft nicht in der Praxis. Der Grund dafür ist einfach: Immer noch werden in vielen Bereichen unseres Alltags die Grundlagen ignoriert, nach denen unser menschliches Gehirn arbeitet, die Regeln, die die Hirnforschung immer deutlicher zutage fördert: die Grundregeln, nach denen unser Gehirn unser Erleben aufbaut und damit bestimmt, wie wir leben, ja, wer wir sind, ob wir uns im Alltag wohlfühlen und ob wir schließlich eines fernen Tages unser Leben als gelungen ansehen werden. Genau das wünschen wir Eltern ja unseren Kindern, dass sie zufrieden, erfüllt und glücklich leben.

Ich stehe in meiner Praxis als Psychiater und Psychotherapeut tagtäglich in Kontakt mit jungen Eltern. Viele von ihnen sind engagiert und bemüht und wollen von mir wissen, wie sie am besten ihrer Rolle zum Wohl ihrer Kinder gerecht werden. Der Rat, den ich ihnen auf der Basis der Hirnforschung geben kann, ist oft erfrischend klar. Mir ist es ein Anliegen, dieses Wissen zu verbreiten, Eltern die Grundlagen für eine gesunde Psyche zu vermitteln und dadurch vielen von ihnen das Leben einfacher zu machen. Für ihre Kinder und für sich selbst, denn beides hängt unweigerlich eng zusammen, wie wir noch sehen werden.

Damit dieses Buch keine trockene Abhandlung ist, sondern ein lebendiger Einblick ins alltägliche Leben, kommen als Erstes die Kinder zu Wort. Unverblümt und direkt stellen neun Kinder je eine Frage. Die Suche nach der passenden Antwort wird dann für die Eltern zum Ausgangspunkt dafür, die Grundlagen unseres Gehirns zu verstehen. Die praktische Antwort an die Kinder wird sich daran orientieren, wie unser Gehirn arbeitet. Die Hirnforschung wird so zum Leitfaden für die Erziehung. Auf diese Weise können Eltern selbst erkennen, warum sie zu der Antwort kommen, und können das dann anschließend auch in einfachen Worten ihren Kindern erklären.

Schritt für Schritt oder besser Frage für Frage werden wir die Hintergründe der psychischen Entwicklung verstehen und auf diese Weise zu konkreten Antworten und Handlungsempfehlungen gelangen. Und zwar zu denen, die die Eltern als Vorbild selbst für richtig und wichtig erachten. Erziehung basiert daher immer auf den Werten, die die Eltern selbst besitzen. Diese Werte stellen die Richtschnur dar für alles, was sie ihren Kindern auf ihrem Weg durch das Leben mitgeben.

Ging es in meinem vorangegangenen Buch zur Kindererziehung »Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden« um das »Wie«, um die wissenschaftlichen Grundlagen zur Kindererziehung mit der Spiegelmethode als zentralem Hilfsmittel, so geht es im vorliegenden Buch um das »Was«, um die Inhalte: Was sollen die Kinder lernen? Was ist wirklich wichtig im Leben? Unweigerlich ergeben sich daraus auch Fragen an das eigene Leben. Was ist den Eltern selbst wichtig? Welche Werte haben und vertreten sie, und welche Werte können und wollen sie deshalb glaubwürdig und nachvollziehbar an ihre Kinder weitergeben?

Durch diese Fragen an sich selbst wird die Erziehung von Kindern zu einer spannenden Bereicherung für das eigene Leben. Ja, wir werden erkennen, dass es bei vielen Fragen oft gar nicht die eine richtige Antwort gibt. Unser menschliches Gehirn ist viel zu flexibel und anpassungsfähig, als dass es nur den einen möglichen Weg erlauben würde. Wir werden daher erkennen, wie wesentlich Eltern darüber mitentscheiden, zu welcher Art Menschen ihre Kinder werden, und wie wichtig es deshalb ist, dass sie selbst wissen, welche Werte sie vertreten.

Aus diesem Grund ist das vorliegende Buch kein Ratgeber im klassischen Sinn, sondern – der Flexibilität unseres Gehirns geschuldet – eine gezielte Anregung zu einer wirklich selbstbewussten und daher selbstbestimmten Elternrolle. Erziehung ist dann nicht mehr einfach eine automatische Nachahmung der eigenen Kindheitserlebnisse oder eine Suche nach neuen Wegen in irgendwelchen Ratgebern, sondern sie erfolgt unter bewusster eigener Regie. Unter Berücksichtigung der naturgegebenen Grundbedürfnisse von Gehirn und Psyche und zugleich mit der Freiheit der Vielfalt, die uns Menschen wie keiner anderen Art auf der Erde gegeben ist.

