Waschen, schneiden, föhnen - Maria Antas - E-Book

Waschen, schneiden, föhnen E-Book

Maria Antas

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Beschreibung

Ob die Perücke der Pompadour, der Afrolook von Angela Davis, die Pilzköpfe der Beatles, der Irokesenschnitt der Punks, der Bob der Karrierefrau oder das unter dem Kopftuch versteckte Haar - Maria Antas unternimmt einen Streifzug durch die Kulturgeschichte des Haars und führt uns durch verschiedene Zeiten, Länder und Kulturen, langweilig wird uns dabei nie.

Welche Frau hat nicht schon einmal mit ihrer Frisur gehadert, so auch Maria Antas, deren blondes Haar schon immer zu fein war, um es zu der wilden Mähne jener Hollywood-Schauspielerin hoch zu trimmen, die sie als junges Mädchen für ihre Haarpracht so bewunderte. Nichts half, weder Lockenwickler, Föhn noch Dauerwelle. Wozu also die ganze Schönheitsindustrie? Am Ende hat sich auch die Haarmode in Hollywood verändert, und Maria Antas hat sich mit ihrer Frisur versöhnt.

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Seitenzahl: 185

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Maria Antas

Waschen, schneiden, föhnen

Eine Kulturgeschichte des Haars

Aus dem Finnlandschwedischen von Ursel Allenstein

Insel Verlag

Inhalt

ERSTER TEIL. HAARE UND GEDANKEN SIND SCHWER ZU BÄNDIGEN

VOR DEM BADEZIMMERSPIEGEL

Ein ruhiger und zweiflerischer Moment

ZWEITER TEIL. MEIN HAAR – EINE BIOGRAPHIE

MEIN HAAR

hat eine schöne Farbe, aber keinen Stand

MEIN HAAR

braucht fünfzehn Fläschchen Pflege

DRITTER TEIL. DIE HAARE DER ANDEREN – EINE INTERKONTINENTALE ANGELEGENHEIT

WAS IST VERKEHRT AN KRAUSEM HAAR?

Perücken, Läuse und Freiheitskampf

WAS IST VERKEHRT AN KURZEM HAAR?

Fotomodels, Wasserwesen und öffentliche Züchtigung

WAS IST VERKEHRT AN PLATTEM HAAR?

Fett, Puder und Rokokoperücken

WAS IST VERKEHRT AN UNBEDECKTEM HAAR?

Das Kopftuch, das die Frau festhält

VIERTER TEIL. unter der polierten oberfläche

HAARREBELLION

als Aufschrei oder Ironie

Auf Deutsch zitierte Quellen

Inspirationsquellen

ERSTER TEIL

HAARE UND GEDANKEN SIND SCHWER ZU BÄNDIGEN

VOR DEM BADEZIMMERSPIEGEL

Ein ruhiger und zweiflerischer Moment

Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel, ich sehe mich und sehe mich doch nicht. So ist es fast jeden Morgen, wenn ich mich frisiere und schminke. Mein Blick weiß ja schon, was ihn erwartet; er kennt meine Gesichtszüge in- und auswendig, kann sich stattdessen gedankenverloren nach innen richten, schwebt zwischen dem langsamen Müßiggang nach dem Aufstehen und der ebenso langsam erwachenden Lust auf den Arbeitstag.

Ich brauche mich nicht zu sehen, meine Hände bewegen sich wie von selbst. Greifen kleine Pinsel und Bürsten, runde Lippenstifte, verteilen eine Tagescreme, die vergrößerte Poren und rote Flecken kaschieren soll. Die Finger der einen Hand umschließen den Griff des Föhns und die der anderen den Griff einer Bürste. Das Haar soll gezähmt werden; ich beginne mit der linken Kopfhälfte, gehe dann zum Nacken über, wohl wissend, dass ich erst meinen Pony in Form blasen müsste, bevor er von selbst trocknet. Aber die automatisierten Bewegungen sind stärker als der bewusste Plan, der kurz in meinem Kopf aufblitzt und den mein Friseur dort verankert hat.

Das Licht über meinem Gesicht ist unvorteilhaft und außerdem unzureichend. Die Leuchtröhre über dem Badezimmerschrank steckt hinter einer Schutzhülle aus Plastik; die Wärme von innen hat sie gelb verfärbt, sie müsste ausgetauscht werden.

