Was macht das Quark im Apfelkuchen? - Harry Cliff - E-Book

Was macht das Quark im Apfelkuchen? E-Book

Harry Cliff

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Beschreibung

Harry Cliff rockt das Universum Ein Apfelkuchen besteht aus Mehl, Butter, Zucker, Äpfeln – chemisch betrachtet aber aus zahllosen Atomen, die alle einen Ursprung haben müssen. Und hier fragt die Physik: Woher kommt die Materie? Wie entstand das Universum? Oder: Wie lautet das Rezept dafür? Harry Cliff begibt sich auf die Suche, die ihn zu Schauplätzen großer Entdeckungen führt. Er erzählt Geschichten von genialen Köpfen wie Einstein und Hawking, erläutert Theorien von Aristoteles und Gamow und begegnet Forschern, die das Universum mit gigantischem Hightech untersuchen. Am Ende steht die Erkenntnis, wie man einen Stern entzündet, Atome schmiedet, subatomare Teilchen, vielleicht sogar Leben erzeugt – und natürlich wie ein Apfelkuchen entsteht, ganz aus dem Nichts.

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Harry Cliff

Was macht das Quark im Apfelkuchen?

Auf der Suche nach dem Rezept für unser Universum

Aus dem Englischen von Jörn Pinnow

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Vicky und Robert, danke.

Möchte man aus dem Nichts einen Apfelkuchen machen,

muss man erst das Universum erfinden.

Carl Sagan

Vorwort

An einem frostigen Morgen im März 2010 steuerte ich meinen Wagen auf ein umzäuntes Gelände in den Außenbezirken der französischen Gemeinde Ferney-Voltaire. Ein an das stählerne Eingangstor geschraubtes Schild verkündete:

CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung)SITE8

ACCÈSRÉSERVÉAUXPERSONNESAUTORISÉES (ZUTRITTNURFÜRBEFUGTE)

Ungeschickt lehnte ich mich über den Beifahrersitz meines Rechtslenkers hinweg aus dem Fenster und zog meinen Sicherheitsausweis über das Lesegerät. Das Tor öffnete sich nicht. Hmmm … hatte ich die Sicherheitsüberprüfung nicht bestanden? Hinter mir bildete sich bereits eine Autoschlange, weshalb ich zunehmend hektisch wieder und wieder meine Karte über den Scanner zog. Nichts. Gerade wollte ich aussteigen, um in meinem ungelenken Schulfranzösisch mit dem Wachpersonal zu verhandeln, als sich zu meiner großen Erleichterung knirschend das Tor öffnete.

Ich parkte hinter der großen Versuchshalle mit Blick auf den Maschendrahtzaun, der das Gelände von der Startbahn des Genfer Flughafens trennt. Als ich ausstieg, bildete mein Atem in der kalten LuftLuft Wölkchen, und ich nahm den seltsam süßlichen Geruch der Parfumfabrik war, der aus dem nahe gelegenen Schweizer Meyrin herüberzog. Die Hände tief in die Jackentaschen gebohrt, machte ich mich auf zum Gebäude 3894 – hinter diesem prosaischen Namen verbirgt sich ein einstöckiger Stahlcontainer für die frühmorgendlichen Meetings.

Im Innern saßen bereits die meisten Teilnehmer dicht gedrängt um den langen Tisch. Einige plauderten mit ihren Nachbarn auf Englisch, Französisch, Deutsch oder Italienisch; andere nippten an einem Kaffee oder beugten sich über ihren Laptop. Ich fand einen Platz in der zweiten Stuhlreihe hinter dem Tisch und hoffte, dass mich hier niemand ansprechen würde.

Rund hundert Meter unter unseren Füßen befand sich ein ring­förmiger Betontunnel, so lang, dass er um eine ganze Stadt herumreichen würde. In ihm erwachte gerade die größte und mächtigste Maschine zum Leben, die je gebaut wurde: der Large HadronHadronColliderLarge Hadron Collider (LHC) (LHC, Großer HadronenHadron-Speicherring). In wenigen Tagen wollten Forscher in dem TeilchenbeschleunigerTeilchenbeschleuniger subatomare TeilchenTeilchen mit derartiger Wucht aufeinanderschießen, dass sich für einen kurzen Augenblick Zustände ergeben, wie sie unmittelbar nach dem UrknallUrknall geherrscht haben.

Diese winzigen, aber katastrophalen Zusammenstöße würden dabei von vier riesigen Teilchendetektoren aufgezeichnet werden: Auf dem LHC-Ring mit einigen Kilometern Abstand verteilt, stehen diese gewaltigen Maschinen in unterirdischen Höhlen, in die problemlos ganze Kirchen passen würden. Einer dieser Detektoren befand sich direkt unter uns – er trägt den Namen »Large HadronHadronColliderLarge Hadron Collider (LHC) beauty Experiment« (LHCb) – 6000 Tonnen Stahl, Aluminium, Silizium und Glasfaserkabel, wie ein Sprinter im Starterblock eingerastet, bereit für den Einsatz.

Und er hatte lange auf seinen Augenblick gewartet. Einige meiner Kollegen hatten ihr gesamtes Arbeitsleben damit verbracht, diesen Moment Wirklichkeit werden zu lassen. Zwanzig Jahre Planung, Finanzierungsverhandlungen, minutiöses Entwerfen, Testen und Konstruieren hatten zu einem der technisch fortschrittlichsten Teilchendetektoren geführt, die je gebaut worden waren. In den kommenden Tagen sollte das Ergebnis all dieser Bemühungen endlich einer Probe unterzogen werden, wenn die Ingenieure des LHC zum ersten Mal TeilchenTeilchen im Ring beschleunigen und innerhalb des Detektors zur Kollision bringen wollten.

Wenige Wochen zuvor war ich als 24-jähriger Doktorand im zweiten Jahr nach Genf gekommen, um den ersten von zwei dreimonatigen Arbeitsaufenthalten zu beginnen. Mein neues Zuhause war das CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung), die Europäischen Organisation für Kernforschung, mit dem größten und fortschrittlichsten Teilchenlabor der Welt. Inzwischen fand ich mich immer besser in diesem Labyrinth aus Bürogebäuden, Werkstätten und Laboren zurecht, die auf dem weitläufigen CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung)-Gelände verteilt waren. Ich hatte gegen Februar-Schneestürme angekämpft und erfahren müssen, dass man in der Schweiz eine Standpauke vom Nachbarn riskiert, wenn man nach 22 Uhr noch die Toilettenspülung benutzt. Auch mit meinen neuen Aufgaben beim LHCb war ich inzwischen recht gut vertraut – ich trug die Verantwortung für eines der Subsysteme, die alle einwandfrei würden funktionieren müssen. Sollte auch nur eines versagen, könnten sich die so lang erwarteten Daten als unbrauchbar erweisen.

Eineinhalb Jahre zuvor hatte ich den LHCb zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen. Mein Betreuer Uli, ein deutscher Postdoc-Forscher, der Vollzeit am CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung) arbeitete, hatte mir durch die komplizierte Prozedur geholfen, ohne die man dem Detektor nicht nahe kommen kann. Nachdem ich einen Badge an meiner Kleidung befestigt hatte, der die Strahlung maß, der ich während meines Aufenthalts unter Tage ausgesetzt war, musste ich einen eher launischen Iris-Scanner davon überzeugen, mich eine Reihe leuchtend grüner, als Luftschleusen konstruierter Türen passieren zu lassen. Dann schaukelte mich ein kleiner Metallfahrstuhl die 105 Meter hinunter in den »pit«, die »Grube«, wie die etwas bedrohliche, hier allgemein gebräuchliche Bezeichnung lautet.

Hinter den Aufzugtüren öffnete sich eine seltsame unterirdische Welt voll surrender Maschinen mit in den Primärfarben bemalten Metallgerüsten und dem Betontunnel, durch den kilometerlange Kabel und Röhren führten. Noch eine Reihe Sicherheitstüren, dieses Mal leuchtend gelb und beklebt mit Warnhinweisen zu gefährlicher Strahlung, dann ein enger Durchgang durch eine 12 Meter dicke Schutzmauer, und mit einem Mal standen wir in einer enormen Betonkaverne.

Das Erste, was einen beeindruckt, ist die schiere Größe. Der LHCb ist gewaltig: 10 Meter hoch und 21 Meter lang, womit er die gesamte Breite der Kaverne ausfüllt. Auf den ersten Blick versteht man kaum, was man da vor sich hat. Die Sicht wird durch grün und gelb gestrichene Treppen, Stahlplattformen und Gerüste versperrt, die zum einen die Anlage stützen, zum anderen den Zugang zu wichtigen Bauteilen des Detektors ermöglichen. Freien Blick hat man allerdings auf fast keines von ihnen. Über die Wände des Tunnels verlaufen im Zickzack Kabel, die entweder dem Detektor Strom zuführen oder die Sturzflut an Daten abtransportieren, die von Millionen winziger, ungemein präzise konstruierter Sensoren erzeugt werden. Der LHCb kann für Tausende subatomarer TeilchenTeilchen zugleich aufzeichnen, welche Wege sie nach den Kollisionen haarscharf unter LichtgeschwindigkeitLichtgeschwindigkeit nehmen, mit einer Genauigkeit von wenigen Tausendsteln eines Millimeters. Und das in Intervallen von Millionen Bruchteilen einer Sekunde.

Doch das Bemerkenswerteste am LHCb ist die Art und Weise, wie er errichtet wurde. Wie alle vier großen LHC-Detektoren an dem Ring entstand er durch eine Kooperation, die einem modernen Babel glich: Jede Komponente wurde in einem internationalen Zusammenspiel von Physikern und Ingenieuren an Dutzenden Universitäten rund um die ErdeErde entwickelt und konstruiert, von Rio de Janeiro bis nach Nowosibirsk. Dann wurden die Teile in das riesige Loch im Boden unter Genf geliefert, um zu einem einzigen, unglaublich komplexen Instrument zusammengesetzt zu werden. Die Tatsache, dass diese vier Riesen überhaupt laufen, wirkt für mich noch heute wie ein Wunder.