Zu jeder Kinderfrage gibt es eine konkrete Antwort oder gegebenenfalls auch verschiedene Antwortalternativen. Hinzu kommt eine Erläuterung, mit deren Hilfe Eltern ihrem Kind erklären können, warum sie wie entscheiden. Anschließend werden wissenschaftliche Grundlagen zur Funktionsweise unseres Gehirns vorgestellt und daraus Empfehlungen für die Alltagspraxis abgeleitet. Angewandte Hirnforschung wird so zur Handlungsanleitung für den Alltag mit Kindern. Und um den Rahmen zu stecken, in dem diese Abläufe stattfinden, rundet am Ende des Buches ein grundlegendes Kapitel über die Entstehung und elementare Bedeutung von Werten in der Erziehung die Überlegungen ab.

Möglicherweise kommen Ihnen, liebe Eltern, beim Lesen dieses Buches auch selbst Fragen in den Sinn, die Ihnen Ihre Kinder schon gestellt haben. Oder die Sie sich selbst schon gestellt haben. Gerne können Sie mir schreiben. Bitte erwarten Sie nicht von mir, dass ich Ihnen darauf direkt antworte, aber lesen werde ich Ihre Anregungen sicher, und vielleicht finden sie dann ja in einem späteren Buch Platz. Ich bin und bleibe jedenfalls neugierig auf die bunte Welt der Kindheit.

Warum muss ich immer machen, was du willst?

Diese Frage stellt der kleine Lars seiner Mutter Gabi bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Er ist mit seinen vier Jahren mitten im ersten Fragealter angekommen. Gabi gewinnt fast den Eindruck, als werde das pausenlose Fragen von Lars zu einer Fortsetzung seiner Trotzphase, die der Kleine gerade erst nach unzähligen lebendigen Inszenierungen seines Zorns hinter sich gelassen hat.

Bei aller Liebe stößt Gabis Geduld an ihre Grenzen. Schließlich fordert ihr Beruf als Krankenschwester auf einer Intensivstation viel Zeit und Energie von ihr. Und da sind die Reserven irgendwann aufgebraucht. Auch Bernd, ihr Ehemann und der Vater des Kleinen, wird laufend von den Fragen seines Sohnemanns beglückt. Doch anstatt zu zaudern und nach einer passenden Antwort zu suchen, beschränkt er sich auf die klassische Antwort, die viele von uns zu hören bekamen – auch ich selbst als Kind: »Weil ich es sage.« Keine Erklärung. Keine Diskussion.

Antwort: Weil du noch jung bist und erst lernen musst, wie das Leben funktioniert.

»Weil ich es sage.« Diese unkommentierte Pauschalantwort ist wohl kaum der Weisheit letzter Schluss. Denn wenn Eltern sich bewusst überlegen, was sie mit der Erziehung ihrer Kinder erreichen wollen, welche Ziele sie dabei vor Augen haben, dann wollen die meisten doch, dass ihre Kinder eines Tages mündige Erwachsene werden, die ihr Leben aktiv selbst gestalten können, und nicht willfährige Befehlsempfänger. Das war einmal anders, doch sind diese Zeiten zum Glück vorbei.

Das Ziel einer Antwort auf die Frage von Lars sollte also sein, ihm zu erklären, warum seine Eltern aus seiner Sicht so vieles von ihm wollen. Und da ist die Erklärung passend: »Weil du noch jung bist und erst lernen musst, wie das Leben funktioniert.« Denn genau darum geht es in der Erziehung. Eltern müssen durch nachvollziehbare Erklärungen, aber mehr noch durch das gelebte Vorbild ihren Kindern all das Wissen vermitteln, das sie zum Leben brauchen.

Erklärung: Von wem, wenn nicht von den Eltern, soll ein Kind lernen, wie das Leben funktioniert?

