Was steckt in unserer Kleidung? - Rebecca Burgess - E-Book

Was steckt in unserer Kleidung? E-Book

Rebecca Burgess

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Beschreibung

Dieses Buch wird klimapositiv hergestellt, cradle-to-cradle gedruckt und bleibt plastikfrei unverpackt. Was dein Pulli mit regenerativer Landwirtschaft zu tun hat Hast du dich auch mal gefragt, wo deine Kleidung eigentlich herkommt? Also nicht nur das fertige Teil – sondern alle seine Bestandteile. Die Rohstoffe, aus denen es hergestellt wurde. Die Farbe, die es so besonders macht. Und hast du dich gefragt, wer es designt hat, wer den Stoff webt, der sich so weich auf deiner Haut anfühlt, und wer die Einzelteile zu einem Ganzen vernäht? Was das Verhältnis zu unserer Kleidung betrifft, könnte man sagen: Wir haben den Faden verloren. Oder sogar noch schlimmer: Die Beziehung zu unserer zweiten Haut ist … leider toxisch. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn einerseits haben wir uns an Fast Fashion gewöhnt: daran, ständig neue Kleidung zu kaufen. Andererseits sind die Inhaltsstoffe in konventioneller Kleidung tatsächlich giftig und schädlich – nicht nur für unsere Umwelt, sondern auch für die Menschen, die sie herstellen, und für die Konsument*innen, die sie direkt auf ihrer Haut tragen. Und das alles trägt noch dazu erheblich zur Klimakrise bei: Die Modeindustrie ist heute für 10 % der menschengemachten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, mehr als der Flug- und Schiffsverkehr zusammen. Die Gemeinschaft zählt: We're all connected Rebecca Burgess wollte Veränderung. Sie wollte jeden Produktionsschritt in der Textilwirtschaft neu denken, fairer und nachhaltiger gestalten – und direkt vor ihrer Haustür in Nordkalifornien damit anfangen. Und genau aus diesem Grund baute sie das Projekt "Fibershed" auf, das Bäuer*innen, Färber*innen, Designer*innen und Hersteller*innen vernetzt. In einem "Fibershed", also Fasereinzugsgebiet, wird regional, nachhaltig und umweltschonend Kleidung produziert, die wieder vollständig in den biologischen Kreislauf rückgeführt werden kann. Und mittlerweile gibt es schon über 45 Fibersheds weltweit. Der rote Faden: Gemeinsam gegen den Klimawandel In diesem Buch gibt uns Rebecca Burgess einen Einblick in die Textilwirtschaft: Sie zeigt, wie Kleidung und Stoffe produziert werden, wie problematisch viele der Vorgänge dabei sind – aber vor allem: welche Alternativen es gibt. Alternativen, die die Textilwirtschaft von Grund auf ändern: Rohstoffe und Faserpflanzen für Textilien werden in regenerativer Landwirtschaft, also ohne Einsatz von Pestiziden und Kunstdüngern, angebaut. Und die Tiere, von denen die Wolle stammt, leben in artgerechter Haltung. So kann sich der Boden regenerieren, die Biodiversität wird gesteigert und der Wasserkreislauf belebt. Verarbeitet werden die Rohstoffe möglichst regional unter fairen Arbeitsbedingungen. Und am Ende des Kreislaufs steht nicht etwa ein Kleidungsstück, das im Müll landet – nein, diese Stoffe können sogar kompostiert werden und finden so ihren Weg irgendwann wieder zurück in den Boden. Eben: soil-to-soil, cradle-to-cradle, nachhaltig und umweltschonend. • Beyond Fair Fashion: Slow Fashion! Die Non-Profit-Organisation "Fibershed" revolutioniert den gesamten Textilkreislauf – und zwar von der Wurzel weg: mit flauschiger Wolle, Stoff aus Pflanzenfasern und natürlichen Farbstoffen von ökologisch angebauten Färberpflanzen. Für gesunde Böden, robuste Pflanzen, artgerecht gehaltene Tiere sowie faire und sichere Arbeitsbedingungen. Für alle! • Vernetzung ist angesagt: Fibersheds sind lebendige Systeme: Bäuer*innen, Färber*innen, Hersteller*innen, Modeaktivist*innen und Konsument*innen tun sich zusammen, um einen nachhaltigen Textilkreislauf zu schaffen. • Deine zweite Haut – aber wie gut kennst du sie eigentlich? Finde heraus, was in der Modeindustrie heute so (schief) läuft, welche Inhaltsstoffe sich in deiner Kleidung verstecken und welche Möglichkeiten es gibt, schon

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„Was steckt in unserer Kleidung? ist eine Geschichte von Vision, Beharrlichkeit und Freundlichkeit. Mit Geduld und Anmut hat Rebecca ein Gefühl der Dankbarkeit für die übersehenen Gräser und krautigen Pflanzen wiederhergestellt, die einst unsere zweite Haut waren. Aus der lebenden Welt um sie herum hat sie die losen Stränge der Textilkunst zusammengeflickt und eine Ökonomie des Ortes geschaffen, in der Hersteller*innen Künstlerinnen sind und Kleidung verehrt wird.“

Paul Hawken,

Autor vonBlessed Unrest; Herausgeber vonDrawdown

„Rebecca hat durch ihre Organisations- und Lobbyarbeit mit der Fibershed-Organisation einen unglaublichen Beitrag zur Slow-Fashion-Bewegung geleistet. Ich bin begeistert zu wissen, dass diese Arbeit durch dieses durchdachte Buch einem breiteren Publikum zugänglich ist. Mögen wir alle von ihrer Weisheit, Forschung und ihrem Wissen lernen, während wir noch tiefere Verbindungen zwischen Farmen, Faserkunst und Mode schaffen.“

Katrina Rodabaugh,

Autorin vonMendingMatters

„Die Sünden ölbasierter Fasern sind bekannt, weniger bekannt sind jedoch die der pflanzlichen und tierischen Faserproduktion – die selbst einen großen Beitrag zur globalen Wüstenbildung und zur Klimakatastrophe leisten. Wenn wir zukünftigen Generationen Hoffnung geben wollen, müssen wir nicht nur die Nahrung, die wir essen, sondern auch die Kleidung, die wir tragen, in einer neuen, regenerativen Landwirtschaft verwurzeln. Einer, die Nutztiere nach ganzheitlich geplanten Weideprozessen bewirtschaftet. Das wohlrecherchierte Buch von Rebecca Burgess schürt ein Feuer, das bereits durch die Zusammenarbeit und Vernetzung von Organisationen auf der ganzen Welt entfacht wurde. Es verbindet die Punkte zwischen unserer Kleidung und unserer lebenserhaltenden Umgebung. Ich möchte jede Person, die Kleidung trägt und sich um zukünftige Generationen sorgt, ermutigen, dieses Buch zu lesen.“

Allan Savory,

Präsident und Mitbegründer des Savory Institute

Die Alpakas von Sandy Wallace Oberleib des Nicasio-Reservoirs in Nordkalifornien.

Inhalt

Einleitung

Was hat Kleidung mit Landwirtschaft zu tun?

Wie ich mein Fibershed fand

Über dieses Buch

1. Der Preis unserer Kleidung

Eine kurze Geschichte der Kleidung

Die Gefahren der synthetischen Chemie

Synthetische Farbstoffe und der Preis der Farbe

Wir tragen endokrine Disruptoren

Fast Fashion und andere Probleme

Die Slow-Clothing-Lösung

2. Die Fibershed-Bewegung

Farbe ernten

Die Macht des Ortes

Die Wardrobe Challenge

Gemeinschaft schaffen

Der Aufschwung aus der Krise

Woll- und Feinfaser-Symposium

Das Produzent*innenprogramm

Frühe Fibershed-Pionier*innen

3. Soil-to-Soil-Bekleidung und der Kohlenstoffzyklus

Soil-to-Soil-Kleidung

Die Wiederherstellung unseres Weidelandes

Die Bedeutung von Carbon Farming

Eine Lösung: Klimafreundliche Fasern

4. Die Scheinlösung der synthetischen Biologie

GVO-Katastrophen

Die Büchse der Pandora wird größer

5. Die Vision umsetzen mit pflanzenbasierten Fasern

Baumwolle

Eine kurze Geschichte der Baumwolle

Baumwolle heute

Klimafreundliche Baumwollprojekte

Ein Flachs-Experiment

Eine kurze Geschichte über Flachs

Hanf: wieder legal

Warum Hanf?

Die steigende Nachfrage nach Hanf

Brennnesseln und andere natürliche Pflanzenfasern

Die Zukunft pflanzenbasierter Fasern

6. Die Vision umsetzen mit Tierfasern und Manufakturen

Wolle: Die wichtigste Zutat für lokale Kleidung

Warum es auf die Schafrasse ankommt

Alpakas, Yaks, Ziegen, Kaninchen, Seidenraupen und mehr

Yak-Faser

Alpaka

Angora

Seide

Die Bedeutung von Manufakturen

Wie viel Wolle haben wir?

Die Entwicklung der Vision der Spinnereien

Regional skalierte Infrastruktur ist entscheidend

7. Erweiterung des Fibershed-Modells

Das Fibershed-Partner*innenprogramm

Kommerzieller Flachs kehrt nach Oregon zurück

Alpaka-Landwirtschaft in Neuengland

Das Bristol Cloth Project

Das Three Rivers Fibershed

Das Upper Canada Fibreshed

Das New York Textile Lab

Strategien zum Erhalt regionaler Textilsysteme

Den Faden weiterspinnen, über Ländergrenzen hinweg: Fibershed DACH

Textile Tradition

Regionales Leinen

Regeneration unserer Böden

Unsere Vision

Eine wahrheitsbasierte Zukunft

Danksagungen

Anhang A:

Inhaltsstoffe, die ihr im Auge behalten solltet

Anhang B:

Fibersheds weltweit

Weiterführende Links und Inspirationsquellen

USA

Europa

Literatur

Deutsch

Englisch

Quellenverzeichnis

Über die Autor*innen

Japanische Indigo-Setzlinge.

