Was wir über Bewusstsein wissen sollten - Claudia Schneider - E-Book

Was wir über Bewusstsein wissen sollten E-Book

Claudia Schneider

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Beschreibung

Was ist Bewusstsein? Was sind Voraussetzungen dafür und was die Folgen daraus? In welchem Verhältnis stehen Information und Bewusstsein? Wie viele Entscheidungen treffen wir tatsächlich bewusst? Sind unsere Gedanken frei? Wie manipulierbar sind wir? Beeinflussen unsere Gene das Unbewusste? Gibt es eine Anatomie des Bewusstseins? Wo sind Erinnerungen gespeichert? Und welche Rolle spielen Meeresschnecken dabei? Wie interagieren Geist und Gehirn? Und was hat Quantenphysik damit zu tun? Was Hyperventilation mit Hollywood? Der Bicycle Day mit Depression? Oder Ekstase mit Burn-out? Was wir über Bewusstsein wissen sollten bietet einen umfassenden, kompakten Blick auf den Stand des Wissens und führt uns die Vielschichtigkeit der Thematik vor Augen. Die Wissenschaft kann keine klare Definition für Bewusstsein bieten. Es gibt keine Einzeldisziplin, die dem komplexen Phänomen gerecht wird, aber den Konsens, dass Bewusstsein zu den gewichtigen Instrumenten der Evolution zählt. Das Buch thematisiert grundlegende Fragen wie das Leib-Seele-Problem, es erläutert Zusammenhänge mit neurologischen Vorgängen, geht auf mentale Prozesse ein, stellt diverse Methoden und Zustände von verändertem Bewusstsein vor und spricht die Rolle von Informationen an. Dabei geht es der Entwicklung des Ich-Bewusstseins nach, umfasst Fragen zur Kreativität, Intelligenz und psychischen Fragilität, dem kollektiven Bewusstsein und Unterbewusstsein. Der Einfluss von Emotionen, Erinnerungen und Intuition wird genauso beleuchtet wie die Forschung zu Brain-Machine-Interfaces, zelluläres Erinnerungsvermögen und kulturelles Gedächtnis. Denn erst wenn die vielen Aspekte zusammengetragen werden, entsteht ein vages Gesamtbild.

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Seitenzahl: 531

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Die Arbeit an diesem Buch wurde mit Beiträgen der Dienststelle Kultur der Gemeinde Baar und dem Amt für Kultur Kanton Zug unterstützt.

1. Auflage

© Kommode Verlag, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Text: Claudia Schneider

Illustrationen: Ole Niemann

Lektorat: Eva-Maria Prokop

Korrektorat: Iris Halbritter

Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

Druck: Beltz Grafische Betriebe

ISBN 978-3-9524114-2-1eISBN 978-3-9055740-3-6

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

CLAUDIA SCHNEIDER

WAS WIR ÜBER BEWUSSTSEINWISSEN SOLLTEN

Inhalt

1 – Auftakt

1.1 Vorwort

1.2 Einführung

1.3 Leib-Seele-Problem

1.4 Unbewusstes

1.5 Bewusstes

2 – Das Gehirn

2.1 Einführung

2.2 Anatomie

2.3 Hirnzellen

2.4 Neurotransmitter

2.5 Hirnfrequenzen

2.6 Human Brain Project

2.7 Bauchhirn

3 – Mentale Prozesse

3.1 Einführung

3.2 Wahrnehmung

3.3 Emotionen

3.4 Gedanken

3.5 Erinnerungen

4 – Verändertes Bewusstsein

4.1 Einführung

4.2 Entziehen – Zugeben

4.3 Traum

4.4 Trance

4.5 Ekstase

4.6 Halluzination

4.7 Außerkörperliche Erfahrungen

4.8 Meditation

4.9 Hypnose

4.10 Halluzinogene

4.11 Elektrizität

4.12 Mediumismus

4.13 Besessenheit

4.14 Schamanismus

4.15 Notprogramm

4.16 Delir

4.17 Oneiroides Erleben

4.18 Koma und Narkose

4.19 Nahtoderfahrung

4.20 Reinkarnation

5 – Information

5.1 Einführung

5.2 Atom und Zelle

5.3 Wasser

5.4 Klang

5.5 Licht

5.6 Äther

5.7 Technische Entwicklung

5.8 Verschränkung

Schlusswort

Teamwork

Die Autorin

Verzeichnis

1 – AUFTAKT

1.1 VORWORT

Unter klarem Sternenhimmel, auf einer Hügelkuppe außerhalb von Oaxaca, plauderte ich mit einem jungen Mexikaner. Er sprach über weiße und schwarze Magie so selbstverständlich, wie wir uns am Abend zuvor über Michael Jackson unterhalten hatten. Das war in den 1980er-Jahren. Ich war als Reisebuchautorin und Journalistin unterwegs – angetrieben von dem Wunsch zu erforschen, was das für eine Welt ist, in der wir leben.

Viele Begegnungen und Gespräche mit Menschen weltweit machten mir bewusst, dass es nicht nur Unterschiede gibt hinsichtlich wirtschaftlicher Voraussetzungen, Kultur, Mentalität und Ernährung. Auch die Wahrnehmung und der Umgang mit der materiellen und immateriellen Welt war und ist vielerorts gänzlich anders, als ich dies aus der Schweiz kenne. Unter anderem überraschte mich, wie wenig manche Menschen brauchen, um ein glückliches Leben zu führen. Und wie viel manche haben, sowohl materiell als auch an Frust und Unmut. Ich fragte mich, was ausschlaggebend ist für Zufriedenheit.

Immer wieder erstaunte mich die starke Präsenz von Göttern, Geistern und Dämonen im Alltagsleben, die ich vielerorts antraf: wie viel Zeit und Hingabe ihnen gewidmet wird und wie vielseitig sich Aspekte solch immaterieller Welten in Form von Gotteshäusern, Kunstobjekten, Gesang, Tanz, Ritualen und manchem mehr materialisieren.

Ich fragte mich, welche Rolle Bewusstsein in der Verknüpfung von immaterieller und materieller Welt spielt. Wie nimmt Bewusstsein Einfluss auf die Spielregeln und den Verlauf dieses Weltentheaters? Was bedeutet Bewusstsein für jeden Einzelnen? Was sind die Voraussetzungen dafür und was die Folgen daraus?

Solche Fragen beschäftigen mich von klein auf, so wie sich andere schon früh für das Kuchenbacken interessieren mögen – wobei es leichter ist, gute Rezepte zu finden als verlässliche Informationen über Bewusstsein. Das beginnt schon bei der Definition. Bis heute ist sie unpräzise und vielschichtig. Im weitesten Sinne geht es bei Bewusstsein um das Wahrnehmen von mentalen Zuständen und Prozessen.

Gesellschaftlicher Wandel

Ich erinnere mich an Berichte in Illustrierten über das »kommende Wassermannzeitalter«. Ein Guru namens Osho machte Schlagzeilen, weil er «Westler« und Rolls Royce in Massen um sich scharte. In Zürich zogen Menschen Hare Krishna singend durch die Straßen. Auch war die Rede von bewusstseinserweiternden Substanzen. Gleichzeitig warnten Medien und Erziehungsverantwortliche vor Drogen, Sekten, Gehirnwäsche, Kontrollverlust, sozialem Abstieg oder gar Geisteskrankheit und nicht selten dem Tod.

Gegen Ende des letzten Jahrhunderts machte sich ein gesellschaftlicher Wandel bemerkbar. Esoterische Buchhandlungen sprossen aus dem Boden. Richard Gere und Tina Turner propagierten den Buddhismus. Madonna machte die Kabbala salonfähig. Albert Hofmanns Aussage »Die Evolution besteht in der Veränderung des Bewusstseins« wurde nicht mehr ausschließlich von LSD-Freaks registriert. Zahlreiche Methoden zur Schulung von Bewusstsein, die einem Großteil der Bevölkerung noch wenige Jahrzehnte zuvor suspekt waren – etwa Meditationsgruppen oder Tai-Chi-Kurse, werden heute ganz selbstverständlich in jedem größeren Ort angeboten. Ärzte empfehlen Yoga als Burn-out-Prävention oder die Schulung der Atmung zur Pflege von Körper und Geist. In Kliniken und Zahnarztpraxen wird vermehrt mit Hypnose gearbeitet. Und mit einer nie dagewesenen Offenheit werden weltweit persönliche Erfahrungen und Meinungen zu verschiedensten Aspekten von Bewusstsein im Internet ausgetauscht.

Quervergleich

Persönlich habe ich den Rat des jungen Mexikaners beherzigt: »Wer sein Bewusstsein fördern will, soll viel und kritisch darüber lesen, lernen, regelmäßig in die Stille gehen, unter stimmigen Umständen Grenzerfahrungen zulassen und sich nicht abhängig machen.« Meine Lebensqualität hat enorm zugenommen, seit ich den Geist nicht nur als Arbeitsinstrument pflege, um kognitive Leistungen hervorzubringen. Ich akzeptierte, dass Menschen beidem Raum geben dürfen: dem äußeren Geschehen und der Innenwelt.

Doch was ist dran an all dem inneren Erleben, das sich wohl in Worte fassen lässt, aber vornehmlich eine individuelle Erfahrung bleibt? Was weiß die Wissenschaft über Träume, Meditation, Visionen? Wo berühren persönliche Erkenntnisse und Erfahrungen wissenschaftliche Fakten, und in welchen Bereichen scheitern Erklärungsversuche?

Vor dem Internetzeitalter hätte eine solche Fragestellung einen kaum zu bewältigenden Rechercheaufwand bedeutet. Auch die Online-Recherche ist nicht einfach, zumal bekanntlich nicht jede auffindbare Information glaubwürdig ist. Doch die Spurensuche eröffnete Kontakte zu Fachleuten, die mir halfen, zwischen leerem Geschwätz, offenen Thesen und wissenschaftlich Belegtem zu unterscheiden. Mit dem vorliegenden Buch teile ich meine Recherchen. Sie sollen motivieren, sich mit dem Thema Bewusstsein auseinanderzusetzen. Es ist eine spannende Reise. Sie führt nicht nur zu sich selbst, sondern weit darüber hinaus.

