Was uns nicht trennt... - Julia Lindberg - E-Book

Was uns nicht trennt... E-Book

Julia Lindberg

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Beschreibung

Anna ist 27 und kommt aus einer gutbürgerlichen Familie, Berührungspunkte mit fremden Kulturen hatte sie bislang nicht. Durch einen Zufall lernt Anna Tarek kennen und ist fasziniert von der Ausstrahlung des jungen Türken. Beide fühlen sich so stark zueinander hingezogen, dass Tarek seine Verlobung mit einer Türkin lösen möchte. Ein gemeinsames Leben ist der Traum, den beide träumen. Doch die Liebe zwischen ihnen gerät schnell in einen Strudel aus Misstrauen, Verrat und gefährlichen Ereignissen.

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ÜBER DIE AUTORIN

Julia Lindberg ist 1976 geboren und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Hessen. Neben ihrem Alltag als Bankkauffrau hat sie das Schreiben für sich entdeckt.

»Was uns nicht trennt…« ist ihr erstes Buch.

INHALT

Der geheimnisvolle Mann von der Tankstelle

Renovierungsarbeiten

Einweihungsparty

Das Geständnis

Der erste Kuss

Verschiedene Kulturen

Angst

Arzu

Thessa

Abgrenzung

Die Begegnung

Der Schock

Der Überfall

Annas kleines Geheimniss

Flucht

Palma

Selbstfindung

Alex

Plötzlicher Besuch

Zurück

Leilas Ankunft

Tareks Mutter

Die Entführung

Glück

Die neue Wohnung

Die Einladung

Tareks Freunde

Das türkische Dorf

Besuch im Gefängnis

Arzus Freundin

Andere Bräuche

Betrügt er mich?

Die Pistole

Streit in der Disco

Ärger

Tarek in Gefahr

Eine unangenehme Begegnung im Fahrstuhl

Wer ist Tarek?

Nur ein Abend!

Tarek und seine Freunde

Eine schwere Entscheidung

Anna, du wirst mein Leben nicht ändern!

Der Ausrutscher

Christian

Es ist Schluss

Tarek in Schwierigkeiten

Die Wahrheit über Christian

Ein neues Leben

Danksagung

DER GEHEIMNISVOLLE MANN VON DER TANKSTELLE

Endlich war es so weit. Nachdem ich mich von meinem langjährigen Freund Ben getrennt hatte und nun auch eine eigene Wohnung gefunden hatte, fing ich damit an, die ersten Kisten mit meinen Sachen zu packen, um sie in meine neue Wohnung zu fahren.

Ich trug Kiste für Kiste zu meinem Auto, bis es bis unters Dach voll bepackt war. Später hatte ich noch einen Termin mit dem Transportunternehmen, das die restlichen Möbel von Bens Wohnung zu meinem neuen Zuhause bringen würde. Ich freute mich wahnsinnig auf darauf. Überglücklich stieg ich in mein Auto und machte mich auf den Weg. Als ich zufällig während der Fahrt auf meine Tankanzeige schaute, bemerkte ich, dass der Tank bedrohlich leer war.

Mein Auto ist kurz davor stehen zu bleiben, schoss es mir durch den Kopf.

Fast im Schritttempo rollte ich zur nächsten Tankstelle und war erleichtert, dass ich es gerade noch bis zur Tanksäule geschafft hatte. Uff, das war knapp. Doch wieso klemmte jetzt der Tankdeckel meines Autos fest? Mit aller Kraft versuchte ich ihn zu öffnen. Er bewegte sich keinen Millimeter. Hinter meiner Tanksäule stand schon das nächste Auto, das auch tanken wollte. Der Mann, der im Wagen saß, merkte zwar, dass ich ein Problem mit dem Tankdeckel hatte, machte aber keinerlei Anstalten, aus seinem Auto zu steigen und mir zu helfen. Ich schwitzte und versuchte immer wieder vergebens, den blöden Tankdeckel zu öffnen. Ich kam mir so dämlich unbeholfen und beobachtet vor. An der Tankstellentür fiel mir ein gutaussehender türkischer junger Mann auf. Auch er sah, wie ich mich abmühte, und auch er kam mir nicht zu Hilfe.

Ich bin mir zu stolz, einen der gaffenden Männer um Hilfe zu bitten, dachte ich leicht verbittert.

Hinter dem Auto, das sich hinter meinem Wagen eingereiht hatte, fuhren mittlerweile weitere Autos heran. Die Schlange wurde immer größer und die Fahrer immer ungeduldiger.

Die ersten hupten bereits und schrien aus dem Fenster.

»Wird das heute nochmal was?! Ich habe es eilig!«

Ich hatte das Gefühl, ihre Gedanken lesen zu können: »Typisch Frau, so eine kleines Dummchen …«

Schließlich setzte sich der junge Mann, der mich von der Eingangstür der Tankstelle aus lange genug beobachtet hatte, endlich in Bewegung und kam mit einem charmanten Lächeln auf mich zugelaufen. Er schaute mich mit seinen schönen, schwarzen Augen an.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er mich mit einem leichten schelmischen Zwinkern, »ich könnte Ihnen helfen, Ihren Tankdeckel zu öffnen.«

Ich schaute den Mann an, unsere Blicke trafen sich und ließen sich für einen kleinen Moment nicht mehr los.

Verwirrt nickte ich ihm zu und trat zur Seite, während er spielend leicht mit einem Ruck den Tankdeckel öffnete.

»Soll ich Ihr Auto auch gleich betanken?«

Er schaute mich mit hochgezogenen Brauen fragend an.

»In der Zwischenzeit könnten Sie schon einmal in die Tankstelle an die Kasse gehen und bezahlen, dann müssten die Fahrer hinter Ihnen nicht so lange warten.«

Das klang plausibel. Ich ging in das Tankstellenhäuschen und bezahlte. Auf dem Weg dorthin konnte ich hören, wie die Autofahrer hinter mir klatschten und grölten.

»Emanzipation!«, höhnte einer. »Seht ihr, Frauen, ihr könnt doch nicht ohne uns Männer leben!«

Haha, dachte ich trocken.

Als ich einige Minuten später wieder zurück zu meinem Auto ging, war der Mann, der mir so freundlich geholfen hatte, plötzlich verschwunden. Ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, mich bei ihm für seine Hilfe zu bedanken. So schnell wie möglich verließ ich das Tankstellengelände und bekam dabei mit, wie mir noch ein paar Idioten hinterher hupten.

Sollten sie doch, diese Deppen.

Der Mann, der mir an der Tankstelle geholfen hatte, ging mir allerdings nicht aus dem Kopf. Warum hatte er nicht auf mich gewartet? Er war auf einmal so schnell verschwunden. Gerne hätte ich mich zumindest noch bei ihm bedankt.

Als ich in die Straße meiner neuen Wohnung fuhr, konnte ich sehen, dass die Möbelpacker schon mit ihrem LKW genervt vor meiner Wohnung standen.

Heute scheint der absolute Horrortag zu sein, es geht schief, was nur schiefgehen kann, dachte ich gereizt, während ich den Männern die Tür aufschloss. In diesem Augenblick klingelte zu guter Letzt auch noch mein Telefon. Meine Mutter. Die konnte ich jetzt gar nicht brauchen.

»Mama, was kann ich für dich tun?«, meldete ich mich genervt.

»Anna, ich wollte nur mal nachfragen, ob bei dir alles gut mit dem Umzug klappt?«

Was sollte ich jetzt darauf antworten?

»Ja, Mama, alles in Ordnung bei mir, mach dir keine Sorgen.«

»Oh, dann ist ja gut. Sollen wir heute Abend mit dem Abendessen auf dich warten oder kommst du später?«

»Ihr braucht nicht auf mich zu warten. Ich werde hier noch eine paar Kisten ausräumen und etwas später kommen.«

Meine Mutter zeigte ausnahmsweise einmal Verständnis.

Ich setzte mich neben meine vollen Kisten und holte tief Luft – die Männer hatten alles abgeladen und waren wieder weg –, als es im gleichen Moment unerwartet an meiner Wohnungstür klingelte.

Irritiert ging ich zur Tür, die wenigsten wussten, dass ich bald hier wohnen werde.

Thessa, meine Freundin stand vor mir und schaute mich mit großen Augen an.

»Hallo Anna!«

Thessa umarmte mich und gab mir rechts und links ein Küsschen auf die Wange.

»Anna, ich habe hier eben im Vorbeifahren dein Auto gesehen und da hatte ich mir gedacht, weil ich gerade etwas Zeit habe, könntest du meine Hilfe gebrauchen. Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, wie mühsam so ein Umzug sein kann.«

Ich war froh über ihren spontanen Einfall. Ich konnte Thessas Hilfe gut brauchen. Und ein wenig Ablenkung ebenso. Ich erzählte Thessa von meiner Misere an der Tankstelle und von dem geheimnisvollen Mann, der mir in letzter Minute geholfen hatte.

»Anna, und du weißt nicht, wer er ist?«, hakte sie nach.