Schrittweise muss ein Kind mit Hilfe seiner erwachsenen Vorbilder lernen, welche Regeln im Leben gültig sind. Wie es selbst und wie die anderen funktionieren, was erlaubt ist und was nicht, wie seine eigenen Bedürfnisse sind und wo Kompromisse mit den Bedürfnissen anderer nötig sind.

Damit kommen wir unversehens zu einem zentralen Problemfeld in der heutigen Erziehungslandschaft. Denn dort scheint sich vielerorts die Vorstellung eingebürgert zu haben, eine glückliche Kindheit bestehe darin, keine Frustrationen zu erleben. Das hat zur Folge, dass viele Eltern pausenlos und atemlos bemüht sind, sich dem anzupassen, was ihr Kind von ihnen wünscht.

Ich war letzten Sommer in einem kleinen idyllischen Gartenlokal auf dem Land zu Gast, einem bäuerlichen Familienbetrieb, gestanden und bieder. Kinderfreundlich, mit Spielplatz. Am Nebentisch saß eine Runde junger Eltern, die sich angeregt unterhielten, während sich ihre Kinder auf Schaukeln und in Sandkästen vergnügten. Da kam eines von ihnen, ein kleines, keckes Mädchen auf seine Mutter zu und warf ihr in einem Befehlston, der einem Unteroffizier zur Ehre gereicht hätte, an den Kopf: »Mama, ich will schaukeln.« »Aber sicher, mein Schatz«, war die prompte Antwort der Mutter, die umgehend ihre Unterhaltung abbrach und aufsprang, um bereitwillig den Wunsch ihrer Jüngsten zu erfüllen. Zu meiner ehrlichen Überraschung, wie ich zugeben muss.

Sicher handelte die Mutter in bester Absicht, doch es stellt sich die Frage, was das kleine Mädchen aus dieser Episode, die augenscheinlich kein Einzelfall war, wohl lernen wird. Am ehesten wohl: »Mama tanzt nach meiner Pfeife.« Das, so könnte man auf den ersten Blick meinen, wäre ja vielleicht noch das Privatvergnügen der Mutter und damit, wenn überhaupt, dann deren Problem. Doch stimmt das nicht. Denn jedes Kind hat automatisch die Neigung, seine Erfahrungen mit den frühen Bezugspersonen zu verallgemeinern und später im Leben mit anderen Menschen so umzugehen, wie es das gelernt hat. Wenn ihm also früh und verlässlich beigebracht wird, dass die anderen bei Bedarf zu springen haben, dann wird es das später weiter einfordern. Unweigerlich sind mit einem solchen Erfahrungsschatz Konflikte in der Welt da draußen vorprogrammiert.

Die bunte Welt der Bedürfnisse

Das entscheidende Wesen von Erziehung besteht darin, dass Erwachsene ihren Kindern vorleben, wie das Leben funktioniert. Das beinhaltet ganz selbstverständlich, dass jeder Mensch seine eigenen Bedürfnisse hat und dass es Regeln gibt, nach denen die unterschiedlichen Bedürfnisse aller aufeinander abgestimmt werden müssen. Indem Eltern ihren Kindern diese Regeln vorleben und erklären, bereiten sie sie angemessen auf das Miteinander mit anderen Menschen vor. Auf eine Welt, in der jeder seine eigenen Bedürfnisse hat, die er, so gut es geht, kennen sollte und die er unweigerlich im Alltag mit den Bedürfnissen anderer in Einklang bringen muss.

Wenn Eltern ihren Kindern diese Regeln des sozialen Miteinanders vorenthalten, dann spielen sie ihnen eine Welt vor, die es so nicht gibt. Das Ergebnis ist dann – wie bei dem Mädchen, dessen Mutter ohne zu zögern aufsprang, um ihr den Schaukelwunsch zu erfüllen – eine verzerrte Sicht auf die Welt, die unweigerlich eines Tages von der Realität eingeholt werden wird.

Die grundsätzlichen Fragen, die sich Eltern stellen sollten, lauten demnach: Dürfen auch Eltern Bedürfnisse haben? Und wenn ja, darf ein Kind das wissen? Sie merken, das sind rhetorische Fragen. Wenn ein Kind auf das wirkliche Leben vorbereitet werden soll, dann ist es unerlässlich, ihm genau dieses wirkliche Leben in all seinen erfreulichen, aber behutsam eben auch in seinen frustrierenden Ausprägungen nahezubringen. Und ihm dann die Gefühle zu erlauben, die das in ihm hervorruft – im Fall von Frust eben eine mehr oder weniger berechtigte Wut.