Einleitung

Früh an einem Morgen im Juli 2010 stand ich am nördlichen Ufer der San Francisco Bay und blickte auf die Nebelschwaden, die sich durch die Golden Gate Bridge schoben. Ich wartete auf eine Gruppe von Kindern, die an einem Natur-Kunstkurs teilnahmen, den ich für unser lokales Wissenschaftsmuseum entwickelt hatte. Wenig später hörte ich kleine Füße über den Zementboden stapfen und Stimmen durch hohe Gänge, die noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammten, hallen. Es war der Tag unserer jährlichen Exkursion zu den alten Befestigungsanlagen. Wir wollten den Lebensraum des Mission-Blue-Schmetterlings beobachten, der unter den Überresten der Kriegsbunker wiederauflebt. In der Vergangenheit hatte ich mich auf diesen gemeinsamen Spaziergang gefreut, aber an diesem Morgen war ich von Sorgen überwältigt.

Kurz zuvor hatte ich eine Firma in Santa Cruz angerufen, die auf den Anbau von Sonderkultursetzlingen spezialisiert war, um zu hören, wie ihre Experimente mit meinen Indigosamen liefen. Ich hatte bereits seit einigen Jahren Bio-Indigo angebaut, um einen natürlichen blauen Farbstoff für meine Textilarbeiten zu gewinnen. Bis 2010 hatte sich das Projekt jedoch auf das Ausmaß einer kleinen Farm ausgeweitet, und in meiner Wohnung gab es nicht mehr genug Platz für die Anzuchtschalen. Um die Vergrößerung effizient umzusetzen, pachtete ich ein kleines Feld, 20 Minuten entfernt. Außerdem beschloss ich, die Keimrate und die Kompatibilität meiner Samen mit mechanisierten Pflanzgeräten zu testen. Das Unternehmen in Santa Cruz bot mir die Hilfe an, die ich für die Ausweitung des Projekts brauchte, während ich mich auf meine bezahlte Arbeit als Umweltpädagogin konzentrieren konnte. Bei dem Telefonat an diesem Morgen erfuhr ich, dass der zweite Keimtest des Unternehmens gut verlaufen war – so gut sogar, dass sie die Indigopflanzen bereits verschickt hatten –, sie wussten nur nicht, an welche Farm sie geschickt worden waren.

Ich wusste, dass die winzigen Setzlinge in ihren zweieinhalb Zentimeter tiefen Behältern nicht lange überleben würden, ohne gegossen zu werden. All die Mühe und Arbeit der letzten Jahre ging mir durch den Kopf, als ich mir vorstellte, wie die Pflanzen an einen unbekannten Ort geliefert wurden und schnell verwelkten. Vier Jahre Saatgut sammeln, unzählige Tage der Saatgutreinigung und mein Traum, einen komplett selbst angebauten, fermentierten Indigofarbstoff für die Küpenfärberei herzustellen, wären verloren gewesen, wenn diese Setzlinge auch nur für ein paar Stunden kein Wasser gehabt hätten.

Glücklicherweise erhielt ich kurz darauf einen Anruf von Sally Fox, einer Kollegin, die etwa zwei Stunden nordöstlich von mir im Capay Valley in der Nähe von Sacramento lebte und farbige Baumwollsamen züchtete. Sally hatte am Morgen eine Nachricht von einem benachbarten Bio-Bauernhof erhalten. Der Anrufer erzählte ihr, dass zusammen mit seinen Tomaten- und Paprikasetzlingen eine Reihe nicht zuordenbarer Anzuchtschalen an seinen Hof geliefert worden sei. Er hatte angenommen, dass die Pflanzen Teil von Sallys Pflanzenzuchtprojekten waren, und Sally wiederum vermutete, dass sie wahrscheinlich Teil meines Indigo-Projekts waren (wie das alles so reibungslos funktioniert hat, werde ich nie ganz verstehen, aber ich bin beiden ewig dankbar). Ich rief Tim Mueller, den Farmbesitzer, an, der sowohl Interesse an den Pflanzen als auch an dem Projekt bekundete. Er versicherte mir, dass es ihm keine Umstände mache, die verbleibenden Indigopflanzen in seinem Gewächshaus zu bewässern. Was meine er mit „die verbliebenen Pflanzen“? Der Rest sei bereits gepflanzt worden. Ich war sehr erleichtert zu hören, dass die Ernte ihren Weg in die Erde gefunden hatte, auch wenn diese zweieinhalb Stunden von meinem Haus entfernt war.

An jenem Wochenende besuchte ich die Riverdog Farm und war erfreut, ein System zu sehen, das Ackerbau und Viehzucht in der Praxis kombinierte. Mobile Hühnerställe übersäten die Felder, Granatapfelhecken säumten die Feldwege, und ein großer Pfirsichbaum rankte neben dem Büro. Nach meiner Ankunft sprang Tim in mein Auto und wir fuhren die Straße hinunter zu einer gepachteten Anbaufläche, auf der vor Kurzem Paprikareihen gepflanzt worden waren. Zwischen den Nahrungspflanzen befanden sich zwei lange Reihen Indigo mit insgesamt 6.000 Pflanzen. Ich hatte Indigo noch nie so wachsen gesehen. Es ähnelte kein bisschen meinem Garten, in dem ich das Indigo-Projekt vor Jahren begonnen hatte, aber es ähnelte auch nicht der kleinen Farm, die ich verwaltete. Diese akribisch bepflanzten, fast 50 Meter langen Reihen waren ein hoffnungsvoller Anblick.

Das Grow-Your-Jeans-Projekt hat das Team viele Stunden harter Arbeit gekostet. Hier im Bild Rebecca Burgess, die den Indigo pflanzte und verarbeitete, mit dem das Wollgarn von Sally Fox gefärbt wurde.

Als ich dort stand und mir die Indigopflanzen in ihrer neuen Heimat ansah, trieb mich die Frage um, die Michael Pollan in seinem Buch Die Botanik der Begierde äußert, eine Frage, die sich stellt, wenn man* die Beziehungen zwischen den Menschen und den Arten, die wir kultivieren und zu deren Vermehrung wir beitragen, genauer betrachtet: „Wer domestiziert wen?“ Der satte und ungiftige Blauton, den Persicaria tinctoria hervorbringt, hat die Menschen im Laufe der Jahrhunderte motiviert, das Gebiet, in dem dieses Gewächs ursprünglich angebaut wurde, energisch zu erweitern. Weil sie den Menschen verzauberte, verbreitete die Pflanze ihre Genetik weit und breit – und nun half ich ihr dabei. Dank der Bemühungen der Riverdog Farm war ich inzwischen sicher, genügend Material zu haben, um die Menge an getrockneten Blättern – 200 Kilo – zu erzeugen, die ich für die Kompostierung benötigte. Dieser Schritt ist ausschlaggebend, um das herzustellen, was in Japan als Sukumo bekannt ist – ein natürlich gewachsenes Blattkonzentrat von Indigo aus gemäßigten Klimazonen, das das ganze Jahr über für Indigofärbearbeiten verwendet werden kann. Den Rest des Sommers erntete und verarbeitete ich die Ernte mit meinen Freund*innen. Während der folgenden zwei Jahre bauten wir Indigo auf der Riverdog Farm an und hatten nach jeder Ernte die notwendige Menge an getrockneten Blättern, die wir brauchten. Wir konnten außerdem einen separaten Bestand an kompostierten Indigoblättern anlegen. Genutzt wurde dieser vom Berkeley Art Museum in einem experimentellen Programm des Bekleidungsherstellers Levi Strauss. Er war Teil eines Prototypprojekts für Fibershed namens „Grow Your Jeans“ („Bau deine Jeans an“). Außerdem wurde er in einer Reihe von Färbewerkstätten, die der lokalen Öffentlichkeit angeboten wurden, eingesetzt. Das Indigo-Projekt befindet sich nun im siebten Jahr und wächst trotz der Dürre in Kalifornien stetig, durch neue Landwirt*innen und eine neue Generation von Persicaria-tinctoria-Verwalter*innen.

Leslie Terzian von TangleBlue webte den Stoff für das Grow-Your-Jeans-Projekt.

Die Verantwortung für die Einführung (oder Wiedereinführung) einer neuen Kulturpflanze wie Indigo in einer Gemeinschaft zu übernehmen, kann eine einschüchternde Aufgabe sein. Aber es gibt eine tiefe, fast zelluläre Reaktion im Menschen, wenn wir diese Art von Arbeit übernehmen, eine, die ein unzerreißbares Band schafft. Es war in der Tat eine unglaubliche Überraschung zu sehen, wie viele Menschen sich ähnlich für die Regionalisierung engagieren und neu lernen, was es bedeutet, selbst Fasern und Farbstoffe herzustellen. Durch meine Arbeit habe ich gesehen, dass das Anbauen unserer eigenen Kleidung ein belebendes Gemeinschaftserlebnis ist.