»Nein«, sagte ich, »ich konnte mich nicht einmal bei ihm bedanken. Als ich aus der Tankstelle trat, war er wie vom Erdboden verschluckt.«

»Seltsamer Kerl«, murmelte Thessa kopfschüttelnd. Nach einer Weile schaute sie mich mit einem bettelten Blick an.

»Anna«, begann sie leise, »könntest du mir dein Auto für nächste Woche leihen?

Du könntest doch für die Zeit mit dem Fahrrad oder mit dem Bus fahren. Bitte, Anna, bitte.«

Thessa schaute mich immer noch mit diesem Hundeblick an, dem ich nicht widerstehen konnte. Es schien für sie eine wirklich wichtige Sache zu sein.

»Geht in Ordnung«, lenkte ich ein, »dafür sind Freunde doch da.«

»Danke, danke, danke, meine Liebste«, wiederholte Thessa immer wieder und umarmte mich dabei so sehr, dass ich kurzzeitig das Gefühl hatte, sie würde mir die Luft abdrücken.

»Aber!«, setzte ich mit hochgehobenem Finger an, »bitte fahre mir keine Schramme in mein kleines Autochen.«

»Neeeein! Um Gottes Willen! Ehrenwort. Du weißt doch, Frauen sind die besseren Autofahrer.«

»Ja, sag das mal den Männern von der Tankstelle, die mich vorhin angepöbelt hatten.«

»Oh, wenn ich die treffe!« Thessas Gesichtsausdruck bekam einen bedrohlichen Zug, bevor wir beide uns lachend in den Armen lagen.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Ich nahm mir vor, nach der Arbeit noch einmal mit dem Bus in die Stadt zu fahren, um nach einigen Dekosachen für meine Wohnung zu schauen. Es machte mir richtig viel Spaß, meine neuen Räume einzurichten.

Als meine Einkäufe fertig war, fiel mir auf, dass ich wieder einmal mehr gekauft hatte, als nötig. Voll bepackt mit meinen Tüten stand ich an der Bushaltestelle und wartete auf den nächsten Bus.

Ich war ein paar Minuten zu früh und setzte mich in das Bushäuschen. Einige Meter neben mir pöbelte ein Betrunkener andere Wartende an. Plötzlich drehte er sich um, kam in meine Richtung gelaufen und setzte sich neben mich. Er schaute mich mit seinen glasigen Augen lange an, ich konnte deutlich seine widerliche Alkoholfahne in meinem Nacken riechen. Ich schaute in die andere Richtung.

»Na, Süße, wie geht es dir?«, begann er zu säuseln.

Ich tat so, als ob ich ihn nicht gehört hätte.

»Süße«, lallte er nun lauter, »ich spreche mit dir, hörst du, du gefällst mir.«

Auf einmal war ich wie in einer Schockstarre gefangen, unfähig, aufzustehen und wegzugehen. Der Besoffene nahm meine Hand und legte sie auf seinen Schoß. Alle Passanten, die in diesem Moment an mir vorbeiliefen, schauten sich das Schauspiel zwischen mir und dem Besoffenen an. Jeder merkte, dass ich bedrängt wurde und die Situation für mich mehr als unangenehm war. Doch keiner von ihnen griff ein.

»Süße, kann ich dich küssen und mit zu mir nach Hause nehmen.«

Der Kerl wurde immer zudringlicher. Ich schaute mich hilfesuchend um.

Etwas weiter entfernt konnte ich eine Gruppe Jugendliche sehen, die gerade in meine Richtung schauten. Auf einmal stand er wie aus dem Nichts vor mir. Der Mann von der Tankstelle. Der Mann, der mir gestern geholfen hatte, den Tankdeckel von meinem Auto zu öffnen. Er packte den Besoffenen an der Jacke und riss ihn von der Bank, auf der er eben noch neben mir kauerte. Kurz darauf standen auch seine Freunde hinter ihm.

»Ich glaube, der Platz neben der hübschen Dame ist schon für mich reserviert«, sagte er zu dem Besoffenen in einem scharfen Ton. Böse schaute dieser zurück.

»Spinnst du«, begann der Besoffene in einem aggressiven Tonfall. »Ich habe zuerst neben der Frau gesessen und wenn du Dreikäsehoch nicht gleich die Biege machst, dann kannst du aber etwas erleben.« Speichel tropfte von seinen Mundwinkeln.

»Du bist besoffen, du bist kein gleichwertiger Gegner für mich. Ich sage dir jetzt nur einmal und in einem ganz höflichen Ton, dass du nichts in der Nähe dieser Dame zu suchen hast. Wenn du jetzt nicht gleich abziehst, werden sich meine Freunde um dich kümmern. Hast du das verstanden?«

Ich war immer noch wie paralysiert und konnte weder sprechen noch mich bewegen. Verängstigt schaute ich den beiden zu. Der Besoffene wollte gerade auf den jungen Mann einschlagen, als er im gleichen Moment von dessen Freunden festgehalten und mehr oder weniger wortlos von ihnen um die Ecke geführt wurde. Er versuchte noch, sich mit Händen und Füßen zu wehren, aber gegen die Männer hatte er nicht die geringste Chance.

Als sich der junge Mann behutsam neben mich setzte, spürte ich endlich, wie erleichtert ich war. Wieder sahen wir uns tief in die Augen. Und wieder ließen mich seine ausdrucksstarken dunklen Augen leicht erschauern.

»Danke«, flüsterte ich, »danke.«

»Wieso, das habe ich doch gerne gemacht.«

»Für deine Hilfe an der Tankstelle wollte ich mich auch noch bedanken, da hatte ich ja keine Gelegenheit mehr gehabt, du warst auf einmal so schnell verschwunden.«

»Ja, ich hatte noch einen wichtigen Termin, deshalb bin ich gegangen. Ich merkte ja, dass du auch alleine zurechtgekommen bist. Aber ich habe das Gefühl, dass du öfter Hilfe brauchst, oder?«

»Nein, eigentlich nicht, du bist nur immer zum richtigen Moment in meiner Nähe.«

»Ach so«, er schaute verlegen auf den Boden.

»Ich heiße übrigens Anna«, ich reichte dem Unbekannten meine Hand.

»Anna«, wiederholte er langsam, »ein sehr schöner Name. Ich bin Tarek.«

Lächelnd nahm er meine Hand entgegen.

»Tarek ist auch ein sehr schöner Name«, sagte ich.

Auf einmal sahen wir beide den Bus anfahren.

»Anna«, Tarek schaute mich ernst an, »kannst du jetzt alleine mit dem Bus weiterfahren, oder soll ich dich nach Hause begleiten?«

»Nein, das brauchst du nicht, ich komme ab sofort auch alleine klar.«

»Anna, soll ich dir noch schnell meine Telefonnummer geben, damit du mich anrufen kannst, wenn du noch einmal meine Hilfe benötigen solltest und ich nicht gerade zufällig in der Nähe bin?«

»Du kannst mir deine Nummer ruhig geben, aber ich denke, ich komme schon klar. Ich glaube nicht, dass ich nochmal deine Hilfe brauchen werde.«

Tarek schaute mich an und lächelte.

»Anna, ich würde mich freuen, wenn du dich auch so mal bei mir melden würdest. Darf ich vielleicht auch deine Nummer haben?«

Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

»Ja, in Ordnung«, stammelte ich etwas unbeholfen.

Ich schrieb meine Nummer schnell auf ein Stück Papier, das ich eilig aus meiner Tasche herausgekramt hatte und drückte es ihm in die Hand. Dann stieg ich in den Bus ein.

Nachdem der Bus anfuhr, schauten wir uns noch lange nach, bis Tarek schließlich außer Sichtweite war. Ich freute mich, ihn wiedergetroffen zu haben. Komisch. Jetzt hatte er mich innerhalb so kurzer Zeit zweimal gerettet. Wer war dieser Mann?

RENOVIERUNGSARBEITEN

Als ich von der Bushaltestelle nach Hause zu meinen Eltern lief, konnte ich mein kleines rotes Auto sehen. Thessa war wohl gerade zu Besuch bei meinen Eltern oder sie brachte mir sogar mein Auto wieder zurück. Ich schloss die Haustür auf, in Gedanken noch ganz bei Tarek.

»Hallo Anna«, begrüßte mich meine Mutter im Flur, »Thessa ist gerade gekommen, um dir dein Auto zu bringen. Sie ist im Wohnzimmer bei deinem Vater.«

Kaum betrat ich das Wohnzimmer, sprudelte Thessa auch schon los.

»Anna, die Werkstatt hat angerufen, mein Auto ist doch schon schneller fertig, als ich dachte. Und dein süßes Auto hat keinen einzigen Kratzer von mir bekommen, ich habe mich nicht blitzen lassen und im Halteverbot habe ich auch nicht geparkt. Außerdem habe ich dein Auto auch noch aufgetankt.«

»Ah ja. Das ist toll«, sagte ich gedankenverloren. Die Situation von eben ging mir nicht aus dem Sinn.

Thessa hielt sofort inne und schaute mich besorgt an.

»Anna, ist dir gerade in der Stadt eine Laus über die Leber gelaufen oder jemand anderes? Du wirkst so abwesend.«

Ich schaute Thessa an.

»Ach, das ist nicht so wichtig, ich erzähle es dir mal bei Gelegenheit«, wiegelte ich ab.