Am Ende noch Haarspray über das Haar und Puder aufs Gesicht.

Hier stehe ich, ohne mich selbst zu sehen und glaube trotzdem, ich würde mich für andere sichtbar machen. Ich hege und pflege mein Haar ganz so wie immer, doch plötzlich unterbreche ich mein Morgenritual. Wie fühlt sich mein Haar an den Fingerspitzen an? Kann ich mit meinen Verrichtungen nicht einen Moment innehalten und wahrnehmen, was da entsteht oder schon entstanden ist? Denn meine Föhnfrisur ist vergänglich, nur ich sehe sie im ursprünglichen Zustand. Sobald ich Föhn und Bürste wieder an ihren Platz lege, geht sie ihrer Verwandlung und ihrem Untergang entgegen. Ja, hier muss ich innehalten, muss die Bürste auf der Kopfhaut spüren, den wärmenden Föhn. Ich muss die Verwandlung sehen.

Vor ein paar Jahren schrieb ich ein Buch über das Putzen, auch das eine automatische Verrichtung, die andere nicht wahrnehmen und die zugleich bestimmt ist von überlieferten oder erlernten Ritualen, die mit Erinnerungen verbunden sind. Meine putzenden Hände, die Hände im Haar, sind meine Verbindung zur Außenwelt. Und trotzdem bin ich viel zu oft automatisiert und blind gewesen. Meine Hand hält inne, ich sehe mir in die Augen und versuche die beunruhigenden Gedanken zu fassen, die zwischen den Neuronen in meinem Gehirn hervorschnellen. Ich weiß ja, warum ich die automatischen Bewegungen übernommen habe, ich habe die Augen verschließen wollen. Denn ich weiß: Ich versuche schon so lange, mein Haar zu etwas zu trimmen, was es nicht sein will, versuche, es voller aussehen zu lassen, als es ist. Meine Hand war nicht nett zu mir, ganz und gar nicht.

Das Bedürfnis, Nähe zwischen uns und unserem Körper herzustellen, ist tief in uns verankert, selbst wenn wir dies dadurch bewerkstelligen, dass wir unbewusst Sachen anziehen, die eher bequem sind als sexy oder jeden Tag unser Haar bürsten, ohne uns dabei im Spiegel zu betrachten. Indem wir gedankenverloren und routiniert den eigenen Körper berühren, versetzen wir ihn in jeden neuen Tag und in eine ruhige oder qualvolle Nacht. Unsere Fingerspitzen besitzen mehr Tastrezeptoren als jeder andere Teil des Körpers. Außerdem haben die Nervenenden an den Fingerspitzen eine Qualität, die sich von anderen Sensoren unterscheidet, sie sind mit jenen Bereichen des Gehirns verbunden, die Hormone produzieren und mit Wohlbefinden und stillem Glück verbunden werden. Berühren wir unseren Körper, unsere Haare, rauschen die Gefühle mit uns davon, nicht wie in einem Drogenrausch, sondern eher gedämpft, so wie jetzt: im Schnitt zwischen Morgen und Tag oder zwischen Abend und Nacht, wenn wir unsere Gesichter waschen, unsere Haare kämmen und Ruhe vor dem Schlaf finden wollen.

Es ist Morgen, und nach der alltäglichen Begegnung zwischen Fingern und Kopfhaut im Badezimmer wartet draußen eine große Welt der Begegnung mit vielen Menschen auf mich. Ich trete auf die Straße, komme an meinen Arbeitsplatz, muss mich mit meinem Körper in den nicht mehr privaten Raum einordnen. Schon auf dem Weg dorthin habe ich mich verändert. Die persönlichen Gefühle vor dem Badezimmerspiegel trage ich in meinem Inneren. Von außen beobachte ich mich selbst und passe auf, dass ich keine ungeschriebenen Gesetze breche – durch fettige Haare oder zu viele Schuppen auf meinen meist schwarzen Kleidern. Inzwischen bin ich nicht mehr eins und heil, sondern doppelt und gespalten.