Wir haben so lange von den Auswirkungen unserer Kleidung auf Land, Luft, Wasser, Arbeit und unsere eigene Gesundheit nichts mitbekommen, dass wir zu passiven, unreflektierten Verbraucher*innen wurden. Wenn wir diese Entfremdung aufheben, schaffen wir Möglichkeiten, um neue, authentische Beziehungen aufzubauen, die verwurzelt sind im Austausch von Fähigkeiten, körperlicher Arbeit und Kreativität. Solche, die Sinn, Zweck und eine Art der Verbindung haben, sowohl zueinander als auch zum Land. Während in den letzten Jahrzehnten viel dafür getan wurde, dass wir als Kultur Zugang zu sicheren, regionalen und nahrhaften Lebensmitteln haben, haben wir die Produktion von Fasern und Farbstoffen, aus denen unsere Kleidung besteht, weitgehend außer Acht gelassen. Tatsächlich ist es so, dass die meisten Leute, sobald sie das Wort „Kleidung“ hören, denken: Ach, ich interessiere mich nicht für Mode – und annehmen, sie hätten mit der Branche ab diesem Punkt nichts zu tun. Aber Kleidung – wie Nahrung – ist wichtig, weil wir jeden Tag direkt damit in Kontakt kommen. Die Bekleidungsindustrie ist ein facettenreicher Wirtschaftszweig, der vielfach die gleichen Lieferkettendynamiken aufweist wie die Lebensmittelindustrie, angefangen bei den Wurzeln in der Landwirtschaft und der Abhängigkeit vom Land.

WAS HAT KLEIDUNG MIT LANDWIRTSCHAFT ZU TUN?

Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: sehr viel. Im Durchschnitt sind über 80 Prozent der Baumwolle, die jährlich in den Vereinigten Staaten angebaut wird, genetisch verändert. So hält sie der Verwendung einer Reihe von Herbiziden und Pestiziden stand. Weniger als 1 Prozent ist biozertifiziert. Während zwei Drittel aller Amerikaner*innen die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) für ihre Lebensmittel befürworten, verstehen nur wenige die Rolle, die diese Organismen für ihre Kleidung spielen. Tatsächlich gibt es noch keine breite öffentliche Diskussion darüber, wie sich die GVO-Landwirtschaft auf die Gesundheit und Vielfalt unserer Landschaften, die regionale Wirtschaft und die menschliche Gesundheit auswirkt. Da diese größeren Gespräche vermieden wurden, haben wir die Gentechnik von Fasern weitgehend aus der Debatte über die Landnutzungsethik ausgeklammert. Infolgedessen gibt es wenig bis gar keine Transparenz auf den Etiketten von Kleidung, die es uns ermöglicht, festzustellen, ob unsere Kleidung genetisch verändert ist oder nicht. Es sei denn, wir suchen und kaufen Global-Organic-Textile-Standard (GOTS)-zertifizierte Kleidungsstücke. Durch die große Kluft zwischen unserem Wissen darüber, wie Kleidung hergestellt wird und woher die Rohmaterialien stammen, treffen wir die meisten Entscheidungen als Verbraucher*innen quasi ahnungslos.

Models aus der Grow-Your-Jeans-Modenschau posieren für ein Gruppenfoto. Von links nach rechts: Celeste Thompson, Leslie Channel, Thyme Francis, Dario Slavazza, Alycia Lang, Sally Fox, Sophia Zuchowski.

Nehmen wir folgendes Beispiel: In den USA hergestellte Wollkleidung ist selten, obwohl die Vereinigten Staaten der fünftgrößte Wollproduzent der Welt sind. Beinahe alle unsere Wollsocken und Anzüge werden in Australien, Neuseeland und China hergestellt. Darüber hinaus stammen über 70 Prozent der Fasern, die wir tragen, aus fossilem Kohlenstoff, und fast jedes Kleidungsstück ist mit Farbstoffen gefärbt, die aus fossilem Kohlenstoff gewonnen werden. Kunststoff-Mikrofasern, die durch das Waschen synthetischer Kleidung in Flüsse, Bäche und Meere gelangen, verunreinigen die marine Nahrungskette sowie unser Trinkwasser. Erhebliche Konzentrationen von Faserflusen wurden bis in den tiefsten Ökosystemen des Ozeans gefunden – mit noch unbekannten Folgen. Die Arbeitsbedingungen für Textilbeschäftigte sind bekanntermaßen prekär, und weniger als 1 Prozent der in den Vereinigten Staaten verkauften Kleidung ist Fair-Trade-zertifiziert. Und jetzt wird den Verbraucher*innen extreme Gentechnik als Hightech-Lösung für die Probleme angeboten, die wir selbst verursacht haben, durch unsere antiquierte synthetische toxische Chemie, unsere fossile Kohlenstoffabhängigkeit und unseren Überkonsum. Die meisten Träger*innen haben keine Ahnung, dass diese firmeneigenen Biotechtechnologien eine Vielzahl von Problemen in der Lieferkette und der Geschäftsarchitektur mit sich bringen und trotz gegenteiliger Behauptungen noch nicht auf ihre potenziellen negativen Folgen für Land, Wasser, Flora und Fauna sowie die regionale Wirtschaft geprüft wurden.

Die Verbesserung der bestehenden zentralisierten Textilproduktionssysteme, die derzeit größtenteils im Ausland in Ländern angesiedelt sind, in denen die Menschenrechte kaum beachtet werden und die Umweltstandards schwach sind, ist ein Weg für soziale und ökologische Veränderungen, der Hoffnung macht. Bislang ist das jedoch nicht ohne unzählige Enttäuschungen abgelaufen. Und neuartige Technologien können auch eine Rolle bei der Verringerung der negativen Auswirkungen der Bekleidungsindustrie spielen. Diese beiden Reforminstrumente allein tragen jedoch nicht dazu bei, die bestehenden Machtdynamiken und Wirtschaftsmodelle zu verändern, die die Umwelt- und Arbeitsrechtskatastrophen provoziert haben, aus denen wir uns zurzeit weltweit herauswinden. Und doch sind es diese beiden Reformstrategien, die die Arbeit der Nachhaltigkeitsteams der weltgrößten Textilunternehmen dominieren, über die in den Fachzeitschriften der Branchenverbände geschrieben und debattiert wird und die auf globalen Textilkonferenzen mit Preisen ausgezeichnet werden und Investor*innengelder einbringen. Infolgedessen wartet das Gespräch, das Wirtschafts- und Klimagerechtigkeit in die DNA des Systemwechselgedankens eingliedert, immer noch darauf, öffentlich geführt zu werden.

Dieses Buch soll die Tür zu diesem Gespräch öffnen und gleichzeitig anerkennen, dass viele weitere Einzelpersonen und Organisationen diesen Dialog ebenfalls täglich erweitern. Auf den folgenden Seiten lest ihr eine Vision des Wandels, die sich auf die Transformation unserer Faser- und Farbstoffsysteme vom Boden aufwärts konzentriert. Dieser Traum für die Zukunft umfasst alle, die an diesem Prozess beteiligt sind, darunter Landwirt*innen, Rancher*innen, Organisator*innen, Designer*innen, Hersteller*innen, Näh-Talente, Handwerker*innen, Modeexpert*innen, Investor*innen, transnationale Marken und ihr – die Träger*innen. Es ist eine Vision für global wirksame Lösungen, die sich Gedanken darüber machen, wie man* die Positionen der Macht umgestalten und die Entscheidungsfindung in die Hände derjenigen legen kann, die mit der sozialen und ökologischen Infrastruktur ihrer Gemeinschaften am besten vertraut sind. Es ist eine Vision, die die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten für Gemeinschaften verbessert, ihre Faser- und Farbstoffsysteme selbst zu definieren und zu erschaffen und die globale Textilverarbeitung neu zu gestalten. Dabei geht es um ortsbasierte textile Souveränität, die darauf abzielt, alle Menschen, Pflanzen, Tiere und kulturellen Praktiken, die an einem bestimmten Ort zusammenfinden und ihn ausmachen, einzubeziehen, anstatt sie auszuschließen.

Ich nenne dieses ortsbasierte Textilsystem ein Fibershed.

Ich nenne dieses ortsbasierte Textilsystem ein Fibershed. Fibershed ist das englische Wort für ein Fasereinzugsgebiet. Ähnlich wie ein lokales Einzugsgebiet für Lebensmittel oder Wasser funktioniert auch ein Fasereinzugsgebiet, ein Fibershed. Es konzentriert sich auf die Quelle des Rohstoffs, die Transparenz, mit der dieser in Kleidung umgewandelt wird, und die Vernetzungen zwischen allen Teilen, vom Boden über die Haut zurück zum Boden. In dem Fibershed, in dem ich lebe, werden beispielsweise natürliche Pflanzenfarbstoffe und -fasern wie Flachs, Wolle, Baumwolle, Hanf und Indigo sowohl mit traditionellen als auch modernen Praktiken angebaut. Viele dieser Landwirtschafts- und Viehhaltungssysteme zeigen bereits Vorteile, die wir gerade erst im Detail zu dokumentieren beginnen, unter ihnen die Verminderung der Ursachen der Klimakatastrophe, eine erhöhte Widerstandsfähigkeit gegen Dürre und der Wiederaufbau der örtlichen Wirtschaft.

Leslie Channel neben einem japanischen Indigobeet, während sie organische und biodynamische Jeans trägt, die im Northern California Fibershed angebaut, gewebt und genäht wurden. Sally Fox’ farbig gewachsenes Baumwollgarn wurde in Rebecca Burgess’ Fermentationsbottich gefärbt und später von Leslie Terzian zu Stoff gewebt, den Daniel DiSanto zu maßgeschneiderten Jeans verarbeitete, die er entworfen hatte. Das Pokeberry-Top wurde von Monica Paz Soldan aus Hazel Fletts und Sue Reusers Cormo- und Romeldale-Mischwolle gestrickt und gefärbt.