1.2 EINFÜHRUNG

Rätselhaft und diffus

Was ist der Zweck von Bewusstsein? Wäre das Leben ohne Bewusstsein nicht angenehmer und vor allem einfacher? Natürlich benötigt jeder Organismus ein minimales Bewusstsein, das heißt Kontrollmechanismen, die über den eigenen Zustand und jenen der unmittelbaren Umgebung informieren. Sogar Einzeller sind mit solch einfachen Formen von Bewusstsein ausgestattet. Der Mensch allerdings erlebt Bewusstsein als eine Kraft, die viel weiter reicht. Bewusstsein befähigt Menschen gleichermaßen zu außergewöhnlichen Leistungen wie zu außergewöhnlichem Leiden. Diese einzigartige Bandbreite ist möglicherweise der entscheidende Aspekt, der dem Menschen seine Dominanz im irdischen Dasein ermöglicht. Bewusstsein gestaltet sich beim Menschen in besonderem Maße vielschichtig: in seiner Zusammensetzung, in dem, was es auslöst, und in der Art des Umgangs damit. Manche Kulturen haben dieses natürliche Gestaltungsinstrument vor vielen Jahrhunderten bereits auf hohem Niveau gepflegt. Bewusstseinsschulung fand traditionell im rituellen und religiösen Umfeld statt.

In der jüngeren Menschheitsgeschichte führten Kolonialisierung und Inquisition zu massiven Einschnitten in örtlich gelebte Bewusstseinskulturen. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts traten metaphysisch und philosophisch geprägte Erklärungsmodelle für den geistigen Aspekt unseres Daseins parallel zu den wissenschaftlichen Fortschritten in den Hintergrund: Anstelle der Frage nach dem Warum und Wozu gewann die Frage nach dem Wie an Bedeutung.

Maßgeblich zu diesem Wendepunkt beigetragen hatte das 1687 publizierte Hauptwerk von Isaac Newton: »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica«. Darin fasste der britische Wissenschaftler mathematische Prinzipien der Naturlehre zusammen, die bis heute Gültigkeit besitzen. Sie förderten die Trennung zwischen Materiellem und Geistigem entscheidend. Die Ironie des Schicksals ist, dass dieser Prozess nicht wirklich Newtons Natur entsprach, zumal der geniale Wissenschaftler tief religiös war und sich ebenso intensiv mit Alchemie und Mystizismus beschäftigte. Über sein wirkungsreichstes Fachgebiet sagte Newton: »Wer oberflächlich Physik treibt, der kann an Gott glauben. Wer sie bis zum Ende denkt, der muss an Gott glauben.«

Dass sich die Wissenschaft dem Glauben entzog, war, angesichts der Allmacht, welche die Religionen besaßen, indes ein notwendiger Prozess, um unabhängig und frei neue Einsichten gewinnen zu können. Mit der Zeit ließ sich immer besser objektiv beobachten, messen und begreifen, wie Materie funktioniert. Die Konzentration auf das Fassbare und Messbare hat im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte beeindruckend viele Geheimnisse offenbart. Innerhalb eines Bruchteils des menschlichen Daseins hat die technische Entwicklung hervorgebracht, wovon die Menschheit Jahrtausende lang kaum zu träumen gewagt hätte. Die Mondlandung 1969 symbolisierte einen der großen Glanzpunkte in der Erforschung der Materie. Und die Entwicklung setzte und setzt sich rasant fort.

Fokus auf Bewusstsein

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bewusstsein blieb lange eher ein Randgebiet. Vorwiegend Philosophen, Psychologen, Ethnologen, Religionswissenschaftler, Künstler und wenige andere Fachspezialisten befassten sich mit dem Phänomen. Der Universalgelehrte Christian Wolff prägte 1719 den deutschen Begriff »das Bewusstsein« als Übersetzung von René Descartes »cogito ergo sum«. Damit machte der deutsche Philosoph und Mathematiker deutlich, dass »cogito« mehr beinhaltet als reines Denken. Kurt Joachim Grau klassifizierte 1916 in seinem Buch über »Die Entwicklung des Bewusstseinbegriffes« die verschiedenen Definitionsansätze in der Geschichte der Metaphysik und der Psychologie des 17. und 18. Jahrhunderts. Nach wie vor als bedeutend gilt William James’ 1904 erschienener Aufsatz »Does ›Consciousness‹ Exist?«. Darin legte der US-amerikanische Psychologe und Philosoph dar, »dass Bewusstsein keine Eigenschaft sei, sondern das Resultat eines Interaktionsprozesses von Objekten, geistiger oder physischer Natur, und einem Subjekt« (zitiert nach Hempel, 2009).

Einen Schub bekam die aktuelle Bewusstseins-Forschung gegen Ende des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch die Entwicklung von bildgebenden Verfahren in der Neurologie. Die Möglichkeit, Vorgänge im Gehirn des lebenden Menschen besser als je zuvor in Echtzeit beobachten zu können, hat nicht zuletzt auch Hoffnungen geweckt, mentale Prozesse früher oder später reproduzierbar zu machen (siehe Kapitel 2.6 über das Human Brain Project).

»Seit geraumer Zeit bewegen wir uns mit steigender Geschwindigkeit auf ein neues theoretisches Verständnis unserer inneren Natur zu«, schreibt der deutsche Professor für theoretische Philosophie Thomas Metzinger. Es habe noch nie ein so umfangreiches und auch für Geisteswissenschaftler leicht verfügbares empirisches Wissen gegeben. Das Wissen über die physischen Rahmenbedingungen psychischer Zustände wachse mit steigender Geschwindigkeit und dieser Wissenszuwachs werde, so Metzinger, »einen dramatischen Charakter annehmen«. Schon jetzt sei eine immer größer werdende Anzahl neu entstehender Einzeldisziplinen wie etwa die Psychobiologie, die Neuroinformatik oder die Künstliche-Intelligenz-Forschung an einer nur schwer zu überblickenden interdisziplinären Diskussion beteiligt.

Der amerikanische Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel ist sich sicher, dass wir in Zukunft in der Lage sein werden, auf neuronaler Ebene zu bestimmen, was Bewusstsein ist. Der Angst vieler vor einer Entzauberung, sollte einmal die ›Biologie der Seele‹ verstanden werden, stellt Kandel eine Analogie aus der Kunst entgegen: »Wenn Sie ins Museum gehen und jemand erklärt Ihnen, was das Lächeln der Mona Lisa bedeutet, was das Geheimnis dieses Bildes ist, dann wird das Gemälde durch diese Erklärung nicht weniger interessant. Es wird noch interessanter.«

Puzzle

Die Vielfalt an wissenschaftlichen Disziplinen, die sich aktuell mit Bewusstsein befassen, erscheint notwendig, weil sich das Phänomen vorab einer eindeutigen Definition entzieht. Es lässt sich nur von verschiedenen Seiten einkreisen. So spiegelt auch dieses Buch die Vielschichtigkeit der interdisziplinären Forschung wider. Es befasst sich mit Themen, die im engeren und weiteren Sinne mit Bewusstsein verbunden sind, und beleuchtet diese aus dem Blickwinkel diverser Fachrichtungen. Beispielsweise liegt es auf der Hand, dass Erkenntnisse über das Gehirn vorwiegend aus der Neurologie stammen. Über Emotionen haben aber Psychologen ebenso viel zu sagen wie Biologen, und mit Trance befassen sich Ethnologen genauso wie Hypnosetherapeuten.

Es ist ein besonderes Anliegen dieses Buches, die Vielfalt an Informationen zu vermitteln. Die Einführung thematisiert einen ungelösten Grundkonflikt: die Frage, ob wir Leib oder Geist oder beides sind – oder ob beides Aspekte ein und desselben sind. Nach einer Einführung in die Themen Bewusstes und Unbewusstes befasst sich der zweite Teil des Buches mit dem Gehirn, das bei Bewusstseinsvorgängen offenkundig eine zentrale Rolle spielt. Eng gekoppelt an Bewusstseinsvorgänge sind mentale Prozesse: Wahrnehmung, Emotionen, Gedanken und Erinnerungen werden im dritten Teil thematisiert.

Der vierte Teil befasst sich mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen und macht dabei deutlich, dass sich das Phänomen mannigfaltig manifestiert. Es werden die wichtigsten Methoden, Bewusstsein zu verändern, und die unterschiedlichen darauf folgenden Zustände vorgestellt. Dadurch lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Besonderheiten erkennen. Letztlich beruht Bewusstsein stets auf Information. Deshalb beschäftigt sich das abschließende Kapitel mit der Frage, wie Informationen transportiert, verarbeitet und gespeichert werden.

Das vorliegende Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Ich bin Journalistin und habe in erster Linie Informationen gesammelt, strukturiert, möglichst neutral und allgemeinverständlich formuliert. Jedes Kapitel wurde von universitären Fachpersonen des jeweiligen Themengebiets gegengelesen. Wo die Forschung bisher zu keinen eindeutigen Ergebnissen gekommen ist oder es unterschiedliche Ansichten gibt, ist dies entsprechend vermerkt.

Ich habe mich bemüht, die Kapitel so zu gliedern, dass sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Gleichzeitig steht jedes Kapitel für sich, sodass man beim Lesen vor- und zurückspringen oder auch jene Kapitel zuerst lesen kann, die einen besonders interessieren. Das Schlagwortverzeichnis und Textverweise auf andere Kapitel helfen, sich auf bestimmte Themen zu konzentrieren.

Das Anliegen dieses Buches ist, im Sinne eines ausführlichen Nachschlagewerks einen kompakten Überblick zu bieten und verschiedene Facetten von Bewusstsein zu behandeln, ohne sich in Details zu verlieren. Die Forschung hofft, mithilfe der vielen einzelnen Puzzleteile letztlich interdisziplinär zu einem Gesamtbild zu finden, das Bewusstsein in all seinen Facetten repräsentiert. Ebenso hat die vorliegende Arbeit zum Ziel, durch die Vielfalt der Themen Vernetzungen und Querverbindungen entstehen zu lassen, die teilweise allgemeine Rückschlüsse zulassen, aber auch Unterschiede sichtbar machen.

1.3 LEIB-SEELE-PROBLEM

Zweierlei, eins oder nichts?

Sind Körper und Geist zweierlei? Kann das Materielle ohne das Mentale sein und umgekehrt? Oder handelt es sich letztlich um das Gleiche, das sich in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt?

Das uralte »Leib-Seele-Problem« ist bis heute nicht gelöst. Philosophen waren wohl die ersten, die sich mit der Frage nach dem Zusammenspiel von Körper und Geist beschäftigten. Längst befassen sich auch Mediziner, Physiker, Informatiker, Biologen, Psychologen, Neurologen und weitere Wissenschaftler mit dem Körper-Geist-Problem und der Frage, wie der »Körper« als messbare und abgrenzbare Materie und der »Geist« zusammenhängen; »Geist« steht für Bewusstsein und Psyche, aber auch für mentale Zustände wie Emotionen, Überzeugungen, Erlebnisse, Empfindungen.

Dualismus und Monismus

Es gibt grundsätzlich zwei Herangehensweisen, denen im Laufe der Zeit mal mehr, mal weniger Beachtung zuteil wurde: Dualismus und Monismus.