Doch genau dort, im Spalt zwischen meinen beiden Ichs, erkenne ich eine Möglichkeit. Es ist an der Zeit. Ich stehe wieder auf. Ich will wissen, warum ich meinem Haar gegenüber immer so zögerlich war und solche Schwierigkeiten hatte, es zu respektieren. In diesem Spalt entsteht ein Durchzug. Ich sehe die anderen Menschen nur schemenhaft, Frisuren, Farbe und Form aber sehe ich deutlich. Wie bringt ihr zustande, was mir nicht gelingt?, möchte ich ihnen zurufen.

Die alltäglichen Schönheitsrituale und -normen waren immer schon Gegenstand von Kritik und Hohn. Ich kann bestätigen, dass schon die alten Römer (vgl. Tacitus, ich weigere mich, seine Bemerkungen über die Haarmode zu zitieren, sie sind so verächtlich) diese Kunst beherrschten. Wer Make-up auflegt, ist im schlimmsten Fall ein Opfer von Gehirnwäsche. Zu den größten Mythen gehört, dass Feministinnen und lesbische Frauen per se kurzhaarig und ungeschminkt sind.

Die Trends und Haarikonen der Geschichte wurden kanonisiert, es gibt selbstverständliche Fixpunkte für die endlose Diskussion über Schönheit, flüchtige Macht und oft auch Untergang. Die französische Königin Marie Antoinette und ihre Perücken etwa haben Kulturforscher, Regisseure und Schulbuchverfasser gleichermaßen fasziniert. Marilyn Monroes blondes Haar wurde seit den 1950er Jahren unaufhörlich von allen Seiten analysiert. Auch Coco Chanel wurde mit ihrem Pagenkopf zu einer Ikone. Beyoncé und ihre Haargebilde sind regelmäßig ein Thema in den Lifestyle-Magazinen. Und dann haben wir noch all die namenlosen Fotomodelle, deren einzige Aufgabe es ist, Ikonen ihrer selbst zu werden und die Vorstellung einer schönen Frau zu verkörpern; sie ballen sich zu einer anonymen Masse zusammen, verheddert in ihren langen Beinen und ihrem langem Haar, das zum Teil ihre Gesichter verdeckt, alle so skulptural und schön.

Möge ich immer so gesund bleiben, dass ich meinen Körper weiter spüre, er ist meine Existenzgrundlage. Einige Male schon habe ich das Gefühl in meinem Körper verloren. Nicht im ganzen Körper, nur in einem Teil davon, eine Taubheit, die sich in meinem verrückten Alltag bemerkbar machte. Einmal verlor ich meinen linken Fuß. Er war noch da, ich konnte damit gehen und darauf stehen, doch ich spürte ihn nicht mehr. Jemand hätte mir zwei Zehen abhacken können, und ich hätte ruhig dabei zusehen können, wie das Blut herausströmt. Die Ursache der Gefühllosigkeit befand sich einen halben Meter weiter oben im Körper, im Rücken, der aufgrund eines angeborenen Defekts ein ziemlich unkontrollierbares Eigenleben führt und gern einmal Nerven einklemmt. Nach einer Operation bekam ich den Fuß zurück und pflege seither zu just diesem Körperteil ein besonders liebevolles Verhältnis.

Bei einer anderen Operation passierte hingegen das Umgekehrte. Ich wurde zum dritten Mal am Nacken operiert, und die schrecklichen Schmerzen verschwanden. Dafür bekam ich eine gefühllose Stelle an der rechten Schulter. Ein Nerv war geschädigt worden, und der Orthopäde konnte nichts anderes tun, als seinen Fehler zu bedauern. Natürlich kann ich ein glückliches Leben führen, auch ohne zu spüren, ob mir jemand ein Messer in den Fuß rammt oder meine rechte Schulter streichelt, aber es fühlt sich zweifellos seltsam an, wenn ich Bodylotion darauf verteile. Der Kontakt zwischen Hand und Schulter bricht plötzlich ab. Dabei würde ich so gern meinen ganzen Körper spüren.