Fibershed-Systeme lehnen sich, was Inspiration und Rahmendesign betrifft, stark an die Slow-Food-Bewegung an, die auf das Jahr 1986 zurückgeht. Damals organisierte der Gründer der Bewegung, der italienische Landwirt Carlo Petrini, einen Protest gegen die Eröffnung eines Restaurants der Fast-Food-Kette McDonald’s in der Nähe der Spanischen Treppe in Rom. Petrinis elektrisierendes Zitat weckte weltweite Zustimmung für die Notwendigkeit, sich um unser Ernährungssystem zu kümmern: „Eine entschlossene Verteidigung des stillen materiellen Vergnügens ist der einzige Weg, sich der universellen Torheit des schnellen Lebens zu widersetzen.“ Die Slow-Food-Bewegung gewann schnell eine Anhängerschaft und zog Land- und Stadtbewohner*innen gleichermaßen an. Sie vereinte energische Anstrengungen von Menschen auf der ganzen Welt, die wissen wollten, wie und von wem unsere Lebensmittel angebaut werden, wie sie verarbeitet werden und wer Zugang zu ihnen hat. Heute sind diese Fragen die Leitbilder tausender Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich auf die Reform unseres Ernährungssystems konzentrieren. Dennoch sehen wir keine ebenso beeindruckende Präsenz von NGOs, keine funktionierende Strategie, um ein anderes, nicht weniger wichtiges Produkt aus unseren Arbeitslandschaften zu unterstützen: unsere Kleidung. Es gibt jedoch eine Volksbewegung, die dabei ist, dies zu ändern, angeführt von Landbewirtschaftenden, Tierzüchter*innen, Kunstschaffenden und kleinen bis mittleren Textilhersteller*innen. Biosphären-basierte Fasern wie Flachs, Brennnessel, Hanf, Wolle, Milchkraut, Kaschmir, Angora und Baumwolle erleben ein bemerkenswertes Comeback. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein für die unbestreitbare Tatsache, dass der Boden, der uns ernährt, auch der Boden ist, der uns kleidet.

Dies ist die Geschichte dieses Aufschwungs.

WIE ICH MEIN FIBERSHED FAND

Fibersheds sind dynamische, sich entwickelnde, lebende Systeme, die viel komplexer sind, als ich zu verstehen vermag. Sie sind autark, und die Erzählung in diesem Buch erkundet meine Reise in dieses lebendige System und beleuchtet auch regionale Textilprojekte, die in verschiedenen Fibersheds entstanden sind. Fibersheds sind Orte, an denen bereits Tausende von Generationen von Menschen lebten und gediehen, bevor ich anfing zu existieren. Ich möchte ebenso wie viele andere dazu beitragen, dass künftige Generationen weiterhin die Möglichkeit haben werden, in Beziehung zu ihren Textilkulturen vor Ort aufzuwachsen.

Im Jahr 2010 begann ich eine persönliche Reise in meinem Heimat-Fibershed – ein 240-Kilometer-Radius (150 Meilen) vor meiner Haustür in San Geronimo in Nordkalifomien –, indem ich mir vornahm, ein Jahr lang Kleidung zu kreieren und zu tragen, die exklusiv aus lokal angebauten Fasern und natürlichen Farbstoffen bestand und von regionalen Arbeitskräften, inklusive mir, neuen und alten Freund*innen und Familie hergestellt wurde. Dieses „Wardrobe-Challenge-Jahr“ (auf Deutsch „Garderoben-Herausforderungs-Jahr“) hat mich dem Land nähergebracht, mich mit Farmen, Ranches und offenen Weiten verbunden. Ich verbesserte meine eigenen Fähigkeiten in der Textilherstellung und knüpfte enge Verbindungen zu Kunsthandwerker*innen in meiner Gemeinde, die Pflanzen- und Tierfasern in wunderschöne Kleidungsstücke verwandeln konnten. Der direkte und regelmäßige Kontakt mit der biologischen Quelle meiner Kleidung veränderte mein Verständnis und meine Wertschätzung für mein Fibershed.

Meine Reise begann mit einer Untersuchung pflanzlicher Farben. Die Entwicklung eines natürlichen Färbeverfahrens innerhalb der Grenzen meines Fibersheds hat meine Beziehung zu den Arten, die dort existieren, verbessert. Während de, einjälrigen Wardrobe Challenge basierte meine Pflanzenpalette auf einer Vielzahl von endemischen (einheimischen) und nicht endemischen Pflanzenarten. Sie kamen entweder aus meinem eigenen Garten oder Gärten von Freund*innen, manchmal auch von wilden Hängen. Pflanzengemeinschaften wie Chaparral (mittelhohe Baumgewächse mit kleinen, harten Blättern), Eichenwälder und Küstensträucher produzieren eine Reihe von Farben. Darunter fanden wir verschiedene Grüntöne, Orangerosa und Braunschattierungen aus Kaffeebeeren, Filzigen Apfelbeeren und Hinsii-Walnüssen. Nicht heimische Arten in unserer Region lieferten Rosa aus Kermesbeeren und Gelb aus Gelbkraut.

Meine Reise begann mit einer Untersuchung pflanzlicher Farben.

Die Farbe, die lokal (damals) schwer zu erzeugen war, war Blau. Synthetischer Indigofarbstoff ist in diesem Land seit 1876 weit verbreitet, und Jeans werden seitdem mit fossilen Anilinfarbstoffen gefärbt. So beschloss ich, mein eigenes Blau zu züchten. Im Gegensatz zu den meisten natürlichen Farbstoffen ist Indigo nicht wasserlöslich. Um einen verwendbaren Farbstoff zu erzeugen, muss das Pigment aus den Blättern extrahiert und mit Materialien kombiniert werden, die die Farbe für Fasern zugänglich machen. Die meisten Färber*innen, einschließlich mir selbst, kauften für gewöhnlich Pigmente aus anderen Ländern, um sie in unseren eigenen Indigo-Fässern zu fermentieren. Dieser importierte Indigo stammt jedoch von der tropischen Art Indigofera tinctoria und wollte trotz vieler Versuche in meiner Region Nordkaliforniens nicht wachsen. Mehrere Jahre lang experimentierte ich in meinem Garten mit einer jährlich Blau produzierenden Sorte, die als Persicaria tinctoria bekannt ist. Ich hatte zwar Wege gefunden, das Blau im Sommer mit frischem Blattmaterial zu extrahieren, aber ich hatte noch keine Methoden entdeckt, um aus den Pflanzen, die ich anbaute, genügend blaues Pigment zu gewinnen, um es für ganzjährige Färbeprojekte zu fermentieren. Blaues Pigment entspricht etwa 2 Prozent des Gewichts der P.-Tinctoria- Pflanze, und genug davon anzupflanzen, um ausreichend Pigment für eine eigene Küpenfärberei zu erhalten, war ein Entdeckungsprozess.

Nach einigen Recherchen stieß ich auf die Arbeit von Rowland Ricketts, der in Japan eine Lehre gemacht hatte, Indigo anbaute und die getrockneten Blätter der Pflanze kompostierte, um ein Material herzustellen, das sich Sukumo nennt. Das von Ricketts verwendete Fermentationsrezept basierte auf hausgemachter Aschenlauge aus Hartholz, Weizenkleie und Kalk – allesamt Rohstoffe, die in meiner Region leicht verfügbar sind. Ich wandte mich an Ricketts, um mehr über die Anforderungen für die Herstellung von Kompost aus den getrockneten Persicaria-Blättern zu erfahren, und fand heraus, dass es eine erhebliche Masse an Blattmaterial braucht, um genügend Wärme zu erzeugen, damit die thermophilen Bakterien im Komposthaufen gedeihen. Thermophile Bakterien brauchen Wärme, um sich zu vermehren, und mit der richtigen Balance können diese kleinen Lebensformen die Zellulose der Persicaria-Blätter fressen und das blaue Pigment in einem Material hinterlassen, das wie dunkelblau-schwarzer Kompost aussieht.

Die Masse an getrockneten Blättern, die für die Kompostierung von Sukumo erforderlich ist, beträgt um die 200 Kilo und muss auf einem speziell konstruierten Boden aus Stein, Sand, Reishülsen und verdichtetem Ton 100 Tage lang kompostiert sowie alle sieben Tage gewendet und sanft mit Wasser besprüht werden.

Der büffelbraune Baumwollstoff von Sally Fox, kombiniert mit einem von Heidi Iverson (Honey Folk Clothing) handgestrickten Cardigan, der ebenfalls aus drei von Fox’ Baumwollgarnen besteht, eines davon gefärbt mit Indigo.

Ricketts kam vorbei und half uns zusammen mit einem Team lokaler Handwerker*innen beim Bau des Kompostierungsbodens. Wir hatten die Reishülsen aus einer kalifornischen Reistrocknungsanlage vorbereitet, Lehm aus unserer örtlichen Lehmgrube in Säcken abgefüllt, Sand hinzugefügt, und schon waren wir startklar. Das Gelände und die Struktur für den Boden wurden von John Wiek, einem örtlichen Ranchbesitzer, vorbereitet, der freundlicherweise den Standort, seine Fähigkeiten und seine Zeit zur Verfügung stellte, um sicherzustellen, dass der Boden ordnungsgemäß entwässert und die richtige Konstruktion befolgt wurde.

Für den Boden mussten drei mal drei Meter Erde ausgehoben und ca. 2,5 m hoch mit kleinem, mittlerem und großem Gestein aufgefüllt werden. Die letzte Komponente des Bodens war eine 10 Zentimeter hohe Schicht aus Reishülsen, Sand und zerstampftem Ton.