Im Dualismus werden Geist und Körper als grundsätzlich unterschiedliche Einheiten erachtet. Dabei gibt es die Ansicht, dass sie verbunden sind und aufeinander einwirken (Interaktionismus). Eine weitere dualistische Interpretation geht davon aus, dass beides nebeneinander existiert und dass die mentalen Zustände den physischen entsprechen, ohne dass eine kausale Verknüpfung vorliegt (Parallelismus). Die dualistische Sichtweise ist aktuell nicht sonderlich populär. Dennoch meint der amerikanische Philosoph John Rogers Searle: »Ich vermute, der Dualismus wird nicht verschwinden, auch wenn er unmodern geworden ist. In den letzten Jahren hat der Dualismus sogar eine gewisse Renaissance erlebt, was teilweise an einem Wiederaufleben des Interesses am Bewusstsein liegt. Die Einsicht, die den Dualismus treibt, ist kraftvoll. Sehr vereinfacht lautet sie: Wir haben alle echte bewusste Erlebnisse und wissen, dass sie nicht von der gleichen Art sind wie die physischen Gegenstände um uns herum.«

In den vergangenen Dekaden dominierten verschiedene Formen des Monismus – also der Überzeugung, dass alles, was existiert, auf demselben Prinzip beruht. Insbesondere philosophische Traditionen in Asien teilen die metaphysische Ansicht, die getrennte Betrachtung von Körper und Geist sei illusionär und bedeutungslos. Auch im westlichen Kulturkreis vertreten einige Wissenschaftler den Standpunkt, dass es sich bei der nicht enden wollenden Diskussion über Materie, Geist und die Interaktion der beiden um ein Scheinproblem handle. Sie sind der Meinung, das Leib-Seele-Problem sei letztlich in der Sprache verortet. Es müsse akzeptiert werden, dass der Mensch in mentalem wie auch in biologischem Vokabular beschrieben werden könne und beides korrekt sei.

Vorherrschend ist heute jedoch die monistische Sichtweise, dass alle Objekte, Eigenschaften und Ereignisse als physikalische Phänomene beschrieben werden können. Allerdings fehlt bisher eine umfassende physikalische Formel dafür (Kapitel 5). Der deutsche Physik-Nobelpreisträger Max Planck (1858–1947) hegte gar Zweifel daran, dass das Physikalische grundlegend sei: »Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt – es ist der Menschheit nicht gelungen, das heißersehnte Perpetuum mobile zu erfinden –, so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten, intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie.« »Ähnlich wie Planck denken heute vermehrt auch wieder Philosophen, was in den vergangenen 10 bis 15 Jahren zu einem Revival des Panpsychismus beigetragen hat«, erklärt Frederic Auderset von der Universität Freiburg (Schweiz). Panpsychisten verneinen die dualistische Trennung von Geist und Materie. »Sie sind der Auffassung, dass Materie ihrer Natur nach nicht – oder zumindest nicht nur – physisch sei, und sehen Bewusstsein als den eigentlichen Träger aller physischen Wechselwirkungen. Das reichhaltige menschliche Bewusstsein und generell komplexe Formen von Bewusstsein, wie auch Tiere sie haben können, werden als Aggregation einer Vielzahl von grundlegenden Bewusstseinsformen verstanden«, so der Philosophie-Doktorand Auderset. Aufgrund dessen sei davon auszugehen, dass auch das Universum in der Lage sein könnte, sich seiner selbst bewusst zu sein.

Erleben

Seit Planck hat die Wissenschaft enorme Fortschritte im Verständnis von Materie gemacht und dadurch eine funktionalistische Anschauung gefestigt. Sie besagt unter anderem, dass der Mensch, ebenso wie eine Maschine, auf einen spezifischen Input einen entsprechenden Output gibt. Wenn beispielsweise die Qualität der Energiezufuhr minderwertig ist, machen früher oder später beide schlapp: der Mensch und die Maschine. Dies zeigt sich zum Beispiel in Ländern, in welchen gepanschtes Benzin verkauft wird. Ein Warnsystem, das bei der Zufuhr von unreinem Benzin Alarm schlägt, wäre dort hilfreich. Der menschliche Körper verfügt über einen solchen Mechanismus: Auf verdorbene Nahrung reagiert er mit Brechreiz. Verfügt die Nahrung über eine ausreichende Güte, wird sie verdaut und erhält uns am Leben – unabhängig davon, ob wir aus Hunger, Lust oder Frust essen. Auch die Tatsache, dass wir Geschmack und Konsistenz der Nahrung wahrnehmen und werten, ist irrelevant, um den Organismus am Laufen zu halten. Die Ernährungswissenschaft besagt jedoch, dass es durchaus eine Rolle spielt, wie und unter welchen Umständen wir essen, da die Nahrungsaufnahme mehr als reine Energiezufuhr ist: Essen wird auch emotional und sozial erlebt.

Der US-amerikanische Philosoph Ned Block kritisierte 1978 in seiner Schrift »Troubles with Functionalism« die Annahme, dass ein System – nur weil es mit derselben funktionalen Architektur wie der Mensch ausgestattet wäre – auch über Bewusstsein oder Erleben verfügen könnte. Tatsächlich dürfte ein Auto eher nichts empfinden, wenn es mit Benzin getankt wird, für den Mensch ist die Nahrungsaufnahme hingegen ein Erlebnis. Dieser Umstand – generell als »Qualia« oder phänomenales Bewusstsein bezeichnet – ist der springende Punkt, der Kritiker einer rein materialistischen Sichtweise auf den Plan ruft. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel stellte in diesem Zusammenhang 1974 die berühmt gewordene Frage: »What is it like to be a bat?«. Nagel argumentiert, mit der Außenperspektive, wie sie Wissenschaftler pflegen, sei die Innenperspektive des Erlebens grundsätzlich nicht erfassbar. Egal, wie gut Wissenschaftler über Fledermäuse Bescheid wissen, würden sie nie erfahren, wie es für eine Fledermaus ist, echolotartige Wahrnehmungen zu haben. Nagel folgert: »Die wichtigste und charakteristischste Eigenschaft bewusster mentaler Phänomene ist noch sehr wenig verstanden. Die meisten reduktionistischen Theorien versuchen sie nicht einmal zu erklären. Eine behutsame und gründliche Untersuchung wird zeigen, dass keine derzeit verfügbare Konzeption von Reduktion auf sie anwendbar ist.« Zudem meinte Nagel: »Ohne das Faktum Bewusstsein wäre das psychophysische Problem weit weniger interessant; mit ihm aber scheint es hoffnungslos.«

Ähnlich argumentierte der australische Philosoph Frank Cameron Jackson in seinem 1986 erschienenen Aufsatz »What Mary didn’t know«. In diesem Gedankenspiel wird die Geschichte der Superwissenschaftlerin Mary erzählt: »Mary ist eine brillante Wissenschaftlerin, die, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen ist, die Welt von einem schwarzweißen Raum aus mithilfe eines schwarzweißen Fernsehmonitors zu untersuchen.« Mary kennt jedoch alle physikalischen Fakten über das Sehen von Farben. Jackson stellte die Frage, ob die Wissenschaftlerin etwas Neues lernen würde, wenn sie zum ersten Mal eine Farbwahrnehmung machen würde. Es scheine »offensichtlich zu sein, dass sie etwas Neues über die Welt und unser visuelles Erleben dieser lernen wird«, lautete Jacksons Antwort. Er folgerte weiter: »Aber dann ist es unausweichlich, dass ihr vorheriges Wissen unvollständig war. Aber sie besaß alle physikalischen Informationen. Somit gibt es mehr, als nur diese zu besitzen, und der Physikalismus ist falsch«.

Ohne das Faktum

Bewusstsein wäre das

psychophysische Problem

weit weniger interessant;

mit ihm aber scheint es

hoffnungslos.

— Thomas Nagel, Philosoph

Individuelle Wahrnehmung

Jacksons Mary hat noch ein weiteres Problem: Die Wissenschaftlerin kann Probanden in ein blaues, rotes oder gelbes Labor einladen und beobachten, welche Sinne und welche Hirnareale involviert sind, wenn diese ihre Umgebung betrachten. Mary könnte also objektiv die kognitiven Ereignisse der Farbwahrnehmung registrieren. Sie könnte aber dadurch noch nicht erklären, wie aus den beobachteten Hirnaktivitäten die Wahrnehmung der Farben resultiert. Ebenso wenig könnte sie daraus schließen, was der farbige Raum bei den Probanden auslöst, geschweige denn, warum: Wohlsein, Kälte, Vertrautheit? Dieses Erleben ist wesentlich komplexer als die rein visuelle Wahrnehmung von Farbe, weil es verbunden ist mit subjektiven Aspekten wie Emotionen, Erinnerungen, psychischer Verfassung und vielem mehr. Daher löst die Situation bei den Probanden auch kein standardisiertes Aktivierungsmuster im Gehirn aus. Vielmehr sind die möglichen Variationen derart vielfältig, dass es derzeit nicht gelingt, Aktivierungsmuster des Gehirns zur Nutzung von künstlicher Intelligenz adäquat nachzubauen.

Der australische Philosoph David Chalmers – ein Vertreter des Dualismus – unterscheidet in der Frage des Leib-Seele-Problems zwischen einfachen und schwierigen Fragen. Als leichte deklariert Chalmers mentale Zustände, welche ohne Erleben auskommen und von der Wissenschaft auch relativ gut erklärbar sind, da sie rein funktional, beinahe mechanistisch, beschrieben werden können, zum Beispiel der Brechreiz oder der Impuls zu schlucken. Die schwierige Frage betreffe das phänomenale Bewusstsein und das damit einhergehende subjektive Erleben: »Es besteht weitgehend Einigkeit, dass Erleben aufgrund einer physikalischen Basis entsteht, aber wir haben keine gute Erklärung dafür, warum und wie. Warum denn sollen physikalische Vorgänge ein inneres reiches Leben auslösen? Objektiv gesehen, erscheint dies unsinnig, und doch ist es so.« Deshalb, so Chalmers, scheitere eine rein funktionalistische, physikalische Erklärung.

Seit gut einem Jahrzehnt durchläuft die Wissenschaft in der Tat einen Wandel und erkennt dabei zunehmend den inneren Erlebnisraum als individuelle Realität an. Die Erkenntnisse über Funktionales geraten dadurch zwar nicht in den Hintergrund, werden aber zunehmend als zu einseitig erachtet.