Ich wollte auf keinen Fall, dass meine Eltern wieder alles von meinem Privatleben mitbekämen.

»Thessa, soll ich dich nach Hause fahren, dann können wir ja noch mal reden.«

»Du, das ist eine gute Idee!«

Sie sprang auf und verabschiedete sich von meinen Eltern.

Als wir im Auto saßen, schaute mich meine Freundin ganz gespannt an.

»So, Anna, jetzt erzähle doch mal, was mit dir los ist«, forderte sie mich auf.

Ich atmete tief durch.

»Also«, begann ich, »als ich an der Bushaltestelle auf den nächsten Bus gewartet hatte, setzte sich ein besoffener Mann neben mich.«

»Oh, das hört sich ja schrecklich an.«

»Ja, er hatte schon auf dem Weg zu mir mehrere Leute, die ihm offenbar in die Quere kamen, angepöbelt. Dann setzte er sich schließlich neben mich und nannte mich meine Süße, er legte sogar seine schmutzige Hand auf meinen Schoß.«

»Anna, du machst mir Angst. Jetzt kann ich auch verstehen, warum du so durcheinander bist. Hat dir denn keiner in der unangenehmen Situation geholfen?«

»Nein, erst einmal nicht. Die Leute um mich herum haben alle nur geschaut und sind wortlos an mir vorbei. Keiner von denen hatte auch nur im Geringsten daran gedacht, stehenzubleiben und mir zu helfen. Der besoffene Typ hätte mich abknutschen können und keiner hätte mir geholfen.«

»Hat der Typ dir etwas getan? Hat er dich angefasst?«, meine Freundin war sichtlich aufgebracht. »Wie an der Tankstelle gestern, da hatte dir doch auch niemand geholfen, den Tankdeckel von deinem Auto zu öffnen. Wie hast du denn den betrunkenen Mann losbekommen?«

Neugierig musterte sie mich.

»Jetzt pass auf, Thessa. Ich habe dir doch von dem geheimnisvollen Mann von der Tankstelle erzählt.«

»Ja«, unterbrach sie mich ungeduldig, »was hat der denn jetzt damit zu tun?«

»Der stand auf einmal wieder neben mir und zerrte den Besoffenen von mir weg.«

»Und der Besoffene hat sich das einfach so gefallen lassen?«

»Nein, der hat gepöbelt und laut geschrien und wollte den Mann schlagen.«

»Und? Hat er es getan?«, fragte Thessa mit weit aufgerissenen Augen.

»Nein, wie aus dem Nichts standen seine Freunde hinter dem Besoffenen und haben ihn mehr oder weniger um die Ecke abgeführt.«

»Das hört sich aber spannend an«, summierte meine Freundin die Ereignisse. »Werdet ihr euch wiedersehen? Immerhin hat er dich schon zweimal quasi gerettet.«

»Er heißt übrigens Tarek.«

»Ah. Ein Türke?«

»Ja. Schlimm?«

»Nicht die Spur. Ich meine ja nur.«

»Ich weiß nicht so genau, ob wir uns wiedersehen werden. Er hat mir seine Telefonnummer gegeben, falls ich mal wieder Hilfe bräuchte und er nicht gerade zufällig in der Nähe sei. Ich glaube aber nicht, dass ich mich bei ihm melden werde.«

»Warum nicht?«

»Du, ich möchte jetzt erst mal meine Ruhe, was Männer angeht. Ich meine, nach Ben. Ich möchte endlich mal wieder mein Singleleben auskosten.«

»Hmm«, Thessa nickte verständig. Aber ich spürte im selben Moment, dass ich mir mit dieser Erklärung selbst etwas vormachte. Tarek würde ich nicht so mir nichts dir nichts vergessen. Dieses Kapitel hatte überhaupt noch gar nicht richtig begonnen.

Ich setzte Thessa vor ihrer Wohnung ab und ertappte mich zum ersten Mal bei dem Gedanken, ob Tarek sich wohl bei mir melden würde.

Diese Frage sollte mir die folgenden Tage noch öfter durch den Kopf gehen. Es verging eine Woche, zwei, und ich bekam keinen einzigen Anruf von ihm. Bestimmt hatte er mich längst vergessen. Ich absolvierte mein tägliches Programm, ich ging arbeiten und nach der Arbeit fuhr ich in meine Wohnung, um Kisten auszupacken. Es war so viel zu tun, ich hatte den Umzug komplett unterschätzt. Langsam verzweifelte ich vor dem Berg Kisten vor mir, ich sah kein Ende mehr. Immer noch schlief ich während dieser Zeit bei meinen Eltern. Ich war Mitte zwanzig und wohnte wieder bei meinen Eltern. Ich fühlte mich nahe am Scheitern.

Gerade kauerte ich wieder voller Erschöpfung in einer Ecke meiner Wohnung. Das Chaos um mich herum schien nicht abzunehmen. Ich fühlte, wie mir eine große Träne die Wange herunterkullerte. In diesem Moment klingelte mein Telefon mit einer unbekannten Nummer. Als ich den Hörer abnahm, meldete sich niemand am anderen Ende der Leitung.

»Hallo«, sagte ich, »wer ist da«?

Es war immer noch eine kurze Zeit ruhig in der Leitung. Dann meldete sich eine männliche Stimme.

»Hallo, ich bin es, Tarek. Der Mann von der Tankstelle. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«

»Nein«, sagte ich mit verweinter Stimme.

»Anna, ist alles in Ordnung bei dir?«

Ich versuchte mich zusammenzureißen, was sollte er nur von mir denken? Ich räusperte mich kurz.

»Nein, du störst nicht.«

Es war wieder ruhig am anderen Ende der Leitung.

»Tarek, bist du noch am Telefon?«

»Ja, warum?«

»Weil du dich gerade nicht gemeldet hattest.«

»Tut mir leid. Anna, ich hatte vor ein paar Tagen an der Tankstelle gesehen, dass dein Auto voll mit Umzugskartons beladen war. Und kürzlich in der Stadt, als ich dich sah, hattest du so viele Dekosachen in den Tüten.«

Es war wieder ruhig am anderen Ende der Leitung.

»Tarek, ich kann dich nicht so gut verstehen, bist du noch da?«

»Ja«, antwortete er etwas unsicher.

»Also, Anna, was ich dich fragen wollte. Ich habe das Gefühl, dass du gerade dabei bist umzuziehen.«

Es war wieder ruhig am anderen Ende der Leitung.

»Ja, ich ziehe gerade in eine andere Wohnung.«

»Darum wollte ich dich fragen, ob du dafür eventuell meine Hilfe gebrauchen könntest? Ich bin ein wenig handwerklich begabt, ich könnte dir zum Beispiel helfen, die Lampen zu montieren oder dir die Kartons tragen helfen.«

Jetzt war ich diejenige, die sprachlos war.

»Anna, bist du noch da?«

»Ja, ja«, stammelte ich kurz.

»Wahrscheinlich hast du schon jemanden, der dir beim Umzug hilft?«

»Nein, ich habe niemanden, der mir hilft, ich habe bis jetzt alles alleine gemacht.«

»Anna, benötigst du denn mein Hilfe? Wenn du möchtest, kann ich dir helfen.«

Es war unglaublich. Ich fühlte mich am Ende meiner Kräfte und ausgerechnet jetzt tauchte dieser Mann wieder auf.

»Ja, wenn es dir nichts ausmacht, kannst du mir gerne helfen. Ich würde mich freuen.«

Schon wieder blieb es ruhig am anderen Ende der Leitung.

»Tarek, bist du noch in der Leitung?«

»Ja, natürlich. Anna, wann wollen wir uns treffen? Ich habe jetzt Zeit, wenn du möchtest, kann ich jetzt zu dir kommen und dir helfen.«

»Ja, das kannst du«, sagte ich erleichtert.

Ich gab Tarek meine Adresse und wir beendeten das Gespräch. Kurz darauf stand er schon vor der Tür.

»Da bin ich. Auf ein frohes Schaffen!«, begrüßte er mich heiter und klatschte dabei aufmunternd in die Hände.

Neugierig schaute er sich um.

»So, was soll ich machen?«

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich habe gerade etwas den Überblick verloren.«

Er musste mir meine Erschöpfung angesehen haben.

»Anna, sollen die Räume auch frisch gestrichen werden?«, fragte er, nun etwas vorsichtiger.

»Ja, das hatte ich mir auch schon überlegt, aber ich kann nicht streichen.«

»Das ist kein Problem, das kann ich. Ich würde es nur machen, bevor die Möbel aufgestellt sind, in manchen Zimmern stehen ja schon Möbel.«

»Ja, aber es fehlt ja auch noch ein Bett, zum Beispiel«, sagte ich in der Hoffnung, dass er das nicht falsch verstehen würde.

»Ja, ein Bett fehlt. Ich werde versuchen, in den nächsten Tagen eines zu besorgen. Oder …«, er zögerte kurz, »Anna, wenn du Zeit hast, könnten wir auch jetzt zusammen in ein Möbelhaus fahren und du kannst dich ein bisschen umschauen, ich könnte dir dann beim Aufbauen des Bettes helfen.«

»Ja, warum nicht?«

Tarek kam wie gerufen.