Meine Kollegen in Cambridge hatten die letzten zehn Jahre damit verbracht, die Elektronik zu entwerfen, zu bauen und zu testen, mit der die Daten dieses Subdetektoren verarbeitet werden, dessen Aufgabe es ist, die unterschiedlichen Teilchenarten bei der Kollision auseinanderzuhalten. Mein Job wiederum bei all dem war, sicherzustellen, dass die Software zur Überwachung dieser Elektronik ihren Dienst ohne Absturz oder sonstige Fehler tut, sobald die Maschine läuft. Zwar war ich nur ein kleines Rädchen in dieser gigantischen Maschinerie, doch war ich mir sehr bewusst, dass zwanzig Jahre Anstrengung von Hunderten Physikern aus siebzig Ländern und 65 Millionen Euro Investitionen aus mehr als einem Dutzend nationaler Finanzierungstöpfe auch davon abhingen, dass ich meinen Job gut erledigte. Ich wollte nicht derjenige sein, der in letzter Minute alles ruinierte.

Das Geplauder im Konferenzraum verstummte abrupt, als der Projektleiter des ersten Rundlaufs die Sitzung eröffnete. Ich sah mich nach meinen Kolleginnen und Kollegen um. Viele von ihnen sahen aus, als hätten sie in den letzten Tagen nicht viel Schlaf bekommen. Mir war klar, dass nun die wichtigsten Tage in meiner bisherigen Karriere vor mir lagen. Das Meeting begann mit einem Bericht über die Arbeiten, die über Nacht am LHC stattgefunden hatten, den die Menschen am CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung) schlicht als »die Maschine« bezeichnen. Und auf diese Maschine warteten wir nun alle.

Nach drei Jahrzehnten Arbeit ist der LHC ein Wissenschaftsprojekt, wie es zuvor keines gegeben hat. Fast alles an ihm ist extrem. Er ist das größte je gebaute Messinstrument, in gewisser Weise die größte je gebaute Maschine überhaupt: Er misst 27 Kilometer im Umfang, weshalb der Ring die Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz vier Mal unterquert (man hat an diesen Stellen im Tunnel sogar die entsprechenden Flaggen an die Wände gemalt). Die Strahlrohre, in denen die TeilchenTeilchen umhersausen, sind leerer als der interstellare Raum, und die Tausenden von supraleitenden Magneten, die die Teilchen um den Ring lenken, arbeiten bei einer atemberaubend niedrigen Temperatur von -271,3 Grad Celsius, weniger als 2 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Um das zu erreichen, braucht man die weltgrößte Tieftemperaturanlage: Sie benötigt mehr als 10000 Tonnen flüssigen StickstoffStickstoff und so viel Elektrizität wie eine Großstadt, um 120 Tonnen supraflüssiges HeliumHelium[1] zu erzeugen. Dieses wird dann intravenös durch die Magnete des LHC gepumpt. Ein paar Tage nach unserem morgendlichen Meeting sollte diese gewaltige Maschine subatomare Teilchen, sogenannte ProtonenProton, auf 99,999996 Prozent der LichtgeschwindigkeitLichtgeschwindigkeit beschleunigen, um sie dann schnurstracks an vier Stellen des Rings, darunter der LHCb, zusammenkrachen zu lassen. So sollten Formen von MaterieMaterie entstehen, die in so großen Mengen seit einer Billionstelsekunde nach dem Beginn des UniversumsUniversum nicht mehr vorkamen.

All dies, die vielen Jahre Entwicklungsarbeit und Finanzierungsbemühungen, die Mobilisierung einer globalen Gemeinschaft von Tausenden Physikern, die Bauingenieurleistung (zu der das Graben durch einen unterirdischen Fluss gehörte, der zuvor mit flüssigem StickstoffStickstoff eingefroren worden war), ganz zu schweigen von der Herstellung, dem Testen und der Installation von Millionen Einzelteilen, vom 35 Tonnen schweren Magneten bis zum kleinsten Siliziumsensor, all dies dient nur einem einzigen Zweck: der Befriedigung unserer Neugier. Ganz gleich, was Ihnen die Boulevardpresse einreden möchte – etwa der britische Daily Express, der unaufhörlich suggeriert, das CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung) würde den LHC für ruchlose Zwecke einsetzen. Soll hier das Portal in eine weitere, »unheimliche« Dimension[2] geöffnet werden (womöglich war das Tor zur »anderen Seite« aus Stranger Things also in Wirklichkeit ein Fehler des CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung))? Oder dient der LHC dazu, mein Lieblingszitat, »Gott herbeizurufen«[3]? Tatsächlich wurde der LHC allein dazu gebaut, um fundamentale Fragen über die grundlegenden Bausteine unserer Welt beantworten zu können sowie der Frage auf den Grund zu gehen, wie es dazu kam, dass unser UniversumUniversum existiert.

Und es gibt einige wirklich große Fragen, auf die wir Antworten suchen. Die derzeit gültige Theorie darüber, woraus die Welt auf dem untersten Level besteht, ist als »StandardmodellStandardmodell der Teilchenphysik« der Teilchenphysik bekannt – ein enttäuschend langweiliger Name für eine der größten intellektuellen Leistungen der Menschheit. In Jahrzehnten gemeinsamer Anstrengung von Tausenden Theoretikern und Experimentalphysikern entwickelt, erklärt uns das StandardmodellStandardmodell der Teilchenphysik, dass alles, was wir um uns herum sehen – Galaxien, SterneSterne, Planeten und Menschen –, aus ein paar wenigen unterschiedlichen TeilchenTeilchen besteht, die innerhalb von Atomen und MolekülenMolekül durch einige wenige elementare Kräfte zusammengehalten werden. Das StandardmodellStandardmodell der Teilchenphysik ist eine Theorie, die alles erklärt, etwa warum die SonneSonne scheint und warum Dinge eine Masse haben. Außerdem hat sie bisher jede experimentelle Überprüfung bestanden, der wir sie im letzten halben Jahrhundert unterzogen haben. Ohne Zweifel: Das StandardmodellStandardmodell der Teilchenphysik ist die erfolgreichste wissenschaftliche Theorie, die je zu Papier gebracht wurde.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf muss nun gesagt werden, dass das StandardmodellStandardmodell der Teilchenphysik falsch ist – oder zumindest in erheblichem Maße unvollständig. Wenn es um die tiefsten Geheimnisse geht, vor denen die heutige Physik steht, kann diese Theorie nur mit den Schultern zucken oder einen Haufen Widersprüche anbieten anstelle von Antworten. Folgendes Beispiel soll genügen: Nach jahrzehntelangem Starren in den Himmel sind sich Astrophysiker und Kosmologen inzwischen recht sicher, dass 95 Prozent des UniversumsUniversum aus zwei unsichtbaren Substanzen bestehen, die »Dunkle EnergieDunkle Energie« und »Dunkle MaterieDunkle Materie« heißen. Aus was auch immer sie bestehen – und wir haben in beiden Fällen noch nicht die leiseste Ahnung –, keinesfalls sind es die TeilchenTeilchen aus dem StandardmodellStandardmodell der Teilchenphysik. Und als wäre diese 95-prozentige Lücke an sich nicht schon schlimm genug, so vertritt das StandardmodellStandardmodell der Teilchenphysik zudem noch die eher verwirrende Ansicht, dass alle existierende MaterieMaterie eigentlich innerhalb der ersten Mikrosekunden nach dem UrknallUrknall in einem katastrophalen Kollaps durch AntimaterieAntimaterie hätte ausgelöscht werden müssen – zurückgeblieben wäre ein UniversumUniversum ohne SterneSterne, ohne Planeten, ohne uns.

Es ist daher ziemlich unzweifelhaft, dass wir bei unserer Theorie bis dato irgendetwas übersehen haben, vermutlich in Form bislang unentdeckter ElementarteilchenTeilchen, die uns erklären könnten, warum das UniversumUniversum so ist, wie es ist.

Hier kommt der Large HadronHadronColliderLarge Hadron Collider (LHC) ins Spiel. Als wir an jenem Morgen im März 2010 um den Konferenztisch herumsaßen, herrschte riesige Zuversicht: Wir würden schon bald etwas ganz und gar Neues oder Unerwartetes beobachten können, das sich aus den im LHC herbeigeführten Kollisionen ergeben würde. Sollte es dazu kommen, wäre dies der Beginn eines Prozesses, der einige der größten Rätsel der Wissenschaft würde lösen können.

Als ich mich Anfang 2008 für meine Promotion einschrieb, war mir bewusst, dass meine Anfänge in Teilchenphysik damit zusammenfielen, dass der LHC zum ersten Mal eingeschaltet wurde. Ich war von der Vorstellung fasziniert, einer der allerersten Studenten zu sein, die Daten von einer Maschine zu sehen bekommen würden, die seit den späten 1970ern entwickelt worden war und mehr als 12 Milliarden Euro[4] gekostet hat. Am 10. September 2008, nur wenige Tage bevor ich mein neues Labor im englischen Cambridge bezog, wurde der LHC unter großer Anteilnahme der Medien eröffnet. In Gegenwart von Fernsehteams und Fotografen jagte man zum ersten Mal ProtonenProton durch den 27 Kilometer langen Ring. Champagnerflaschen wurden geköpft, als Physiker und Ingenieure eine der größten wissenschaftlichen Leistungen der Geschichte feierten; und die Elementarteilchenphysik schaffte es kurz in die Nachrichten.