Indigo wird Ende April bis Mitte Mai gepflanzt. Die erste Ernte findet Ende Juni oder Anfang Juli statt, wenn die Pflanze groß genug ist, um beschnitten zu werden. Die zweite Ernte erfolgt Ende August, dann darf die Pflanze bis Mitte Herbst Saatgut produzieren. Nach jeder Ernte werden die beblätterten Stängel zum Trocknen ausgelegt. Sie werden mit wachsamem Auge im richtigen Moment geerntet, wenn die Stängel noch biegsam und die Blätter bereits komplett trocken sind. Um Sukumo herzustellen, werden Stapel der getrockneten Blätter und Stängel mit den Füßen zerstampft, die Stängel entfernt und für den Nährstoffkreislauf kompostiert. Die Blätter werden bis zum Ende der Saison aufbewahrt. Der Stapel wird alle sieben Tage gewendet. Die so entstandene kompostierte Blattmasse wird dann langsam fermentiert, ein Prozess, der bis zu 30 Tage dauert. Wenn der Bottich fertig ist, beginnt das Färben.

Die Anforderungen für die Herstellung von 200 Kilo getrockneten Blättern zur Produktion von Sukumo verwandelten das, was als Gartenarbeit begonnen hatte, schnell in ein kleines landwirtschaftliches Projekt. Es brauchte etwa 5.000 Pflanzen und ungefähr einen halben Morgen Land, um die Menge an Indigo anzubauen, die wir für den Kompostierungsprozess benötigten. Es war die Hingabe zur Farbe Blau, die seitdem mehr als nur eine*n Züchter*in zu diesem Prozess inspiriert hat; inzwischen gibt es mehrere kleine Landwirtschaftsprojekte, die unsere Gemeinde in eine umfangreichere Indigoproduktion verwandelt haben. Dazu gehören Mitwirkende aus Schulgärten ebenso wie Kleinbauem*bäuerinnen. Heute nutzen mehrere Gärtner*innen und Landwirt*innen den Kompostschuppen als Kollektiv, indem sie ihre getrockneten Blätter sammeln, die Masse gemeinschaftlich wenden und den Sukumo am Ende der 100-Tage-Periode aufteilen. Wir arbeiten an der Entwicklung effizienter Pflanz- und Emtestrategien, um mehr Züchtende dazu zu inspirieren, Pflanzenmaterial zu diesem regional ausgerichteten Indigo-Projekt beizutragen.

Ich erzähle die Indigo-Geschichte als Beispiel für die Stärke eines Fibersheds, Gemeinschaften zusammenzubringen. Im Laufe der Jahre hatte ich das Privileg, Menschen aus allen Lebensbereichen und allen Aspekten der Textilherstellung zu treffen und mit ihnen zu arbeiten. Ich habe an Lernreisen in Südostasien, dem Mittleren Westen der USA, der Navajo Nation, Skandinavien, Süd- und Osteuropa und vielen anderen Orten teilgenommen, um zu erfahren, wie andere ortsbezogene Faser- und Färbegemeinschaften funktionieren. Ich hatte die Ehre, von verschiedenen Mentor*innen zu lernen. Im Gegenzug hatte ich auch die Möglichkeit, das Erlernte zu unterrichten und mit einem breiten Spektrum von Mitarbeiter*innen zu teilen. Ich habe das Wachstum eines internationalen Basisnetzwerks miterlebt, das die Diskussion darüber verändert, wie und wo wir unsere Kleidung produzieren, wer sie herstellt und unter welchen Bedingungen sie angefertigt wird. Meine Lernkurve war steil und ich bin unglaublich dankbar für die helfenden Hände, Köpfe und Herzen, die ich auf meinem Weg getroffen habe.

Eine der tiefgreifenden Lektionen, die ich gelernt habe, ist diese: Wenn wir unsere Gemeinschaften in die Lage versetzen, ihren Lebensunterhalt mit materiellen Kulturgütern zu bestreiten, die auf ihren regionalen Böden angebaut, verarbeitet und genutzt werden und die das bestehende kulturelle Erbe der Menschheit wertschätzen, werden die Strategien für die Entwicklung und Umsetzung von Lösungen für viele unserer dringlichsten globalen Herausforderungen – einschließlich Klimawandel und Wohlstandsgefalle – präziser und effektiver. Diese textilen Kulturen sind aufgrund ihres Designs langlebig und widerstandsfähig. Wir involvieren und lernen dabei kontinuierlich von regionalen indigenen Gemeinschaften, deren Verständnis der menschlichen Rolle im Ökosystem herausragend ist. Aus diesen regionalen Untersuchungen haben wir eine Reihe von Praktiken erlernt, die für den Wiederaufbau unserer Böden, zur Heilung unseres Klimas und zur Stärkung unserer lokalen Wirtschaften notwendig sind. Zu den Methoden, mit denen wir begonnen haben, weltweit wirkungsvolle ortsbezogene Lösungen zu finden, gehört die Entwicklung von standortspezifischen Forschungseinrichtungen. Sie helfen uns, die Klimaauswirkungen von Soil-to-Skin (vom Boden auf die Haut)-Prozessen zu messen und entsprechend skalierte Open-Source-Technologien zu entwickeln.

Ich habe beobachtet, dass in jeder Textilgemeinde, die ich besucht habe, Mentoren*innen, bereitwillige Student*innen und Faser- und Farbstoffhersteller*innen am Werk sind. An Motivation zur Entwicklung ortsbezogener Textilsysteme scheint es bei den Menschen nicht zu mangeln. Was wir brauchen, um diese Basis-Textilsysteme zu verbessern, ist der Wille und der Mut, sie mit angemessenen Ressourcen auszustatten und finanziell zu unterstützen, damit sie funktionieren können, um neue Kleidung zu produzieren, zu verarbeiten, zu nähen, zu reparieren und schließlich zu kompostieren. Es ist längst überfällig, dass wir unsere kollektive Wertschätzung für saubere und gesunde Textilsysteme neu beleben. Wir müssen das angemessene Maß an Unterstützung bieten, um diese Arbeit dauerhaft zu festigen und zu fördern.

ÜBER DIESES BUCH

Auf den folgenden Seiten werde ich die Geschichte und die visuellen Eindrücke davon teilen, wie wir mit Pflanzen, Tieren und menschlichen Fähigkeiten meiner Heimatregion eine bioregionale Garderobe geschaffen haben. Es geht außerdem um die daraus entstandenen Bemühungen, Textiltraditionen wiederzubeleben und zu regenerieren aus Fasern, die seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr zur Kleidungsherstellung angebaut wurden. Meine Hoffnung ist, dass die Geschichte über dieses eine Fibershed (und kurze Beispiele aus anderen), in der es um regionale Schönheit, technische Details und die Ehrfurcht vor der Erde geht, als Inspiration und Werkzeug dient für diejenigen, die ähnliche Bestrebungen in ihren eigenen Gemeinden umsetzen möchten.

Gleichzeitig ist diese Geschichte ein Aufruf zum Handeln. Wir haben die Verantwortung, neue Technologien, die entwickelt werden, um „Lösungen“ für unsere aktuellen Textilsysteme anzubieten, zu evaluieren. Die Menschheit befindet sich an einem klaren Wendepunkt, an dem unsere Faser-, Farbstoff-, Nahrungs- und Energiesysteme – kurzum alle unsere Systeme – transformiert werden müssen, wenn sie uns in der Zukunft erhalten sollen. Ein kurzer Blick in die Textilgeschichte gibt uns eine gute Basis, um zu verstehen, warum ohne Vorsicht eingesetzte technologische Fortschritte die potenziellen Risiken nicht wert sind. Perfluorierte Tenside zum Beispiel wurden von der Industrie wegen ihrer Fleckenbeständigkeit und Wasserabweisung gelobt. Gleichzeitig haben sie sich jedoch weltweit in Wildtieren und menschlichen Körpern bioakkumuliert und sind dafür bekannt, giftige Wirkungen auf die Funktionen des Immunsystems, der Leber und des endokrinen Systems zu haben. DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) wurde weit verbreitet bei Baumwolle verwendet, bis es 1972 von der US-Regierung verboten wurde. Die Verbindung, die entwickelt wurde, um Insekten zu töten, hatte eine Vielzahl unbeabsichtigter Folgen, einschließlich, aber nicht begrenzt auf menschliche Autoimmunkrankheiten. Zum Beispiel haben Mädchen, die vor der Pubertät DDT ausgesetzt waren, ein fünfmal höheres Risiko, mittleren Alters an Brustkrebs zu erkranken.1 DDT ist immer noch in unseren Seen, Bächen und Flüssen zu finden und wird bis zu fünf Jahrhunderte bestehen bleiben.

Dieses Buch soll die kritischen Denk- und Bewertungsprozesse der Leser*innen unterstützen. Gemeinsam müssen wir sicherstellen, dass die von uns vorgenommenen Transformationen des Textilsystems unser Leben, die Gesundheit kommender Generationen sowie die der übrigen Spezies auf diesem Planeten weder verkürzen noch schwächen. Während sich die Geschichte auf Faser- und natürliche Färbesysteme konzentriert, greift dieses Buch auch den breiteren kulturellen Wandel auf, die Veränderungen, die auf der ganzen Welt stattfinden und durch die Menschen und Gemeinschaften sich wieder auf bedeutungsvolle Weise mit dem Land verbunden fühlen. Mit jedem vergehenden Tag sehen, hören und spüren wir zunehmend die zerstörerischen Auswirkungen unserer Komplizenschaft in der Aufrechterhaltung von Systemen, die uns zu primären Empfänger*innen der endlichen Ressourcen des Planeten machen. Fibershed fragt: Wie können wir Zusammenarbeiten, um zeitgenössische Kultur- und Wirtschaftssysteme so zu verändern, dass sie allen Lebewesen zugutekommen und Regeneration fördern? Und wie können wir dies tun, ohne Folgewirkungen aufrechtzuerhalten, die uns zwingen, weitere technologische Lösungen zu finden? Wenn wir die Grundlagen der Kohlenstoff-, Wasser- und Nährstoffkreisläufe erlernen, verstehen wir, dass die wahre ökologische Kapazität der Erde in direkter Verbindung steht zur Regenerationsfähigkeit natürlicher Ressourcen wie der des Bodens und der darin angebauten Fasern. Dieses Wissen wirft eine tiefgründige Frage auf: Wie können wir das, was die Erde uns schenkt, pflegen, schützen und so nutzen, dass Land und Wasser gesünder und produktiver hinterlassen werden, als wir sie vorgefunden haben?