Wir fuhren zusammen in das nächste Möbelhaus. Die Auswahl an Betten und Schlafzimmern war ausgezeichnet, und so dauerte es nicht lange, bis ich mich für ein neues Bett entschied. Wir liehen uns einen Transporter des Möbelhauses und brachten das Bett in meine neue Wohnung. Ich war froh, dass Tarek mir bei allem half, ich hätte es wirklich nicht ohne ihn geschafft. Wir bauten das Bett zusammen auf und brachten den Transporter noch am selben Abend zurück zum Möbelhaus, bevor wir uns für diesen Tag verabschiedeten.

Am nächsten Morgen stand er wieder frohen Mutes auf meiner Matte. Ich freute mich aufrichtig, es machte mir großen Spaß, mit Tarek zusammen zu sein, wir verstanden uns einfach gut. Wir verbrachten das komplette Wochenende miteinander, er kümmerte sich um die Elektrik, während ich mich halbwegs erfolgversprechend im Streichen versuchte. Ich spürte meine zunehmende Neugier an ihm und ertappte mich dabei, wie ich schmunzeln musste, während ich ihn manchmal wie ein junger Kater durch die Wohnung streunen hörte, auf der Suche nach einem Schraubenschlüssel oder einer Fassung. Er hatte etwas an sich, was mich anzog, ohne dass ich dieses Etwas irgendwie auf den Punkt hätte bringen können. Er schien eine Art Geheimnis in sich zu tragen. Eine Art Melancholie. Wir verbrachten so viel Zeit beim Renovieren miteinander, wir hatten so viel Spaß zusammen, wir verstanden uns so gut, aber dieses Geheimnisvolle blieb. Er sprach nicht von seinem Privatleben. Ich wusste nicht, ob er eine Freundin hatte, welchem Beruf er nachging, welchen Hobbys, einfach nichts. Er schien sich auch nicht sehr für mich und mein Privatleben zu interessieren, zumindest fragte er nichts. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er eine Freundin hatte, sonst würde er sich nicht das ganze Wochenende für mich zur Verfügung stellen. Aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wer er war.

Warum ist er so hilfsbereit zu mir?

Es waren noch zwei Tage bis zum finalen Wochenende, an dem wir uns vorgenommen hatten, die Renovierungsarbeiten abzuschließen. Tarek meldete sich in diesen zwei Tagen nicht bei mir. Trotzdem stand er wieder pünktlich vor der Tür und wir legten die letzten Pinselstriche an, verschoben die restlichen Möbelstücke.

»Fertig«, sagte ich schließlich. Ich klatschte in die Hände.

»Tarek, wir haben es geschafft und das genau in unserem Zeitplan!«

Freudig ging ich zu ihm und umarmte ihn als Dank für seine Hilfe. Tarek reagierte erst gar nicht auf meine Umarmung, schob mich dann aber vorsichtig zur Seite. Verunsichert sah ich ihn an. Ich verstand seine Reaktion wegen der leichten Umarmung nicht. Er spürte meine Irritation und lenkte ab.

»Siehst du, Anna, jetzt kannst du hier wohnen. Ich habe dir doch gesagt, du brauchst nur ein wenig Geduld, es wird schon alles.«

»Tarek, wie kann ich dir nur für deine Hilfe danken?«

»Gar nicht, es hat mir Spaß gemacht, dass ich dir helfen konnte.«

Er zog sich die Jacke an.

»Anna, es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen, ich habe noch eine andere Verabredung.«

»Ja, klar. Kein Problem.«

Tarek huschte plötzlich durch die Wohnungstür und war weg. Was war das denn schon wieder? Wieder war er so schnell verschwunden, ohne dass ich mich richtig bei ihm hätte bedanken können.

Die ganzen nächsten Wochen meldete sich Tarek nicht mehr bei mir. Ich begann zu zweifeln, ob ich irgendetwas falsch gemacht hatte. Ich überlegte, grübelte hin und her, aber mir fiel nichts ein, womit ich ihn hätte verärgern können. Keinen Streit, keine Situation, die penetrant oder unangenehm für ihn gewesen wäre. Wieso, um Gottes Willen, wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben?

Seltsam. Offenbar schien er es immer zu merken, wenn ich Hilfe brauchte. Dann tauchte er wie aus dem Nichts auf. Wenn ich dann wieder keine Hilfe mehr brauchte, dann tauchte er wieder ab, wohin auch immer. Obwohl ich mich über mehrere Wochen mit ihm getroffen hatte, wusste ich nichts von ihm. Außer seiner Telefonnummer hatte ich nichts.

EINWEIHUNGSPARTY

Es blieb dabei. Tarek meldete sich nicht.

Einige Wochen später beschloss ich, eine kleine Einweihungsparty in meiner neuen Wohnung zu feiern. Und dazu würde ich ihn gerne einladen. Immerhin hätte ich es mit der Renovierung der Wohnung ohne ihn nicht so weit geschafft. Ich versuchte, ihn mehrmals anzurufen, aber er ging nicht an sein Telefon. Irgendwie schien er wirklich über mich verärgert zu sein. Ich entschied mich dafür, ihm die Einladung per WhatsApp zu schicken. Vielleicht würde er darauf reagieren.

Hallo Tarek,

ich veranstalte am nächsten Freitag ab 20 Uhr eine kleine Einweihungsparty in meiner neuen Wohnung. Ich würde mich freuen, wenn du auch kommen könntest.

Grüße

Anna

Nachdem ich die Nachricht an Tarek versendet hatte, schrieb ich auch noch weitere Einladungen an meine anderen Freunde. Thessa rief mich gleich an, nachdem ich ihr die WhatsApp geschickt hatte.

»Anna!«, sprudelte sie los, »Klar komme ich zu deiner Einweihungsparty. Danke für die Einladung! Wie hast du es denn in so kurzer Zeit geschafft, deine Wohnung bewohnbar zu machen? Hattest du heimlich kleine Heinzelmännchen beschäftigt oder gezaubert?«

»Hmm, eher ein heimliches Heinzelmännchen«, sagte ich etwas geheimnisvoll.

»Lass mich raten, Anna. Dieser mysteriöse Tarek hat dir dabei geholfen, deine Wohnung bezugsfertig zu machen?«

»Ja«, gab ich verlegen zu, »woher weißt du das, Thessa?«

»Na, dieser Typ taucht ja immer auf, wenn du Probleme hast. Das war doch klar, dass er dir bei der Wohnungsrenovierung hilft. Wie hast du das wieder hinbekommen, Anna?«

Sie lachte auf.

»Ich weiß es nicht. Er rief an und stellte mir einfach seine Hilfe zur Verfügung. Und ich habe natürlich nicht Nein gesagt.«

»Klug von dir!«, scherzte Thessa. »Wann lerne ich denn einmal diesen Engel, der immer in deiner Not erscheint, kennen?«

»Ich weiß es nicht, ich habe ihn zumindest auch auf meine Party eingeladen.«

»Wird der Prinz kommen?«

»Keine Ahnung, wir haben zurzeit nicht so viel Kontakt.«

»Na, ich bin zumindest gespannt. Anna, brauchst du noch Hilfe bei deinen Partyvorbereitungen, da dein Engel zurzeit unerreichbar ist und dir nicht helfen kann?«, plauderte sie weiter.

»Nein, eigentlich nicht, soweit habe ich alles gut im Griff.«

»Wenn ich dir aber bei irgendetwas helfen soll, dann kannst du mir ja Bescheid sagen.«

»Danke, meine Liebe, das werde ich ganz bestimmt!«

Wir schäkerten noch ein wenig und beendeten dann das Gespräch.

Ich freute mich auf meine Einweihungsparty. Die Tage vor der Party zogen ins Land, ich packte meine letzten Habseligkeiten zusammen, die ich noch bei meinen Eltern hatte und fing mit den Vorbereitungen an. Meine Eltern waren natürlich auch zu meiner Party eingeladen. Mein Vater schien ein wenig traurig darüber, dass ich sein Angebot, mir bei der Renovierung zu helfen, nicht angenommen hatte. Er würde aber nachher umso mehr staunen, was ich alles alleine auf die Beine gestellt hatte. Naja, fast alleine. Schon wieder musste ich an Tarek denken.

Aber er meldete sich nach wie vor nicht. Nachdem ich meine Einladung an ihn verschickt hatte, kam weder ein Anruf noch eine SMS. Weder eine Zusage noch eine Absage. Ich ging stillschweigend davon aus, dass er keinen weiteren Kontakt zu mir wünschte und auch nicht auf meine Party kommen würde.

Als es schließlich soweit war, glaubte ich dennoch eine Vorahnung zu haben. Der große Tag war da, die Party konnte losgehen. Ich war irgendwie ein wenig aufgeregt, dass auch alles so funktionieren würde, wie ich es mir vorstellte. Vielleicht würde ja doch noch spontan ein Überraschungsgast auftauchen, hoffte ich innerlich. Wieso auch nicht, dachte ich, bevor die ersten Gäste eintrafen. Natürlich stand Thessa als Erste vor der Tür.

