Was vom Adel blieb - Jens Jessen - E-Book

Was vom Adel blieb E-Book

Jens Jessen

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Beschreibung

Mit der Abschaffung seiner Standesvorrechte im Jahre 1919 verlor der Adel die Reste des Einflusses, die ihm in Deutschland nach einem langen und schleichenden ökonomischen Niedergang geblieben waren. Dennoch steht gerade die Hocharistokratie auch heute noch im Rampenlicht und füllt zuverlässig die Spalten der Klatschpresse. Statt dem europäischen Adel nur mehr einen gewissen Unterhaltungswert zuzubilligen, spräche manches dafür, ihn als eine Art genetisches Weltkulturerbe zu betrachten: kostbar und bedroht. Denn aristokratische Lebensform und höfische Etikette haben über ein Jahrtausend die abendländischen Umgangsformen geprägt und ihre Spuren bis in unsere Gegenwart hinterlassen. Jens Jessen widmet sich in seinem Essay den schönen und staunenswerten Überbleibseln einer Vormoderne, die unserer verbürgerlichten Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten geeignet sind. In diesem Spiegel sehen wir nicht nur, was der demokratische Fortschritt überwunden und besiegt, sondern auch, was er verloren und der Verachtung preisgegeben hat.

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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Jens Jessen,

geboren 1955 in Berlin, arbeitete nach dem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und München zunächst als Verlagslektor, dann als Reiseredakteur, Feuilletonredakteur und Berliner Korrespondent bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. 1996 wurde er Feuilletonchef bei der »Berliner Zeitung«, 2000 dann bei der »ZEIT«. Seit 2012 ist er im Feuilleton der »ZEIT« Redakteur ohne besondere Aufgaben. Er unterrichtete an den Universitäten Leipzig, Basel und Lüneburg, zu seinen letzten Buchveröffentlichungen gehören die Essaybände »Deutsche Lebenslügen« (2000) und »Fegefeuer des Marktes« (2006, als Hrsg.) sowie der Roman

»Im falschen Bett« (2014).

JENS JESSEN

Was vom Adel blieb

Eine bürgerliche Betrachtung

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Stolz ohne Leistung

Die Geschichte, ein Missverständnis

Das Herz, die Konvention

Der Andere, der Bürger

Seelenleben, Bildungsverfall

Betriebsgeheimnisse

Rangordnungen, Kränkungen

Das unverlierbare Erbe

OBWOHL ich geneigt bin, den europäischen Adel als eine Art genetisches Weltkulturerbe zu betrachten, kostbar, staunenswert und bedroht, soll er in dieser Betrachtung keinem nostalgischen Blick ausgesetzt werden. Die Fotosafari in seine Reservate kann man getrost der Klatschpresse überlassen. Er soll auch nicht als Gegenstand der Satire dienen, so leicht sich ein Reigen karikaturesker Gestalten und bizarrer Umstände entfalten ließe. Es geht um lebende Menschen und gegenwärtige Verhältnisse, also um die schönen und befremdenden Reste einer Vormoderne, die geeignet sind, der verbürgerlichten Gesellschaft von heute einen Spiegel vorzuhalten. In diesem Spiegel sehen wir nicht nur, was der demokratische Fortschritt überwunden und besiegt hat, sondern auch, was er verloren und weggeworfen, der Würde des Menschseins entzogen hat.

Stolz ohne Leistung

DER Spiegel, den uns der Adel vorhält, ähnelt in gewisser Hinsicht dem Spiegel, den uns das Lumpenproletariat vorhält, das es aller Schönrednerei zum Trotz noch immer in Form dauerhaft erwerbsloser oder prekär beschäftigter Menschen gibt. Hier wie dort, am unteren wie am ehemals oberen Rand der Gesellschaft, herrscht die gleiche Bedeutungslosigkeit von Arbeit und Leistung. Es gelten nicht Tun und Haben, sondern das reine Sein. Als Graf wird man geboren; das lässt sich durch Berufserfolge nicht steigern, durch Armut und Untüchtigkeit aber auch nicht nennenswert mindern. Insofern fehlt jene Vergötzung der Leistung, die für den bürgerlich mobilen Teil der Gesellschaft so charakteristisch ist. Gleichgültigkeit gegenüber Anstrengung und Tüchtigkeit findet sich aber auch in den Milieus, deren Angehörige seit langem auf staatliche Hilfe angewiesen sind – ein Status, der oft ebenfalls durch Geburt erworben und über Generationen weitergegeben wird. Was die Unverlierbarkeit des Adelsprädikats für den Grafen ist, ist für den geborenen Sozialhilfeempfänger die Unerreichbarkeit von auskömmlicher Arbeit, öffentlicher Teilhabe und Anerkennung.