Als Frau mittleren Alters in einem hochentwickelten westlichen Land lebe ich in großer Freiheit – jedenfalls würde ich das gerne glauben. Trotzdem weiß ich: Die Körperfixierung ist größer denn je. Um Pflege und Gesundheit des Körpers ist eine Megaindustrie entstanden; die Tochter des Gründers von L’Oréal war eine der reichsten Frauen der Welt. Das eigene Gesicht und Haar zu berühren, ist ein Abenteuer, eine ständige Erinnerung daran, dass wir leben; in uns selbst ruhen, aber auch anderen gegenüber präsent und deshalb verletzlich sind. Muslimische Frauen provozieren mit ihrem Kopftuch, ihrem Tschador oder ihrer Burka unsere westlichen Vorstellungen von Recht und Freiheit. Ein weiterer Graben, in den man sich werfen kann, wurde ausgehoben: Frauen, die ihr Haar bedecken, stehen im Kreuzfeuer ständiger Debatten. Niemand soll sich verstecken, aber es soll auch niemand gezwungenermaßen von strengen Verboten betroffen sein. Dass wir alle füreinander sichtbar sein sollen, ist ein schöner Gedanke, der im schlimmsten Fall jedoch zu einer merkwürdigen Variante von kulturellem und religiösem Mobbing wird.

Das Haar bewegt sich in einer spannenden Grauzone: Es ist ein Teil des Körpers und doch etwas vollkommen Eigenes, beinahe Fremdes. Es befindet sich immer auf dem Weg aus unserem Körper heraus, bis es uns eines Tages ganz verlässt. Jedes Haar stirbt nach seiner Blütezeit, es hat seinen vorgegebenen Lebenszyklus. Manchmal verlässt es uns aufgrund von dramatischen Ereignissen, die sich im Körper abspielen. Es ist ein Vorbote hormoneller Veränderungen, von Krankheiten, Trauer und Stress. Es schützt uns vor Hitze und Kälte, und wenn es fehlt, braucht die Kopfhaut einen anderen Schutz: Mützen, Tücher oder Perücken. Aber nicht immer hat man die Wahl. In Deutschland führte ein über siebzigjähriger Mann einen langen Kampf gegen seine Krankenversicherung, damit sie die Kosten für eine Perücke erstattete. Bedingt durch eine Krankheit war er kahlköpfig geworden, und die Kasse hatte drei Jahre lang die Rechnungen für seine Perücken übernommen. Anschließend war es mit der Unterstützung vorbei. Er klagte gegen die Kasse, doch die hielt dagegen: Genetisch bedingter Haarausfall sei unter Männern so verbreitet, dass man Kahlköpfigkeit nicht als Krankheit betrachten könne. Deshalb sei eine Kostenübernahme auf Dauer nicht vertretbar. Der Mann verlor den Prozess. Die Bedeutung des Haars, so stellte das Gericht fest, sei für Männer und Frauen unterschiedlich zu bewerten.

Noch habe ich meine Haare, ich kann sie drehen und wenden, ich betrachte sie jeden Morgen, weitaus öfter aber mache ich mir darüber Gedanken. Ich trete mit meinem vergleichsweise dünnen Haar in die Welt hinaus und verliere den Seelenfrieden, den ich spürte, als ich noch vor dem Spiegel stand, allein.

Ich verstehe mich nicht auf mein Haar.

Ich hasse es nicht.

Ich weiß nur nicht, wie ich damit umgehen soll.

Und wenn ich keine Haare hätte? Wenn ich mich voll und ganz dagegen entschieden hätte oder von einer Krankheit betroffen wäre, durch die mein Kopf für längere Zeit oder für immer nackt bliebe? Oder wenn es mir stellenweise ausfiele und ich kahle Flecken auf dem Kopf hätte, die ich dann so zu föhnen versuchen würde, dass sie die Kahlheit verbergen. Immerhin bin ich eine Frau mittleren Alters, und die hormonellen Veränderungen könnten meine Haarfollikel in einen Dämmerschlaf versetzen. Den Männern stellen sich diese ganzen Fragen schon früher, wenn sie sehen, wie die Geheimratsecken auf ihrem Kopf immer größer werden.