»Anna!«, sie umarmte mich herzlich, »ich freue mich so sehr, dass du jetzt endlich eine eigene Wohnung hast.«

Sie hielt ein Brot und etwas Salz als symbolisches Einweihungsgeschenk in der Hand.

»Danke, Thessa!«

»Anna«, setzte meine Freundin bedeutungsschwer an, »ich wünsche dir hiermit symbolisch Sesshaftigkeit und Wohlstand in deiner neuen Wohnung. Und jetzt zeigst du mir dein neues Zuhause!«

»Wird gemacht, Boss! Danke, Thessa. Du bist und bleibst meine beste Freundin.«

Ich drückte sie ganz fest an mich, bevor wir zusammen durch meine Wohnung wanderten.

Aus den Augenwinkeln nahm ich ihre bewundernden Blicke wahr.

»Anna! Toll, wirklich toll! Ich bin total begeistert, was du in so kurzer Zeit in der Wohnung auf die Beine gestellt hast.«

»Naja«, ich wiegelte ab, »du weißt ja, dass ich das hier nicht ganz alleine gewesen war.«

»Ach ja, stimmt ja, dein Engel hatte dir ja bei der Renovierung geholfen. Was ist eigentlich mit deinem Retter in der Not? Lerne ich ihn endlich heute Abend auf der Party kennen? Ich bin ja schon so gespannt, wie er aussieht. Sieht er gut aus?«

»Ja«, stammelte ich verlegen und schaute nach unten, »er ist zumindest sehr muskulös und hat unheimlich viel Kraft.«

»Sexy«, sagte Thessa voller Anerkennung, »er ist bestimmt ein guter Beschützer.«

Wieder klingelte es an der Tür.

Tarek, schoss es mir durch den Kopf, es ist vielleicht Tarek.

Mein Herz begann ein wenig vor Aufregung zu klopfen. Ich schaute noch einmal in den Spiegel, bevor ich die Tür öffnete. Thessa stand neben mir und zog erwartungsvoll die Brauen hoch. Mit einem Lächeln im Gesicht öffnete ich die Tür, aber es gefror augenblicklich, als ich die genervten Gesichter meiner Eltern vor mir sah.

»Ach, Anna«, die Stimme meiner Mutter klang beschwerlich, »hier ist also deine neue Bleibe. Wir haben sie gleich gefunden, nur mit den Parkmöglichkeiten ist es ein bisschen schlecht bestellt. Wir mussten ein paar Runden um den Block fahren, bis wir endlich eine Parklücke gefunden hatten.«

Klar. Ich war leicht verbittert. Meine Mutter war manchmal ein wenig eigen. Sie fand immer etwas, an dem sie etwas auszusetzen hatte. Jetzt waren es die fehlenden Parkmöglichkeiten. Mein Vater schaute neugierig an mir vorbei in die Wohnung.

»Tja«, sagte ich, »trotzdem schön, dass ihr es gefunden habt. Kommt doch rein und schaut euch ein wenig um.«

Meine Mutter ging mit suchendem Blick vor meinem Vater in meine Wohnung.

»Thessa ist auch schon da«, sagte ich.

»Nur Thessa?«, fragte meine Mutter.

»Ja, bis jetzt nur Thessa, ihr seid die Ersten.«

Meine Eltern betraten neugierig die Zimmer und schauten sich um.

Kurz darauf klingelte es wieder an meiner Tür. Tarek? Würde er noch kommen? Aber es waren nur ein paar Kollegen von der Arbeit.

Wenige Augenblicke später klingelte es wieder. Und wieder rannte ich wie ein kleines Kind an die Wohnungstür und riss sie mit einem hoffnungsvollem Lächeln auf.

»Anna!«, sangen sie wie im Chor, »alles, alles Gute für dich und deine neue Wohnung!«

Diesmal waren es alte Bekannte aus dem ehemaligen Freundeskreis von Ben und mir.

Langsam füllte sich meine kleine Wohnung. Nachdem ich das Buffet eröffnet hatte, stürmten alle in die Küche. Als sich der ganze Trubel in der Küche aufhielt, kam mein Vater zu mir.

»Anna, ich habe mich mal ein wenig in deiner Wohnung umgesehen, das hast du doch nicht alles alleine gemacht«? Ich schaute verlegen unter mich, nein ein Bekannter hatte mir geholfen. »Anna, ich muss deinem Bekannten ein großes Lob aussprechen, das habt ihr wirklich gut hinbekommen. Die Lampen und die ganze Elektronik sind 1a montiert. Auch die Wände sind professionell gestrichen. Wirklich fachmännisch, ich hätte es auch nicht besser hinbekommen. Ich bin auch nicht böse, dass du meine Hilfe nicht angenommen hast, ich war nur ein wenig traurig, da ich immer ein bisschen das Gefühl haben möchte, dass du mich als Vater noch brauchst. Mir ging es allein darum.«

»Ach, Papa«, sagte ich und nahm meinen Vater in den Arm, »du weißt doch, dass ich dich brauche, aber ich möchte dir auch mal beweisen, dass ich schon ein großes Mädchen bin und auch manche Sachen alleine geregelt bekomme. Aber eins kann ich dir sagen. Wenn meine Unterstützung hier für die Wohnung ausgefallen wäre, dann hätte ich bestimmt gerne deine Hilfe in Anspruch genommen. Alleine hätte ich es auf keine Fall geschafft und schon gar nicht in der kurzen Zeit.«

»Anna, kommt denn dein Helfer auch zur Party? Ich würde mich gerne mal mit ihm unterhalten, von Fachmann zu Fachmann sozusagen.«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn zwar eingeladen, aber er hat sich bis jetzt noch nicht bei mir gemeldet.«

»Na, mal sehen.«

»Papa, komm, wir gehen mal zum Buffet, bevor es leergegessen ist.«

»Ja, das ist eine gute Idee«, er hakte sich bei mir ein.

»Oh, das sieht aber alles sehr lecker aus«, sagte er in der Küche angekommen und strich sich genüsslich mit der Hand über den Bauch.

»Das ist auch lecker«, brabbelte meine Mutter mit vollen Backen und drängte sich zwischen mich und meinem Vater.

»Ich geh dann mal wieder zu den anderen Gästen«, sagte ich und verschwand ins Wohnzimmer. Thessa stellte sich zu mir.

»Anna«, sie beugte sich vertraulich über mich, »deine Mutter nervt so. Sie versucht mich die ganze Zeit über deinen Schutzengel auszuhorchen. Ob er jetzt dein neuer Freund sei und aus welchem Elternhaus er komme. Ich weiß doch auch nichts über Tarek. Was sollte ich ihr denn erzählen? Aber sie hat nicht nachgegeben.«

»Hast du ihr gesagt, dass er Tarek heißt und ein Türke ist?«

»Nein, natürlich nicht, ich habe ihr gar nichts gesagt. Ich sagte ihr, dass ich ihn noch nie gesehen hätte und auch nicht weiß, wie du zu ihm stehst.«

»Danke, Thessa.«

Im Prinzip war es auch genau so.

Ich schaute auf die Uhr, es war jetzt schon kurz vor Mitternacht. Die Gäste amüsierten sich immer noch gut. Von Tarek keine Spur. Nicht einmal eine Absage für die Party. Schade. Ich hätte mich gefreut, wenn er gekommen wäre, aber jetzt hatte ich keine große Hoffnung mehr, dass er noch vor der Türe stehen würde. Meine Eltern verabschiedeten sich als Erste. Es wurde immer später, bis auch die anderen Gäste endlich gingen. Ich war schon ganz schön müde, dass ich mich nur noch auf mein Bett freute. Endlich gingen auch die Letzten. Thessa hatte mir versprochen, dass sie morgen früh kommen würde, um mir beim Aufräumen zu helfen. Na dann, gute Nacht, neue Wohnung. Ich war so müde, dass ich augenblicklich einschlief.

Am nächsten Morgen kam Thessa sehr früh. So kam es mir jedenfalls vor, denn ich war noch im Halbschlaf. Es klingelte ein zweites Mal.

»Ja, einen kleinen Moment bitte, ich komme gleich!«, rief ich Richtung Tür. Was war das schon wieder für ein Stress heute Morgen. Es klingelte ein drittes Mal. Als ich endlich die Tür öffnen konnte, sah mich meine Freundin halb mitleidig an.

»Anna, was ist los mit dir, warum lässt du dich so gehen?«

»Das tue ich doch gar nicht«, knurrte ich, »ich habe nur im Moment einen Kater und Kopfschmerzen, weil ich gestern so viel Alkohol getrunken habe.«

»Ja, das habe ich gesehen, dass du gestern so viel getrunken hattest. Hatte das einen bestimmten Grund? Oder eher aus einer Laune heraus?«

»Eher aus einer Laune heraus. Es ist ja auch nicht schlimm, wenn man mal ein bisschen mehr Alkohol trinkt als sonst. Ich musste ja schließlich nicht mehr mit dem Auto fahren«, rechtfertigte ich mich.

»Ja, Anna, aber trotzdem warst du gestern Abend die ganze Zeit so ungeduldig, als ob du auf jemanden warten würdest.«

»Habe ich aber nicht«, sagte ich in einem etwas schnelleren Ton.

