Waterland - Aufbruch in die Tiefe - Dan Jolley - E-Book

Waterland - Aufbruch in die Tiefe E-Book

Dan Jolley

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Beschreibung

Nach der Großen Flut beginnt das AbenteuerDie Erde wurde vom Meer überspült, die überlebenden Menschen drängen sich auf einem gigantischen Turm, der aus dem Ozean ragt. Jacob gehört mit seinem Bruder Tristan zu den privilegierten Turmbewohnern, die ganz oben, fern der feindlichen Fluten, leben. Doch dann geschieht das Unfassbare: Bei einem Überfall aus dem Meer wird Tristan entführt! Steckt das unter Wasser lebende zwielichtige Flutvolk dahinter? Zusammen mit seinem zahmen Seelöwen King und Hali, einem Flutvolk-Mädchen, begibt Jacob sich auf eine gefährliche Suche, die in eine tiefblaue Welt voller Geheimnisse, faszinierender Wesen und überraschender Wahrheiten führt …Band 1 der packenden Wasserfantasy-Saga!Alle Bände der Serie:Dan Jolley, Waterland - Aufbruch in die Tiefe (Band 1)Dan Jolley, Waterland - Stunde der Giganten (Band 2)Weitere Bände in Vorbereitung

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Seitenzahl: 319

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Dan Jolley

Waterland

Aufbruch in die Tiefe

Aus dem Englischen von Sabrina Sandmann

FISCHER E-Books

Mit Vignetten von Helge Vogt

Inhalt

Motto1234567891011121314151617181920212223Band 21

»Zu lange haben sie die Augen vor der Wahrheit verschlossen; zu lange war ihre Gier größer als ihr Verstand. Und als die Erde es leid hatte, bestrafte sie die Menschen mit einer Großen Flut. Während die Ozeane anschwollen und alles bedeckten, kletterten einige der Menschen höher und höher gen Himmel, in Türme der Abgeschiedenheit; andere wiederum sprangen in die offenen Arme des Meeres und wurden eins mit den Fluten. Und das Antlitz der Welt hatte sich für immer verändert.«

Aus Die Geschichte der Neuen Welt von Oona Overland

1

Tausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel öffnete Jacob Overland die Tür zu seinem Schlafzimmer einen Spaltbreit und lauschte. Er glaubte nicht, dass sein Bruder Tristan und Onkel Sato schon wach waren – und tatsächlich kamen die einzigen Geräusche in dem Penthouse von Tristans gedämpftem Schnarchen und dem leisen Knarzen und Ächzen der sachte schwankenden Turmfestung. Also schlich Jacob sich hinaus in den Flur und weiter zur Eingangstür.

Sein Onkel Sato, der Gouverneur der Turmfestung, hatte ihm erklärt, dass diese ein wenig schwanken musste – etwas nachgeben musste. Sonst würden die heftigen Stürme, die über das Meer hinwegfegten, die Mauern des großen Turmes zertrümmern und alles in die Tiefe stürzen.

Am fernen Horizont lugte die Sonne gerade eben über die Wellen und tauchte die vereinzelten Wolken in ein blasses, silbriges Pink. Jacob wusste, dass er sich beeilen musste. Heute würden die Leute früher auf den Beinen sein als sonst. Denn heute war Der Tag der Meereskönigin.

Das war schlichtweg der aufregendste Tag des Jahres, jedenfalls wenn es nach Jacob ging. Der Tag, an dem Leute von sämtlichen Trockensiedlungen im weiten Ozean zur Meereskönigin reisten, um die erstaunlichsten Dinge zu kaufen und zu verkaufen. Exotische Lebensmittel, vorflutliche Gegenstände – sowohl echte als auch nachgemachte –, brandneue Technologien. Bei dem Gedanken daran bekam er vor Aufregung Schmetterlinge im Bauch.

Doch jetzt hatte Jacob erst einmal etwas anderes vor. Keine Sorge, Kumpel, dachte er. Ich bin auf dem Weg zu dir.

Jacob musste absolut leise sein. Zumindest, wenn er weiterhin hinunterschleichen und seinen Freund King besuchen wollte, einen Seelöwen. Jacob weigerte sich, King als sein Haustier zu bezeichnen; Freunde passte besser. Bloß lebte der eine Freund im Meer und konnte tun und lassen, was er wollte, während der andere dafür sorgen musste, dass sein Onkel nichts von den Ausflügen hinunter zum Pier mitbekam.