Dieses Buch soll euch dabei unterstützen, euch eurer eigenen regionalen Landbasis zu nähern und ein Engagement für die Arbeit innerhalb ihrer Geographie zu entwickeln. Es ist eine Einladung, sich mit allen Teilen des Anbaus, Kreierens sowie Tragens und Pflegens zu beschäftigen. Das kann das Wiederaufleben historischer Textilrezepturen mit längst vergessenen Fasern und Farbstoffen beinhalten und die Kreation neuer, noch nie da gewesener Rezepturen bedeuten. Es geht darum, wunderschöne Textilien zu machen, aus Rohstoffen, die uns auf den ersten Blick beschränkt erscheinen mögen. Hoffentlich wird das Buch neue Landwirtschafts- und Viehzuchtprojekte inspirieren, die wiederum zu umfangreichen und vielfältigen neuen natürlichen Farbstoffen und Fasern und neuen Einkommensquellen führen. Wenn ihr Textilunternehmer*innen seid und eure eigene Marke entwickelt oder jahrelang auf Unternehmensebene einer großen Marke gearbeitet habt, könnt ihr die neuesten Erkenntnisse über biogeochemische Prozesse und den Kohlenstoffkreislauf nutzen, die auf diesen Seiten beschrieben werden, um eure Faser-, Farbstoff- und Lieferkettenentscheidungen zu treffen. Ein besseres Verständnis biochemischer und physikalischer Prozesse sowie der Kreisläufe der Erde ist ein entscheidender Faktor bei der Gründung neuer Unternehmen. Dieser Schritt wird uns helfen, die Altlast des Kohlenstoffs aus unserer Atmosphäre zu entfernen (ja, Kleidung kann uns dabei helfen!). Die von der Industrie generierten, etablierten Nachhaltigkeitskonzepte, die Marken seit Jahren in ihren Beschaffungsentscheidungen leiten, sind nicht überarbeitet worden. Sie entsprechen nicht neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die unser kollektives Wissen über den Kohlenstoffkreislauf und die Rolle der Kohlenstoffbindung im Boden vertieft haben. Allein aus diesem simplen Grund besteht für Unternehmen die dringende Notwendigkeit, ihre Beschaffungsentscheidungen mit neuen Augen zu evaluieren. Letztlich soll dieses Buch dazu beitragen, uns zur Arbeit an einer regenerativen Zukunft anzuregen.

Dieses Buch ist eine Einladung, sich mit allen Teilen des Anbaus, Kreierens sowie Tragens und Pflegens von Kleidung zu beschäftigen.

Das Studio von Geana Sieburger, GDS Cloth Goods.

Woll-Wadenstrümpfe aus der 150-Meilen-Garderobe, gestrickt von Allison Reilly mit dem Twirl-Garn von Mary Pettis Sarley.

1. Der Preis unserer Kleidung

Warum ziehen wir das an, was wir anziehen? Häufig wählen wir unsere Kleidung wegen ihrer Bequemlichkeit, aufgrund dessen, wie sie an unseren Körpern aussieht, wegen ihrer angenehmen Farben oder als Schutz vor Witterungseinflüssen oder Gefahren. Je nachdem, ob wir uns körperlich anstrengen, altehrwürdigen Bräuchen nachgehen, ob wir uns kulturell ausdrücken oder uns als Teil einer Gruppenidentität ausweisen wollen. Manchmal tragen wir sie auch für die Botschaften, die sie an unsere Freund*innen, Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen sendet. Kleidung ist so viel mehr als nur „Mode“ – sie sendet wichtige Signale über unsere tatsächliche und wahrgenommene Stellung in der Gesellschaft und ist ein entscheidendes Element unserer persönlichen Lebenserzählung – der täglichen, sogar stündlichen Entscheidungen, die wir treffen, mit denen wir unsere Geschichte, unsere Wünsche, unsere Zugehörigkeit und unser Selbstbild vermitteln. Aber wenn wir darüber nachdenken, was wir anziehen sollen, denken wir in der Regel nicht an die Folgen der Herstellung und Entsorgung unserer Kleidung. Wir übersehen auch oft die Inhaltsstoffe, einschließlich der Art der Fasern, aus denen ein Kleidungsstück hergestellt wird. Die meisten von uns wissen nicht einmal, woraus unsere Kleidung besteht, obwohl die vielen giftigen Inhaltsstoffe unser Wohlbefinden erheblich beeinflussen. Diese Inhaltsstoffe (wie Azofarbstoffe und wasserabweisende Chemikalien) haben auch große Auswirkungen auf den ökologischen Zustand der natürlichen Systeme der Erde, deren Teil wir sind. Und aufgrund der schieren Anzahl von Menschen, die Kleidungsstücke zu den aktuellen Verbrauchsmengen kaufen, summieren sich die Auswirkungen, die die Inhaltsstoffe unserer Kleidung haben, schnell. Uber 80 Milliarden einzelne Kleidungsstücke wurden im vergangenen Jahr weltweit verkauft, was einer Verdoppelung in nur 15 Jahren entspricht und eine 1,3 Billionen US-Dollar teure Textilindustrie unterstützt, in der 300 Millionen Menschen in fast allen Ländern der Welt beschäftigt sind.2

Was wir tragen, ist wichtig, aber bis vor kurzem wurde in der Öffentlichkeit kaum über die erheblichen ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Kosten gesprochen, die mit der Herstellung, dem Tragen und der Entsorgung unserer Kleidung verbunden sind. Die Herstellung von Textilien, einschließlich des Baumwollanbaus, verbraucht jährlich fast 95 Billionen Liter Wasser. 20 Prozent der Süßwasserverschmutzung auf der ganzen Welt sind zurückzuführen auf das Färben und die Verarbeitung von Kleidungsstücken.3 Die Industrie verwendet Tausende von synthetischen Verbindungen, oft in verschiedenen Kombinationen, um unsere Kleidung weich zu machen, zu verarbeiten und zu färben. Viele dieser Stoffe werden mit einer Reihe von menschlichen Erkrankungen, darunter chronische Krankheiten und Krebs, in Verbindung gebracht.4

Die Arbeitsbedingungen in ausbeuterischen Textilfabriken bieten in den meisten Fällen ein Einkommen, das kaum Möglichkeiten für soziale Mobilität bietet, wie sie viele Menschen in den westlichen Industrienationen mittlerweile gewöhnt sind.5 Im Jahr 2015 protestierten in Kambodscha 6.000 Textilarbeiter*innen für faire Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen. Dazu gesellten sich Arbeiter*innen in Indien und anderen Ländern – alle Teil der Lieferkette, die Kleidung für H&M produzierte, eines der größten Bekleidungsunternehmen der Welt.6 Laut einem Bericht der Internationalen Arbeits-organisation aus dem Jahr 2013 gelten weltweit 168 Millionen Kinder als Kinderarbeiter*innen, fast 11 Prozent der Gesamtbevölkerung. Obwohl die meisten in der Landwirtschaft tätig waren, arbeiteten auch viele in der Textilindustrie.7 In Indien arbeiteten laut dem Bericht fast eine halbe Million Kinder auf den weitläufigen Baumwollfeldern des Landes.8

Diese schlechten Arbeitsbedingungen werden durch unseren Kleidungskonsum noch verschärft.

Diese schlechten Arbeitsbedingungen werden durch unseren Kleidungskonsum noch verschärft. Laut Elizabeth Cline, Autorin von Overdressed: The Shockingly High Cost of Cheap Fashion, wurde 1990 die Hälfte aller von US-Amerikaner*innen getragenen Kleidungsstücke in den Vereinigten Staaten hergestellt. Heute sind es nur noch 2 Prozent.9 Einer 2015 veröffentlichten Greenpeace-Analyse zufolge kauft der Durchschnittsmensch heute 60 Prozent mehr Kleidungsstücke als noch im Jahr 2000 und behält sie nur noch halb so lange. Die weltweite Nachfrage nach Bekleidung, insbesondere in Asien und Afrika, wird sich bis 2050 voraussichtlich verdoppeln. Die Durchlaufzeit für Modetrends – die Geschwindigkeit, mit der wir Kleidung verwenden und wegwerfen – ist zwischen 1992 und 2002 um 50 Prozent gesunken. Teilweise beträgt sie nur zwei Wochen, ein Trend, der Fast Fashion genannt wird. „Wir kaufen mehr Kleidung als je zuvor und wir tragen sie seltener“, schrieben die Greenpeace-Autor*innen. „Durch die Behandlung von Kleidung als Wegwerfartikel ist Mode zu einer Neuheit geworden. Die Kommerzialisierung und Vermarktung von Mode führt zu Überkonsum und Materialismus – unsere Kleidung zu behalten und sie zu schätzen ist nicht mehr in Mode.“10