Weniger Tage später war der LHC aus einem anderen Grund wieder Gesprächsthema. Gegen Mittag des 19. September – man führte gerade letzte Tests an den Elektromagneten des KollidierersKollidierer durch – kam es zur Katastrophe. Ingenieure des LHC-Kontrollzentrums – im CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung) das, was bei der NASA die Mission Control ist – mussten ungläubig mitansehen, wie in dem großen Raum ein Monitor nach dem anderen grellrot aufleuchtete. Ein Ingenieur, mit dem ich später darüber sprach, erzählte mir, dass anfangs so viele Alarme losgingen, dass sie glaubten, es sei etwas mit der Software nicht in Ordnung, die den Beschleuniger überwachte. Stunden später, als man endlich in den Tunnel hinunterkonnte, erkannten er und seine Kollegen das wahre Ausmaß der Verwüstung.

Eine einzige lose Verbindung hatte einen elektrischen Defekt verursacht. Daraufhin war es zu einer physikalischen Explosion gekommen, die das zur Kühlung der Magneten eingesetzte flüssige HeliumHelium erreichte und eine Schockwelle erzeugte, die auf einer Strecke von 750 Metern entlang des Beschleunigerrings[5] ein Werk der Zerstörung hinterließ. 15 Meter lange und bis zu 35 Tonnen schwere Elektromagnete waren aus ihren Verankerungen gerissen und im Tunnel verschoben worden. Die fehlerhafte Verbindung war verdampft und hatte in beide Richtungen schwarzen Rauch mehrere hundert Meter weit in die ultrasauberen Strahlrohre hineingepustet.

Die Reparaturarbeiten dauerten mehr als ein Jahr. So niedergeschlagen sie anfangs waren, schüttelten die CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung)-Mitarbeiter ihre Enttäuschung schnell ab und machten sich wieder an die Arbeit. Am 20. November 2009, vierzehn Monate und 25 Millionen Euro später, schickten sie zum ersten Mal seit dem, was nur »der Zwischenfall« genannt wird, vorsichtig wieder ProtonenProton rund um den LHC. Das war jedoch nur ein Probelauf, bei dem der Beschleuniger nur einen Bruchteil seiner maximal verfügbaren EnergieEnergie einsetzte.

Im März 2010 näherten wir uns endlich dem Moment, an dem die Maschine in bislang unerforschtes Gebiet vorstoßen würde. Wir wollten Kollisionsenergien erreichen, die uns die Suche nach Dunkler MaterieMaterie, dem Higgs-BosonHiggs-Boson, mikroskopisch kleinen Schwarzen Löchern und vielleicht anderen exotischen Objekten erlauben würde, von denen sich bislang niemand eine rechte Vorstellung machen konnte. Ich denke, jeder, der an diesem Morgen rund um den Tisch saß, spürte das Gewicht dessen, was wir vorhatten.

Der Projektleiter fuhr mit seinem Bericht fort und hielt nur dann mehrfach kurz inne, wenn das Dröhnen eines startenden Flugzeugs vom benachbarten Flughafen ihn übertönte. Abgesehen von einem kurzen Stromausfall waren die nächtlichen Arbeiten am LHC problemlos verlaufen, und wir waren auf gutem Wege, die Kollisionen in ein paar Tagen versuchen zu können. Dann erteilte er der Runde das Wort, woraufhin Physiker aus den Niederlanden, Spanien, Russland, Deutschland und Italien in perfektem Englisch ihre Updates lieferten. Es gab einen kurzen Eurovisionsmoment, als ein französischer Physiker den Bericht in seiner Muttersprache ablieferte. Trotz des Augenrollens rund um den Konferenztisch fuhr der Physiker stur fort, was nicht unberechtigt war, denn Französisch ist eine der beiden offiziellen Sprachen des CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung), und schließlich waren wir hier ja in Frankreich. Trotzdem finden fast alle CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung)-Meetings auf Englisch statt, und da mein Französisch nicht sehr ruhmreich ist, konnte ich der technischen Diskussion über einige Aspekte des Experiments – dafür hielt ich die Wortmeldungen zumindest – nicht ganz folgen.

Ich spürte meinen Herzschlag, als immer näher heranrückte, dass ich an der Reihe war. Ein paar Tage zuvor hatten wir ein kleineres Problem mit der Software zur Überwachung der Elektronik gehabt, was bei Anbruch des Morgens einen Panikschub im Kontrollraum ausgelöst hatte. Schließlich hatten wir das Problem mit dem üblichen Vorgehen gelöst – ausschalten und neu starten –, und seitdem lief alles glatt. Dennoch nagte in meinem Hinterkopf die Tatsache, dass ich der Ursache des Fehlers nicht nachgegangen war.

»Aus den letzten 24 Stunden gibt es nichts zu berichten«, sagte ich und hoffte, es würde keine Nachfragen geben. Zu meiner Erleichterung wandte sich der Projektleiter an das nächste Subsystem, und nach ein paar weiteren kurzen Berichten war klar: Der LHCb war startbereit.

Draußen, auf dem Parkplatz, betrachtete ich die aus den Kühltürmen aufsteigenden Dampfwolken, das einzige sichtbare Zeichen für die enorme Maschine, die unterirdisch wartete. Ich überlegte, wie viele Bewohner dieses Landstrichs zwischen dem Genfer Flughafen und dem Jura-Gebirge wohl tatsächlich wissen, was sich unter ihren Füßen abspielt.

Etwas mehr als eine Woche später, am 30. März 2010, unternahmen LHC-Ingenieure die spektakuläre Tat, zwei Protonenstrahlen aufeinanderzuschießen, sodass sie direkt ineinanderprallen. Das lässt sich ungefähr mit dem Versuch vergleichen, zwei Stricknadeln von den gegenüberliegenden Ufern des Atlantiks so aufeinanderzuschießen, dass sie sich auf halber Strecke treffen. Als die ersten ProtonenProton zusammenstießen, erschuf die EnergieEnergieMaterieMaterie, und Monitore im CERNCERN (Europäische Organisation für Kernforschung) zeigten Bilder von diesem mikroskopisch kleinen Moment der Schöpfung. Die in dem kleinen Kontrollraum des LHCb zusammengedrängten Physiker brachen in Jubel und Beifall aus. Zwei Jahrzehnte Arbeit hatten sich endlich ausgezahlt.

Dieser Tag markierte den Beginn einer gänzlich neuen Phase in der anspruchsvollsten intellektuellen Reise der Menschheit, dem jahrhundertelangen Streben, die grundlegendsten Zutaten der Natur zu erkennen und ihren Ursprung zu finden. Man könnte es auch die Suche nach dem Rezept für unser UniversumUniversum nennen. Dieses Buch erzählt von dieser Suche. Es erzählt die Geschichte von Tausenden von Menschen, die im Laufe von Hunderten von Jahren die elementaren Zutaten der MaterieMaterie erkannten und ihren Ursprüngen im Kosmos folgten, durchs Zentrum sterbender SterneSterne und bis zurück zum ersten wilden Moment des UrknallsUrknall. Diese Geschichte handelt von Chemie, atomarer, nuklearer und Teilchenphysik, Astrophysik, Kosmologie, und ich werde diese Geschichte anhand meiner persönlichen Mission erzählen, das ultimative Rezept für Apfelkuchen zu finden. Warum gerade Apfelkuchen, werden Sie fragen. Nun …

In der richtungsweisenden TV-Serie Cosmos (deutscher Titel: Unser KosmosUnser Kosmos) nahm der Astrophysiker Carl SaganSagan, Carl die Zuschauer mit auf eine epische Reise durch das UniversumUniversum, flog mit ihnen auf der Suche nach dem Ursprung des Lebens zu weit entfernten Galaxien und zeigte ihnen die Geburt und den Tod von SternenSterne. Da Unser Kosmos in den 1980er-Jahren entstand, gehörten zu dieser Reise durch Raum und Zeit eine Menge Synthesizerklänge.

SaganSagan, Carl, über den man wegen seiner eher bedeutungsschweren Moderation immer mal wieder spottete, übte sich in Folge 9 in etwas Selbstironie: Zu Beginn der Folge ist etwas zu sehen, was wie ein kleiner grüner Planet wirkt, der in der Leere des Raums schwebt. Sobald wir jedoch näher herankommen, wird deutlich, dass dies gar kein Planet, sondern ein Apfel ist, der unversehens zweigeteilt wird. Es folgt eine Küchenszene, in der ein recht bedrohlich wirkendes Nudelholz einen Teigklumpen ausrollt, wozu eine anschwellende Musik zu hören ist, die auch gut zu Blade Runner passen würde.

Die Szene endet wenig später im großen, eichenholzvertäfelten Speisesaal des Trinity College in Cambridge, wo SaganSagan, Carl, recht adrett in seinem typischen roten Rollkragenpullover, am Kopf einer langen gedeckten Tafel Platz genommen hat. Ein Kellner stellt einen frisch gebackenen Apfelkuchen vor ihm ab, worauf SaganSagan, Carl sich zur Kamera dreht und mit einem Zwinkern im Auge sagt: »Wenn Sie einen Apfelkuchen aus dem Nichts zubereiten wollen, müssen Sie zunächst das UniversumUniversum erfinden.«

Das wäre eine Kochshow, die ich mir gern ansehen würde. »Heute bereiten wir bei Das große Backen salziges Karamellparfait zu, doch zuerst wird uns Betty Schliephake-Burchardt zeigen, wie wir KohlenstoffKohlenstoff synthetisieren und dazu einen sterbenden Stern verarbeiten.« Wie dem auch sei, SaganSagan, Carl ging es darum, zu zeigen, dass ein Apfelkuchen aus viel mehr besteht als nur aus Äpfeln und Teig. Zoomt man nur nahe genug heran, entdeckt man Billionen und Aberbillionen Atome, die von einer SupernovaSupernova in den Raum geschossen oder in der glühenden Hitze des UrknallsUrknall geschmiedet wurden. Wenn man also wirklich wissen will, wie man einen Apfelkuchen backt, muss man zunächst herausfinden, wie man das gesamte UniversumUniversum macht.