Das Ich

Im Mittelpunkt all dessen, was wir erleben, steht das Ich. Selbst dann, wenn eine Gruppe ein Erlebnis teilt, wird das Geschehen individuell wahrgenommen und verarbeitet. Was genau ist also dieses Ich? David Hume (1711–1776) erkannte in seinem 1739 erschienenen »Traktat über die menschliche Natur« an, dass der Mensch permanent Eindrücke, Ideen und Empfindungen habe. Für den schottischen Universalgelehrten war dieser Umstand aber kein Beleg für die Existenz eines Ichs. »Hume war der Auffassung, dass man, wenn man das eigene Bewusstsein beobachtet – den Blick sozusagen nach innen richtet –, einen konstanten, einheitlichen Fluss an Eindrücken, Erlebnissen, Empfindungen entdeckt, nicht aber sich selbst als einen weiteren, eigenständigen Bestandteil des Bewusstseins. Daraus zog er den Schluss, dass das Wort ›Ich‹ genaugenommen nichts – jedenfalls nicht ein Ding, nicht eine individuelle Substanz – bezeichnet«, so Frederic Auderset.

Hume war nicht der Typ, der gefallen wollte. Gilbert Ryle schrieb über den bedeutenden Aufklärer: »Er hatte nicht die Absicht, die Autoritäten milde zu stimmen, sondern er wollte sie schockieren.« Mit seinem radikalen Plädoyer zur Abschaffung des Ichs hat sich Hume das Leben schwer gemacht. Doch seine Ansicht ist bis heute aktuell geblieben. Zumal die Suche nach einem Ich nach wie vor ein hoffnungsloses Unterfangen scheint. Auch im Gehirn des Menschen können Neurologen nichts finden, das in irgendeiner Weise als Ich agieren würde. Aktuell argumentiert der deutsche Neurophilosoph Thomas Metzinger, dass die Wissenschaft auf Begriffe wie das Selbst gut verzichten könne, weil immer besser nachvollziehbar werde, wie das Gehirn das Selbstbildnis fortlaufend konstruiere: »Das Selbst ist kein Ding, sondern es ist ein Vorgang.«

Grundstrukturen

Allerdings ist dieses Kontinuum, aus dem sich das Ich konstruiert, nicht aus der Luft gegriffen. Es beruht auf genetisch verankerten Voraussetzungen und einer Persönlichkeit, die als Grundstruktur den Rahmen festlegt, in dem sich das Erleben ereignet. Diese Grundstrukturen haben auch den deutschstämmigen britischen Psychologen Hans Jürgen Eysenck (1916–1997) beschäftigt. Er entwickelte – basierend auf der antiken Temperamentenlehre – ein System, anhand welchem sich eine Persönlichkeit durch ihre jeweilige Ausprägung der Dimensionen Introversion und Extraversion sowie Labilität und Stabilität beschreiben lässt.

Als Arbeitsinstrument etabliert haben sich in der Wissenschaft schließlich »The Big Five«. Grundlage dafür schufen Mitte der 1930er-Jahre Gordon Allport, Henry Odbert und Louis Thurstone. Die US-Psychologen erstellten eine Liste mit rund 18 000 Begriffen, die menschliche Eigenschaften beschreiben, und gliederten diese nach ihrer Bedeutung. Auf einer Liste standen dann beispielsweise Wörter wie gutmütig und wohlwollend, auf einer weiteren Charaktereigenschaften wie jähzornig und hitzköpfig. Auf der Basis dieser Liste kristallisierten sie fünf weitgehend stabile und kulturunabhängige Persönlichkeitsstrukturen heraus. Das Modell sieht fünf Grundfaktoren mit jeweils fünf Abstufungen vor. Mathematisch ergeben sich aus diesem Modell 3 125 Persönlichkeitsvarianten.

»The Big Five« wird international als Standardmodell in der Persönlichkeitsforschung angewendet, teils auch von Konzernen zur Rekrutierung von Personal. Dieser Umstand wird mitunter kritisiert. Die Psychologieprofessorin Fanny Cheung von der Universität Hongkong plädiert dafür, das Big-Five-Konzept weltweit auf den Prüfstand zu stellen: »Die Persönlichkeitsforschung wird dominiert durch die westliche Wissenschaft. Doch erst die Forschung in nichtwestlichen Ländern lässt erkennen, was universell ist.« »Das Gesicht zu wahren« etwa sei in Asien viel wichtiger und facettenreicher als im Westen und die zwischenmenschliche Verbundenheit von viel größerer Bedeutung. Das Forscherteam um den kalifornischen Anthropologen Michael Gurven hat 2012 festgestellt, dass bei den Tsimane, einem Volk, das in Bolivien als Selbstversorger kaum Kontakte zur Außenwelt pflegt, weniger und vor allem ganz andere Faktoren wesentlich sind, als »The Big Five« suggeriert. So stünden etwa Fleiß und soziale Nützlichkeit bei den Tsimane ganz weit oben auf der Liste. Auch kam in Südafrika das SAPI-Projekt (South African Personality Inventor) zu dem Schluss, dass das Big-Five-Modell mit landestypischen Persönlichkeitsmerkmalen wie Mitgefühl, Vertrauenswürdigkeit, Harmoniebedürfnis und Hilfsbereitschaft zu ergänzen sei.

Antike Temperamentenlehre

Phlegmatiker > passiv, schwerfällig

Melancholiker > introvertiert, labil, traurig

Sanguiniker > extravertiert, aktiv, heiter

Choleriker > labil, leicht reizbar

The Big Five

Offenheit für Erfahrungen > Aufgeschlossenheit

Gewissenhaftigkeit > Perfektionismus

Extraversion > Geselligkeit

Verträglichkeit > Empathie, Kooperationsbereitschaft

Neurotizismus > Emotionale Labilität, Verletzlichkeit

Die Persönlichkeit trägt viel zum Konstrukt des Ichs bei. Denn sie ist eine relativ fixe Grundstruktur, die sich im Laufe des Lebens modulieren lässt, sich aber selten grundsätzlich ändert. Der daraus resultierende Charakter ist zu 40 bis 50 Prozent genetisch determiniert, also bereits in der befruchteten Eizelle angelegt. Einen Anteil von 30 bis 50 Prozent machen die prägenden Jahre bis etwa zum fünften Geburtstag aus. Danach stabilisiert sich das Konstrukt des Ichs zunehmend und sucht sich ein passendes Umfeld.

Wie sich die Grundstrukturen auswirken, wurde in einer amerikanischen Langzeitstudie untersucht, an der über 5 000 Personen teilnahmen. Sie kam 2015 im Fachblatt »Health Behavior and Policy Review« zu dem Schluss, dass unabhängig von Alter, Einkommen und Bildungsstand Menschen, die grundsätzlich optimistisch sind, weniger zu Herz- und Gefäßkrankheiten neigen als Pessimisten. Eine weitere Studie machte deutlich, dass Personen mit Minderwertigkeitskomplexen in ihrem Leben viel öfter mit Situationen konfrontiert werden, die am Selbstwert nagen, als Menschen, die aufgrund ihrer Prägung von sich selbst überzeugt sind. Das heißt, der Datenmix, den wir mitbringen und der, der uns in den ersten Lebensjahren prägt, wird unser Leben weitestgehend bestimmen. Es sei denn, ein Ereignis erschüttert uns dermaßen in den Grundfestungen, dass eine Art neues Set-up zum Laufen kommt. Oder aber wir nutzen unser Bewusstsein als Instrument, das Konstrukt des Ichs zu modulieren.

1.4 UNBEWUSSTES

Was uns nicht bewusst ist

In der ersten Phase der Coronapandemie wurde die Bevölkerung angehalten, zum Schutz vor Ansteckungen das eigene Gesicht möglichst nicht zu berühren. »Zwischen 400 bis 800 Mal am Tag berühren wir unser Gesicht, und in der Regel nehmen wir von dieser Bewegung, die zirka 1,3 Sekunden dauert, keine Notiz«, weiß Martin Grunwald, Hirnforscher an der Universität Leipzig. Diese unbewusst stattfindenden Berührungen bewusst zu unterbinden, fällt schwer. Das Team um Grunwald untersuchte mehrfach, warum diese unbewussten Berührungen stattfinden, und analysierte die hirnelektrische Aktivität während solcher unbewussten Handlungen: »Dabei zeigte sich, dass die Hirnaktivität vor und nach einer spontanen Selbstberührung völlig verschieden ist. Das bedeutet, eine kurze und spontane Selbstberührung verändert die Aktivität des Gehirns in bestimmten Bereichen«. In einer seiner Studien hatten die Probanden die Aufgabe, sich Gegenstände zu merken, während sie von unangenehmen Tönen gestört wurden. Sobald diese stresserzeugenden Töne erklangen, griffen sich die Probanden öfter ins Gesicht. Messungen der Hirnströme machten deutlich, dass sich durch diese Berührungen die Aktivitäten beruhigten, die an Emotionen gekoppelt sind. Darüber hinaus zeigte sich ein Zusammenhang zwischen den Berührungen und der Fähigkeit zur Konzentration und Informationsverarbeitung. »Wir erklären diese Veränderungen damit, dass der kurze Berührungsreiz jene Hirnaktivität verstärkt, die für eine Stabilisierung des emotionalen Zustandes und für eine Stabilisierung des Arbeitsgedächtnisses verantwortlich ist«, erklärt Martin Grunwald. In der Folge wollten er und sein Team wissen, ob dieser Effekt auch eintritt, wenn man sich bewusst ins Gesicht greift. Doch die im Labor induzierten Selbstberührungen auf Anweisung zeigen nicht die gleichen Effekte. »Man kann demnach spontane Selbstberührungen nicht bewusst simulieren«, so die Folgerung.

Dominante Funktion

Die Bedeutung unbewusster Aktivitäten hat sich erst durch die Hirnforschung nachweislich offenbart. Das Unbewusste reguliert überlebenswichtige Körperfunktionen, agiert aber auch als eine Art Wundertüte: Sie beinhaltet scheinbar Vergessenes und Verdrängtes ebenso wie unterschwellig Wahrgenommenes, Triebhaftes, Gewohnheiten, Talente, Konditionierungen, Erlerntes und Gefühle. Allein unsere Sinne verarbeiten nach aktueller Schätzung von Neurologen mehrere Millionen Basiseinheiten von Information (Bits) pro Sekunde. Nur ein Bruchteil all dessen, was der Organismus an Bits gleichzeitig bewältigt, dringt bis ins Bewusstsein vor. Der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth schätzt, dass uns weniger als 0,1 Prozent von all dem, was in unserem Kopf vor sich geht, bewusst wird. Das Ausmaß der unbewussten Informationsverarbeitung wurde lange unterschätzt.