Nicht nur hatte Onkel Sato Jacob verboten, ohne Begleitung auf den unteren Ebenen herumzuspazieren, auch verstießen Wasserhaustiere gegen die Gesetze der Turmfestung – selbst für den Neffen des Gouverneurs. Besonders für den Neffen des Gouverneurs. Jacobs Onkel schärfte ihm immer wieder nachdrücklich ein, dass er als Mitglied der hochrangigsten Familie der Turmfestung den anderen Bewohnern ein gutes Beispiel sein müsse. Und dass sein Verhalten sich auf das Gouverneursamt auswirke und auf die strenge Hierarchie, die die Turmfestung zusammenhielt: In ihrer Gesellschaft hatte jeder seinen Platz, jeder seine Aufgabe. Wenn die Menschen begannen, diese Ordnung anzuzweifeln, könnte das die Turmfestung zerstören. Somit riskierte Jacob mit seinen heimlichen Ausflügen mehrmals die Woche nicht nur, die Wut seines Onkels auf sich zu ziehen, sondern gefährdete – anscheinend – auch die Zukunft der Turmfestung selbst. Jacob verdrehte die Augen. Sein Onkel übertrieb es gerne mal etwas mit der Strenge, aber Jacob wollte seine Theorie auch nicht unbedingt auf die Probe stellen. Das hieß also: ganz, ganz leise sein!

Vor dem Zimmer seines Bruders Tristan hielt Jacob inne. Tristan wusste über King Bescheid, und als sie noch jünger waren, hatte er sich oft zusammen mit Jacob rausgeschlichen und mit dem Seelöwen gespielt, ihm Fische zugeworfen oder manchmal auch Krebsfleisch. Doch in letzter Zeit – seit Tristan älter geworden war und Mädchen viel mehr Aufmerksamkeit schenkte als seinem kleinen Bruder – machte Jacob sich meistens allein auf den Weg. Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür zu Tristans Zimmer und schlüpfte hinein.

Wie üblich lag sein Bruder schräg auf dem Bett ausgestreckt, die Decke um sich herumgewickelt. Für Jacob sah das immer aus, als würde Tristan in einem Kokon schlafen. Eine Schulter schaute heraus, und Jacob schüttelte sie sanft, sprach leise.

»Tristan. Tristan! Ich geh runter zum Pier. Willst du mit?«

Tristan grunzte, schnitt eine Grimasse und zog sich das Kissen über den Kopf. Er murmelte etwas, das wie »Grummel« klang.

Jacob hob eine Ecke des Kissens gerade so hoch, dass eines von Tristans Augen zum Vorschein kam, welches sich geöffnet hatte und ihn missmutig anblickte. »Was soll das denn bitte für ein Wort sein, Tristan?«

Tristan befreite einen Arm, schnappte sich sein Kissen und holte damit ein paarmal sanft in Jacobs Richtung aus, als würde er eine Motte wegscheuchen. Jacob musste lachen, und Tristan antwortete: »Ich frage mich, wie wohl Leute ohne kleine Brüder schlafen?« Tristan ließ das Kissen fallen, setzte sich auf und reckte ausgiebig die Arme. »Besser als ich, da wette ich mit dir. Hör mal, ich hab ’nen großen Tag vor mir. Und so gerne ich King mit dir besuchen würde, ich hab leider keine Zeit. Gib ihm einen Fisch von mir, ja?«

Jacob schnaubte, seufzte übertrieben und ließ die Schultern sinken. »Naaa gut. Du bist echt ein totaler Langweiler geworden.«

Tristan zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Aber jetzt beeil dich besser. Im Turm wird heute ganz schön viel los sein.«

Jacob winkte Tristan halbherzig zu, als er aus dem Zimmer ging.

Dann den Flur hinunter und durch die Eingangshalle – doch bevor er die Penthouse-Tür öffnete, blieb er kurz vor einem hohen Spiegel stehen und beäugte seine Aufmachung, die er gern als sein »Kostüm« bezeichnete.

Statt der feinen seidenen Kleidung, die Onkel Sato ihm immer kaufte, trug Jacob heute Morgen eine einfache, triste, graubraune Kluft, die aus einer Kappe, einem Kittel und Kniehosen bestand, wie sie sonst die Reinigungskräfte trugen.