Zwei Marken, die eng mit Fast Fashion verbunden sind, Zara und H&M, produzieren zusammen eine Milliarde Artikel pro Jahr, von denen ein großer Teil nach nur ein paar Mal Tragen weggeworfen wird. Nur 15 Prozent der gebrauchten Kleidung in den USA werden recycelt; der Rest landet auf Deponien, das sind mehr als 5 Prozent der jährlich anfallenden kommunalen Abfälle.11 Bis 2019 wird die Gesamtmenge der gekauften Textilien voraussichtlich 16 Millionen Tonnen übersteigen. Eine andere Studie beziffert den Wert des weggeworfenen Materials auf 460 Milliarden US-Dollar pro Jahr.12 Die Autor*innen des Greenpeace-Berichts schätzen, dass bis zu 95 Prozent aller weggeworfenen Kleidungsstücke wieder getragen, wiederverwendet oder recycelt werden könnten.13

Auch die Fasern in unserer Kleidung haben besorgniserregende Geschichten. Polyester, eine ölbasierte, synthetische Faser, wird heute in 60 Prozent unserer Kleidungsstücke verwendet, mehr als doppelt so viel wie noch im Jahr 2000. Es verbraucht jedes Jahr fast 350 Millionen Barrel Öl und verursacht 282 Milliarden Kilogramm CO2-Emissionen, dreimal so viel wie Baumwolle, was es für die Welt immer schwieriger machen wird, die im Pariser Abkommen festgelegten Klimaziele von zwei Grad Celsius zu erreichen. Nicht-ölbasierte Fasern sind ebenfalls mit Kosten verbunden. Rayon, dessen Gebrauch sich zwischen 2005 und 2015 verdoppelt hat, ist eine Zellulosefaser, für die Bäume und Bambus geerntet und verarbeitet werden müssen. Canopy, eine kanadische Non-Profit-Organisation, setzt sich dafür ein, dass bedrohte Wälder nicht Teil der globalen Rayon-Lieferketten sind, und konnte bereits erhebliche Fortschritte beim Schutz gefährdeter Wälder verbuchen. Das Hauptproblem bleibt jedoch – die Verwendung von Baumzellstoff für Kleidung ist ein land- und brennstoffintensiver Prozess, der unsere wertvollen Wälder weltweit gefährdet. Dann gibt es noch die konventionelle Verarbeitungsmethode, bei der Baum- und Bambuszellulose in Schwefelkohlenstoff gelöst wird. Dabei werden die Arbeiter*innen giftigen Dämpfen ausgesetzt, die schwere neurologische Schäden verursachen können. Der Herstellungsprozess von Rayon ist so giftig, dass es in den Vereinigten Staaten 2013 von der US-Umweltschutzbehörde verboten wurde. In einem Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006 wurde Acryl, eine Kunstfaser, als einer der giftigsten Stoffe der Welt bezeichnet.14

Darüber hinaus gelangen Mikrofasern aus unserer synthetischen Kleidung seit Jahrzehnten in unsere Wasserwege, in unsere Ozeane und auf unsere Böden. In einem vom Bekleidungs- und Ausrüstungsunternehmen Patagonia geförderten Forschungsprojekt untersuchte ein Team von Doktorand*innen der Bren School of Environmental Science and Management der University of California-Santa Barbara den Umfang und die Auswirkungen dieses Problems. „Unsere Untersuchungen ergaben, dass Mikrofasern sowohl in aquatischen als auch in terrestrischen Lebensräumen verbreitet sind. Vom Grund des Indischen Ozeans bis hin zum Ackerland in den Vereinigten Staaten“, schreibt das Team auf der Website. Ihre Experimente ergaben, dass beim Waschen von synthetischen Jacken in der Maschine etwa 1,7 Gramm Mikrofasern freigesetzt werden und in die örtliche Kläranlage gelangen. Von dort aus gelangen bis zu 40 Prozent in Flüsse, Seen und Ozeane.15

Eine weitere Studie unter der Leitung von Forscher*innen der University of California-Davis untersuchte die Verschmutzung von Meeresfischen durch Mikrofasern. Sie stellte fest, dass jedes dritte Schalentier, einer von vier Flossenfischen und 67 Prozent aller auf Fischmärkten in Kalifornien getesteten Arten Mikrofasern enthalten.16 Es wird außerdem geschätzt, dass Menschen in Europa durch den Verzehr von Schalentieren bis zu 11.000 Mikrofaserstücke pro Jahr zu sich nehmen.17 Das Forschungsteam der Bren School kam zu dem Schluss, dass die Nachrüstung von Kläranlagen zum Auffangen von Mikrofasern zu teuer wäre und als Strategie zur Minderung der Verschmutzung nicht als Option angesehen werden sollte. Das Team stellte auch fest, dass Meeresorganismen, sobald sie die Mikrofasern aufnehmen, oftmals verhungern und ihre Fortpflanzung beeinträchtigt wird, teilweise weil diese Fasern andere Giftstoffe wie DDT und PCB anziehen.

EINE KURZE GESCHICHTE DER KLEIDUNG

Es ist wichtig anzumerken, dass dies für den größten Teil der Menschheitsgeschichte nicht so war. Früher waren alle unsere Kleider „bio“. Als unsere vom Affen abstammenden Vorfahren vor einer Million Jahren ihre Körperbehaarung verloren, bestritten sie ihren Alltag offenbar nackt, bis Homo sapiens vor etwa 200.000 Jahren auftauchte. Im Jahr 2011 wurde in einer genetischen Studie über die Evolution der menschlichen Körperlaus die erste Verwendung von Kleidung auf vor 170.000 Jahren datiert.18 Die Laus benötigt Kleidung zum Überleben als Unterschlupf. Diese erste Kleidung bestand wahrscheinlich aus Tierfellen und Leder, die um verschiedene Körperteile drapiert oder gebunden wurden. Bald begannen die Menschen – ebenso wie ihre Neandertaler-Verwandten – mit scharfen Knochen, sogenannten Ahlen, Löcher in ihre Kleidung zu bohren. Diese ermöglichten es ihnen, Kleidungsstücke mit Lederschnüren fest zusammenzubinden, um sie warm zu halten und langlebigere Kleidung zu schaffen. Das war praktisch für die menschlichen Populationen, die sich vor 60.000 Jahren von Afrika ausgehend ausbreiteten, denn so konnten sie viel kältere Gebiete besiedeln. Da der Homo sapiens schlanker war als die stämmigen Neandertaler und daher während der Eiszeit mehr Schutz benötigte, könnte der kreative Einsatz von Werkzeugen zur Herstellung von Kleidung einen Wettbewerbsvorteil gebracht haben.

Vor ungefähr 45.000 Jahren hatte ein geschäftstüchtiges Individuum oder eine Gruppe, wahrscheinlich in Zentralasien, die zündende Idee, ein kleines Loch in das Ende einer Knochenahle zu bohren, und erfand damit die Nadel, eine der am meisten unterschätzten technologischen Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte. Die ersten Nadeln vernähten einen dünnen Faden aus Tiersehnen oder Pflanzenfasern, der es ermöglichte, Kleidungsstücke zu schaffen, zu reparieren oder auf neue Weise zu verwenden. Im prähistorischen Frankreich gibt es Beweise dafür, dass die künstlerischen Cro-Magnon-Menschen eng anliegende Kapuzen, Tücher, Hosen und Hemden aus verschiedenen zusammengenähten Tierhäuten anfertigten. Dass diese Kleidung etwa 40.000 Jahre lang beinah unverändert fortbestand, wurde im Jahr 1991 in den österreichischen Alpen durch die Entdeckung des Ötzi, des 5.000-jährigen mumifizierten Mannes aus dem Eis, bestätigt. Seine gut erhaltene Kleidung, darunter fein genähte Leggings, raffinierte Schuhe (mit Lederschnürsenkeln), ein langer Mantel und ein weicher Lendenschurz, wurde aus vielen verschiedenen Tierhäuten und Fellen hergestellt. Er trug auch einen Lederbeutel an einem Gürtel, in dem sich neben anderen nützlichen Gegenständen eine Knochenahle befand, möglicherweise um sein Outfit auf Reisen zu reparieren.

Die Agrarrevolution, die vor etwa 10.000 Jahren begann (und die anschließende Domestizierung der faserproduzierenden Nutztiere), veränderte unsere Kleidung dramatisch. Gesponnene Fäden aus Schafwolle und Leinen wurden verfügbar, und indem sie immer weiterentwickelt wurden, ermöglichten sie die Herstellung von Stoffen. Die Einführung von Bronzenadeln vor etwa 5.000 Jahren führte dazu, dass genähte Kleidung viel ausgefeilter und weiter verbreitet wurde. Für feine Näharbeiten war die Nadeltechnologie jedoch nicht ausgereift genug. Der Zeit- und Arbeitsaufwand, der erforderlich war, um ein einziges Stück Stoff zum Bedecken eines menschlichen Körpers herzustellen, war so groß, dass die frühen Zivilisationen in Indien, Griechenland und Ägypten einteilige Kleidungsstücke wie Togen, Saris und Tuniken bevorzugten. Stoffhosen wurden offenbar von Reitkulturen in Zentralasien erfunden, die auch Steppjacken herstellten. Selbst die Erfindung der eisernen Nähnadel und neuer Spinntechnologien während der Blütezeit des Römischen Reiches tat dem Wunsch nach einteiliger Kleidung keinen Abbruch. Farbstoffe zu dieser Zeit, darunter der berühmte Königspurpur, wurden aus Pflanzen und Insekten gewonnen, von denen einige exotisch waren, und ihr Erwerb förderte sowohl kommerzielle Handelsunternehmen als auch imperiale Ambitionen.

Die Agrarrevolution, die vor etwa 10.000 Jahren begann, veränderte unsere Kleidung dramatisch.