Als einer der ersten trug der Berliner Philosoph Eduard von Hartmann 1869 mit seinem Buch »Philosophie des Unbewussten« zur Verbreitung des Begriffs bei. Einer der ersten Mediziner, der dem Unbewussten Aufmerksamkeit schenkte, war der Wiener Hausarzt Josef Breuer. Seine Patientin Bertha Pappenheim (1859–1936) erlangte als Anna O. in der Fallgeschichte »Studien über Hysterie« Bekanntheit. Die österreichisch-deutsche Frauenrechtlerin war 21 Jahre alt, als ihr Vater schwer erkrankte. Nachts an seinem Krankenbett wurde die junge Frau von Angstzuständen und Halluzinationen gequält. In der Folge litt sie an Sprach-, Seh- und Essstörungen, Lähmungserscheinungen, Neuralgien, extremen Stimmungsschwankungen und Erinnerungslücken. Breuer ging davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Problemen besteht und Reden heilsam wirken kann. Seine Behandlungsmethode weckte das Interesse seines Freundes Sigmund Freud (1856–1939), der diesen neuen Ansatz zur Psychoanalyse weiterentwickelte. Freud machte deutlich, dass sich Unbewusstes vorwiegend intuitiv, durch Bilder, Träume, Verhalten und Empfindungen bemerkbar macht.

Manipulierbarkeit

Die Annahme, Menschen seien über ihr Unbewusstes manipulierbar, weckte im Kalten Krieg das Interesse der Geheimdienste wie auch das der Marketingforschung. Es ging darum zu erkunden, ob, wie und wie stark sich das Unbewusste lenken lässt. So sorgte 1957 der amerikanische Marketingexperte James Vicary für Aufruhr, als er publik machte, ein Kino in New Jersey habe 18 Prozent mehr Cola und 58 Prozent mehr Popcorn verkauft, weil das Publikum während des Films in kurzen, nicht bewusst wahrnehmbaren Sequenzen dazu angeregt wurde. Fünf Jahre später gab Vicary zu, dass das Experiment Betrug war, genauer gesagt eine PR-Aktion für seine damals neu gegründete Agentur. Auch der 1958 durchgeführte Versuch eines kanadischen Fernsehsenders, seine Zuschauer mit einer nicht bewusst wahrnehmbaren Botschaft zum Anrufen zu bewegen, scheiterte. Dass wir uns durch unbewusste Eingebungen nicht so stark manipulieren lassen, auf Befehl komplexe Tätigkeiten wie Telefonieren oder Einkaufen auszuführen, wurde in weiteren Experimenten mehrfach bestätigt.

Steht jemand aber bereits am Kiosk, mit der Absicht ein Getränk zu kaufen, kann ein geschickter Marketingimpuls die Kaufentscheidung durchaus beeinflussen. Ein wichtiger Faktor dafür ist, ob wir etwas bereits kennen. Dies belegen verschiedenste Studien. Werden Probanden beispielsweise zwei achteckige Formen vorgelegt und gefragt, welche ihnen besser gefalle, bevorzugt die Mehrheit die Form, die man ihnen zu einem früheren Zeitpunkt unbewusst wahrnehmbar bereits präsentiert hatte. Das gleiche Phänomen ließ sich auch in einem Experiment mit Gesichtern beobachten: Die Probanden schätzten die Personen als berühmter ein, deren Fotos sie zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal vorgelegt bekommen hatten.

Solche Präferenzen entstehen durch das unbewusste Vorbereiten und Anbahnen einer Informationsverarbeitung, genannt »Priming«. Der anbahnende Reiz kann durch ein Bild, einen Geruch, eine Geste, ein Wort oder Ähnliches ausgelöst werden und stößt Verbindungen mit Gedächtnisinhalten an. Dieser unbewusste Informationsmix beeinflusst maßgeblich bewusste Entscheidungen. In diesem Zusammenhang löste der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet 1979 eine viel beachtete Debatte über den freien Willen aus. Libet hatte seine Probanden in einem Experiment gebeten, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt ihre Hand zu bewegen. Das Monitoring zeigte, dass die entsprechenden Hirnaktivitäten bereits einsetzten, bevor die Probanden den Entschluss, ihre Hand zu bewegen, bewusst getroffen hatten. Die Forschung kam zum Schluss, dass das Unbewusste das Bewusste wohl stärker steuert als umgekehrt. Oder wie es der deutsche Psychologe und Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz ausdrückt: »Wir tun nicht, was wir wollen, wir wollen, was wir tun.«

John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin publizierte 2008 im Fachblatt »Nature Neuroscience« eine Wiederholung von Libets Experiment unter neuen Voraussetzungen. Seine Probanden sollten entscheiden, ob sie einen linken oder einen rechten Knopf drücken. Ein Kernspintomograf zeichnete dabei die Hirnaktivitäten auf. Anschließend wiederholte Haynes das Experiment. Anhand der zuvor gesammelten Hirnaktivitätsmuster konnte der Wissenschaftler in 60 bis 70 Prozent der Fälle korrekt voraussagen, ob seine Probanden den rechten oder den linken Knopf drücken würden. Die Entscheidung fiel üblicherweise eine halbe bis eine Sekunde vor der eigentlichen Bewegung. Das Forschungsteam beobachtete aber auch Hirnäktivitäten, die sehr früh – bis zu sieben Sekunden davor – anzeigten, wie sich jemand entscheiden würde. »Das heißt, das Gehirn hat Informationen über eine Entscheidung, die jemand erst sieben Sekunden später glaubt zu fällen«, hält Haynes fest.

Aufgrund dieses Befundes stellte sich die Frage, ob man einer solchen Entscheidung ausgeliefert ist oder ob die Möglichkeit besteht, einen durch die Hirnaktivitäten angebahnten Entschluss kurzfristig zu korrigieren. So wurden die Probanden in einem weiteren Experiment vom Team um Haynes gebeten, einen Knopf am Fußboden zu betätigen, sobald sie ein grünes Licht sehen. Steht das Licht auf Rot und sie drücken dennoch den Knopf, haben sie das Spiel verloren. Dabei gab es eine List: Zum Zeitpunkt, als die vorbewussten Hirnaktivitäten dem Computer anzeigten, dass ein Proband bei Grün den Knopf auslösen wird, schaltete das System ganz kurzfristig auf Rot. Gelang es den Probanden, den Impuls zu stoppen und noch den richtigen Kopf zu drücken? »Wenn man sich das ganz genau anschaut, stellt man fest, dass die Probanden, nachdem das Gehirn die vorbereitende Aktivität getroffen hat, die Bewegung noch anhalten können. Sie können also die Entscheidung noch abbrechen. Das widerspricht der Interpretation des Libet-Experimentes, nach der dieser Prozess wie eine Dominokette ist, bei der man nicht mehr eingreifen kann«, erklärt John-Dylan Haynes.

Bewusstes Eingreifen in die unbewussten Konditionierungen war ein Thema, mit dem Joseph Murphy (1898–1981) einen internationalen Longseller schuf: »Die Macht Ihres Unterbewusstseins« verkaufte sich seit der Erstpublikation im Jahr 1962 allein in Deutschland über 2,5 Millionen Mal. Murphy, der in Irland Jura, Philosophie und Religionswissenschaften studiert hatte, trug in Kalifornien als Vertreter der sogenannten Neugeist-Bewegung dazu bei, die »Macht des positiven Denkens« (Kapitel 3.4) populär zu machen.

Murphys zentrale Aussage war, dass das Unbewusste mittels Affirmationen und Autosuggestionen aktiv gestaltet werden könne, ähnlich wie bei Hypnosepraktiken (Kapitel 4.9): »Was man dem Unbewussten als wahr übermittelt, wird wahr.« Murphys These inspirierte zur Entwicklung zahlreicher Methoden mit dem Zweck der Selbstmanipulation des Unbewussten. Diverse Studien lassen den Schluss zu, dass hoch motivierte Menschen mit wenig Angst vor Misserfolgen durchaus von affirmativem Arbeiten mit dem Unbewussten profitieren mögen. Für Menschen, denen es schwerfällt, sich selbst zu motivieren, könnte sich dieses Vorgehen aber eher als hinderlich erweisen – weil der Erfolg der Affirmationen aufgrund der unbewussten Voraussetzungen ausbleiben mag.

Konditionierungen

Großen Einfluss auf das Unbewusste hat der Umstand, dass wir evolutionsbedingt stets wachsam und aufmerksam gegenüber Ereignissen sind, die unsere Existenz oder unser Selbstwertgefühl bedrohen könnten. In stabilen industrialisierten Ländern ist die Gefahr, dass uns ein wildes Tier angreift oder unvermittelt ein Krieger in der Haustür steht, eher gering. Großflächige Feuer wie in Kalifornien oder Australien und auch Bedrohungen durch neuartige Viren machen jedoch deutlich, dass unsere unbewussten, auf Selbstschutz ausgerichteten Konditionierungen noch immer von Nutzen sind. Auch im ungefährlichen Alltag registrieren wir nachhaltig alles, was uns irgendwie gefährden oder verletzen könnte. Dagegen beachten wir normalerweise wenig, was uns stärkt. Kritisiert man beispielsweise eine andere Person, wird sie ziemlich sicher postwendend reagieren und sich verteidigen. Spricht man aber ein Lob aus, kommt vom Gegenüber oftmals gar keine Rückmeldung.

Dafür, dass wir unbewusst unseren Selbstwert schützen, spricht auch das Verdrängen von Fehlverhalten oder Verbrechen. Davon zeugen unter anderem unzählige Gerichtsprozesse, bei denen sich die Täterin oder der Täter ernsthaft keines Verschuldens bewusst ist, obwohl die Sachlage eindeutig für das Gegenteil spricht. Auch abseits kriminellen Verhaltens werten wir eigenes Verschulden im Allgemeinen als eher gering und messen Fehlern von Mitmenschen weit mehr Bedeutung zu.

Kollektives

Dieses einseitige Werten äußert sich ebenso im Kollektiven: Jede Gemeinschaft brüstet sich zu Recht gern mit ihren Erfolgen. Wenn es aber darum geht, zu Fehlern oder gar Verbrechen wie einem Völkermord zu stehen, sind die Verdrängungsmechanismen stark. Insbesondere der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961) sah im kollektiven Unbewussten einen Einflussfaktor, der die persönlichen Erfahrungen unter Umständen überlagern und prägen kann: »Das kollektive Unbewusste ist die gewaltige Erbmasse der Menschheitsentwicklung, wiedergeboren in jeder individuellen Struktur«, erklärte Jung. Es dauerte lange, bis die Bedeutung dieses Vorgangs ins Bewusstsein der Forschung gelangte. Heute bestätigt jedoch die sogenannte Epigenetik (Kapitel 5.2), dass sich prägende Erfahrungen im Erbgut festsetzen und über Generationen weitergegeben werden können. Das gilt für traumatische Ereignisse ebenso wie beispielsweise für Nikotinsucht, Liebesentzug, Pestizidbelastungen oder Vitaminmangel. Werden traumatische Erlebnisse von ganzen Familien, Gemeinschaften oder Völkern kollektiv ins Unbewusste verdrängt, kann dies das Verhalten der Gruppe sowie das jedes Individuums in der Gruppe über Generationen hinweg unterschwellig beeinflussen.