Den letzten Ursprung von allem zu verstehen, wird meist in hochtrabende Worte gepackt – Stephen HawkingHawking, Stephen sprach einst davon, »Gottes Plan«[6] kennenzulernen –, doch mir gefällt SagansSagan, Carl alltagstauglicher Zugang besser. Wenn wir einen Apfelkuchen nehmen und ihn in immer grundlegendere Zutaten herunterbrechen und zugleich verstehen wollen, wie diese hergestellt wurden, kommen wir dann schlussendlich an einen Endpunkt? Wir werden womöglich nie den Plan Gottes kennenlernen, aber können wir dann wenigstens herausfinden, wie man einen Apfelkuchen von Grund auf zubereitet?

Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, werden wir uns auf eine Reise rund um den Globus begeben. Wir werden einen Kilometer tief unter eine italienische Bergkette hinabkriechen, um ins Herz der SonneSonne schauen zu können. Wir werden auf den Gipfel eines hohen Bergs in New Mexico klettern, wo Astronomen Botschaften entschlüsseln, die im Sternenlicht verborgen sind. Wir hören auf das Kräuseln im Stoff von Raum und Zeit inmitten der feuchten Kiefernwälder im südlichen Louisiana und schauen hinter die Kulissen eines New Yorker Labors, wo ein riesiger TeilchenbeschleunigerTeilchenbeschleuniger Temperaturen erschafft, die es seit dem UrknallUrknall nicht mehr gegeben hat. Unterwegs treffen wir auf Chemiker, Astronomen, Physiker und Kosmologen, zeitgenössische und solche aus der Vergangenheit, um uns unserem Ziel zu nähern: die Entschlüsselung der elementaren Zutaten für MaterieMaterie und die Geschichte dieser TeilchenTeilchen. Und wir stellen uns den Geheimnissen, die noch immer ungelöst sind, und überlegen uns, ob es Fragen gibt, die wir niemals werden beantworten können.

Wir bewegen uns kreuz und quer über Kontinente und Jahrhunderte, auf der Suche nach dem Rezept für unser UniversumUniversum, doch wie alle Epen beginnt diese Reise zu Hause.

Kapitel 1

Elementares Kochen

Eines Nachmittags im Sommer traf ich im Haus meiner Eltern in einem südöstlichen Vorort Londons ein. Unter dem Arm trug ich einige Glasgefäße, die ich online bestellt hatte, sowie ein Paket mit sechs Portionen Mr Kipling Bramley Apple Pie. Ich war gekommen, um das wahrscheinlich schwachsinnigste Experiment durchzuführen, das ich je gewagt habe.

In seinen Kindertagen war mein Vater ein begeisterter Amateur-Chemiker gewesen, und er verbrachte Mitte der 1960er-Jahre im Schuppen im hinteren Teil des elterlichen Gartens glückliche Nachmittage unter Erzeugung von Gerüchen und Explosionen. Das waren die Zeiten, als sich noch jeder (also auch Teenager mit fortgeschrittenen Chemiekenntnissen und einer gehörigen Portion Missachtung für die eigene Sicherheit) ein erschreckendes Arsenal gefährlicher Substanzen beim örtlichen Chemikalienlieferanten besorgen konnte. Dazu gehörte, wie sich herausstellte, auch alles, was man für Schießpulver brauchte. Mein Dad erinnert sich noch heute mit gewissem Wohlbehagen daran, wie eines seiner eher dramatischen Experimente zu einem abrupten Ende gelangte, als sein eigener Vater, ein ehemaliger Artillerist, dem das Dröhnen von Gewehrfeuer durchaus vertraut war, in die hintere Hälfte des Gartens gestürmt kam und brüllte: »Das reicht, der eben hat die Fenster erzittern lassen!« Ach, die guten alten Zeiten. Mein Vater besitzt noch heute ein paar Teile seines damaligen Chemiebaukastens, darunter einen Bunsenbrenner, auf den ich es nun abgesehen hatte. Ich hatte mir überlegt, dass meine kleine Londoner Wohnung nicht der ideale Ort war für das Experiment, das mir vorschwebte.

Der Gedanke hinter dem Versuch lautete: Wenn man Ihnen einen Apfelkuchen hinstellte und Sie keine Ahnung hätten von Kuchen, Äpfeln oder ihren Bestandteilen, was könnten Sie tun, um herauszufinden, aus was der Apfelkuchen besteht? Auf der Arbeitsfläche in der Garage kratzte ich, assistiert von meinem Vater, ein paar Krümel des Kuchens in ein Teströhrchen – wobei ich mir Mühe gab, eine gute Mischung aus knuspriger Kruste und weicher Apfelfüllung einzufüllen – und versiegelte es dann mit einem Korken, durch dessen Mitte ein kleines Loch gebohrt war. Nachdem ich das Röhrchen über ein L-förmiges Glasrohr mit einem zweiten Fläschchen verbunden hatte, das in kaltem WasserWasser schwamm, zündeten wir den Bunsenbrenner an, schoben ihn unter das Teströhrchen und traten einen Schritt zurück.

Der Kuchen begann zu blubbern und zu karamellisieren, und bald darauf drückte das sich ausbreitende GasGas innerhalb des Testrohrs unsere Probe in das Verbindungsstück. Wir verringerten die Hitze ein wenig und sahen zu, wie der Kuchen langsam schwarz wurde, und zu meinem Vergnügen zogen nun Nebelschwaden das Verbindungsstück entlang und strömten in das wartende zweite Gefäß, das kurz darauf bereits mit einem gespensterhaft weißen Dampf gefüllt war. Jetzt war das ein richtiges Chemieexperiment!

Neugierig, was dieser weiße Nebel sein mochte, schnupperte ich daran – eine probate Methode der chemischen Analyse aus den Tagen, in denen man sich um Gesundheits- und Sicherheitsrisiken wenig scherte. Schon Humphry DavyDavy, Humphry, ein Chemie-Pionier aus der Zeit der Romantik, untersuchte die medizinischen Auswirkungen verschiedener GaseGas mit der berühmt gewordenen Methode, sie einfach alle zu inhalieren. 1799 entdeckte er dabei die angenehmen Effekte von Distickstoffmonoxid, das heute als Lachgas bekannt ist und das er in der Folge in großen Mengen zu sich nahm, etwa wenn er sich mit seinen Dichterfreunden in einen dunklen Raum zurückzog. Hin und wieder tat er das auch in Gegenwart junger Frauen seiner Bekanntschaft. Bedenken Sie bitte, das war ein keineswegs risikoloses Vorgehen. Er stand einmal kurz davor, sich selbst umzubringen, als er mit Kohlenmonoxid experimentierte. Als man ihn hinaus an die frische LuftLuft schleifte, bemerkte er schwach: »Ich glaube nicht, dass ich sterben werde.«[7]

Leider produzierte mein Apfelkuchendampf keinerlei psychoaktive Effekte, sondern hatte nur einen extrem unangenehmen Gestank nach Angebranntem, der noch Stunden später in der LuftLuft hing. Sah man durch den Dampf zum Boden des Gefäßes, konnte man erkennen, dass ein wenig des Nebels durch den Kontakt mit dem kalten Wasserbad kondensiert war und eine gelbliche Flüssigkeit bildete, bedeckt von einem dunkelbraunen, öligen Film.

Nach weiteren zehn Minuten intensiven Erhitzens schien kein Dampf mehr aus den verkohlten Überbleibseln des Apfelkuchens aufzusteigen, woraus wir schlossen, dass unser Experiment zu Ende war. In meinem Eifer, die Reste in dem Teströhrchen zu untersuchen, vergaß ich kurz, dass ein Glas, das man zehn Minuten über einem Bunsenbrenner röstet, ganz schön heiß wird, und verbrannte mir meinen Zeigefinger ziemlich fies. Es gibt gute Gründe, weshalb das gefährlichste Instrument eines Versuchs, an das ich herangelassen werde, in aller Regel ein Computer ist.

Nach deutlich längerem Warten nahm ich mich behutsam erneut des Fläschchens an und kippte seinen Inhalt auf den Tisch. Der Apfelkuchen war zu einer rabenschwarzen, steinharten Substanz reduziert worden, deren Oberfläche an manchen Stellen ein wenig glänzte. Was können wir aus diesem zugegebenermaßen eher blödsinnigen Experiment über die Zusammensetzung eines Apfelkuchens schlussfolgern? Nun, wir haben drei unterschiedliche Substanzen erhalten: einen schwarzen Feststoff, eine gelbe Flüssigkeit und ein weißes GasGas, das sich in der Zwischenzeit über meine Haut, meine Haare und Kleider verteilt hatte und übel nach Verbranntem roch. Ich gebe zu, dass mir zu diesem Zeitpunkt die exakte chemische Zusammensetzung dieser drei Apfelkuchenbestandteile noch nicht ganz klar war, auch wenn ich sicher zu wissen glaubte, dass das schwarze Zeugs KohleKohle und die gelbliche Flüssigkeit vor allem WasserWasser war. Um näher an die Liste der grundlegenden Apfelkuchenzutaten zu gelangen, brauchen wir eine etwas fortschrittlichere chemische Analyse.

Die Elemente

Als Physiker sollte ich das vielleicht nicht zugeben, aber in der Schule war Chemie mein Lieblingsfach. Das Physiklabor war ein steriler, lustloser Ort, an dem man sich erfreut zeigen sollte, sobald man einen Stromkreis geschlossen oder mürrisch das Schwingen eines Pendels vermessen hatte. Das Chemielabor hingegen war ein magischer Ort, an dem wir mit FeuerFeuer und Säure spielten, einen Magnesiumstreifen anzündeten, sodass dieser gleißend verbrannte, oder farbige Tränke in hauchdünnen Gläsern zum Kochen brachten. Die Sicherheitsbrillen, die mit orangefarbenen Warnhinweisen versehenen Natriumhydroxid-Flaschen und die weißen Laborkittel, auf denen sich unidentifizierbare, vielleicht giftige Spritzer früherer Experimente abzeichneten, all das umgab das Chemielabor mit einer Aura von Gefahr. Das Kommando über all dies hatte unser rätselhafter Lehrer Mr Turner, der mit einem Sportwagen zur Schule kam und von dem man sich erzählte, er habe sein Vermögen durch die Erfindung des Aufsprühkondoms gemacht.