Man muss die Asymmetrie der Bedingungen und Lebensumstände nicht unterschlagen, um die Parallele zu erkennen. Selbstverständlich ist der Aristokrat eher selten obdachlos (es sei denn nach einer Revolution) oder wohnt nur selten dauerhaft in einer Laube (es sei denn ehedem in der Sowjetunion).1 Wenn es aber so wäre, würde es wenig ändern. Sein gesicherter, durch Besitz und Leistung nicht weiter beeinflussbarer Status ist ihm gewissermaßen von Anfang an auf dem Lebenskonto gutgeschrieben, während sie dem Lumpenproletarier erst durch ein dauerhaftes Leistungsminus bewusst wird: als ein Sockelbetrag, der wunderbarerweise nicht abgebucht werden kann. Er fällt gewissermaßen auf die Würde des bloßen Seins zurück, nachdem die Unbeeinflussbarkeit seiner Umstände durch Arbeit und Tüchtigkeit offenbar geworden ist.

In der Sozialpsychologie gilt die oft übersehene Regel, dass Resignation einen ähnlichen Grad der Unabhängigkeit wie der Adelsstolz erzeugt. Im übrigen sollte aber auch der Stolz nicht unterschätzt werden, mit dem der Dauerarbeitslose, vielleicht noch im Unterhemd, aber schon mit einem Bier in der Hand, dem beschäftigten Teil der Gesellschaft gegenübertritt. Wenn er sich überhaupt für den besorgten Nachbarn oder Sozialarbeiter interessiert, der ihn aus der Mittagsruhe scheucht, wird er ihn mit der gleichen Kälte mustern wie in alten Zeiten der Aristokrat den Krämer, der verlegen in der Halle des Schlosses seinen Hut in den Händen dreht und Außenstände eintreiben möchte.

Der Grund liegt in der perspektivischen Distanz. Sie ist keine Frage von oben und unten. Wie der Krämer für den Schlossherrn ist der besorgte Nachbar oder Sozialarbeiter für den Dauerarbeitslosen nur der Vertreter einer fernen Welt von ärgerlichen Regeln, deren Befolgung keinen Nutzen verspricht. Nichts wäre gewonnen für den Grafen, wenn er seine Schulden bezahlte, er hätte nur Geld verloren. Gerichtsvollzieher waren in Feudalzeiten kaum zu fürchten, sie konnten ignoriert werden; im übrigen verbat es die Ehre, Schulden pünktlich zu bezahlen, es hätte den Eindruck von Eilfertigkeit gemacht.2 Genauso klar und stolz (oder mit genauso wenig Verständnis für die Paragraphenwelt) sieht der notorische Empfänger staatlicher Unterstützung, dass er nur sein bisschen Schwarzgeld verlöre, wenn er sich auf die Kontrolleure der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft einließe. Sie gelten ihm als gänzlich bedeutungslose Boten aus einer für ihn gänzlich bedeutungslosen Welt, die ihm nichts geben wird und der er schon deswegen nichts schuldet.

Um die strukturelle Parallele zu erkennen, reichte es im Grunde schon, das soziale Bewegungsprofil zu vergleichen. Wer bewegt sich und wohin? Der Graf bewegt sich nicht. Er kann sich nicht verbessern und bleibt nach Möglichkeit auf seinem Schloss. Der Dauerarbeitslose wäre, wenn er dem Drängen des Jobcenters nachgäbe, in einem der neuen Billigjobs nicht gesicherter; also bewegt auch er sich nicht. Noch leichtfertiger wäre für ihn ein Wechsel der Wohnung, mag sie noch so verwahrlost sein, denn Aussicht auf einen neuen Mietvertrag hätte er kaum. Die einzige Aussicht auf Veränderung, die er hat, ist die Obdachlosigkeit. Insofern ist auch die Sozialwohnung so etwas wie eine Burg, und manche ihrer typischen Insignien von Armut und Aussichtslosigkeit bezeugen den sozialen Status nicht anders als die Ahnenbilder im Rittersaal.

Wer sich aber bewegt, ist der Krämer. Er bewegt sich von Kunde zu Kunde und, wenn die Geschäfte gut laufen, auch langsam in der Gesellschaft nach oben. Der Sozialarbeiter bewegt sich ebenfalls, nämlich von Sozialfall zu Sozialfall, und steigt, wenn er kein Büromaterial stiehlt, in der Hierarchie seiner Behörde auf. Nur die Bewegung, zu der die Angestellten verdammt und die Unternehmer verführt sind, ist verheißungsvoll, wenngleich riskant. Sie können gewinnen und verlieren. Ihrem rastlosen, von Hoffnung und Angst getriebenen Eifer entspringt der Veränderungsdruck und entspringt der Ressourcenverschleiß unserer Gesellschaft. Aus der Abstiegsfurcht nähren sich die Ressentiments, die sich gegen die richten, die nichts zu verlieren haben, und der Neid, der sich auf die richtet, die alles geerbt haben (zum Beispiel ein Adelsprädikat).