Das kollektive Unbewusste

ist die gewaltige Erbmasse

der Menschheitsentwicklung,

wiedergeboren in jeder

individuellen Struktur.

— Carl Gustav Jung, Psychiater

Kreativität

Weil die Suche nach Heilmethoden für psychisch erkrankte Menschen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Unbewussten anstieß, haftet ihm bis heute etwas Pathologisches an. Es ist ein Reich außerhalb unserer Kontrolle. Das passt schlecht in unser Weltbild und zum Umgang mit uns selbst.

Auch die Forschung an der medizinischen Fakultät der Universität Iowa (USA) war nicht immer frei von Vorbehalten gegenüber dem Unbewussten. Dort ging man lange von der Arbeitsthese aus, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen unter Personen mit stark ausgeprägter Kreativität und ihren nächsten Verwandten höher sei als unter weniger kreativen Menschen. Bekannt ist etwa, dass James Joyce oder auch Albert Einstein schizoide Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen und Joyce eine Tochter, Einstein einen Sohn mit Schizophrenie hatten.

Für ihre Studien kann die Universität Iowa unter anderem auf die Zusammenarbeit mit einer 1936 gegründeten Schriftstellervereinigung zählen, der bis heute eine Reihe berühmter amerikanischer Autoren angehören. Neuere Studien der Universität Iowa kommen jedoch zu dem Schluss, dass Menschen mit stark ausgeprägter Kreativität nicht häufiger psychisch erkranken als solche mit einer geringeren Ausprägung dieses Merkmals. Dennoch gibt es im Erbgut Hinweise auf Zusammenhänge. Dies hat eine Studie der Gentechnik-Firma Decode Genetics in Reykjavik gezeigt. Genetische Merkmale, die ein überdurchschnittliches Risiko für Schizophrenie und bipolare Störungen anzeigen, finden sich zu 17 Prozent häufiger im Erbgut von künstlerisch tätigen Menschen. »Die Ergebnisse unserer Studie sind eigentlich nicht überraschend, denn um kreativ zu sein, muss man anders denken als die Masse, und das tun auch Menschen, die wegen bestimmter genetischer Faktoren anfälliger für eine Schizophrenie sind«, erklärt Kari Stefansson von Decode Genetics. Zu ähnlichen Resultaten kamen weitere Studien mit 8 900 schwedischen und 18 400 niederländischen Teilnehmern. Tatsächlich belegt die Psychiatrie, dass psychotische Personen Dinge oft auf neue und ungewohnt kreative Weise wahrnehmen und interpretieren. Gleichermaßen setzt Kreativität die Fähigkeit zu unkonventionellen Gedankengängen voraus. Das Image des zerstreuten Professors oder der schrulligen Künstlerin im Vergleich zum biederen Buchhalter ist also nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die genetische Gemeinsamkeit bedeutet jedoch nicht, dass Kreativität mit psychischen Erkrankungen einhergehen muss.

Geistesblitz

Kreativität schöpft zu einem Großteil aus dem Unbewussten und manifestiert sich oft als Geistesblitz mit entsprechend flüchtigem Charakter. Wer kreative Impulse nutzen möchte, tut gut daran, sie sofort zu notieren, um später, bei der Ausarbeitung, daran anknüpfen zu können. Im Allgemeinen geht der Kreativität ein Prozess voraus: Dabei werden Informationen gesammelt und Fähigkeiten eingeübt. Danach braucht es Muße. Der Organismus benötigt Zeit und Freiheit, sich aufgrund der gesammelten Daten und Fähigkeiten neu zu konstituieren. Bildgebende Verfahren belegen, dass der Kopf in der Zeit der vermeintlichen Ruhe überaus aktiv arbeitet. Der primäre Kortex, also jener Bereich, der zu Bewusstsein befähigt (Kapitel 2), erweist sich dabei als aktivste Hirnregion.

Ausschlaggebend für kreative Ideen scheint die Fähigkeit der Hirnzellen zu sein, sich in dieser Phase spontan neu verknüpfen und organisieren zu können. Es handelt sich um einen sogenannten dissoziativen Zustand. Das bedeutet, sich spontan und entspannt, ohne Lenkung und Zensur, wahllos Gedanken und Bilder durch den Kopf gehen zu lassen, die hauptsächlich aus dem Unbewussten schöpfen.

Es gibt Versuche, Kreativität zu messen – ähnlich wie IQ-Tests zur Messung von Intelligenz – und dafür gewisse Standards zu etablieren. Solche Tests beinhalten Fragen wie: »Wie viele Anwendungsmöglichkeiten können Sie für einen Backstein vorschlagen?« Aufgrund solcher Tests weiß man heute, dass zwischen hoher Kreativität und ebensolcher Intelligenz kein direkter Zusammenhang besteht. Die beiden geistigen Leistungen mögen wohl korrelieren, sind aber grundsätzlich voneinander unabhängig.

Chaos mischt auf

Geforscht wird in Iowa mit Unterstützung von nachweislich herausragend kreativen Menschen, etwa Nobel- oder Pulitzer-Preisträgern. Dabei haben bildgebende Verfahren gezeigt, dass sich Kreativität bei Künstlern und Wissenschaftlern anhand der Hirnaktivitäten kaum unterscheiden lässt. Kreativität ist also unabhängig von der Thematik, mit der man sich befasst. Basis dafür sind eher die sich selbst organisierenden dynamischen Systeme der Chaostheorie. Dies bedeutet, dass Kreativität auf unvorhersehbaren, nichtlinearen Prozessen beruht, die aus allem schöpfen, was wir im Laufe der Zeit unbewusst wie auch bewusst gespeichert haben.

Generell schlagen Systeme, die auf der Chaostheorie basieren, stärker als etablierte Systeme aus und fördern Verknüpfungen abseits des Gewohnten. Das macht sie fragiler und instabiler als starre Systeme. Dieser Umstand könnte erklären, weshalb extrem kreative Menschen zwar nicht zwangsläufig, aber tendenziell doch eine gewisse psychische Fragilität aufweisen.

Entfällt jedoch dieser choaotische Seiltanz im Leben eines Individuums oder in einer Gesellschaft, kann sich auch der stabile Zustand kritisch entwickeln. So sagt etwa der deutsche Neuropsychologe und Autor Ernst Pöppel: »Kreativität ist ein wichtiges Merkmal eines ausgeglichenen Menschen. Führen Sie sich deshalb abends Ihren Tag vor Augen und fragen Sie sich, was Sie Kreatives geleistet haben.« Wenn man feststellt, dass man nur abgearbeitet, erledigt, reagiert habe, sei es an der Zeit für eine kreative Pause.

1.5 BEWUSSTES

Ein Geschenk, das wir nicht nur schätzen

Malen Sie einem Bekannten, während er oder sie schläft, unbemerkt einen Fleck auf die Stirn, wird die Person nach dem Aufwachen vor dem Spiegel den Fleck entfernen. Würden Sie dasselbe mit einem Kleinkind tun, das noch keine eineinhalb Jahre alt ist, würde das Kind versuchen, den Fleck auf dem Spiegel zu entfernen. Oder mit noch größerer Wahrscheinlichkeit würde es überhaupt nicht darauf regieren, weil es noch nicht erfassen kann, dass es im Spiegelbild die eigene Stirn sieht.

Der sogenannte Flecktest wurde in den 1970er-Jahren von dem amerikanischen Psychologen Gordon Gallup entwickelt. Er wird als Hinweis auf ein Ich-Bewusstsein verstanden. Dieses ermöglicht die Wahrnehmung von sich selbst als Individuum sowie die Unterscheidung zwischen mir und dir, zwischen Objekt und Subjekt. Lange ging man davon aus, dass nur Menschen über diese Fähigkeit verfügen. Mittlerweile ist erwiesen, dass auch einige Säugetiere den Flecktest bestehen: So vermögen sich etwa Menschenaffen, Elefanten und Delfine im Spiegel zu erkennen.

Ich-Bewusstsein ist nur eine Erscheinungsform von Bewusstsein. Beispielsweise sagt der Dalai Lama: »Die Definition des Bewusstseins ist Klarheit und Erkenntnis.« Wissenschaftlich gibt es aber bis heute keine Klarheit über das Phänomen. Generell ausgedrückt kann sich Bewusstsein ebenso auf die Wahrnehmungen der Außenwelt als auch auf Empfindungen der psychischen und physischen Innenwelt beziehen. Bewusste Prozesse lassen sich zu einem Großteil sprachlich ausdrücken. Wobei die Wissenschaft anerkennt, dass einige Tiere und auch Kleinkinder, die sich sprachlich nicht auszudrücken vermögen, zumindest über einige Formen von Bewusstsein verfügen. Auch kann in Ausnahmefällen bewusstes Erleben so vereinnahmend und allumfassend sein, dass selbst Erwachsenen schlicht die Worte fehlen, dieses präzise zu artikulieren, obwohl die Situation detailliert und tief im Bewusstsein verankert scheint.

Nach außen wie nach innen verfügt Bewusstsein über einen Reizschutz. Erst wenn Impulse eine gewisse Intensität erreichen, rücken sie ins Bewusste vor. Bewusste Prozesse sind langsamer und störungsanfälliger als unbewusste. Auch benötigt Bewusstsein wesentlich mehr Stoffwechselenergie als unbewusste Prozesse. Bewusstes Denken fokussiert Details, ist sehr präzise und verliert das große Ganze schnell aus dem Auge.

Interdisziplinärer Ansatz

Um Bewusstsein eine provisorische Struktur zu geben, schlugen die amerikanischen Philosophen Paul und Patricia Churchland 1997 sieben Merkmale vor:

Wichtigste Eigenschaften von Bewusstsein nach Churchland

1Bewusstsein ist mit einer Gedächtnisform verbunden und erfordert zumindest ein Kurzeitgedächtnis.

2Bewusstsein ist unabhängig von Sinneseindrücken.

3Bewusstsein lässt sich durch Aufmerksamkeit und Konzentration steuern.

4Bewusstsein befähigt zur komplexen Interpretation uneindeutiger Fakten.

5Bewusstsein verschwindet im Tiefschlaf.

6Bewusstsein taucht beim Träumen wieder auf.

7Mehrere sensorische Modalitäten werden als ein Bewusstseinszustand wahrgenommen.