Mehr als einmal hatte Jacob in seinen zwölf Lebensjahren versucht, mit Kindern auf den unteren Ebenen Freundschaft zu schließen. Nie war es ihm gelungen. Entweder weigerten sie sich schlichtweg, mit ihm zu sprechen, oder sie wurden, falls sie doch einen Versuch wagten, von einem der Erwachsenen weggescheucht. Letzten Sommer hatte Jacob gedacht, endlich einen Freund gefunden zu haben, einen Jungen in seinem Alter mit Namen Oric, aber sie hatten lediglich eine Runde Murmeln spielen können, bevor Orics Mutter gekommen war und ihrem Sohn die Ohren langgezogen hatte. »Das is’ der Neffe vom Gouverneur«, hatte die Frau gezischt, während sie Oric fortschleifte. »Der Gouverneur will nich’, dass einer von seiner Familie sich mit jemandem wie dir abgibt!«

Jacob dachte lieber nicht darüber nach, als er jetzt das Penthouse verließ und sich zu einer der Hintertreppen schlich. Er huschte vorbei an kunstvoll geschnitzten Holztüren, verziert mit korallenförmigen Reliefs und Bildnissen von Göttern, die die Menschen in der Alten Welt verehrt hatten. Durch Fenster in den Türen, die zum Glück nur teilweise aus grünem Milchglas bestanden, erhaschte er Blicke auf golden gestrichene Korridore, ausgestattet mit Teppichvorlegern aus Walrossfell und hell erleuchtet von dem warmen Licht muschelförmiger Wandlampen. Ein paar Männer und Frauen, gekleidet in den Farben hochrangiger Beamter und Gouverneursgehilfen, traten, gähnend und hastig an einem Frühstück kauend, aus ihren Zimmern. Normalerweise schlich Jacob sich so früh hinaus, dass er auf seinem Weg zum Pier selten anderen Menschen begegnete. Doch heute, am Tag der Meereskönigin, waren viele Leute schon auf den Beinen – es war »ganz schön viel los«, wie Tristan gesagt hatte. Keiner der Frühaufsteher nahm jedoch Notiz von Jacob: Personen, die diese Treppe benutzten, waren ihre Aufmerksamkeit nicht wert, waren bloß Bedienstete der oberen Ebenen, wie Reinigungskräfte, Wäschereipersonal und Köche. Ein paar Stockwerke tiefer, wo sich die Turmfestung verbreiterte, waren die Türen und Korridore einfacher gestaltet: Auf diesen Ebenen lebten die Technologen und Verteidigungsbeauftragten, die dafür zuständig waren, die Turmfestung mit kampfbereiten Booten und Befestigungsanlagen rundherum auszustatten. Jacob hörte die gedämpften Stimmen junger Leute, wie sie plauderten und lachten: Brüder und Schwestern, Cousins und Freunde, die Tür an Tür in enger Gemeinschaft aufwuchsen – genau, wie Jacob es sich sein Leben lang gewünscht hatte, anstatt im Penthouse allein und von allen abgeschnitten zu sein. Neid versetzte ihm einen Stich, doch Jacob schob das Gefühl beiseite. Ja, vielleicht hatte er keine Freunde in seinem Alter. Und vielleicht hatte Tristan nicht mehr so viel Zeit für ihn wie früher, was ihn zugegebenermaßen ziemlich schmerzte. Aber wenigstens hatte er noch King!

Als Jacob die Industrie- und Technik-Ebenen erreichte, musste er sich einen anderen Weg als üblich suchen, um die heute so viel geschäftigeren Korridore zu vermeiden. Er lief durch eine Reihe von Türen in eine große Halle. Leise ging er an den glänzenden Metalltüren einiger Expressaufzüge vorbei und trat auf einen Außenbalkon mit Eisenreling hinaus, der auf einem Umweg zu den Lastenaufzügen führte und über den manchmal Gegenstände transportiert wurden, die für die innen liegenden Korridore zu groß waren. Einen Augenblick lang blieb er stehen, hielt mit einer Hand die Kappe auf seinem Kopf fest, während der Wind vom Meer um ihn herumpfiff, und staunte einfach nur.

Jacob würde sich an diesem Anblick niemals sattsehen.