Alle (!) Gefühle sind erlaubt

Und schon sind wir bei einem zweiten Missverständnis, das sich in viele Kinderstuben eingeschlichen hat. Wenn Eltern versuchen, ihren Kindern eine glückliche Kindheit zu bieten, indem sie ihren Schützlingen jeden Wunsch von den Lippen ablesen, dann missdeuten sie aufkeimende kindliche Wut als Alarmsignal. Sobald ihr Kind lauthals zu verstehen gibt, dass ihm etwas nicht passt, interpretieren diese Eltern das als Beleg dafür, etwas falsch gemacht zu haben, und suchen nach Abhilfe.

Doch diese Angst davor, etwas falsch gemacht zu haben, entspringt einem Denkfehler. Wenn ein Kind wütend wird, bedeutet das nicht automatisch, seine Eltern hätten etwas falsch gemacht. Sondern vielmehr wird das Kind damit konfrontiert, dass jeder Mensch mit seinen Bedürfnissen unweigerlich auf die Bedürfnisse anderer trifft, die ihm Grenzen aufzwingen. Und das ist üblicherweise frustrierend. Diese Erfahrung macht jeder andauernd. Und genau deshalb muss sie auch jedes Kind früher oder später lernen – ohne dass das ein Drama sein muss und selbst wenn Kinder gelegentlich wütende Dramen inszenieren.

Die Natur hat unser Gehirn so geschaffen, dass wir auf Frustration mit Wut reagieren. Ganz von selbst, ganz automatisch. Wut als Gefühl lässt sich nicht verhindern. Es entsteht wie alle Gefühle blitzschnell im limbischen System, viel schneller als die bewusste Kontrolle durch das Großhirn. Deshalb ist es unmöglich, Wut zu verbieten.

Das limbische System, ein recht ursprüngliches Areal im Inneren des Gehirns, kann besonders schnell arbeiten, weil es recht einfach gebaut ist. Gefühle und mit ihnen der Drang zu handeln entstehen daher in Windeseile. Das hat sich in der Natur als durchaus brauchbar erwiesen, denn Gefühle erlauben uns umgehend zu reagieren. Wenn eine akute Gefahr droht, etwa ein Löwe vor uns steht, dann drängt uns die plötzlich einschießende Panik zur Flucht, noch bevor wir die Lage bewusst analysiert haben. Und sichert dadurch unser Überleben.

Der Verstand hingegen arbeitet deutlich langsamer, denn er entspringt komplexen Hirnstrukturen in unserem Großhirn. Er kann also das Denken erst steuern, wenn die Gefühle längst da sind. Deshalb kann der Verstand bestenfalls den Umgang mit Gefühlen steuern, sofern er das gelernt hat, aber er kann Gefühle nicht verhindern. Gefühle lassen sich also nicht verbieten, denn das Gehirn erschafft sie, noch bevor eine bewusste Kontrolle Einspruch erheben kann.

Für Eltern bedeutet das, dass sie weder sich selbst noch ihren Kindern Gefühle verbieten können. Egal, welche. Gefühle sollten deshalb immer und jederzeit erlaubt sein. Auch Wut. Allerdings müssen Kinder im Laufe ihres Lebens lernen, mit Wut umzugehen. Genau das müssen Eltern ihren Kindern beibringen. Indem sie ihnen erklären, wie man mit Wut umgeht, aber mehr noch, indem sie es ihnen immer wieder selbst vorleben.

Antworten, Bedürfnisse und Gefühle

Weil jeder Mensch seine eigenen Bedürfnisse hat und haben darf, Mütter und Väter eingeschlossen, besteht immer das Risiko, dass einem Kind etwas missfällt, weil seine Eltern gerade etwas anderes wollen als es selbst. Und dass es dann mit einer gesunden Wut darauf reagiert. Das ist unvermeidlich. Aus der Sicht eines Kindes können Eltern daher gar nicht alles richtig machen. Oder anders gesagt: Perfekte Eltern gibt es nicht und kann es nicht geben.

Allerdings ist das alles andere als ein Problem. Ganz im Gegenteil, schließlich ist Erziehung die Schule des wirklichen Lebens. Und da gehört es dazu, dass gelegentlich Fehler passieren und dass die in den meisten Fällen anschließend wieder geradegerückt werden können.