Eine Perücke als Ausweg? Seit ich die Fernsehserie über die zappelige Anwältin Ally McBeal gesehen habe, beschäftigt mich diese Frage ab und zu. Die Komik der Serie liegt in der Mischung aus kindlicher Selbstironie und Tragik: Keine der Anwältinnen hat ihre Träume und Gefühle im Griff, sie machen Fehler, und wenn sie die Kontrolle verlieren, verirren sie sich auch hin und wieder in ihren Phantasiewelten. Dasselbe passiert allerdings auch den Mandanten, sogar ständig, und deshalb kommen sie in diese Kanzlei, damit eine der Anwältinnen ihre verlorene Würde für sie zurückholt. Einer dieser Mandanten war ein kleiner, rundlicher Vertreter, dem man wegen seiner Frisur gekündigt hatte. Er erregte bei den Kunden zu viel Aufsehen. Seine Verkaufsergebnisse wurden immer schlechter. Und sein Haar: das hatte er, einer Tradition des schlechten Geschmacks folgend, so gekämmt, dass es die Glatze darunter verbarg. Doch er hatte nicht einfach nur eine Haarsträhne von der einen auf die andere Seite gelegt, sondern einzelne Strähnen so lang wachsen lassen, dass er sie wie eine Spirale auf seinem Kopf winden konnte, Runde für Runde. Und er war sehr stolz auf seine Frisur. Doch er musste einsehen, dass die nackte Wahrheit manchmal besser ist als eine aufgebauschte Lüge, und es sind seine Anwältinnen, die ihm den Job retten und die Freiheit eines neuen Lebens ermöglichen. Mit der Schere in der Hand wickelt die Blondeste von ihnen die Spirale auf, Runde für Runde. Am Ende ist es eine sehr lange Strähne, die die kaltblütigste Frau im Team hochhebt und abschneidet. Ihr Mandant wird wieder eingestellt und gewöhnt sich an seinen kahlen Schädel.

Ich habe selbst einmal auf ähnliche Weise Haare geschnitten. Über viele Jahre besuchte ich jeden Samstag eine alte Dame, deren Verwandte nichts mehr von ihr wissen wollten. Sie wurde eine Art Adoptiv-Oma für unsere Familie. Die Dame wohnte unter primitiven Verhältnissen im ausgebauten Dachstuhl eines alten Holzhauses. Ihr Leben war von festen Abläufen bestimmt, und meines dadurch zwischen meinem zehnten und gut und gerne fünfundzwanzigsten Lebensjahr ebenso. Jeden Samstag um zwei öffnete ich ihre Tür mit dem Schlüssel, der draußen im Briefkasten lag. Dann ging ich hinauf durch das Treppenhaus, wo es im Winter eiskalt war. In ihrem Zimmer saß sie und wartete auf mich. Zwischen eins und zwei hielt sie immer ihren Mittagschlaf, anschließend setzte sie sich in ihren Sessel, um wunderschöne, herrlich weiche Handschuhe zu stricken. Im Sessel ihr gegenüber saß ich. Wir waren nicht gut darin, uns zu unterhalten. Ich las ihre Wochenblättchen; alle Kriminalfälle, Fortsetzungsromane und Liebesgeschichten, die ich finden konnte. Es gab Limonade und Gebäck und abgelaufene Pralinen aus Brunbergs Schokoladenfabrik. Die Zeit verging langsam.

Sie hatte ein möbliertes Zimmer mit einem Küchenofen und einem Kühlschrank. In der Toilette gab es ein kleines, sehr tiefes und schmales Waschbecken aus Emaille, und aus dem Wasserhahn lief nur ein dünner Strahl kalten Wassers. Keine Dusche, kein warmes Wasser, noch nie. Irgendwann bemerkten wir, dass sie ein Bad brauchte, und sie kam zu uns, wo meine Mutter sie in die Badewanne steckte. Hin und wieder schnitt ich ihr die Haare. Und das Prozedere war so ähnlich wie bei Ally McBeal. Zweimal im Jahr ließ sie sich eine Dauerwelle machen, sodass ihr Haar an den Seiten bauschig wurde. Oben war es dünn, sehr dünn. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt musste das Haar über den Ohren und im Nacken geschnitten werden. Und oben. Weil sie ihr Haar praktisch nie wusch, fühlte es sich klebrig an.

Jemandem die Haare zu schneiden, der kaum noch welche auf dem Kopf hat, ist schwierig. Und von Schweiß und Schmutz verklebte Haare zu schneiden, ist auch nicht leicht.