Die Turmfestung fiel zum Wasser hin ab, ein riesengroßer, aus dem Meer aufragender grauer Berg, erbaut aus Beton und Stahl und Glas und dem Trotz der Menschheit. Unendlicher Ozean erstreckte sich nach allen Seiten, der gewaltige Turm war das einzige Anzeichen menschlicher Zivilisation. Jacob wusste, dass die Turmfestung nicht die einzige Trockensiedlung nach der Großen Flut war. Es gab noch einige weitere. Aber sie waren so weit weg, dass man sie von hier aus nicht sehen konnte, nicht einmal mit dem stärksten Hochleistungsteleskop. Die achttausend Bewohner des Turms wurden hier geboren, wuchsen heran und starben hier – eine der letzten noch übrig gebliebenen menschlichen Gesellschaften nach der Großen Flut.

Jacob folgte dem Balkonverlauf um den Turm herum und stieg in einen Lastenaufzug. Die Seitenwände bestanden aus Holzlatten, und als Jacob den Aufzug seewärts schickte, spähte er durch die Lücken zwischen den Latten ins Innere des Turms, das sich ihm Stockwerk für Stockwerk eröffnete.

Die Turmfestung hatte die Form einer hohen, schlanken Pyramide, die sich immer mehr verbreiterte, je weiter Jacob nach unten kam. Die obersten Stockwerke bis hin zum Gouverneurs-Penthouse wurden alle für Landwirtschaft genutzt – waren gläserne Gewächshäuser voller Pflanzen: Reis und Bohnen, Kürbisse und Tomaten. Von der Mitte ausgehende Ringe mit fruchtbarer schwarzer Erde, die Kartoffeln und Rüben hervorbrachten. Riesengroße Tanks mit Wasser, alles Salz herausgefiltert, in das Obst- und Gemüsepflanzen direkt ihre Wurzeln tauchten. Wenn er konnte, blieb Jacob gerne bei diesen Tanks stehen und beobachtete, wie Fische zwischen den Wurzeln umherschwammen, unerwünschte Insekten und Würmer abpflückten und den Tank zusätzlich mit Dünger versorgten.

Doch heute war dafür keine Zeit.

Unter den landwirtschaftlichen Etagen erstreckten sich die Industrie-Ebenen, Stockwerke über Stockwerke mit Maschinen. Geborgene Relikte der Alten Welt kämpften sich durch die Hand von Technologen zurück in reaktivierte Funktionalität, und brandneue Geräte und Maschinenelemente erwachten zu elektrischem Leben.

Ruckelnd fuhr der Aufzug weiter nach unten, jetzt vorbei an den Wohnebenen, wo Menschen wie die Reinigungskräfte und die Mechaniker und manche der Fischer lebten.

Plötzlich verlangsamte sich der Aufzug, und Jacob hielt die Luft an. Was, wenn ihn jemand sah? Falls er erkannt würde, ginge es für ihn schnurstracks zurück zum Gouverneurs-Apartment, und Jacob wollte sich gar nicht ausmalen, welche Bestrafung ihn erwartete, wenn man seinen Onkel zu so früher Stunde aus dem Bett holen würde. Als die Tür sich öffnete, betrat ein Herr mit grau meliertem Haar und herunterhängendem Schnurrbart den Aufzug. Ibrahim, dachte Jacob, sein Gehirn ratterte. Das ist Joseph Ibrahim, Minister bei der Instandhaltung. Er kam oft in Onkel Satos Büro zu Besprechungsterminen.

Jacob zog den Kopf ein und schob sich die Kappe tiefer in die Stirn. Zum Glück schenkte Ibrahim ihm keinerlei Beachtung. Er stand nur da und starrte auf das Tablet in seiner Hand, als wäre er vollkommen allein im Aufzug. Jacob dachte schon, er hätte noch einmal Glück gehabt, doch gerade, als er sich wieder zu entspannen begann, drehte der Minister sich um und spähte zu ihm hinunter. Oh nein, dachte Jacob.

»Habe ich dich nicht schon mal irgendwo gesehen, Junge?«, fragte Ibrahim, seine Aussprache war genauso klar und kultiviert wie die von Onkel Sato.