Im vorliegenden Buch kommen Zustände und Prozesse zur Sprache, die grundsätzlich jeder gesunden Person offenstehen, beziehungsweise jeder Person, die durch spezifische Umstände vorübergehend in einen Ausnahmezustand (Kapitel 4) gerät. Das breite Feld von Bewusstseinszuständen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depression wird im Rahmen dieser Arbeit nur am Rande thematisiert. Das Ziel, psychische Krankheiten besser behandeln zu können, ist jedoch eine wichtige Triebfeder bei der Erforschung von Bewusstsein und verantwortlich für einen beträchtlichen Anteil der bisherigen Erkenntnisse. Der Wunsch zu heilen war auch ein Motiv auf der Suche nach Möglichkeiten, Bewusstsein gezielt ausschalten und wieder einschalten zu können, etwa um chirurgische Eingriffe vorzunehmen (Kapitel 4.18). Außerdem haben Hirnerkrankungen das Interesse an den Strukturen von Denken, Fühlen und Handeln stark gefördert. Insofern verdanken wir einen Großteil des heute vorhandenen Wissens über Bewusstsein Menschen, die sich stark mit ihren Defiziten auseinandersetzen mussten, und Menschen, die auf der Suche nach Lösungen sind.

Mittlerweile ist das wissenschaftliche Interesse an Bewusstsein enorm vielschichtig, was dem breiten Spektrum des Phänomens entspricht. Die Wissenschaft scheut sich nicht mehr, Bewusstsein eine grundlegende Bedeutung zuzuschreiben, und wertet es zunehmend als wichtiges Instrument der Evolution. So sagt Jeremy Hayward, Kernphysiker und Molekularbiologe an der Universität Cambridge: »Manche durchaus noch der wissenschaftlichen Hauptströmung angehörende Wissenschaftler scheuen sich nicht mehr, offen zu sagen, dass das Bewusstsein neben Raum, Zeit, Materie und Energie eines der Grundelemente der Welt sein könnte. Das menschliche Bewusstsein könnte möglicherweise sogar grundlegender als Raum und Zeit sein.« Der britische Mathematiker und theoretische Physiker Sir Roger Penrose mahnt: »Eine wissenschaftliche Weltanschauung, die nicht mit dem Problem des bewussten Geistes ins Reine kommt, kann nicht ernsthaft Vollständigkeit für sich beanspruchen. Bewusstsein ist Teil des Universums, deshalb kann keine physikalische Theorie, die dem Bewusstsein nicht einen angemessenen Stellenwert einräumt, eine wahre Beschreibung der Welt liefern.«

Die Hirnforschung kann immer klarer orten, wo im Gehirn bewusste Abläufe stattfinden (Kapitel 2). Trotz einer offensichtlichen Verbindung zwischen Bewusstsein und neuronalen Prozessen gibt es aber Indizien, dass Bewusstsein in außerordentlichen Fällen unabhängig vom Zustand des Gehirns vorhanden ist, und zwar in ungewohnter Klarheit und Präzision: etwa im Fall von Nahtoderfahrungen (Kapitel 4.19) oder bei sogenannter terminaler Geistesklarheit, die im Vorfeld des Todes unabhängig von einer geistigen Behinderung oder einer organischen Erkrankung des Gehirns öfters beobachtet wird. Belege existieren diesbezüglich vor allem von Menschen mit Alzheimer, die kurz vor ihrem Tod in vollem Bewusstsein über ihren Zustand und ihre Situation sprechen und sich beispielsweise nach dem Wohlergehen von Verwandten erkundigen, die sie zuvor über Jahre hinweg vermeintlich vergessen und nicht mehr erkannt hatten. Dazu sagt der US-amerikanische Alzheimer-Forscher und Harvard-Professor Rudolph Tanzi: »Wir hören ständig von solchen Berichten. Es ist ein vollständiges Mysterium. Wir wissen nicht wirklich, was da geschieht und wie das geschieht. Von einer wissenschaftlichen Perspektive aus werden wir es noch eine Weile nicht wissen. Aber es ist unbestreitbar, dass es geschieht.«

Eine wissenschaftliche Weltanschauung, die nicht

mit dem Problem des bewussten Geistes ins

Reine kommt, kann nicht ernsthaft Vollständigkeit

für sich beanspruchen.

— Sir Roger Penrose, Physiker

Phänomenales und introspektives Bewusstsein

Für unser Selbstbild ist es wichtig, dass wir beim Blick in den Spiegel bestätigen können: »Dieses Gesicht, dieser Körper, in diesem Raum – das bin ich.« Mit Namen, Geburtsdatum, Familie, Geschichte und Funktion. Dieses rudimentäre Bewusstsein über uns selbst ist allerdings nicht aussagekräftiger als: »Paris ist die Hauptstadt von Frankreich.« Erst wer Paris erlebt, weiß wirklich, wovon die Rede ist. Nur dann, wenn wir uns selbst erleben, können wir uns unserer selbst bewusst sein.

Die Fähigkeit, Reize bewusst zu erleben und nicht nur unbewusst zu verarbeiten, bezeichnet man als phänomenales Bewusstsein. Es wurde im Kapitel über das Leib-Seele-Problem bereits angesprochen und prägt unsere Persönlichkeit weit mehr als reine Fakten. Der US-amerikanische Philosoph John Searle folgert, dass Bewusstsein »der wichtigste Aspekt unseres Lebens« sei. Da es ohne Bewusstsein nichts Wichtiges für uns geben würde, könne nichts wichtiger sein als das Bewusstsein selbst.

Im Bewusstsein über sich selbst ist jener, der beobachtet, derselbe wie jener, der beobachtet wird. Dieses sogenannte reflexive oder introspektive Bewusstsein ist ein ganz besonderer Aspekt im breiten Spektrum all dessen, was unscharf als Bewusstsein bezeichnet wird. Ein Neugeborenes ist dazu kaum in der Lage, weil es sich noch weitgehend als Einheit mit dem Umfeld wahrnimmt. Im Laufe der Zeit setzt sich ein Kleinkind jedoch zunehmend in Beziehung zu seiner Umwelt und zu sich selbst.

Introspektion hat zur Folge, dass wir Umfeld, Verhalten, den eigenen Körper, Gedanken, Emotionen, Erinnerungen nicht nur wahrnehmen und erleben, sondern auch einordnen und werten. Das gibt uns die Möglichkeit, Situationen zu analysieren und Konsequenzen zu ziehen, unser Leben bewusst zu gestalten – beispielsweise eine Strategie für die berufliche Karriere zu entwickeln oder willentlich Fantasien zu kreieren. Reflexives Bewusstsein befähigt nicht zuletzt zur Entwicklung von Kultur, Wissenschaft und Recht. Es sorgt in allen Bereichen immer wieder für neue Herausforderungen, weil wir vergleichen, werten, Ziele definieren.

Selbstverantwortung

Gleichzeitig zu agieren und das eigene Agieren zu beobachten, ist nicht nur ein großes Rätsel im wissenschaftlichen Verständnis von Bewusstsein. Es fordert auch jeden einzelnen in seinem persönlichen Leben immer wieder heraus. Es kann vorkommen, dass man aus irgendeinem Grunde tobt und ganz die Wut selbst ist. Doch plötzlich ist es, als würde man sich von außen beobachten und den eigenen Auftritt werten – sich applaudieren oder das Verhalten unpassend finden.

So entsteht durch Introspektion gelegentlich auch Frustration. Weil man sich eines Missstandes bewusst wird und nach Lösungen sucht, diese aber nicht findet. Möglicherweise liegt es an äußeren Gegebenheiten wie zum Beispiel einem Krieg oder einer Wirtschaftskrise; oft tritt Introspektion aber auch in Konflikt mit Bequemlichkeiten, Gewohnheiten, unbewussten Konditionierungen oder Angst vor Veränderung. Was nützt beispielsweise das Bewusstsein darüber, dass man zu viel isst oder sich zu wenig bewegt, wenn man trotzdem auf dem Sofa klebt und Chips in sich hineinstopft, als gebe es kein Bewusstsein über diese Missstände? In einem solchen Moment würde man reflexives Bewusstsein gern zum Teufel jagen. Seine Präsenz weckt Schuldgefühle und kann zur Belastung werden, weil Forderungen nach Selbstverantwortung damit einhergehen: Je mehr uns bewusst ist, desto höher ist die Erwartung, den Erkenntnissen entsprechend zu handeln. Gesellschaftlich bemerkbar macht sich dieser Anspruch etwa im Gesundheitswesen: Manche Versicherer möchten die Patienten vermehrt zur Kasse bitten, wenn sie Dinge tun oder unterlassen, die der Gesundheit nachweislich abträglich sind.

Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi, emeritierter Professor der Universität Chicago, konstatierte: »Wenige Dinge sind trauriger, als einer Person zu begegnen, die genau weiß, was sie tun sollte, aber nicht genug Energie aufbringen kann, es zu tun.« Dringt ein Missstand bis ins Bewusstsein vor, stehen zwei Lösungswege zur Verfügung: die Radikalkur oder der Prozess des sogenannten Selbstmanagements. Die Radikalkur basiert auf Verstand und Zwang. Es wird ein klarer Schnitt gemacht, und Folgen wie beispielsweise Entzugserscheinungen werden ausgehalten. Der Weg des Selbstmanagements ist langwieriger. Man geht schrittweise vor, so wie man beispielsweise das Klettern erst in der Halle, dann an einem einfachen Felsen und erst zum Schluss an einem herausfordernden Berg übt. Wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass Menschen, die ein Problem lösen wollen und sich einer beratenden Fachbegleitung anvertrauen, beträchtlich erhöhte Erfolgschancen haben.

Kollektives Bewusstsein

Vieles, was wir individuell erleben, stimmt im Bewusstsein überein mit dem, was andere Menschen erleben. Je umfangreicher sich diese Gleichschaltung gestaltet, desto ausgeprägter ist das kollektive Bewusstsein. Als Fachausdruck wurde Kollektivbewusstsein von den Soziologen und Ethnologen David Émile Durkheim (1858–1917) und Alfred Vierkandt (1867–1953) etabliert. Es steht für die Gesamtheit der Glaubensvorstellungen einer Gesellschaft, oder wie es Durkheim ausdrückte: »Wir sind erst sicher, wenn wir sicher sind, dass wir nicht allein sicher sind.«

Natürlich gibt es auch Bestrebungen, sich bewusst von der Masse abzusetzten, sei es durch Mode, Kunst oder Ideologien. Eine solche Abgrenzung vom Kollektiven erfolgt aufgrund einer freien Entscheidung. Gleichzeitig kann eine Stigmatisierung aufgrund von Äußerlichkeiten wie einer Behinderung oder Entstellung dem Wunsch, ein gleichwertiges Mitglied des Kollektivs zu sein, im Wege stehen und so selbst in aufgeklärten Gesellschaften zur Belastung für die Betroffenen werden. Die Tatsache, dass nicht jedermann massentauglich ist, wirft Fragen der Toleranz auf; sie wird immer wieder neu diskutiert und ausgehandelt.