Das war in den Siebzigerjahren. Zu dieser Zeit waren Perücken sogar noch in Mode, doch weil die alte Dame ein sehr ärmliches und isoliertes Leben führte, kam dies für sie natürlich nie in Frage. Für andere Frauen wird der künstliche Haarhelm dagegen zur Rettung, im Alltag, besonders aber bei gesellschaftlichen Anlässen. Keine Arbeit mit Papilloten oder mit dem Toupieren: Perücke auf, und die Gäste konnten kommen. Ein einfacher Partytrick.

Manchmal fühle ich auf der Straße einen Windhauch, der meine Frisur verweht und mich an mein seelisches Ungleichgewicht erinnert. Auch mein Haar muss um seine Würde kämpfen.

Ich werde schreibend einen Zopf flechten, ein Teil davon, ganz innen, besteht aus meinen eigenen Haaren, den größten Teil aber werde ich mir von anderen Frauen und auch einigen Männern leihen. Schon immer wurde an Haaren gearbeitet und herumgepfuscht, weil die Träume von etwas Größerem, Glatterem, Glänzenderem oder Längerem als das, was der Spiegel zeigt, so groß waren. Jedenfalls für einige von uns. Verzweiflung und Hoffnung wechseln sich ab.

ZWEITER TEIL

MEIN HAAR – EINE BIOGRAPHIE

MEIN HAAR

hat eine schöne Farbe, aber keinen Stand

Ich sollte glücklich sein. Nur eine von zwanzig hellhäutigen Personen in der nördlichen Hemisphäre hat es: blondes Haar, strahlend, das Licht reflektierend. Ich gehöre zu dieser seltenen Spezies. Der Familienlegende nach wurde ich mit schwarzem Trollhaar geboren, das sich aber allmählich in einen Flachskopf verwandelte, ich hatte dichtes, luftiges Haar, das mit großen, glatten, steifen Schleifen auf dem Kopf zusammengebunden wurde. Das blonde Mädchen, so niedlich in gehäkelten oder gestrickten Kleidern, mit weißen Sandalen und Kniestrümpfen. Es war die schönste Zeit meines Lebens, wenn ich den wenigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen glauben darf, die meine frühesten Jahre dokumentieren. Doch aus dem niedlichen Kind wurde ein ganz normales Mädchen, und je mehr die Niedlichkeit verschwand, desto größer wurden die Abstände zwischen den Fotos. Schon als Fünfjährige war ich meiner zarten Blondheit entwachsen. Da stand ich nun mit meinen dicken Backen und schmalen Augen, mein Bauch quoll über den Hosenbund. Ich liebte Süßigkeiten und Kuchen, und das sieht man mir auf den Fotos auch an. Meine Blütezeit war von kurzer Dauer. Das blonde Haar verlor seine Weichheit, es wurde platt und schwer, und ich band es immer zu einem schlaffen Pferdeschwanz zusammen.

Blondes Haar ist schön, es ist das Merkmal der Liebesgöttin Aphrodite, von Brigitte Bardot und Catherine Deneuve mit ihrem toupierten, aber trotzdem luftigen Haar, es ist das Barbie- und Prinzessinnenhaar. Mein helles Haar wollte aber nie so aussehen wie die Frisuren, wie ich sie von Fotos und Filmen kannte. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, wollte ich die gleiche Frisur haben wie meine Großkusine Susanne, die wiederum von der Rockröhre Suzi Quatro inspiriert worden war. Mittelscheitel, fransiger Pony, oben kurz und hinten so lang, dass die Strähnen fast bis auf die Schultern reichten. Mein langer Pferdeschwanz wurde abgeschnitten (und liegt bis heute in einer durchsichtigen Plastikbox in einer Schreibtischschublade). Selbstverständlich vertraute ich darauf, dass die Friseurin allein durch Schneiden, Schneiden, Schneiden eine Rock-’n’-Roll-Frisur auf meinen präpubertären Kopf zaubern würde.

Sie setzte die Schere an, und mein Haar wurde kurz, so wie es auch für den Rest meines Lebens bleiben soll. Doch dieser Eingriff war eine meiner ersten fatalen Fehleinschätzungen. Das Haar war nach der Prozedur zwar kurz, aber auch ziemlich platt. Es stand keineswegs rebellisch nach oben, nicht ein Hauch von Rock ’n’ Roll und Bassgitarre. Es war einfach nur blond und hing schlapp nach unten.