Jacob hielt den Kopf gesenkt, die Augen auf den Boden des Aufzugs gerichtet. Er versuchte, den Slang der Reinigungskräfte nachzuahmen. Dabei war sein Mund so ausgetrocknet, dass es ihn wunderte, überhaupt ein Wort herauszubekommen. »Wahrscheinlich schon, Sir. Hab in letzter Zeit ziemlich viele Schichten geschoben.«

Einen unendlichen Augenblick lang sagte Ibrahim nichts, und Jacob hatte nicht den geringsten Zweifel daran, auf frischer Tat ertappt worden zu sein, doch dann wandte der Mann sich ohne ein weiteres Wort wieder seinem Tablet zu und tippte mit einem Finger auf dem Bildschirm herum. Sobald der Aufzug in einem tieferen Stockwerk erneut hielt, flitzte Jacob an ihm vorbei und den Korridor hinunter, mit gesenktem Kinn und die Kappe tief ins Gesicht gezogen.

Das ist ja gerade noch mal gutgegangen!

Jacob war nun weit genug nach unten gelangt, um für den restlichen Weg die Treppen zu nehmen.

Ein paar Minuten später drückte er die rostige, quietschende Tür zur Meeres-Ebene der Turmfestung auf und trat hinaus. Er fand die Bezeichnung »Meeres-Ebene« nicht gerade treffend, denn das klang wie die zugemauerten Stockwerke des Turmes selbst – was aber ganz und gar nicht stimmte. Vielmehr war die Betonplattform um den Fuß des Turmes auf allen Seiten den Elementen ausgesetzt. In regelmäßigen Abständen befanden sich fleckige, von Seepocken übersäte Stützpfeiler aus Stahl, die das gesamte Gewicht der Turmfestung trugen wie die rostigen Finger eines Riesen. Die Meeres-Ebene thronte mehrere Stockwerke über dem Ozean, damit sie bei Stürmen dem schlimmsten Seegang entging. Wenn die Meteorologen einen herannahenden Taifun vorhersagten, wurden mechanische Klappen zwischen den Pfeilern heruntergelassen, um einen Schutz gegen den Wind und die Wellen zu bieten. Doch die gewaltigen Stürme, die manchmal monatelang über den Ozean fegten, da kein Land ihre unberechenbare Stärke milderte, änderten zuweilen plötzlich den Kurs und trafen die Turmfestung, bevor die Klappen heruntergelassen werden konnten. Wenn sich dann noch Bewohner auf der Meeres-Ebene befanden, wurden sie mitunter hinausgetragen und von dem weiten, aufgewühlten Meer verschluckt, das gegen das schützende Steinfundament schäumte wie der Speichel eines mächtigen Ungeheuers. Die Meeres-Ebene maß tausendfünfhundert Meter im Durchmesser – somit war sie genauso breit wie die Turmfestung hoch – und beherbergte unzählige dicht an dicht stehende Bauten: Marktstände, Ladenfronten aus dunklem Holz und Verkaufshäuschen aus Beton, die von einer glitzernden Schicht Flugsalz bedeckt waren. Zudem wurden in riesigen kuppelförmigen Lagerhallen Sand zur Zementherstellung und andere Baumaterialien aufbewahrt, wie Marmor, Sandstein und Granit – der wegen seiner Härte besonders geschätzt war – sowie Metallerze, die von Tauchrobotern unter Wasser abgebaut und dann von den Schmelzöfen auf der Metall-Ebene weiterverarbeitet wurden. All diese Bauten, groß und klein, manche als Wohnraum, andere als Geschäfte genutzt, lagen zusammengedrängt in einem Labyrinth aus schluchtartigen Gassen und Gängen, in denen sich jemand, der sich nicht auskannte, ganz schnell und völlig hoffnungslos verlaufen konnte. Aber Jacob wusste genau, wo er hinwollte, und schlängelte sich flink durch eine der Ladenstraßen zum Pier.

Er lief um eine Ecke – blieb stehen und erstarrte. Direkt vor ihm hatten gerade zwei junge Männer, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Tristan, ein grellgelbes Plakat mit schwarzer Schrift an die Wand eines Standes für getrockneten Fisch befestigt.

BÜNDNIS ODER TOD verkündete das Plakat in kantigen Buchstaben. Darunter befand sich das künstlerisch gezeichnete Bild zweier Hände, die je einen Dolch umklammerten. Von den Spitzen der Dolche tropfte Blut. Die Haut an der einen Hand war glatt und sandbraun, genau wie Jacobs, genau wie die fast aller Trockensiedler. Die andere Hand jedoch hatte zwar dieselbe Form wie eine menschliche Hand, war aber mit zarten grünlichen Schuppen bedeckt. Am unteren Rand des Posters, in einer Schrift, die wie verspritzte Farbe aussah, prangten die Buchstaben »WK« – das Logo der WasserKrieger.