Und tatsächlich war es meine Faszination für die Chemie, die mich schließlich dazu brachte, Teilchenphysiker zu werden. Die Chemie beschäftigt sich, genau wie die Teilchenphysik, mit der MaterieMaterie, dem Stoff der Welt, und wie die unterschiedlichen Grundzutaten miteinander reagieren, wie sie auseinanderfallen oder ihre Eigenschaften je nach bestimmten Gesetzen verändern. Der Grund, weshalb ich nicht bei der Chemie geblieben bin, ist der, dass ich wissen wollte, woher diese Gesetze stammen. Wäre ich im 18. oder 19. Jahrhundert geboren worden, wäre ich vermutlich Chemiker geworden. Damals war Chemie, und nicht Physik, das Fach der Wahl, wollte man die grundlegenden Bausteine der Materie verstehen.

Die Person, die vermutlich mehr als jede andere für die Entstehung der modernen Chemie gesorgt hat, war Antoine Laurent de –LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent, ein kecker, ehrgeiziger und unglaublich reicher junger Franzose, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte. 1743 in eine sehr wohlhabende Pariser Familie hineingeboren, wurde er Jurist und nutzte das große Erbe seines Vaters, um sich im Pariser Arsenal ein eigenes Labor mit den ausgefeiltesten Apparaturen einzurichten, die man damals für Geld kaufen konnte. Dank der Hilfe seiner Frau und Mit-Chemikerin Marie-Anne Pierrette PaulzePaulze, Marie-Anne Pierrette vollbrachte er die von ihm selbst so genannte »Revolution« in der Chemie, bei der er die alten Ideen, die noch aus dem antiken Griechenland stammten, systematisch widerlegte und an deren Stelle das moderne Konzept eines chemischen Elements entwickelte.

Die Idee, dass alles in der materiellen Welt aus einer Reihe grundlegender Substanzen, oder Elemente, besteht, ist schon Tausende Jahre alt. In den antiken Zivilisationen unter anderem Ägyptens, Indiens, Chinas und Tibets entstanden unterschiedliche Elemente-Theorien. Die alten GriechenGriechen (Antike) zeigten sich überzeugt, dass die materielle Welt aus vier Elementen bestehe: ErdeErde, WasserWasser, LuftLuft und FeuerFeuer. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zwischen dem, was die alten GriechenGriechen (Antike) für ein Element hielten, und der Definition eines chemischen Elements, wie sie heute in der Schule gelehrt wird.

In der modernen Chemie ist ein Element eine Substanz wie KohlenstoffKohlenstoff, EisenEisen oder GoldGold: Man kann sie nicht in etwas anderes aufschlüsseln oder in etwas anderes umwandeln. Die antiken GriechenGriechen (Antike) hingegen glaubten, dass ErdeErde, WasserWasser, LuftLuft und FeuerFeuerdurchaus in ein anderes Element verwandelt werden könnten. Die vier Elemente wurden um das Konzept der vier »Qualitäten« ergänzt: Hitze, Kühle, Trockenheit und Feuchte. Erde war kalt und trocken, Wasser war kalt und feucht, Luft war heiß und feucht und Feuer war heiß und trocken. Folglich war es möglich, ein Element in ein anderes umzuwandeln, indem man Qualitäten hinzufügte oder entfernte. Gab man beispielsweise etwa Hitze zu Wasser (kalt und feucht) hinzu, entstand Luft (heiß und feucht). Diese MaterieMaterie-Theorie weckte die Hoffnung auf die Transformation oder »TransmutationTransmutation« einer Substanz in eine andere durch die Anwendung von Alchemie – am berühmtesten wohl die Wandlung von einfachem Metall in GoldGold.

Dieses Konzept der TransmutationTransmutation griff LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent als Erstes an. Wie bei vielen anderen seiner großen Entdeckungen basierte auch in diesem Fall seine Vermutung auf einer simplen Annahme, nämlich dass bei einer chemischen Reaktion die Masse stets gleich bleibt. Mit anderen Worten: Wiegt man zu Beginn eines Experiments alle Zutaten und am Ende alle Produkte – wobei man sorgfältig aufpassen muss, dass kein heimtückisches Gasfähnchen entweicht –, sollten die Massen identisch sein. Chemiker hatten dies schon eine ganze Weile vermutet, doch es war dann LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent, der mithilfe einiger extrem präziser (und extrem teurer) Waagen dieser Idee zur Durchsetzung verhalf, als er 1773 die Ergebnisse seiner akribischen Versuche veröffentlichte.[1] Mr Turner brachte mir in seinen Chemiestunden den Massenerhaltungssatz als das LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent-Gesetz bei.

Was allerdings für die TransmutationTransmutation sprach, ist die Tatsache, dass bei langsamem Destillieren von WasserWasser in einem Glasgefäß am Ende ein Feststoff übrigbleibt. Das bestätigt scheinbar die Vermutung, dass Wasser in ErdeErde verwandelt werden kann. LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent hatte da so seine Zweifel. Durch das Abwiegen des leeren Glasgefäßes vor und nach dem Experiment stellte er fest, dass es ein wenig Masse verloren hatte; und diese entsprach ziemlich genau der Masse der sogenannten Erde. Mit anderen Worten: Die Idee war Nonsens. Der zurückbleibende Feststoff bestand schlicht aus kleinen Stückchen des Glasgefäßes.

Indem er die Idee der TransmutationTransmutation von WasserWasser in ErdeErde beerdigte, gab LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent den ersten Schuss seines Feldzugs ab, der damit enden sollte, dass die Menschen eine gänzlich neue Vorstellung von der chemischen Welt erlangten. Mit der für ihn typischen Prahlerei verkündete er seine Absicht, »eine Revolution in der Physik und Chemie«[8] anzuzetteln, und machte sich dann daran, die vier antiken Elemente zu zerstören. Sein nächster Schritt in dieser Richtung betraf das geheimnisvollste und mächtigste aller Elemente: das FeuerFeuer.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts glaubte man, dass brennbare Materialien wie KohleKohle eine als »Phlogiston« bezeichnete Substanz enthalten, die entweicht, sobald man das Material anzündet. Ein Brennstoff wie Kohle enthält danach sehr viel Phlogiston, das beim Verbrennen freigesetzt wird, und das FeuerFeuer erlischt in dem Moment, in dem all das Phlogiston in der Kohle aufgebraucht oder die umgebende LuftLuft so voll von Phlogiston ist, dass sie kein weiteres mehr aufnehmen kann.

Ein Problem mit diesem Phlogiston-Konzept ergab sich mit der Entdeckung, dass MetallMetall, Verbrennung vone schwerer werden, wenn man sie verbrennt – wo man doch annehmen sollte, dass sie leichter werden, wenn all das Phlogiston entwichen ist. Der aus Dijon stammende Anwalt und Chemiker Louis-Bernard Guyton de MorveauGuyton de Morveau räumte diesen Widerspruch aus der Welt, indem er erklärte, Phlogiston sei unglaublich leicht und es verschaffe den Metallen eine Art »Auftrieb« wie bei einem Heißluftballon. Wird das MetallMetall, Verbrennung von verbrannt, geht der vom Phlogiston verursachte Auftrieb verloren, und es wirkt so, als würde das Metall schwerer.

LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent war alles andere als beeindruckt von Guytons Idee und argumentierte in die Gegenrichtung – anstatt dass das Verbrennen Phlogiston freisetzt, gehört zum Verbrennen die Aufnahme, die Absorption von LuftLuft. Das erklärt, warum MetallMetall, Verbrennung vone schwerer werden, sobald man sie verbrennt: Sie geben kein auftreibendes Phlogiston ab, sondern verbinden sich mit Luft.

Es lohnt sich, ein paar Augenblicke damit zu verbringen, die Genialität dieser Erkenntnis zu würdigen. Vergessen Sie dazu kurz einmal alles, was man Ihnen in der Schule über das Brennverhalten beigebracht hat: Dann ergibt die Überlegung, dass durch das FeuerFeuer Phlogiston abgegeben wird, auf einmal durchaus Sinn. Feuer scheint ein Prozess zu sein, bei dem etwas freigesetzt wird – LichtLicht, Hitze und Rauch sind wohl das Mindeste. Die Idee, dass sich bei der Verbrennung LuftLuft mit dem Brennstoff verbindet, effektiv also etwas aus der Luft herausgesogen wird, ist da alles andere als intuitiv. LavoisiersLavoisier, Antoine-Laurent Fähigkeit, den sich aus dem Versuch ergebenen Beweisen zu folgen und all das abzulehnen, was wie selbstverständlich wirkt, erlaubte es ihm, zu solch radikal unterschiedlicher Schlussfolgerung zu gelangen.

Die Frage blieb, was genau es in der LuftLuft war, das beim Verbrennen verbraucht wurde. Ohne dass LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent damals davon wusste, waren auf der anderen Seite des Ärmelkanals signifikante Fortschritte beim Verständnis von Luft gelungen. 1756 hatte der schottische Naturphilosoph[2] Joseph BlackBlack, Joseph einen eigenartigen neuen Typ von Luft entdeckt, der entsteht, wenn man bestimmte Salze erhitzt. Besonders verblüffend für BlackBlack, Joseph war, dass es unmöglich ist, Dinge in Brand zu stecken, wenn sie von dieser »fixen Luft« umgeben sind – die wir heute als KohlenstoffdioxidKohlenstoffdioxid kennen. Ein Jahrzehnt später erkannte Henry CavendishCavendish, Henry: Kippt man Schwefelsäure über EisenEisen, bildet sich eine weitere, leichtere Luft, die mit einem charakteristischen Pop in Flammen aufgeht. Der produktivste Entdecker neuer Lüfte war jedoch der englische Naturphilosoph Joseph PriestleyPriestley, Joseph.