Die Quelle des Hasses ist das Leistungsideal, dem sich die mobilen Teile der Gesellschaft unterworfen haben. In gewisser Hinsicht entspringt dieser Quelle aber auch das Selbstverständnis des demokratischen Staates, der ohne Fähigkeit und Bereitschaft zur Konkurrenz nicht auskommt. Wer nicht konkurriert, weil er nicht kann (der schicksalhaft Arbeitslose) oder weil er nicht muss (der Rentier und der Adelige), der ist in diesem System nicht integriert, eigentlich im Wortsinne asozial. Die Frage ist allerdings, wie es um die Menschlichkeit einer Gesellschaft bestellt ist, die Leistung zum Kriterium von Sozialität und Asozialität macht. Das Kriterium erscheint zwar zunächst untadelig demokratisch und egalitär, insofern es Herkunft, Geschlecht und andere Ungleichheiten zu neutralisieren verspricht. Aber abgesehen davon, dass sich Leistung in Wirklichkeit doch niemals in einem neutralen Umfeld entfaltet, dass sie je nach Umfeld höchst unterschiedlich definiert wird, dass auch nicht jeder die charakterlichen Möglichkeiten mitbringt, um zu leisten, was in seiner Epoche gerade als Leistung gilt – es bleibt die Frage nach den Tagedieben und Taugenichtsen, den Faulenzern und Schmarotzern, den Gehemmten und Schüchternen, die es immer gibt und die sich niemals dem Wettbewerb unterwerfen lassen. Schon der Gedanke an eine Leistungskonkurrenz macht ihnen Angst. Sind sie deshalb ohne Wert und können mit Recht als »Minderleister« aussortiert werden?

Im übrigen schlummert auch in jedem »Leistungsträger« und Erfolgsmenschen ein heimlicher Minderleister, der sich bei nächtlichen Panikattacken unversehens zeigt oder kurz vor dem Herzinfarkt am Steuer des Dienstwagens: der innere Doppelgänger eines jeden Managers, Politikers und milliardenschweren Anlagebetrügers. Gibt es überhaupt einen Menschen, der sich niemals davor gefürchtet hätte, plötzlich als gänzlich untüchtig, für nichts begabt und zu nichts fähig enttarnt zu werden? Deshalb sehen wir uns so oft in Albträumen nackt oder nur mit einer Pyjamajacke bekleidet auf einer Party oder in der U-Bahn stehen – aus der Gesellschaft herausgefallen und der missbilligenden Besichtigung ausgesetzt.

Im Traum bleibt merkwürdigerweise unsere existentielle Nacktheit meist unbemerkt; niemand scheint unsere peinliche Entblößung – die peinliche Wahrheit über unser asoziales Selbst – wahrzunehmen. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit dagegen drohen Pranger, Demütigung und Ächtung sehr wohl, für manche Menschen von Geburt an. Sie werden spätestens im Kindergarten zu Außenseitern, in der Schule zu ewigen Versagern bestimmt. Was ist mit diesen, die sich bestenfalls als Künstler, als charmanter Schwindler und Schmarotzer oder in der Versorgungsprostitution einer Ehe durchbringen können? Wenn sie nicht ein Leben lang putzen gehen, in der Psychiatrie oder im Gefängnis enden müssen. Was ist mit denen, die nur sind, aber außer ihrer Existenz nichts vorzuweisen haben?

Man kann die Frage christlich deuten. Sie entspricht aber auch ziemlich genau der Frage nach dem, was vom Adel geblieben ist. Geblieben vom Adel ist nämlich die Sehnsucht nach ihm – nach einem Rang, der weder mühevoll errungen werden muss noch jederzeit wieder verloren werden kann. Der Adel, so gesehen, ist eine Metapher der Menschenwürde, deren Unverlierbarkeit für jedermann zwar stets beteuert wird, aber in enttäuschender Unsichtbarkeit nur als Abstraktion durch die Köpfe spukt. Allein der Aristokrat kann seine Standeswürde als Krönchen sichtbar über die Initialen auf der Hemdbrust sticken lassen.3

Geblieben ist freilich auch der Hass auf gerade das – auf das, was gratis war, aber nicht gerecht verteilt wurde. Und schlimmer noch: was niemals wieder, also auch nicht zur Wiedergutmachung in gerechter Streuung über jedermann, verteilt werden kann, weil die Zeit der Ausgabe von Adelsdiplomen nun einmal unwiederbringlich vorbei ist. Der endgültige Schlussverkauf geschah in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs, als Heereslieferanten und Rüstungsunternehmer noch einmal auf die Schnelle nobilitiert wurden. Diese Adelstitel waren allerdings schon schal wie jene, die heute noch in England oder anderen konstitutionellen Monarchien verliehen werden: bloße Auszeichnungen für Verdienste, insofern auch nur Leistungszeugnisse und keine Zeichen angeborener Würde. Dass diese, die echten Zeichen herausgehobenen Ranges, nicht mehr verfügbar, also endgültig limitiert sind, erzeugt ihre andauernde Faszination, die sich in kindischer Bewunderung für den Geburtsadel ebenso wie in kindischem Hass niederschlagen kann. Beides ist aber insofern ernst zu nehmen, als sich in beidem die sonst nie ausgesprochene Einsicht artikuliert, dass die soziale Belohnung nach Leistung genauso ungerecht sein kann wie das Geburtsprivileg, womöglich unmenschlicher.

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