Beide jungen Männer hatten sich ein unverkennbares schwarz-gelbes Band um den linken Oberarm gebunden, und schwarz-gelbe Tücher verdeckten ihre Gesichter von der Nase abwärts. Ohne Jacob eines Blickes zu würdigen, rannten sie davon.

Jacob wusste nicht viel über die WasserKrieger. Ein paarmal hatte er sie gesehen – meistens auf der Meeres-Ebene, aber hin und wieder auch oben im Turm –, sie hatten Plakate geschwenkt und Parolen gerufen. Er wusste, dass sie irgendwie politisch waren, aber Politik interessierte Jacob ungefähr so viel, wie Onkel Sato bei einem Vortrag über Fischereisteuern zuzuhören.

Jacob lief weiter, hatte sowohl das Poster als auch die jungen Männer gleich wieder vergessen und ließ den Markt bald hinter sich zurück. Seine Füße trugen ihn hinaus auf einen der vier gewaltigen Kais der Turmfestung – riesige rechteckige Gebilde, die strahlenartig vom Turm wegführten wie die Himmelsrichtungen auf einem Kompass – und huschten dann eine lange, gerade Treppe hinunter zu einem der kleineren Piere. Seine Lunge füllte sich mit der frischen salzigen Luft, die hier unten so viel schwerer war als oben in den schwindelerregenden Höhen des Penthouses. Er liebte diesen Geschmack.

Alle Boote der Turmfestung waren hier unten vertäut, an jedem der mehrere Dutzend Piere, die von den vier großen Kais ausgingen. Keiner hier besaß ein Boot nur zum Spaß. Alle Wasserfahrzeuge durften ausschließlich von Fischern und Verkäufern mit amtlicher Genehmigung genutzt werden. Jacob hüpfte in eines der Fischerboote, schnappte sich drei Fische aus einem Eimer und ließ im Gegenzug eine Handvoll Münzen hineinfallen. Die schwimmende Währung der Turmfestung – Hartplastikscheiben verschiedener Größen und Farben, genannt »Schwimmtaler« – gesellte sich zu den verbleibenden Fischen, als Jacob vom Boot sprang und den Pier entlanglief.

Ein blubberndes Geräusch zu seiner Rechten erregte seine Aufmerksamkeit, und er ging langsamer. Plötzlich tauchten neben einem weiteren Fischerboot zwei Menschen aus dem Wasser auf. Jacob unterdrückte einen Aufschrei und duckte sich hinter einen Stapel Kisten. Sofort erkannte er, dass die beiden Menschen Taucherausrüstung in Spitzenqualität trugen. Ein Taucher mit einer so hochwertigen Ausrüstung musste irgendeine Verbindung zu Onkel Sato haben – wahrscheinlich waren das Sicherheitskräfte. Jacob wollte nichts weniger, als hier unten erwischt zu werden, vor allem, da er King noch gar nicht gesehen hatte, also blieb er reglos in seinem Versteck, während die beiden Männer eine rostige Leiter hochkletterten, auf den Pier traten und die Treppe hinauf zum Kai gingen. Jacob konnte ihre Gesichter nicht sehen, da sie sich mit dem Rücken zu ihm bewegten, aber sie hatten ihre Helme abgenommen, sobald sie aus dem Wasser gekommen waren: Der eine Mann hatte eine blankpolierte Glatze, während dem anderen eine dichte Lockenmähne wuchs.

Als sie sich weit genug entfernt hatten, kroch Jacob aus seinem Versteck, hätte sich aber fast wieder weggeduckt, als er eine Stimme rufen hörte.

»Hey!«

Der Ausruf wurde von einem platschenden Spritzgeräusch gefolgt, dann ertönte erneut: »Hey! Hey!«

Jacob ging von den Kisten weg zum Rand des Piers. Dort trieb King auf dem Rücken im Wasser, mit Schalk in den Augen, und öffnete weit den Mund: »Hey!«

Jacob grinste und setzte sich auf die Pierkante. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

Jetzt machte King ein anderes Geräusch – ein freches »Pfff« – und schlug einen Rückwärtssalto im Wasser. Jacob lachte und warf ihm einen der Fische zu, den der Seelöwe in der Luft auffing. King war schon immer gut darin gewesen, seltsame Geräusche zu machen, seit ein paar Monaten klang er jedoch fast wie ein Mensch. Natürlich sprach er nicht, benutzte keine Wörter, aber King konnte menschliche Stimmen mit verblüffender Genauigkeit nachahmen. Jacob fand das urkomisch. Zumindest, wenn er sich dabei nicht halb zu Tode erschreckte.