Für Gabi und Bernd ist damit die Suche nach einer Antwort auf die Frage ihres Lars keine Situation, die sie perfekt meistern müssen. Vielmehr können sie es mit der Suche nach ihrer Antwort recht entspannt angehen und dabei ihrer eigenen Intuition folgen. Denn die liegt meist ganz richtig – wir werden noch sehen, warum. Etwa kann die Antwort von Gabi auf die Frage ihres Sohnes beim Thema Zimmeraufräumen lauten: »Weil ich das möchte.« Oder auch: »Weil ich möchte, dass du lernst, Ordnung zu halten.« Eigene Wünsche von Eltern sind erlaubt.

Und so gibt es auch Situationen, in denen keine Zeit bleibt für Diskussionen, Situationen, in denen es unerlässlich ist, dass Lars seinen Eltern sofort blind gehorcht. Bei Gefahr etwa, wenn er auf die Straße rennt. Dann kann sogar Bernds Antwort, so unzeitgemäß sie klingen mag, im richtigen Moment durchaus angemessen sein: »Weil ich es sage.« Alternativ passt natürlich auch: »Weil das gefährlich ist.« Nur wird Lars das nicht unbedingt einsehen wollen, wenn er stürmisch herumtollt und versucht, sich seine Welt zu erobern.

Kinder verfügen noch nicht über einen ausreichend entwickelten Verstand, um ihre Gefühle und Handlungsimpulse steuern zu können. Denn das müssen sie erst lernen, und es dauert viele Jahre, bis sich die dafür erforderlichen Strukturen im Gehirn aufbauen. Erwachsene müssen Kindern deshalb ihren eigenen, bereits weiterentwickelten Verstand quasi leihweise zur Verfügung stellen, wenn die Situation das erfordert, wie eben bei Gefahr.

Die lebendigen Gefühle, die solche Grenzsetzungen bei den Jüngsten gelegentlich anfachen, gehören zum Leben dazu und daher auch zum Lernprozess der Erziehung. Unausweichlich, mal mehr, mal weniger. Eltern sollten keine Angst vor ihnen haben.

Hintergrund: Gut genug ist gut

»Gut genug ist gut« – so lautet die Grundregel für Eltern, die der englische Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott bereits im Jahr 1953 formuliert hat. Sie soll ausdrücken, dass es genügt, gut zu sein – man muss nicht perfekt sein. Das hat sich leider nie wirklich herumgesprochen und geht in der heutigen Zeit gänzlich unter in der Werbewelt der bunten Hochglanzbroschüren mit ihren permanent vor Glück strahlenden Elternpaaren. Doch Winnicott hatte recht.

Unzählige Elterngenerationen wussten ganz intuitiv: Kinder lernen das wirkliche Leben kennen, indem es ihnen von ihren Eltern und von anderen Vorbildern vorgelebt wird. Und in diesem wirklichen Leben passieren immer wieder Fehler, misslingt vieles. Lebenskunst besteht darin, auch mit Rückschlägen und Misserfolgen klarzukommen. Deshalb sind Fehler auch in der besten Erziehung an der Tagesordnung. Natürlich sind mit einer solchen fehleranfälligen Erziehung die üblichen Alltagsfehler gemeint und nicht etwa grobe Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch.

Eltern müssen also nicht perfekt sein, um ihre Kinder auf das wirkliche Leben vorzubereiten, sondern sie dürfen, ja, sie sollten gelegentlich Fehler machen. Diese Erkenntnis nimmt Eltern den Druck und ist daher eine wesentliche Erleichterung für den elterlichen Alltag, den alle Eltern sicher gut gebrauchen können angesichts des latent steigenden Stressniveaus in unserer heutigen Gesellschaft.

Bei all den kleinen Misslichkeiten des Alltags gilt frei nach Winnicott die Regel: Solange Eltern zu ihren Fehlern stehen, sich gegebenenfalls auch bei ihren Kindern für sie entschuldigen, lernen die Kinder schon früh, wie das wirkliche Leben funktioniert. Kindern wird dann keine künstliche, vermeintlich perfekte Welt vorgespielt, sondern sie dürfen schon früh daran teilhaben, wie das Leben so spielt, mit seinen Aufs und Abs und mit den Unwägbarkeiten und Missgeschicken, an denen es sich gut lernen lässt. Ein solches ungeschminktes, ehrliches Leben ermöglicht nicht nur spielerisches Lernen im Alltag, sondern es befreit zugleich auch die Kinder von dem Druck, selbst perfekt sein zu müssen. Ohne einen solchen Druck machen Kinder die einfache und doch so wesentliche Erfahrung, dass sie von ihren Eltern auch dann geliebt werden, wenn ihnen gelegentlich das eine oder andere misslingt.