PriestleyPriestley, Joseph wurde zu seinen Untersuchungen von LuftLuft angeregt, als er von CavendishsCavendish, Henry Entdeckung der »unentzündlichen Luft« 1767 hörte. Zu dieser Zeit war er als presbyterianischer Seelsorger in Leeds tätig und lebte direkt neben einer Brauerei; ein deutlicher Kontrast zu LavoisiersLavoisier, Antoine-Laurent verschwenderisch ausgestattetem Labor im Herzen von Paris. Wie dem auch sei, neben einer Brauerei zu wohnen hatte, neben der üppigen Versorgung mit Bier, noch andere Vorteile. Die GärungGärung ergab große Mengen fixer Luft, die PriestleyPriestley, Joseph unter anderem dafür nutzte, eine Technik zur Herstellung von sprudelnden Getränken zu entwickeln, womit er die Grundlage für die spätere Softdrink-Industrie schuf.[3]

Ein paar Jahre später gelang PriestleyPriestley, Joseph jene Entdeckung, die ihm seinen Platz in den Geschichtsbüchern sicherte. Er fokussierte SonnenlichtSonnenlicht mit einer großen Brennlinse auf eine Probe des hochgiftigen »roten Leu« (ein quecksilberhaltiges Mineral), woraufhin das Quecksilberoxid eine neue Art von LuftLuft abgab. PriestleyPriestley, Joseph erkannte, dass diese Luft einer Flamme zu einem unglaublich hellen LichtLicht verhalf und sie eine Maus in einem abgeschlossenen Behälter bis zu vier Mal so lange am Leben hält wie gewöhnliche Luft. PriestleyPriestley, Joseph probierte diese neue Luft auch an sich selbst aus und hielt dazu fest:

Das Gefühl, das sie in meinen Lungen auslöste, war nicht spürbar unterschieden von dem gewöhnlicher LuftLuft; doch ich glaubte, dass sich meine Brust einige Zeit danach besonders leicht und mühelos bewegte. Wer vermag es zu sagen, ob zu einem späteren Zeitpunkt einmal diese reine Luft zu einer luxuriösen Modeerscheinung zu werden vermag. Bis hierher haben nur zwei Mäuse und ich selbst das Privileg genossen, sie zu atmen.[9]

PriestleyPriestley, Joseph war überzeugt, diese erstaunlichen Eigenschaften der »dephlogistierten LuftLuft« (»dephlogisticated air«) hätten damit zu tun, dass sie deutlich weniger Phlogiston enthält als die übliche Luft. Das erlaube es ihr, das beim Brennen einer Kerze oder bei den Atemzügen einer Maus abgegebene Phlogiston aufzunehmen, weshalb das Verbrennen oder Atmen effektiver und damit länger möglich sei.

Im Oktober desselben Jahres reiste PriestleyPriestley, Joseph nach Paris, wo er viele der klügsten Köpfe der Stadt traf, darunter auch Antoine de LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent. Leider wissen wir nur sehr wenig über das Gespräch der beiden, doch man kann sich vergnüglich ausmalen, wie sich diese zwei Chemie-Giganten begegnet sind: der reiche, selbstsichere Großstädter aus Paris und der Arbeiterklasse-Radikale mit dem starken Yorkshire-Akzent. Was wir allerdings gesichert wissen, ist, dass PriestleyPriestley, JosephLavoisierLavoisier, Antoine-Laurent von seiner neuen Entdeckung berichtete, die sich als der fehlende Schlüssel zur Vollendung von dessen FeuerFeuer-Theorie erwies. Anstatt von dephlogistierter LuftLuft zu reden, erkannte LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent, dass PriestleyPriestley, Joseph in Wirklichkeit das GasGas entdeckt hatte, das sich mit dem Brennstoff während der Verbrennung verband. Er nannte es »Oxygen« – »SauerstoffSauerstoff«.

Laut LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent war FeuerFeuer kein Element und Phlogiston existierte nicht. Beim Brennen einer Kerze verbindet sich der Brennstoff mit dem SauerstoffSauerstoff, und es wird KohlenstoffdioxidKohlenstoffdioxid frei. Der Chemiker zeigte zudem, dass ein ähnlicher Prozess abläuft, wenn Tiere verdauen: Der KohlenstoffKohlenstoff aus ihrem Futter verbindet sich mit dem eingeatmeten Sauerstoff, um Kohlenstoffdioxid und Hitze freizugeben. Er belegte seine Idee schließlich damit, dass er ein Meerschweinchen in einen leeren Eimer setzte, der von einem Gefäß voller Eis umgeben war. Die Hitze, die der Körper des Nagers ausstrahlte, brachte das Eis zum Schmelzen, und indem LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent die Menge an WasserWasser maß, die unten aus dem Gefäß ausfloss, konnte er berechnen, wie viel Hitze das Meerschweinchen abgab. Damit hatte er bewiesen, dass Tiere tatsächlich ihr Futter verbrennen, um Hitze zu erzeugen. Keine Sorge, das Meerschweinchen musste nicht erfrieren – obwohl es ihm sicherlich ein wenig frisch geworden sein dürfte. In diesem Fall spielte also einmal ein Meerschweinchen das »Versuchskaninchen«.[10]

Doch LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent war damit noch nicht am Ende seiner Revolution angekommen. Bei anderen Experimenten war aufgefallen, dass beim Verbrennen von CavendishsCavendish, Henry entzündlicher LuftLuft mit SauerstoffSauerstoff offenbar WasserWasser zurückblieb. LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent gewann die Überzeugung, dass dies nur eins heißen konnte: Wasser, einst als das fundamentalste aller Elemente angesehen, war ebenfalls kein Element. Vielmehr bestand es wohl aus dieser entzündlichen Luft, die er »Hydrogen«, »WasserstoffWasserstoff«, nannte und PriestleysPriestley, Joseph Sauerstoff.

Ein Großteil der Wissenschaftscommunity, insbesondere aufseiten von Frankreichs großem imperialen Rivalen Großbritannien, hatte Probleme damit, dies zu schlucken. PriestleyPriestley, Joseph etwa lehnte LavoisiersLavoisier, Antoine-Laurent Vorschlag, dass WasserWasser kein Element sei, ab und blieb bis zu seinem Lebensende ein Anhänger der Phlogiston-TheoriePhlogiston-Theorie. LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent brauchte also einen experimentellen Beweis, um die Welt von seiner neuen Chemie zu überzeugen. Dies gelang ihm auf spektakuläre Art und Weise, als er 1785 bei einem öffentlichen Experiment in seinem Labor Wasser in SauerstoffSauerstoff und WasserstoffWasserstoff aufspaltete.

Ende der 1780er-Jahre war von den alten klassischen Elementen nichts mehr übrig. WasserWasser konnte in WasserstoffWasserstoff und SauerstoffSauerstoff aufgespalten werden, LuftLuft war eine Mischung aus verschiedenen GasenGas und FeuerFeuer ein Prozess, bei dem Sauerstoff mit dem Brennstoff reagierte. 1789 veröffentlichte LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent das wichtigste Propagandawerk für seine neue Chemie: ein Lehrbuch namens Traité élémentaire de chimie (»Elementar-Abhandlung der Chemie«), das in Deutschland unter dem Titel System der antiphlogistischen Chemie erschien. Darin gab er eine neue Definition eines »chemischen Elements« – eine Substanz, die sich nicht mehr in etwas anderes aufspalten lässt. Außerdem lieferte er eine Liste mit 33 dieser chemischen Elemente, von denen wir auch heute noch viele als solche zählen, etwa Sauerstoff, Wasserstoff und Azot, inzwischen unter dem Namen StickstoffStickstoff bekannt. Die Abhandlung wurde zu einem der einflussreichsten Bücher der Wissenschaftsgeschichte, und nach ein paar Jahren waren bis auf seine dickköpfigsten Kritiker alle überzeugt. LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent hatte seine großspurige Ankündigung erfüllt; er hatte tatsächlich eine Revolution der Chemie ausgelöst.

Nun, was würde LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent mit den drei Substanzen meines Apfelkuchenexperiments anstellen? Ich vermute, er wäre zunächst wenig beeindruckt von meiner zusammengepfuschten Herangehensweise an Chemie. Die Garage meines Vaters ist kaum so gut ausgestattet wie LavoisiersLavoisier, Antoine-Laurent Labor, und ich hatte keine Geräte, um den Apfelkuchen vor und nach dem Versuch präzise zu wiegen, wie es LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent sicherlich getan hätte. Schlimmer noch, ich hatte nicht verhindert, dass der weiße Dampf abzog, weshalb dessen Zusammensetzung für immer ein Geheimnis bleiben wird.

Doch was ist dann mit dem verkohlten schwarzen Zeugs, das im Teströhrchen zurückblieb? Wenn wir einen Blick auf LavoisiersLavoisier, Antoine-Laurent Liste der chemischen Elemente werfen, fällt eines sofort ins Auge: KohleKohle. Holzkohle wird seit Jahrhunderten als Brennmaterial verwendet und häufig dadurch hergestellt, dass man einen Stapel Holz mit einer Schicht Lehm oder Torf bedeckt und in der Mitte ein FeuerFeuer entzündet. Die Außenhülle hält den SauerstoffSauerstoff weitgehend fern, weshalb der Holzstapel im Innern nicht durchbrennt. Die große Hitze des zentralen Feuers spaltet das Holz in Holzkohle und GaseGas auf. Das ist im Groben genau das, was wir mit dem Apfelkuchen getan haben; der Pfropfen auf dem Teströhrchen verhielt sich wie der Torf, das heißt, er verhinderte den Zustrom von Sauerstoff aus der LuftLuft und damit, dass der stark erhitzte Kuchen Feuer fing. Wir hatten Kohle hergestellt. Oder das, was in modernen Bezeichnungen als ziemlich reine Form des grundlegenden Elements aller organischen MaterieMaterie gilt: KohlenstoffKohlenstoff.