»Hast du nicht zufällig auf deinen Retter in der Not gewartet? Du hattest ihn gestern doch auch zur Party eingeladen, oder?«

Erwischt, dachte ich mir. Klar hatte es mich geärgert, dass Tarek gestern nicht aufgetaucht ist. Ich hatte bis zum Schluss gehofft, dass er sich blicken lassen würde. Er hätte ja zumindest absagen können. Aber er war mir gegenüber auch keine Rechenschaft schuldig.

Meine Freundin schaute mich von der Seite an.

»Anna«, zwinkerte sie, »hast du dich etwa ein bisschen in diesen Tarek verliebt?«

»Nein. Ich ärgere mich nur darüber, dass er mir nicht abgesagt hat.«

»Anna, ja, du hast dich verliebt«, beharrte sie.

»Nein, das habe ich nicht.«

»Und wie wird es mit euch weitergehen?«, sie ließ nicht locker. »Wirst du ihn anrufen, oder willst du warten, bis er sich bei dir meldet?«

Sie fixierte mich neugierig.

»Ah, Anna!«, rief sie plötzlich aus. »Ich habe eine Idee! Du musst nur in eine Notsituation geraten, dann wird er wieder da sein.«

»Thessa«, meine Stimme wurde nun eindringlicher, »ich werde gar nichts tun. Ich habe mich auch nicht in ihn verliebt. Es war nett, dass er mir beim Umzug geholfen hat, mehr nicht. Lass uns lieber mal damit angefangen, die Wohnung wieder ein wenig wohnlicher zu machen. Hier ist das reinste Chaos, Teller, Essensreste …«

Thessa gab sich vorerst damit zufrieden und so begannen wir endlich, die Wohnung aufzuräumen.

Als wir gegen Nachmittag fertig waren, verabschiedete ich mich von meiner Freundin. Ich nahm eine Tablette und legte mich gleich wieder ins Bett. Ich wollte noch ein wenig dösen, in der Hoffnung, dass meine Kopfschmerzen verschwinden würden.

DAS GESTÄNDNIS

Ich arbeitete in einem kleinen Versicherungsbüro, der nächste Arbeitstag zog sich hin wie Kaugummi. Ich war schlecht gelaunt und immer noch enttäuscht und genervt von Tareks Verhalten.

Als ich nach der Arbeit mein Auto vor meiner Wohnung einparkte, stand er plötzlich da. Kein Zweifel, es war Tarek!

Verblüfft stieg ich aus.

»Tarek, was machst du denn hier?«

»Anna«, setzte er stockend an, »es tut mir leid. Ich meine, dass ich nicht auf deiner Einweihungsparty war und dir auch nicht einmal abgesagt hatte.«

Ich schloss die Wohnungstür auf und ging mit Tarek zusammen in die Wohnung. Wir setzten uns ins Wohnzimmer und schauten uns an.

»Tarek, was ist los mit dir?«, fragte ich irritiert. »Habe ich neulich etwas Falsches zu dir gesagt? Bist du irgendwie sauer auf mich? Wieso hast du nicht auf meinen Anruf und auf meine WhatsApp reagiert?«

Tarek blickte erst verlegen auf den Boden, bevor er mir direkt in die Augen sah.

»Anna, nein«, flüsterte er, »ich bin nicht sauer auf dich und du hast auch nichts Falsches zu mir gesagt. Es hat alles nichts mit dir zu tun, es ist alles meine Schuld.«

»Tarek, ich verstehe nicht, was du mir sagen möchtest. Als wir vor einigen Wochen meine Wohnung renoviert hatten, hatte ich das Gefühl, dass wir uns so gut verstehen. Und auf einmal bist du wie vom Erdboden verschluckt. Ich verstehe das nicht. Was meinst du damit, wenn du sagst, es hat nichts mit mir zu tun, sondern mit dir?«

»Anna«, ich konnte hören, wie Tarek tief Luft holte.

»Anna«, begann er von Neuem, »ich habe mich, seit ich dich das erste Mal an der Tankstelle gesehen hatte … ich habe mich«, er zögerte und schaute mich bittend an, »ich habe mich in dich verliebt, Anna. Jetzt weißt du, was mit mir los ist.«

Ich schaute ihn entgeistert an. Ich wusste erst gar nicht, wie ich auf Tareks Geständnis reagieren sollte.

»Anna«, Tarek wirkte verzweifelt, »das Problem ist, ich darf mich nicht in dich verlieben.«

»Warum nicht? Weil ich eine Deutsche bin?«, riet ich blindlings drauflos.

»Ach was, was redest du da. Anna, es ist mir doch egal, ob du eine Deutsche bist oder welche Staatsangehörigkeit du hast.«

»Dir vielleicht schon«, ich machte eine kurze Pause, »aber vielleicht hat deine Familie ein Problem damit, dass ich deutsch bin?«

Tarek sackte in sich zusammen.

»Anna, bitte. Du kennst meine Familie doch gar nicht, warum redest du so über sie?«

Ich begann, mich in Grund und Boden zu schämen.

»Anna«, hob Tarek wieder an, »ich will von Anfang an ehrlich zu dir sein. Ja, ich habe mich in dich verliebt.«

»Aber warum ist das denn so schlimm?«, fiel ich ihm ins Wort.

»Anna«, Tarek schluckte. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. Er schien einen Kloß im Hals zu haben. »Anna, ich bin … ich bin mit einer Frau, einer anderen Frau, die in der Türkei lebt, verlobt.«

Seine Worten trafen mich wie ein Dolchstoß.

Ich spürte plötzlich, wie verletzt ich durch Tareks Offenbarung war. Ich hatte die ganze Zeit nicht das Gefühl gehabt, dass ich in ihn verliebt gewesen wäre. Deshalb wunderte mich meine innerliche Reaktion so sehr.

»Tarek«, flüsterte ich fast tonlos, »was soll ich dir dazu sagen?«

»Nichts«, sagte er schnell, »ich wollte nur, dass du verstehst, warum ich mich in letzter Zeit nicht so oft bei dir gemeldet hatte. Ich wollte einfach nur ein wenig Abstand gewinnen.«

»Meinst du denn, dass es funktioniert, dass du dich wieder von mir entliebst, wenn du mir aus dem Weg gehst?«

»Nein«, sagte er.

Er schaute mich flehend an.

»Es funktioniert eben nicht. Ich muss ununterbrochen an dich denken. Das ist mir noch nie passiert. Anna, ich möchte dich nicht enttäuschen, du bedeutest mir sehr viel, deshalb bin ich so ehrlich zu dir.«

»Tarek«, sagte ich kühl, »keine Angst, ich habe mich nicht in dich verliebt, da passiert schon nichts zwischen uns beiden. Da kann deine Verlobte in der Türkei ganz beruhigt sein.«

Ich log ihn eiskalt an. Ich merkte an seiner Reaktion, wie ich ihn mit meiner Aussage verletzt hatte. Tarek schaute betroffen zu Boden.

»Sind wir denn immer noch Freunde?«, fragte er gedrückt.

»Ja, klar, wenn es dir nichts ausmacht und du mit deinen Gefühlen mir gegenüber klarkommst.«

»Nein, es macht mir nichts aus, ich komme schon klar. Anna, danke, dass ich mit dir so offen sprechen konnte.«

»Danke, dass du so ehrlich zu mir bist.«

Er stand auf, verabschiedete sich und ging. Er wollte mich durch seinen spontanen Besuch nicht stören, er wollte nur, dass ich Bescheid wüsste. Das waren seine letzten Worte. Als ich hinter ihm die Wohnungstür schloss, konnte ich noch kaum fassen, was er mir eben erzählt hatte.

Am nächsten Morgen wurde ich von einer WhatsApp geweckt.

Guten Morgen Anna,

ich kann nicht anders, verzeihe mir, dass ich dich störe, aber ich möchte dir nur einen schönen Tag wünschen.

Dein Tarek

Ich freute mich über seine Nachricht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich bald wieder bei mir melden würde. Ich dachte eher, dass er mir aufgrund seines Geständnisses von gestern aus dem Weg gehen würde. Ich schaute aus dem Fenster, die aufgehende Sonne verhieß einen schönen Tag. Gut gelaunt fuhr ich zu meiner Arbeitsstelle.

»Einen schönen guten Morgen!«, begrüßte ich meine Kollegen strahlend.

Sie lächelten zurück und sahen sich dann leicht verwundert an.

»Anna«, flüsterte meine Kollegin neben mir, »was ist heute los mit dir?«

Ich schaute sie entgeistert an.

»Wie? Was soll denn heute los mit mir sein?«

»Ich weiß es nicht, aber du strahlst wie ein Honigkuchenpferd. Du siehst heute so positiv aus.«

»Wie meinst du das?«

»Das kann ich dir nicht sagen, du hast heute irgendwie so eine positive Ausstrahlung.«

»Danke dir«, sagte ich zu ihr, »ich fühle mich heute auch irgendwie gut, die Sonne scheint und es ist einfach ein schöner Morgen.«

»Na, dann lass uns mal an unsere Arbeit gehen«, sagte sie.