Wert: Lebenstauglichkeit im Gefühl – nicht ohne Verstand

Erziehung hat ein klar definiertes Ziel: Es geht darum, Kinder so auf das Leben vorzubereiten, dass sie sich als Erwachsene gut darin entfalten können. Dazu bedarf es verschiedener Fähigkeiten: liebesfähig zu sein, Verantwortung und Sorge für sich selbst und für andere übernehmen zu können, sich einen Beruf aussuchen zu können, der die eigenen Interessen und die Anforderungen der Realität miteinander in Einklang bringt, sich Ziele zu setzen und diese verfolgen zu können, anpassungsfähig zu bleiben gegenüber überraschenden Wendungen im Leben. All diese Fähigkeiten helfen dabei, im Laufe der Zeit zu einem erfüllten Lebensentwurf zu gelangen, zu einem zufriedenen Grundgefühl, das trotz Höhen und Tiefen stabil erhalten bleibt.

Die psychischen Voraussetzungen für diese Fähigkeiten sind zum Glück überraschend simpel: erstens eine sichere Bindung in der Säuglingszeit, worauf ich später noch eingehen werde, und zweitens das Erlernen von Impulskontrolle, also von der Fähigkeit zur gezielten Steuerung der eigenen Impulse. Voraussetzung für diese Steuerung ist ein angemessener Umgang mit den eigenen Gefühlen, und zwar mit sämtlichen Gefühlen, den positiven wie den negativen. Genau dafür sollten Eltern ehrliches und authentisches Vorbild für ihre Kinder sein.

Schwierigkeit: Wenn es hoch hergeht

Da stellt sich natürlich für Eltern die Frage, wie sie es mit ihren eigenen Gefühlen halten. Haben sie selbst überhaupt in ihrer Kindheit eine ausreichende Impulskontrolle lernen können? Wir alle kennen Choleriker, die weit von einer solchen Kontrolle über ihre Gefühlsstürme entfernt sind: aus dem Bekannten- oder Kollegenkreis oder vielleicht auch gelegentlich aus dem Blick in den Spiegel. Doch auch die ewig Gehemmten beherrschen ihre Gefühle nicht, sondern sie unterdrücken sie nur mühsam, ohne sie gezielt und erfolgreich nutzen zu können.

Eltern, die sich mit der Herrschaft über ihre eigenen Gefühle schwertun, fällt es verständlicherweise nicht leicht, ihren Kindern darin ein gutes Vorbild zu sein. Doch das ist kein Grund zur Verzweiflung. Selbst wenn Eltern ein wenig holprig im eigenen Gefühlshaushalt unterwegs sind, wenn es gelegentlich kracht oder ihnen der Überblick fehlt, ist das kein Drama, sofern sie ihre Gefühlskapriolen anschließend wieder begradigen, sie nicht ihren Kindern in die Schuhe schieben und ihr Verhalten für die Kinder nachvollziehbar bleibt. Denn Kinder brauchen Berechenbarkeit, um sich sicher zu fühlen, und wie alle Menschen wollen auch Kinder sich auskennen, strebt ihr Gehirn nach einem ausgeglichenen Zustand, nach Kohärenz, nach Stimmigkeit.

Wenn also Eltern gelegentlich der Kragen platzt, weil ihr Temperament überschäumt, sollten sie das ihren Kindern gegenüber offen und ehrlich zugeben, ihre Reaktion hinterher erklären und sich gegebenenfalls dafür entschuldigen.

Entscheidend ist also, dass Eltern auch mit den eigenen Schwächen ehrlich umgehen. Denn dann kennen die Kinder sich aus. Spielen Eltern dagegen ihren Kindern etwas vor, absichtlich oder weil sie sich selbst etwas vormachen, dann führt das über kurz oder lang zur Rebellion oder zur neurotischen Hemmung bei den Kindern. Etwa wenn Eltern ihre Kinder für ihre eigenen Launen verantwortlich machen oder wenn sie so tun, als sei nichts gewesen, und dergleichen mehr. Je weniger authentisch der Umgang der Eltern mit den eigenen Gefühlen ist, desto deutlicher sind die Spuren, die das bei ihren Kindern hinterlässt. Und eines fernen Tages geben sie diese Marotten dann an ihre eigenen Kinder weiter.