Was die gelbliche Flüssigkeit angeht, da hätte ich prinzipiell noch versuchen können, sie weiter aufzuspalten, doch leider war es mir nicht gelungen, mehr als einen Fingerhut voll der faulig riechenden Flüssigkeit zu produzieren – viel zu wenig, um damit ein weiteres Experiment durchzuführen. Und ich war nicht bereit, den örtlichen Supermarkt zu plündern und allen Apfelkuchen aufzukaufen, nur um ihn dann in tagelanger Arbeit klein zu kochen. Ohnehin ist es nicht verwegen zu behaupten, dass sie vor allem aus WasserWasser bestand, und dank LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent wissen wir, dass Wasser eine Verbindung aus SauerstoffSauerstoff und WasserstoffWasserstoff ist. Womit wir zwei weitere Zutaten des Apfelkuchens hätten. Und in der Tat sind unter allen Elementen genau diese drei, KohlenstoffKohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff, die dominanten in der gesamten organischen MaterieMaterie, von Apfelkuchen bis hin zum Menschen. Allerdings sind sie sicher nicht die einzigen chemischen Zutaten meines Gebäckstücks. Ein kurzer Blick auf die Nährwertangaben auf der Rückseite der Verpackung verrät mir, dass der Kuchen unter anderem etwas EisenEisen enthält, das vermutlich noch in unserer KohleKohle steckt. Und obwohl ich sie im Schuppen meines Vaters nicht isolieren konnte, kommen auch StickstoffStickstoff, Selen, NatriumNatrium, ChlorChlor, Kalium, Kalzium, Phosphor, Fluor, MagnesiumMagnesium, Schwefel und noch viele andere vor – vielleicht in nur sehr geringen Mengen, aber sie sind vorhanden.

Die tiefergehende Frage ist jedoch: Aus was bestehen wiederum diese unterschiedlichen Elemente? Schließlich wollen wir einen Apfelkuchen aus dem Nichts machen, da reichen uns WasserstoffWasserstoff, SauerstoffSauerstoff und KohlenstoffKohlenstoff nicht. Sie sind nur der Anfang der Geschichte.

Kapitel 2

Das kleinste Stück

Zu Beginn der Folge 9 von Unser KosmosUnser Kosmos, gleich nachdem Carl –SaganSagan, Carl jene Worte äußerte, die mich zu diesem Buch inspirierten, steht er von seinem Stuhl am Kopf der langen Tafel auf, greift nach einem Messer und stellt uns die Frage: »Angenommen, ich schneide ein Stück aus diesem Apfelkuchen … und nehmen wir an, ich schneide dieses Stück einmal mehr oder weniger in der Mitte durch und dann dieses Stück noch einmal und mache immer so weiter … Wie oft muss ich schneiden, bis ich bei einem einzelnen AtomAtom ankomme?«

Zehn Mal? Hundert Mal? Eine Million Mal? Vielleicht kann man den Apfelkuchen auch immer weiter in kleine und kleinere Stückchen schneiden, bis man eine unendliche Zahl unendlich winziger Stücke hat. Dieses knappe Gedankenexperiment fasst die Essenz der wichtigsten Idee der Naturwissenschaften zusammen – dass alles aus Atomen besteht.

Laut der klassischen Definition sind Atome winzige, unzerstörbare TeilchenTeilchen der MaterieMaterie, die nicht verändert oder weiter aufgespalten werden können (das Wort »AtomAtom« stammt aus dem Altgriechischen atomos, was »unteilbar« bedeutet). Es gibt sie in unterschiedlichen Formen und Größen, und sie verbinden sich, um alles zu erschaffen, was wir in der Welt um uns herum sehen, von Apfelkuchen bis zu Astronauten. Es ist eine verführerisch einfache Idee, die jedoch zugleich unserer alltäglichen Erfahrung vollständig widerspricht. Unsere Sinne nehmen eine Welt aus Form und Farbe, Textur und Temperatur, aus Geschmack und Geruch wahr: die weiche rote Haut eines Apfels oder der bittere Geschmack von Kaffee.

Das Atommodell macht uns deutlich, dass diese Welt eine Illusion ist. Ganz weit unten an den Wurzeln der Dinge gibt es so etwas wie rote Farbe oder den Geschmack von Kaffee nicht. Ganz tief unten gibt es nur Atome und leeren Raum. Farbe, Geschmack, Hitze, Textur sind nur Tricks unseres Verstands, hervorgegangen aus der unzählbaren Vielheit unterschiedlicher Atome, die in einer unglaublichen Vielzahl unterschiedlicher Formen miteinander verbunden sind.

Denkt man in dieser Art und Weise an Atome, überrascht es nicht, dass es Tausende Jahre brauchte, bis das Konzept verfing. Obgleich es schon im antiken Griechenland Varianten des Atommodells gab, verfügte es nie über große Überzeugungskraft, zumal der einflussreiche AristotelesAristoteles diese Idee ablehnte und lieber seinen Sinnen als einem abstrakten Konzept vertraute. Die Theorie von QualitätenQualitäten, Theorie von ergibt auch viel mehr Sinn, schließlich sind wir alle mit Hitze, Kühle, Trockenheit und Feuchte vertraut, aber wer hat schon einmal ein AtomAtom gesehen?

Erst im 17. Jahrhundert nahm man in wissenschaftlichen Kreisen Atome langsam ernst. Isaac NewtonNewton, Isaac war ein erklärter Atomist und glaubte, dass Atome nicht nur die materielle Welt bilden, sondern auch das LichtLicht selbst, das er sich als Schauer winziger TeilchenTeilchen oder »Korpuskeln« vorstellte. NewtonsNewton, Isaac gewaltiger Einfluss auf die Wissenschaft, zu dem die GravitationGravitation, Optik und die Gesetze der Bewegung gehören, überzeugte viele Naturphilosophen des 18. Jahrhunderts davon, mit einem atomistischen Blick auf die Welt zu schauen. Andererseits gab es wirklich kaum Beweise für die Existenz von Atomen, und das Modell war für das Verständnis von Chemie recht nutzlos. LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent und PriestleyPriestley, Joseph konnten experimentieren und theoretisieren, ohne allzu viele Gedanken daran zu verschwenden, was eine Ebene weiter unten geschieht. LavoisierLavoisier, Antoine-Laurent, der pedantisch nur dahin ging, wohin ihn Fakten führten, hatte wenig Zeit für unsichtbare Atome.

Bevor Atome ans Tageslicht gelangen konnten, musste ihnen jemand eine Brücke zwischen ihrem verborgenen Reich und der Welt der Chemie bauen. Dieser Jemand tauchte aus der wilden und schönen Grafschaft Cumberland im Nordwesten Englands auf: John –DaltonDalton, John.

Die Idee des Atoms

John DaltonDalton, John wurde 1766 in Eaglesfield, einem kleinen, von sanft geschwungenem Ackerland umgebenen Dorf im Nordwesten Englands geboren. Johns Herkunft war ziemlich bescheiden; sein Vater Joseph war Weber, und die Familie besaß und bestellte ein kleines Stück Land in der Nähe des Dorfes.

Dennoch verfügte der junge John über einige Vorteile. Zum einen war er ein ungewöhnlich heller und frühreifer Junge mit natürlicher Neugier und der Fähigkeit, Informationen wie ein Schwamm aufzusaugen. Zum anderen waren seine Eltern Quäker, religiöse Nichtkonformisten, für die lernen ein hohes Gut war. Insbesondere Johns Mutter förderte seine Bildung und nutzte das familiäre Netzwerk rund um die religiöse Gesellschaft der Freunde, um ihrem Sohn eine bessere Schulbildung zu vermitteln, als sie ein armer Bauernjunge im England des 18. Jahrhundert ansonsten erhalten hätte.

John entwickelte früh eine Faszination für Wetterereignisse, was nicht erstaunt, gibt es im Nordwesten Englands doch viele davon. Von zu Hause aus konnte er beobachten, wie Regenwolken von der Irischen See herüberkamen und über die Erhebungen von Grasmoor und Grisedale Pike zogen. Die Quäker galten nicht unbedingt als vergnügungssüchtig – sie sind Abstinenzler und betonen das Gottesfürchtige in all ihren Taten –, doch das Studium der Natur war eine der erlaubten Freizeitaktivitäten, da es Gottes Wirken in der Welt offenbarte. Schon als Kind begann John, täglich den Luftdruck, die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und die Niederschlagsmenge aufzuschreiben, eine Routine, der er bis zu seinem Lebensende folgte. Und auch wenn er zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung davon hatte, so war dies doch der Anfang einer langen Reise, die ihn schließlich zu einem Atommodell führen sollte.

Obwohl Johns Schulbildung von den Quäkern gefördert wurde, musste er immer wieder prekäre Lebensphasen überstehen, und im Alter von 15 Jahren blieb ihm nichts anderes übrig, als in der Landwirtschaft zu arbeiten, um über die Runden zu kommen. Seine Zukunft sah nicht sehr rosig aus, doch die Rettung nahte mit dem Angebot, an einem Quäker-Internat im 80 Kilometer entfernten Städtchen Kendal zu unterrichten. Die Quäker hatten die Schule großzügig mit einer Reihe naturwissenschaftlicher Instrumente ausgestattet, mit denen er schon bald zu experimentieren anfing. Hinzu kam der allseits geliebte Tutor, der blinde Naturphilosoph John GoughGough, John, der Gefallen an dem eifrigen Teenager fand und ihn in Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtete, wozu auch NewtonsNewton, Isaac Atommodell gehörte. Im Gegenzug half John seinem blinden Lehrer beim Lesen, Schreiben und Anfertigen von Diagrammen für dessen wissenschaftlichen Aufsätze.