Ob meine Ausstrahlung mit der WhatsApp von heute Morgen zu tun hatte? Eher nicht, ich war einfach froh, dass die Sonne schien und dass ich es endlich mit meiner eigenen Wohnung geschafft hatte. Der Tag ging recht zügig zu Ende, endlich Feierabend. Tarek schrieb die nächste WhatsApp an mich.

Anna, Lust heute noch etwas mit mir zu unternehmen?

Ich würde mich sehr über eine Antwort von dir freuen.

Dein Tarek

Ich antwortete gleich.

Lieber Tarek,

tut mir leid, aber ich hatte heute einen anstrengenden Tag auf der Arbeit gehabt, was hältst du vom Wochenende, wenn du möchtest, dann können wir etwas am Wochenende gemeinsam unternehmen.

Grüße Anna

Klar, ich musste mir selbst eingestehen, dass ich Tarek gerne heute noch gesehen hätte. Aber ich wollte nicht, dass er noch stärkere Gefühle für mich entwickelte oder ich für ihn. Es war doch sowieso alles schon zu spät. Die nächste WhatsApp von Tarek folgte sofort.

Anna, ich würde mich sehr freuen, dich am Wochenende zu sehen. Ich hole dich am Samstag um 14 Uhr in deiner Wohnung ab. Sollte ich nichts mehr von dir hören, dann bin ich am Samstag bei dir.

Liebe Grüße Tarek

Ich antwortete ihm nicht, da ich gegen die Verabredung am Samstag nichts einzuwenden hatte. Die Woche zog schnell an mir vorbei und ich sehnte mich innerlich nach dem Wochenende mit Tarek.

Samstag stand Tarek pünktlich vor meiner Wohnungstür. Ich traute meinen Augen kaum, er sah unglaublich gut aus. Er roch dezent nach einem sehr guten, männlichen Parfüm. Sein dunkles Haar hatte er mit etwas Gel nach hinten gekämmt. Seine ausdrucksstarken Augen leuchteten.

»Anna, warum schaust du mich so komisch an?«

»Ich … ich«, ich geriet ins Stottern, »ich schaue doch ganz normal.«

»Nein, das tust du nicht. Du schaust mich gerade so an, als ob mir eben eine Spinne durch die Haare läuft. Was ist los?«, beschwerte er sich lächelnd.

»Nein, es ist gar nichts los, ich bin ein wenig müde. Bitte verzeihe den Blick«, beendete ich dieses Thema schnell.

»Ist schon in Ordnung. Wollen wir los?«

»Los? Was möchtest du denn machen?«

»Ich dachte mir, dass wir mit dem Auto ein bisschen in den Habichtswald fahren und dort spazieren gehen, natürlich nur, wenn du das möchtest.«

»Ja, sagte ich, das ist eine gute Idee, ich war schon lange nicht mehr im Habichtswald.«

Tarek fuhr mit seinem Auto den schmalen Weg hoch zur Burg Finkelstein. Als wir oben auf der Terrasse der Burg waren, lag uns das Tal zu Füßen.

»Hier oben ist mein Lieblingsplatz«, sagte er und breitete die Arme aus. »Man hat hier so einen großartigen Weitblick.«

»Kommst du oft hierher?«

»Immer wenn ich meine Ruhe haben möchte und Kraft schöpfen möchte. Ich finde, dass man hier oben sehr gut nachdenken kann. Warst du schon einmal hier, Anna?«

»Ja, klar. Aber das ist schon sehr lange her.«

Nachdem wir die Aussicht genossen hatten, gingen wir wieder zurück zu Tareks Auto und fuhren weiter und immer tiefer in den Habichtswald hinein. Es war ein schöner Tag mit Tarek. Als es dann schon dunkel war, fuhr er mich nach Hause und wir verabschiedeten uns.

»Anna, vielen Dank für den schönen Tag«, sagte er, »es hat mir sehr viel Spaß gemacht, mit dir Zeit zu verbringen.«

»Mir auch, es war wirklich schön.«

»Anna, werden das wiederholen können?«

Tarek schaute mich fragend an.

»Bestimmt«, sagte ich und ging, ohne mich noch einmal nach ihm umzusehen, zur Tür des Wohnhauses und in meine Wohnung.

Als ich in meiner Wohnung war, ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich hatte wirklich schöne Stunden gemeinsam mit Tarek. Das Wochenende neigte sich langsam seinem Ende zu.

DER ERSTE KUSS

Ich ertappte mich die kommenden Stunden dabei, dass ich zunehmend an Tarek denken musste. Als ich gut ausgeschlafen und zufrieden am Sonntag bei meinen Eltern zum Mittagessen erschien, wurde ich wieder mit Komplimenten überhäuft. Diesmal sogar von meiner Mutter.

»Anna«, begrüßte sie mich freudestrahlend, »du siehst heute irgendwie so frisch aus, du hast eine unheimlich positive Ausstrahlung.«

»Wieso? Sehe ich sonst denn anders aus?«

»Ja, definitiv. Du wirkst sonst immer etwas verkrampft und unzufrieden, heute siehst du seit Langem das erste Mal wieder glücklich aus. Was ist mit dir passiert?«

»Nichts. Das kann vielleicht daran liegen, dass ich gestern etwas früher ins Bett gegangen bin.«

»Nein, Anna, das ist es nicht. Anna, ich bin deine Mutter, ich kenne dich am besten. Du siehst so aus, als ob du dich frisch verliebt hättest.«

»Mama«, sagte ich scharf, »das stimmt auf keinen Fall.«

»Doch, Anna. So wie du gerade schaust, so schauen nur verliebte Menschen. Und vor allem, wie du gerade darauf regiert hast. Hast du jemanden kennengelernt?«, bohrte sie weiter.

»Nein, habe ich nicht. Warum sollte ich mich auch so plötzlich verlieben?«

»Anna, das weiß ich nicht, aber es würde dir bestimmt nicht schaden, wenn du mal wieder einen Partner an deiner Seite hättest.«

Ich war froh, als ich nach dem Mittagessen bei meinen Eltern wieder nach Hause fahren konnte.

Doch sie hatte nicht unrecht. Ich merkte, dass ich mich zumindest ein kleines bisschen in ihn verliebt hatte. Aber diese Liebe zu ihm schien mir sinnlos, immerhin hatte Tarek eine Verlobte in der Türkei. Das muss mir immer wieder bewusst sein, sagte ich mir. Je stärker ich mich in ihn verliebte, das war mir klar, desto größer würde meine Enttäuschung sein, wenn er dann zu seiner Verlobten ginge. Das durfte nicht passieren. Plötzlich kam eine WhatsApp von Tarek.

Anna, hast du Lust, dass ich dich morgen von der Arbeit abhole und wir wieder so einen schönen Ausflug machen? Morgen soll das Wetter sehr schön werden.

Meine zweifelnden Gedanken von eben schienen wie weggeblasen. Ich freute mich über seine Einladung und sagte spontan zu. Ich fühlte mich so gut, wenn ich mit Tarek Kontakt hatte. Es fühlte sich innerlich so warm an. Ich fühlte mich in seiner Nähe geborgen.

Tarek holte mich wie verabredet am nächsten Tag in einem schönen Cabrio ab. Es war ein sonniger Abend im Spätsommer. Wir fuhren unsere Lieblingsstrecke der Sonne entgegen zur Burg Finkelstein. Die Blätter der Bäume begannen sich schon langsam bunt zu verfärben. Wir machten einen kleinen Spaziergang durch den Wald und wieder fühlte ich diese nahe Vertrautheit zu ihm, obwohl wir uns kaum kannten. Auf dem Rückweg beschlossen wir zur Burgruine zu klettern. Lachend krabbelten wir die teilweise verfallenen Treppenstufen hoch in den Turm, bis wir eine unbeschreiblich schöne Aussicht über die Landschaft hatten. Der Sonnenuntergang lag tiefrot vor uns, bis auf einige Vogelstimmen aus dem Wald herrschte eine unbeschreibliche Stille.

Es schien, als ob die Zeit stehen geblieben sei.

Ich spürte, wie Tarek langsam und vorsichtig seinen Arm um mich legte. Ich wusste in dem Moment nicht, wie ich auf seine Annäherung reagieren sollte. Seine Verlobte kam mir in den Sinn. Verunsichert nahm ich seinen Arm von meiner Schulter und sagte ihm, dass ich das gegenüber seiner Verlobten nicht richtig fände. Er schwieg. Die Spannung zwischen uns war dennoch nach wie vor zu spüren. Wir sprachen nichts, doch ich hatte ein solches Kribbeln im Bauch, als ob gleich ein kompletter Schmetterlingsschwarm aus meinem Bauch flöge.

Die Sonne stand bereits sehr tief, als mich Tarek energisch an seinen Körper zog. Ich konnte spüren, wie schnell sein Herz schlug. Er umarmte mich mit seiner ganzen Kraft. Dann ließ er mich wieder los und legte seine Hände sanft auf meine Schultern.