Niemand hatte mich darüber aufgeklärt, dass Haare unterschiedlich sind – unterschiedlich dick, drahtig oder lockig. Mehrere Jahre lang bemühte ich mich, Frisuren zu kreieren, für die mein natürlich plattes Haar gar nicht geeignet ist. Ich wusste es nicht besser. Meine Mutter besaß ein paar weiße Heißwickler, aber die rührte ich nicht an, denn Volumen brachten sie nur ins Haar, wenn es von vornherein wild gekräuselt war, wie das meiner Mutter, die schon immer eine Dauerwelle trug.

Doch dann tauchte ein Gerät auf, das mir und meinem Haar helfen sollte, sich zu erheben. Das Gerät stand Weihnachten 1978 ganz oben auf meiner Wunschliste. Ein Föhn. Als der Föhn 1925 als Handgerät auf den Markt kam, wog er fast zwei Kilo und hatte eine Leistung von 100 Watt, doch als ich anfing, mein Haar zu föhnen, lag diese schon bei 1000 Watt. In den 1920er Jahren dauerte es ungefähr sechs Stunden, bis das Haar trocken war, bei mir nur wenige Minuten. Dass es zwei Stunden und einen Stylisten brauchte, bis die Frisur meines Vorbilds Farrah Fawcett ihre natürlich wirkende Fülle erreicht hatte, war mir damals noch nicht klar. Meine Sturheit hat mich im Leben weit vorangebracht, sie führte aber auch immer zu langen Phasen der Erschöpfung.

Farrah Fawcett ist mit ihrer mittelblonden Mähne ebenfalls eine Ikone der Haargeschichte und hat unter den Agentinnen der Fernsehserie Drei Engel für Charlie (1976-1981) den größten Sexappeal. Schon vor Beginn der Serie war ihr Gesicht überall auf Werbeplakaten zu sehen. Dank ihres voluminösen Haars, das immer so sinnlich wogte, und ihres strahlend weißen Lächelns, war sie zur Königin der Shampoo-Werbung geworden. Ob in der Meeresbrandung, zwischen zwei dicken Baumstämmen, in der Dusche oder auf dem Rücken eines Pferdes: Sie gab überall ein gutes Bild ab, und die tiefe Stimme, mit der sie ihre Werbesätzchen vortrug, machte sie legendär, die perfekte Frau der 1970er Jahre: sehr weiblich, mit ihrem offen getragenen langen Haar, und sehr sportlich. Eines ihrer Plakate ist bis heute rund 20 Millionen Mal verkauft worden. Sie trägt einen roten Badeanzug, der inzwischen im Museum ausgestellt ist, den Kopf hat sie ein wenig zurückgelegt – und sie lächelt. Ihr langes Haar ist von hellen Strähnen durchzogen (Zitronenwasser sei das Geheimnis, hieß es, aber das glaube ich nicht).

Vor kurzem habe ich den Film Boogie Nights aus dem Jahr 1977 gesehen, in dem es um Aufstieg und Fall der Pornoindustrie geht. Während die Pornofilme in den 1970er Jahren geradezu anständig waren und in Kinos gezeigt wurden, wandelten sie sich im Laufe der 1980er Jahre zu billigem Schund, der auf Videokassetten für den Privatgebrauch Verbreitung fand. Sie kamen in Umlauf, ehe die Zensur eingreifen konnte. Boogie Nights erzählt von dem jungen Eddie, der vom Regisseur John Horner entdeckt wird, einem selbstgerechten »Meister« des Pornogenres, der den Mythos pflegt, ein großer Künstler zu sein. Eddie hat nichts zu verlieren, sein Elternhaus Anno 1976 ist zu beengt, und als er eines Tages mit seiner Mutter aneinandergerät, weil er nachts zu lange wegbleibt und keinerlei Ambitionen für irgendetwas zeigt, rächt sie sich an ihm, indem sie das in seinem Zimmer hängende Plakat von Farrah Fawcett im roten Badeanzug von der Wand reißt. Er gerät außer sich. Farrah war 1976 so berühmt, dass sie genug Strahlkraft hatte, um noch zwanzig Jahre später in einem Film eine ganze Epoche zu verkörpern.