John wollte Jura oder Medizin studieren, wurde aber wegen seiner Religion von englischen Universitäten abgelehnt. Stattdessen konnte er sich eine Stelle als Professor an einem neuen College sichern, das von religiösen Nonkonformisten in der aufstrebenden Industriestadt Manchester gegründet worden war.

Für den Bauernjungen aus Eaglesfield muss Manchester ein riesiger und trubeliger Ort gewesen sein. Hier trieben religiöser und politischer Radikalismus, neue wissenschaftliche Ideen und revolutionäre Technologien den Wandel in einer Geschwindigkeit voran, die schwindelig machen konnte und vielleicht sogar ein wenig erschreckend war. Manchester bildete das hämmernde Herz einer industriellen Revolution, die aus Großbritannien das Kraftwerk der Welt machte. Hoch aufragende neue Baumwollspinnereien, von Rauch ausstoßenden Dampfmaschinen angetrieben, und Reihe um Reihe roter Backsteinhäuser bildeten die Skyline der Stadt. Hier war Naturwissenschaft kein Hobby, das reiche Aristokraten in ihren privaten Laboren pflegten, hier war sie Teil einer blühenden Gemeinschaft von Ingenieuren, Handwerkern und Industriellen. DaltonDalton, John hätte an keinem besseren Ort sein können, und er sprang kopfüber in Manchesters großen Wissenschaftspool.

Das Wetter blieb seine Leidenschaft, vor allem der Regen. In Südengland (woher auch ich stamme) behauptet man gerne spaßhaft, dass es in Manchester immer regnet. Das mag ein wenig unfair sein, doch im Nordwesten mangelt es ganz sicher nicht an Nässe. DaltonDalton, John unternahm in seiner Freizeit lange Wanderungen im beliebten, aber unbestreitbar regnerischen Lake District. Hier ist die LuftLuft manches Mal so schwer von WasserWasser, dass man sich fragt, ob sie überhaupt noch mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann. Und tatsächlich war es genau diese Frage, die ihn zum Nachdenken über Atome brachte.

DaltonDalton, John unternahm erste Versuche, um zu erfahren, wie viel WasserdampfWasserdampf von einem bestimmten Volumen LuftLuft aufgenommen werden konnte. Zu dieser Zeit dachte man, dass sich WasserWasser in der Luft auflöst wie Zucker in einer Tasse Kaffee. Wenn man mehr als 150 Teelöffel Zucker in einen Becher Kaffee gibt – was vermutlich sogar noch etwas mehr ist als in einem Starbucks Cinnamon Dolce Latte –, löst er sich nicht mehr auf, und man erhält Zuckerkristalle, die sich am Boden der Tasse ablagern. Ähnliches passiert, wenn es regnet: Sobald die Luft vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist, kondensiert das Wasser in kleinen Tropfen, die dann Wolken bilden. Und wenn die Tropfen groß genug sind, fängt es an zu regnen.

Allerdings müsste es dann so sein: Zwängt man in ein bestimmtes Volumen noch mehr LuftLuft hinein, sollte sie in der Lage sein, noch mehr WasserdampfWasserdampf aufzunehmen. In etwa so, als würde man in seinen Pott noch etwas Kaffee hinzugießen, um die zusätzlichen Zuckerkristalle aufzulösen. Doch DaltonsDalton, John Experimente ergaben etwas sehr Seltsames: Ein Gefäß absorbiert immer dieselbe Menge Wasserdampf, ganz egal, wie viel Luft man hineinpresst. Es schien, als würden sich Luft und Wasserdampf irgendwie gegenseitig ignorieren. Sie besetzen zwar denselben Raum, interagieren aber nicht miteinander.

Ich höre Sie jetzt ungeduldig rufen: Was hat das alles mit Atomen zu tun? Nun, es kommt hier auf die Interpretation an. DaltonDalton, John verstand dieses Ergebnis als Beleg für die Idee, dass LuftLuft und WasserdampfWasserdampf nur Kräfte (wie Anziehung und Abstoßung) auf Atome ihrer eigenen Art ausüben. Zwei Luftatome würden miteinander beziehungsweise aufeinander reagieren, und zwei Wasserdampfatome würden ebenfalls miteinander beziehungsweise aufeinander reagieren, aber ein Luftatom und ein Wasserdampfatom würden sich komplett ignorieren. Diese Situation lässt sich womöglich mit den unangenehmen Geburtstagsfeiern vergleichen, die ich mit Anfang zwanzig besuchte. Dort kamen immer zwei Gruppen zusammen: die alten Schulfreunde des Geburtstagskinds und die neuen Unifreunde. Obgleich wir alle auf derselben Party waren, schoben wir uns in dem Raum hin und her, plauderten nur mit unseren jeweiligen Cliquen und nahmen die Existenz dieser anderen Freunde kaum wahr. Laut DaltonDalton, John verhalten sich Atome zweier unterschiedlicher GaseGas mehr oder weniger genauso.

DaltonDalton, John veröffentlichte seine Theorie 1801, und sie verursachte augenblicklich eine Aufregung, die sich weit über Manchester bis in die wissenschaftlichen Akademien in Kontinentaleuropa ausbreitete. In London zeigte sich der charismatische Chemiker und Einatmer seltsame GaseGas Humphry DavyDavy, Humphry fasziniert von der Theorie der »gemischten Gasegemischten Gase, Theorie derGas«, doch zahlreiche führende Wissenschaftler plädierten leidenschaftlich dagegen, darunter auch DaltonsDalton, John alter Mentor und Freund John GoughGough, John. Das dürfte ihn geschmerzt haben.

DaltonDalton, John entschied sich, seine Kritiker eines Besseren zu belehren, und begann eine Reihe von Experimenten, mit denen er hoffte, unwiderlegbare Beweise für seine Theorie zu finden. In diesem Zusammenhang stieß er, beinahe per Zufall, auf die Frage, warum sich manche GaseGas leichter in WasserWasser lösen als andere. Sein Vorschlag war einfach, enthielt aber schon den Kern dessen, was später ein ausgewachsenes Atommodell werden sollte: DaltonDalton, John war der Meinung, dass das Gewicht der Atome darüber entschied, wie leicht löslich sie waren, wobei schwerere Atome sich besser in Wasser lösen als leichte. Um seine Idee zu überprüfen, musste er herausfinden, wie schwer bestimmte Atome im Vergleich zu anderen waren.

Aber wie sollte das gehen? Vergessen wir nicht, dass Anfang des 19. Jahrhunderts niemand auch nur in die Nähe des Anblicks eines Atoms kam. Es sollte fast noch 200 Jahre dauern, bis ein MikroskopMikroskop erfunden wurde, das stark genug ist, uns ein AtomAtom zu zeigen. Atome waren nur eine Idee, und falls sie überhaupt existierten, waren sie alle derart klein, dass so ziemlich jeder Wissenschaftler dieser Epoche davon überzeugt war, sie würden für immer jenseits unserer Wahrnehmung liegen. Wie um Himmels willen konnte DaltonDalton, John nur ihre Masse feststellen?

DaltonsDalton, John geniale Idee war, von seiner Theorie der gemischten Gasegemischten Gase, Theorie derGas – dass Atome nur andere Atome ihrer eigenen Art abstoßen – auszugehen und sie hochzurechnen, um herauszubekommen, wie viele Atome unterschiedlicher chemischer Elemente sich zusammenfügen, um MoleküleMolekül zu bilden. Seine Argumentation war ungefähr folgende: Stellen wir uns vor, wir haben zwei Atome zweier unterschiedlicher chemischer Elemente, nennen wir sie AtomAtom A und Atom B, die sich zu einem MolekülMolekül A-B verbinden. Stellen wir uns nun vor, dass ein weiteres Atom A hinzukommt und sich der Party anschließen will. Da sich die A-Atome gegenseitig abstoßen, wird das neue A so weit wie möglich von dem anderen Atom A entfernt bleiben und hängt sich daher an der anderen Seite des B-Atoms an. Es entsteht ein größeres Molekül in der Form A-B-A. Kommt nun ein drittes A-Atom hinzu, wird es sich dieses Mal in einem Winkel von 120 Grad von den beiden anderen A-Atomen einsetzen, woraus sich eine Dreiecksform ergibt, bei der B im Zentrum ist etc.

 

 

DaltonDalton, John argumentierte, dass, wenn nur eine Verbindung von A und B bekannt ist, dieses MolekülMolekül die einfachste Struktur haben müsse, also A-B. Weiß man von zwei verschiedenen Verbindungen zwischen A und B, dann ist dieses zweite Molekül das nächst einfachere, A-B-A.

Ein Beispiel: Anfang des 19. Jahrhunderts kannte man zwei verschiedene GaseGas, die aus KohlenstoffKohlenstoff und SauerstoffSauerstoff bestehen. Eines hieß in der damaligen Terminologie »Kohlenstoffoxid« (das unsichtbare giftige GasGas, das Humphry DavyDavy, Humphry fast getötet hätte, als er es einatmete, vielleicht im Namen der Wissenschaft, vielleicht aber auch nur auf der Suche nach einer neuen Möglichkeit für einen Rausch), das andere hieß »Kohlenstoffsäure« (die von Joseph BlackBlack, Joseph entdeckte fixe LuftLuft, mit der man einige unglückliche Mäuse erstickte, wieder im Namen der Wissenschaft). Indem er die Menge an Sauerstoff maß, die mit einer festen Menge Kohlenstoff reagierte, um diese zwei GaseGas zu erzeugen, fand DaltonDalton, John