»Anna«, flüsterte er in mein Ohr. Sein Blick war fest, sein Tonfall ernst. »Ich kann nicht ohne dich leben, das ist mir jetzt bewusst geworden. Ich spüre schon seit einiger Zeit, dass wir füreinander bestimmt sind. Ich muss jede Sekunde an dich denken. In meinem Kopf ist kein Platz mehr für andere Gedanken. Ich bin völlig verwirrt. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll. Ich habe die ganze Zeit versucht, die Liebe zu dir in mir zu löschen, aber du bist zu stark in meinen Gedanken verankert. Anna, bitte hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter.«

Er versuchte mich zu küssen, aber ich wich ihm aus.

Ich konnte im Moment gar nichts sagen, ich fühlte, wie mir das Blut in den Adern gefror. Die Tatsache, dass Tarek einer anderen Frau versprochen war, blockierte meine Sinne. Doch ich dachte jetzt nur, dass ich keinen Fehler machen dürfte. Für Tarek war es eine sehr große Herausforderung, mit mir so offen über seine Gefühle zu sprechen. Einmal beichtete er mir, wie schwierig es ihm eigentlich fiele, seine Gefühle offen zu zeigen. Ich war hin und her gerissen. Und ihm musste es genauso gehen. Ich hatte das Gefühl, dass es ihm wirklich schlecht ging, aber ich hatte keine Lösung für das Problem.

»Anna«, hauchte er zärtlich in mein Ohr, »du bist die erste Frau, die mir den Kopf verdreht hat. Und du wirst auch die letzte sein. Ich werde nur dich bis zu meinem Lebensende lieben, egal, ob du dich entscheidest, bei mir zu bleiben oder nicht. Es ist jetzt deine Entscheidung, ob du den Kontakt zu mir abbrichst oder nicht. Anna, du hast es in der Hand, verstehst du? Ich würde den Kontakt zu dir nie abbrechen, dafür bedeutest du mir zu viel. Du bestimmst, wann Schluss ist.«

Was verlangte er nur von mir? Ich spürte deutlich, dass ich auch tiefe Gefühle für ihn hatte. Aber ich hatte eine unglaublich große Angst, von ihm verletzt zu werden.

Ich schaute Tarek an.

»Lass uns realistisch sein, Tarek. Wir wissen beide, dass unsere Liebe keine Zukunft haben wird.«

Tarek beugte sich zu mir und legte meine Hände sachte in seine.

»Anna, schaue mir in meine Augen und sage mir, dass du mich nicht liebst, und die Sache ist hier und jetzt für mich erledigt.«

Ich schaute in seine wunderschönen pechschwarzen Augen und brachte keinen Ton über die Lippen. Vorsichtig legte er beide Hände unter mein Kinn, zog mein Gesicht an seines und drückte energisch seine Lippen auf meine. Ich empfand in diesem Moment ein solches Glück, eine solche Sehnsucht, dass alle Anspannung von mir fiel.

Er ließ von mir ab.

»Anna, egal war passiert, ich lasse dich nie wieder los. Du gehörst zu mir.«

Langsam kam ich wieder zur Besinnung. Was war das eben? Er hatte mich in einem schwachen Moment erwischt.

»Aber, Tarek. Wie soll das denn weitergehen mit uns?«

Er schaute mich immer noch überglücklich an.

»Anna, meine Liebste, man kann das Leben nicht planen. Wir müssen alles auf uns zukommen lassen. Wir dürfen nur keine Angst vor der Zukunft haben.«

Langsam schritten wir zurück zum Auto, aber ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich das Richtige getan hatte.

Tarek merkte, dass ich nachdenklich wurde.

Während der Rückfahrt legte er seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich hatte den Eindruck, dass meine zärtliche Erwiderung seines Kusses unheimlich viel Druck von seiner Seele nahm. Er konnte ja nicht wissen, wie ich auf sein Begehren reagieren würde.

Er parkte sein Auto vor meiner Wohnung und schnallte den Gurt los. Erwartungsvoll schaute er mich an.

»Tarek«, flüsterte ich fast bittend, »ich möchte nun etwas alleine sein. Es geht mir … ehrlich gesagt … es geht mir alles etwas zu schnell.«

Er zeigte Verständnis für meinen Wunsch, zog meinen Kopf an sich und küsste mich.

»Anna, darf ich dich morgen anrufen?«

»Ja, ich freue mich«, willigte ich zurückhaltend ein.

Er schaute mir noch nach, wie ich die Haustür aufschloss, kurbelte die Fensterscheibe herunter und rief: »Anna ich liebe dich, das darfst du nicht vergessen!«

Ich drehte mich kurz um, lächelte und ging ins Haus.

Während ich mich bettfertig machte, vergaß ich alle Probleme, die ich mir heute wohl selbst eingebrockt hatte, und sprang überglücklich ins Bett.

VERSCHIEDENE KULTUREN

Am nächsten Morgen wurde ich durch eine WhatsApp von Tarek geweckt.

Guten Morgen, meine große Liebe, ich denke heute an dich und wünsche dir noch einen schönen Tag. Dein Tarek

Schlaftrunken hielt ich das Handy vor mir. Ich wusste nicht, was ich von seiner Nachricht halten sollte. Nahm Tarek jetzt an, dass wir ein Paar seien, nur weil wir uns ein einziges Mal geküsst hatten? Er musste mit seiner Familie über uns sprechen. Solange er noch verlobt war, hatte eine Beziehung mit ihm für mich keinen Sinn. Er war einfach nicht frei, auch wenn er seine Verlobte nicht liebte, wie er mir immer wieder beteuerte. Es würde mich sehr verletzen, wenn er sich mit dieser Frau hinter meinem Rücken treffen würde. Ich liebte ihn, aber ich fühlte mich nicht wohl bei dem Ganzen. Als ich morgens bei meiner Arbeit erschien, kam ein Bote mit einem riesengroßen Rosenstrauß. Er sagte, er suche eine Anna Weimer.

»Das bin ich«, rief ich.

Ich bemerkte die neidischen und neugierigen Blicke der Kolleginnen. Ich schaute auf die Rosen. Eine kleine Nachricht verbarg sich im Umschlag.

Du kannst Dir ja bestimmt vorstellen, von wem die Rosen sind. Ich würde dich gerne heute Abend zu einer Theatervorstellung einladen. Ich hole dich um 18 Uhr ab. Bitte sei pünktlich fertig.

Meine Kolleginnen versammelten sich neugierig um meinen Schreibtisch.

»Anna«, fragten sie mich von allen Seiten, »von wem hast du denn den schönen Rosenstrauß bekommen? Kennen wir deinen Verehrer? Was steht auf der Karte geschrieben?«

Ich schaute grinsend meine Kolleginnen an.

»Das bleibt mein süßes Geheimnis«, erwiderte ich in der Hoffnung, dass sie es mit ihren lästigen Fragen dabei beließen.

Ich freute mich wahnsinnig über die Rosen und über die Einladung ins Theater. Ich nahm mir vor, die Beziehung oder die Freundschaft zu ihm nicht mehr so verkrampft zu sehen und es so zu halten, wie Tarek es vorschlug: Wir würden in Zukunft einfach nur die Gegenwart genießen.

Pünktlich um 18:00 Uhr klingelte es an meiner Wohnungstür. Voller Vorfreude lief ich die Treppe herunter und setzte mich neben Tarek ins Auto. Er nahm als erstes meine Hand und küsste den Handrücken.

»Anna, ich bin so froh, dass wir den heutigen Abend gemeinsam genießen können.«

Im Theater saßen wir in der ersten Reihe und hatten eine tolle Sicht. Es wurde Romeo und Julia von Shakespeare aufgeführt. Ich bemerkte die Parallelen zwischen dem Theaterstück und unserer Beziehung. Die verbotene Liebe zwischen Romeo und Julia. Nach der Aufführung entführte mich Tarek noch in ein schönes Weinlokal, um den Abend dort ausklingen zu lassen.

Je mehr Zeit ich mit Tarek verbrachte, desto stärker wurde auch mein Vertrauen, desto bewusster wurde mir, dass die Chemie zwischen uns stimmte. Die Schmetterlinge schwirrten immer noch in meinem Bauch, die fiebrige Aufregung, die ich in seiner Nähe verspürte, ließ nicht nach. Dieses Gefühl der Geborgenheit und der Umsorgtheit hatte mir bis jetzt noch kein anderer Mann gegeben.

Und so genossen wir jeden Tag zusammen.

Meinen Eltern und meinen Freundinnen hatte ich von meinem neuen Freund noch nichts gesagt. Das war besser so. Ich konnte mir ihre Reaktionen schon ausmalen. Thessa wunderte sich zwar, warum ich in letzter Zeit so wenig Zeit für sie hatte, aber wenn sie ein bisschen nachdenken würde, käme sie schon dahinter, warum das so ist, dachte ich mir.

Offen gesagt, ich hatte Angst vor ihren Reaktionen. Sie würden auf mich einreden, ich sollte die Beziehung zu Tarek zu beenden. Und ich glaubte auch zu wissen, warum. Weil er Türke ist, wäre ihre Antwort. Und wenn meine Eltern und Thessa wüssten, dass Tarek zusätzlich auch noch verlobt war, wäre es ganz aus. Das würde gar nicht gehen.