Die Kleidung veränderte sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte erheblich, da unterschiedliche Kulturen ihre eigenen Stile, Stoffe und Farben entwickelten. Zwar hatte die prähistorische Landwirtschaft in vielen Teilen der Welt eine Reihe schädlicher Auswirkungen auf die Umwelt, und Großgrundbesitzer und andere Eliten versklavten häufig Menschen zur Herstellung von Kleidung, doch die Rohstoffe selbst blieben organisch (im modernen „nicht-synthetischen“ Sinne).

Die industrielle Revolution änderte alles. Die Textilherstellung war einer der allerersten Industriezweige, der mechanisiert wurde. Die sozialen, wirtschaftlichen sowie die Arbeitsbedingungen der Kleidungsherstellung erfuhren tiefgreifende und oft beunruhigende Veränderungen. Der Weg zu einer modernen Textilproduktion war geebnet. Mit der Entdeckung des Erdöls und den Fortschritten in der synthetischen Chemie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Grundstein für die negativen Auswirkungen gelegt, die unsere Textilproduktionssysteme immer noch auf unsere persönliche und die Gesundheit des Planeten haben. Das ist ein Preis, den wir bis heute zahlen.

DIE GEFAHREN DER SYNTHETISCHEN CHEMIE

Fast die gesamte Zeit, in der H. sapiens auf der Erde existiert hat, haben sich die chemische Zusammensetzung und die Konzentrationen organischer Verbindungen in unserer Biosphäre aus einer komplexen Reihe von Variablen entwickelt. Man* könnte es als ein mehrere Milliarden Jahre andauerndes Gespräch zwischen den Naturkräften des Planeten betrachten, das zu unserer komplexen und vielfältigen Erde führte. Auch heute noch nimmt der Mensch seine materielle Umgebung auf, atmet sie ein und interagiert mit ihr, aber die chemische Zusammensetzung und Konzentration der Verbindungen, die von unserem Körper aufgenommen werden, haben sich stark verändert. Wir leben jetzt mit einer Vielzahl neuer synthetischer Chemikalien, mit denen wir uns nicht mitentwickelt haben, und sind unnatürlich hohen Konzentrationen toxischer Verbindungen ausgesetzt. Aber die Entwickler*innen und Hersteller*innen dieser Verbindungen haben ihre weitverbreitete Verwendung konzipiert, vermarktet und gefördert, ohne vorsorgliche Tests von Drittanbieter*innen durchführen zu lassen und die potenziellen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt bestimmen zu lassen. Tatsächlich wurden von den fast 70.000 synthetischen Verbindungen, die heute verwendet werden, weniger als 2 Prozent auf ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit getestet.19

Es gibt kein Bundesgesetz, das Sicherheitstests durch Dritte für die Zulassung von Chemikalien vorschreibt, die in unseren Textilien, Kosmetika, Spielzeug, Kunstbedarf, Teppichen oder Baumaterialien verwendet werden. Der Toxic Substances Control Act (dt. Gefahrstoff-Überwachungsgesetz), der 1976 in den USA verabschiedet und 2016 aktualisiert wurde, verlangt nun, dass die Industrie der Umweltschutzbehörde Sicherheitsdaten zur Verfügung stellt. Die Daten sollen verwendet werden, um zu bestimmen, ob eine Chemikalie eine hohe oder niedrige Priorität hat. Chemikalien mit hoher Priorität werden einer Risikobewertung unterzogen, die von der Industrie bezahlt und überwacht wird, es sei denn, die EPA (die Environmental Protection Agency, Umweltschutzbehörde) wird ausdrücklich zur Beteiligung an der Forschung aufgefordert.20

Diverse Industrien, Färbereien eingeschlossen, befinden sich flussaufwärts von diesem Ort am Tullahan-Fluss auf den Philippinen. Foto © Gigie Cruz-Sy/Greenpeace

Diese Verbindungen konnten in der Vergangenheit so mühelos in unsere Wirtschaft und damit in unser Leben gelangen, dass es nicht verwunderlich ist, dass die überwiegende Mehrheit von uns diese Verbindungen heute in unseren Körpern trägt. In unserem Blut, Urin, Fettgewebe, Fruchtwasser, unseren Knochen, dem Sperma und der Muttermilch. Aufgrund der Art und Weise, wie unsere Gesetze entwickelt werden, hatte unsere Gesellschaft erst im Nachhinein die notwendigen Mittel, Verbindungen zu identifizieren und zu entfernen, die der lebenden Welt ernsthaften Schaden zufügen. Die Autorin und Biologin Sandra Steingraber diskutierte 2013 in einem Interview mit Bill Moyers über ihr Konzept der „toxischen Ubergriffigkeit“. „Wir atmen bei jedem Atemzug einen halben Liter Luft ein“, sagte Steingraber, und bei diesen Inhalationen „nehmen wir Chemikalien ohne unsere Zustimmung ein.“21

Es geht um mehr als nur um die Luft, die wir atmen. Unsere Haut, das größte durchlässige Organ des menschlichen Körpers, nimmt ihre materielle Umgebung auf und gibt Giftstoffe direkt an unseren Blutkreislauf weiter. Aber es braucht gewaltige rechtliche Schritte und oft Jahrzehnte, um der toxischen Übergriffigkeit auch nur einer einzigen chemischen Verbindung nachzugehen. Selbst wenn dann mehrere Studien bewiesen haben, dass eine chemische Verbindung unsere Ökologie kostspielig belastet, müssen wir Anwält*innen und Wissenschaftler*innen konsultieren. Nur wenn alle Facetten Zusammenkommen, haben wir manchmal die Möglichkeit zu sagen: „Gott sei Dank haben wir in unseren Nachbarschaften und auf unseren Höfen auf DDT verzichtet“ oder „Gut, dass wir aus unserem Treibstoffund unserer Farbe Blei entfernt haben“ oder „Was haben wir uns nur dabei gedacht, als wir davon ausgingen, Zigarettenrauchen sei gut für unsere Gesundheit?“ Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir uns bald fragen werden: „Warum haben wir Kleidung aus konventioneller Landwirtschaft oder aus fossilen Brennstoffen getragen?“ Und „Wie konnten wir jemals ohne eine Liste der Inhaltsstoffe auf unserer Kleidung auskommen?“ Wir haben blindlings Karzinogene, Neurotoxine und endokrine Disruptoren (hormonaktive Substanzen; Stoffe mit schädlichen Wirkungen) die am größten Organ unseres Körpers getragen – wie verrückt ist das?

Die Zukunft stürmt auf uns zu, aber es bleibt noch Zeit, um Transparenz über unsere Kleidung zu schaffen und zur Verbreitung von Wissen und Informationen beizutragen. Und während Transparenz und öffentliche Aufklärung wirksame Instrumente für den kulturellen Wandel sind, ist es auch wichtig, die Wirksamkeit eines rechtlichen Rahmens in Frage zu stellen, der es erlaubt, so viel Schaden im Voraus anzurichten, und die Beweislast einer Kombination aus chronisch Kranken, Sterbenden und einer Gemeinschaft altruistischer Expert*innen überlässt, die bereit sind, für sehr wenig Lohn zu arbeiten, um rechtliche und wissenschaftliche Schlachten zu schlagen. Warum lassen wir als Kultur- und Wirtschaftssystem diese giftige Übergriffigkeit überhaupt zu? Dies ist eine grundlegende gesellschaftliche Frage.

Viele Ärzt*innen, Forscher*innen und Wissenschaftler*innen sind der Meinung, dass die Allgemeinheit rechtlich vor dem chemischen Übergriff geschützt werden muss, der weiterhin ohne unsere Zustimmung stattfindet. Als Gesellschaft wäre es nicht schwierig, gefährliche synthetische Verbindungen zu identifizieren und ihre Herstellung, Verwendung und Freisetzung zu unterbinden. Ein solcher Wandel könnte zügig und in weniger als einer Generation erfolgen. Beispielsweise durch die Entwicklung von Gesetzen, die eine vorsorgliche Analyse der Gesundheitsauswirkungen durch Dritte für alle neuen chemischen Verbindungen, die auf den Markt kommen, erfordern. Oder durch eine vollständige Offenlegung aller Auswirkungen bestehender und bleibender synthetischer chemischer Verbindungen, die wahrscheinlich durch Überreste der materiellen Kultur (Unterkünfte, langlebige Güter, Kleidung) in unserer Umwelt verbleiben werden. Das von Sandra Steingraber formulierte übergeordnete Ziel besteht darin, eine Wirtschaft zu entwickeln, die nicht mehr von diesen Stoffen abhängig ist, was es uns ermöglichen würde, uns gemeinsam auf profitable und ökologisch vorteilhafte Alternativen zu konzentrieren. In der Zwischenzeit werden wir weiterhin in einer Welt leben, in der fast ein Viertel aller Todesfälle weltweit direkt durch das Leben und Arbeiten in giftigen und verschmutzten Umgebungen verursacht wird. In einer Umgebung, in der mehr als ein Viertel der Todesfälle von Kindern unter fünf Jahren Umweltbedingungen zugeschrieben werden.22

In den letzten zehn Jahren haben Forscher*innen eine deutliche Verschiebung von infektiösen, parasitären und emährungsbedingten Krankheiten hin zu nicht übertragbaren, also nicht ansteckenden Krankheiten beobachtet. Diese Verschiebung ist in nicht-industrialisierten Ländern am deutlichsten, wo übertragbare Krankheiten historisch eine häufige Todesursache waren. Nicht übertragbare Krankheiten, wie sie beispielsweise durch Umwelttoxizität entstehen, wurden inzwischen als „eine der größten Herausforderungen für eine nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert“23