Es gibt allerdings für Eltern eine trickreiche Schwierigkeit im Umgang mit den Gefühlen ihrer Kinder. Im letzten Kapitel beschreibe ich, wie die Spiegelneuronen arbeiten, spezielle Nervenzellen, mit deren Hilfe wir die Gefühle unsers Gegenübers entziffern, indem wir dessen Gefühle unbewusst nachahmen (Kapitel »Grundlagen für eine wertebezogene Erziehung«, Abschnitt »Resonanz«). Das hat zur Folge, dass wir diese Gefühle unweigerlich erst einmal teilen. Die Gefühle eines anderen, die ursprünglich gar nicht unsere eigenen sind, werden dadurch zu unseren eigenen. Anders formuliert: Gefühle sind regelrecht ansteckend!

Gerade bei kleinen Kindern sind die Gefühle besonders heftig, weil sie noch keine Kontrolle über ihre Gefühle besitzen und sie deshalb noch nicht abmildern können. Ihre Freude ist grenzenlos, genauso, wie ihre Wut nur das totale Drama kennt. Wegen dieser ungefilterten Heftigkeit ist die Wut kleiner Kinder besonders ansteckend. Sie überträgt sich blitzschnell auf die Eltern. Der Wutanfall eines Dreijährigen in der Trotzphase kann auf diese Weise vermeintlich aus heiterem Himmel bei seinen Eltern den Kragen platzen lassen. Eltern, die diesen Zusammenhang nicht kennen, laufen Gefahr, dass sich ihre plötzliche Wut in unkontrollierten Reaktionen entlädt. Die tragischen Ereignisse, bei denen Eltern sich zu spontaner Gewalt gegenüber ihren kleinen Kindern hinreißen lassen, haben meist ihren Ursprung in einer solchen spontanen Gefühlseskalation.

Wenn Eltern sich in der Funktionsweise der Psyche auskennen, beugen sie damit einer solchen Eskalation vor, weil sie rechtzeitig erkennen können, was mit ihnen geschieht. So können sie ihre eigenen Gefühle im Griff haben und ihren Kindern den Umgang mit Gefühlsstürmen beibringen: Gefühle kommen und gehen, am Ende ist nichts Schlimmes passiert und alles ist wieder gut.

Praxis: Lieben ist erlaubt und Wut auch

Ich hatte vor einiger Zeit einen Patienten in meiner Praxis, der mit fünf Kindern aus zwei Ehen gesegnet ist. Außerdem besitzt er einen anspruchsvollen und aufreibenden Job. Bevor er zu mir kam, war er in seiner spärlichen Freizeit ausschließlich damit beschäftigt, die vielfältigen Bedürfnisse seiner Kinder zufriedenzustellen. Daran drohte nun auch seine zweite Ehe zu scheitern. Ich führte ihm die Konsequenzen seines ehrlich bemühten Engagements vor Augen und verdeutlichte ihm abschließend eine bislang von ihm völlig ausgeblendete Konsequenz seines Verhaltens: »Wenn Sie so weitermachen, werden Ihre Kinder eines Tages sehr wahrscheinlich zu der Einschätzung kommen, dass sie selbst keine Kinder haben wollen. Sie werden sagen, das tue ich mir sicher nicht an, mein Leben für meine Kinder zu opfern.« Da blickte er mich mit großen Augen an und meinte: »Genau das sagen die jetzt schon.«

Eltern sind Vorbild für ihre Kinder. Egal, ob sie das wollen oder nicht. Ganz automatisch orientieren Kinder sich in ihrem späteren Leben an dem, was sie von ihren Eltern in ihrer Kindheit vorgelebt bekommen haben, und machen es in der Regel mehr oder weniger nach. Außer ihr Gefühl signalisiert ihnen, dass die Eltern mit ihrer Art zu leben offenbar nicht glücklich sind. Dann werden sie versuchen, so gut es eben geht, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was die Eltern ihnen vorgelebt haben.