Wird sich eine Gesellschaft gewisser Missstände bewusst, gibt es, ebenso wie im individuellen Bereich, zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: abrupt oder Schritt für Schritt. Als die Nachricht über ein neuartiges Virus im chinesischen Wuhan um die Welt ging, fühlte sich die große Mehrheit der Menschen noch nicht betroffen. Dies änderte sich bekanntlich schlagartig innerhalb weniger Monate, und die meisten Regierungen verordneten im Kampf gegen das Coronavirus sehr kurzfristig so radikale Maßnahmen wie kaum zuvor in der Menschheitsgeschichte. Dieser Ausnahmezustand machte bewusst, dass Länder zwar ihre Grenzen schließen können, aber dadurch das globale Problem nicht lösbar ist. Auch die Atomreaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 veränderte das globale Bewusstsein: Ein schrittweiser Ausstieg aus der Atomenergie steht seither in vielen Ländern fest auf der politischen Agenda. 2017 entzündete das Outing über das Gebaren des ehemaligen Filmmoguls Harvey Weinstein in Hollywood einen Funken, der weltweit zu Betroffenheitsbewegungen führte: Beispielsweise beteiligten sich an der ersten landesweiten Frauendemonstration in Spanien im März 2018 über 5 Millionen Frauen. Erst die emotionale Betroffenheit vieler durch dokumentierte persönliche Schicksale der betroffenen Frauen, beispielsweise auch im Zusammenhang mit Jeffrey Epsteins Wirken, hat die Bewegung öffentlich in Gang gesetzt. Dieser Umstand zeigt, dass Emotionen (Kapitel 3.3) ein entscheidender Auslöser für Bewusstseinsprozesse sind. Bis die Erkenntnisse Konsequenzen auslösen, kann es allerdings dauern. Beispielsweise schrieben die Vereinten Nationen bereits 1999 : »Allein 1993, so die Schätzung der Weltbank, war Gewalt gegen Frauen eine ebenso ernste Todesursache oder Grund für Behinderungen bei Frauen im gebärfähigen Alter wie Krebs und führte noch häufiger zu gesundheitlichen Problemen als Verkehrsunfälle und Malaria zusammengenommen. […] Allein in den Vereinigten Staaten kostet Gewalt gegen Frauen die Wirtschaft $100 Millionen aufgrund von Lohnausfall, Krankenstand, Fehlen am Arbeitsplatz und mangelnder Produktivität.« 2019 schätzten die Vereinten Nationen, dass täglich 137 Frauen durch Gewalt von Männern getötet werden.

Wie sich Bewusstseinsprozesse entwickeln, ist schlecht kalkulierbar. Stolpersteine, die tatsächliche Veränderungen behindern, sind im kollektiven Bewusstsein nicht minder zahlreich als im individuellen: In der Politik etwa ausgelöst durch den Wunsch, wiedergewählt zu werden und die Macht zu erhalten, in der Wirtschaft durch die Ausrichtung auf Profit, in der Gesellschaft bedingt durch Tradition, Bequemlichkeit und Ego. Nicht zuletzt ist immer wieder Hilflosigkeit feststellbar, wenn es darum geht, die Lösung für ein Problem zu finden. Erste Voraussetzung dafür ist das sogenannte intentionale Bewusstsein und damit die Fähigkeit, bestimmte Einstellungen, Wünsche, Absichten, Ziele und Überzeugungen zu haben und entsprechend zu handeln.

2 – DAS GEHIRN

2.1 EINFÜHRUNG

Zentrale bewusster und unbewusster Verarbeitung

»Braucht es dein Gehirn wirklich?« Diese provokative Frage stellte der britische Kinderarzt John Lorber (1915–1996) in seinem 1980 publizierten Beitrag für die Fachzeitschrift »Science«, in der er den Fall eines Studenten schildert, der einen Intelligenzquotienten von 126 aufwies und ein Mathematikgenie war. Und dies, obwohl der Kortex des jungen Mannes – also die Hirnrinde, die ausschlaggebend ist für kognitive Fähigkeiten – stark reduziert war. Grund dafür war ein Hydrozephalus, der zur Folge hatte, dass sein Kopf im Übermaß mit Gehirnwasser gefüllt war, das Druck auf das Hirngewebe ausübte. Zu den typischen Symptomen zählen kognitive Einschränkungen und bei erhöhtem Druck auch Bewusstseinsstörungen. Der von Lorber untersuchte Student hätte aufgrund seiner stark reduzierten Großhirnrinde nach allgemeinem neurologischem Verständnis alles andere als ein Mathematikgenie sein sollen.

Der Student ist jedoch kein Einzelfall. Überrascht war auch der Neurologe Lionel Feuillet, als er 2004 an der Universität Marseille Hirnscans an einem 44-jährigen Mann vornahm. Als Kind wurde bei diesem Hydrozephalus diagnostiziert. Eine Drainage sorgte dafür, dass die überschüssige Hirnflüssigkeit abfloss. Die Drainage wurde schließlich im Alter von 14 Jahren entfernt. Wie sich zeigte, hatte sich der Kopf im Laufe der Zeit wieder mit Hirnwasser gefüllt. Feuillet stellte eine Reduktion der Hirnmasse von schätzungsweise 50 bis 75 Prozent fest, genauere Angaben konnte er nicht machen, da sie keine Software nutzten, um das Volumen zu messen. Nichtsdestotrotz lebte der Mann ein normales Leben, arbeitete als Beamter, war verheiratet, hatte zwei Kinder.

Es sind zahlreiche weitere Fälle dokumentiert, die aufgrund der anatomischen Beschaffenheit des Gehirns andere Erwartungen auslösen als das Leben, das die Betroffenen tatsächlich führen. John Lorber kam in seiner erwähnten Studie zu dem Schluss, dass etwa 10 Prozent der von ihm untersuchten Fälle per Definition über kein funktionstüchtiges Gehirn verfügten, weil es bis zu 95 Prozent aus Flüssigkeit bestand. Dennoch sei die Hälfte dieser Personen geistig gesund.

Ein unerklärlich normales Leben trotz defizitären Gehirnzuständen hatte bereits 1896 zwei Forscher beschäftigt. George Gould und Walter Pyle verfassten zu diesem Thema das Standardwerk »Anomalies and Curiosities of Medicine«. In diesem Buch beschrieben sie unter anderem den Fall einer verunglückten Textilarbeiterin im Jahre 1879: Während der Arbeit durchbohrte eine große Schraube einer Maschine den Kopf der jungen Frau. Es mussten die durch die Schraube zerstörten Hirnteile und weiteres Gewebe entfernt werden. Trotzdem lebte die Frau nach dem operativen Eingriff 42 Jahre ohne Einschränkungen weiter.

Neuroplastizität

Die große Mehrheit der Hirnverletzungen bleibt allerdings nicht ohne Folgen (siehe Kapitel 3.3). Und so stellt sich die Frage, weshalb die Menschen in den oben erwähnten Beispielen mit ihrem besonderen Gehirn gut zurechtkommen. Eine Antwort darauf versucht der kanadische Psychiater Norman Doidge zu geben, der mit seinem 2007 veröffentlichten Buch »Neustart im Kopf – Wie sich unser Gehirn selbst repariert« einen weltweiten Bestseller schuf. In diesem Buch wird unter anderem der Fall einer Frau beschrieben, die von Geburt an über nur eine Hirnhälfte verfügte. Dennoch konnte sie normal sprechen lernen. Den Grund für solche Phänomene sehen Doidge und weitere Wissenschaftler in der sogenannten neuronalen Plastizität. Neuroplastizität sei die Fähigkeit des Gehirns, als Antwort auf Aktivitäten und mentale Erfahrungen die eigene Struktur und Funktionsweise zu verändern, erklärt Doidge.

Neuroplastizität kann gut oder schlecht für uns sein. Nicht wünschenswert ist es, wenn ein Gehirn aufgrund gewisser Erfahrungen Fehlfunktionen entwickelt, die beispielsweise die Basis sind für Angstzustände oder Zwangshandlungen. Eine Voraussetzung, um sich Neuroplastizität positiv zunutze zu machen, ist laut Doidge eine Veränderung der Einstellung zum Gehirn. Das könne funktionieren, wenn sich die betroffene Person beim Auftreten ihres Problems nicht mit den Vorgängen im Gehirn identifiziert. Vielmehr müsse sie sich davon distanzieren und sich sagen, dass da gerade eine Fehlschaltung im Kopf laufe und dieser Impuls ignoriert werden könne. Doidge empfiehlt, Impulse des Gehirns achtsam unter die Lupe zu nehmen, ihnen auch mal Einhalt zu gebieten, sie unter Umständen zum eigenen Wohl zu korrigieren. Ein solcher Umgang mit neuronalen Impulsen setzt voraus, dass man ihrer gewahr wird und bereit ist, im Dialog mit dem Gehirn eine neutrale Position oder gar eine Gegenposition einzunehmen.

Um die Plastizität des Gehirns zu trainieren, braucht es regelmäßig frische Impulse, neue Herausforderungen und unterschiedliche Anregungen. Abträglich sind sich ständig wiederholende Reize: Sie wirken einschläfernd, und im Laufe der Zeit automatisiert sich die Reaktion auf den Reiz (Kapitel 4.4). Eintönigkeit bewirkt über längere Zeit einen Verlust an Elan und Antrieb. Permanenter Stress ist jedoch auch nicht gesund. Speziell in modernen Gesellschaften neigt der Mensch zur Kopflastigkeit. Wir werden von klein auf getrimmt, das Gehirn intensiv zu nutzen, aber wir werden kaum dazu ermuntert, dem Kopf Pausen zu gönnen – etwa beim Tagträumen oder einem Spaziergang in der Natur.

Entwicklung zum Hype

Als dynamisches, sich ständig wandelndes und entwickelndes Organ, das pausenlos aktiv ist, hat das Gehirn den höchsten Bedarf an Sauerstoff und Energie. Obwohl die Hirnmasse beim Menschen nur etwa 2 Prozent des Körpergewichts ausmacht, beansprucht das Kopforgan fast ein Viertel des gesamten Energiebedarfs, in Stresssituationen sogar bis zu 90 Prozent. Diese Energie kann das Gehirn weder selbst produzieren noch speichern. Entsprechend sensibel reagiert es auf Sauerstoffmangel oder Unterzuckerung. Als Schaltstelle, die die Körperfunktionen koordiniert und auswertet, stellt das Gehirn zuerst die eigene Energieversorgung durch den Organismus sicher und teilt erst danach die übrige Energie dem Körper zu. Setzen die Hirnaktivitäten längere Zeit aus, steht im Allgemeinen der Tod bevor. Wobei es hierbei Ausnahmen gibt (siehe Kapitel 4.19).