King tauchte ab, jagte dann geradewegs nach oben und schwang sich aus dem Wasser auf den Pier, bespritzte Jacob dabei mit Salzwasser. »King!«, lachte Jacob. »Pass doch auf!« King rollte sich auf den Rücken, machte wieder das Pfff-Geräusch, und Jacob rieb ihm den Bauch, bis die Schwanzflossen des Seelöwen bebten.

Unter den winzigen Ohren, die Seelöwen schon immer gehabt hatten, befand sich ein Körpermerkmal, das Seelöwen normalerweise nicht hatten: Kiemen. Vollständig entwickelte Kiemen, die – soweit Jacob das beurteilen konnte – genauso gut funktionierten wie die eines Fisches. Onkel Sato würde deswegen doppelt wütend sein, wenn er irgendwann von King erfahren sollte. Denn Sato Overland hasste jedwede Form der genetischen Anpassung und für ihn wäre King … verdorben. Nicht geeignet für menschlichen Umgang.

Leise sagte Jacob: »Noch ein Grund, dich geheim zu halten, was, Kumpel?«

King reckte den Hals, um an Jacob vorbei zu den Stufen zu schauen, die zum Kai hochführten. Er öffnete sein barthaariges Maul und machte »Wow!«, eine formvollendete Nachahmung davon, wie Tristan das Wort aussprach, wenn er beeindruckt war oder etwas cool fand.

Jacob seufzte. »Tut mir leid, Kumpel. Tristan hat heute anscheinend Wichtigeres zu tun, als dich besuchen zu kommen.« King machte wieder das Pfff-Geräusch, und Jacob musste lachen. »Ja, finde ich auch. Aber heute ist Der Tag der Meereskönigin, weißt du.« Er streichelte immer noch Kings Bauch. »Alle Leute von allen Trockensiedlungen kommen einmal im Jahr zusammen. Und zwar auf der Meereskönigin, die befindet sich …« Er drehte den Körper, um nach Süden zeigen zu können. »… da lang. Die ist echt der Wahnsinn! Dieses Jahr darf Tristan mit, und ich möchte da auch so, so, so gerne hin! Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, wie ich meinen Onkel davon überzeuge.«

King drehte sich auf den Bauch und reckte den Hals, um sich hinter Jacob einen der beiden übrigen Fische mit den Zähnen zu schnappen. Jacob sagte: »Hey!«, und nachdem King den Fisch im Ganzen verschlungen hatte, antwortete King ebenfalls mit: »Hey!«

Jacob lehnte sich zurück und ließ den letzten Fisch zwischen seinen Fingern baumeln. »Okay, vergessen wir den Tag der Meereskönigin. Ich werde diesen Fisch so hoch und so weit werfen wie möglich. Meinst du, du kannst ihn auffangen, bevor er aufs Wasser trifft?«

King schnaufte und wippte mit dem Kopf, und noch bevor Jacob mit dem Arm ausholen konnte, sprang der Seelöwe vom Pier ins Wasser. »Los geht’s, Kleiner! Ich werfe ihn jetzt!«

King machte: »Juuup juuup!«, als der Fisch in die Luft sauste, und jagte ihm hinterher.

Jacob blieb noch lange am Pier, sprach mit dem Seelöwen, streichelte ihn und übte Tricks mit ihm. King beherrschte Rückwärtssaltos, Drehungen um die eigene Achse und – Jacobs Lieblingstrick – »Torpedo-Surfen«: Wenn King schnell genug schwamm, konnte er sich aus dem Wasser katapultieren und auf dem Bauch über die Oberfläche gleiten, wie ein flacher Kiesel beim Steinehüpfen – nur ein klein wenig dicker und runder. Jacob grinste, als sein Freund an ihm vorbeischoss wie eine wabbelige Rakete. »Hey, konzentrier dich!«, rief Jacob lachend, als King eine scharfe Kurve schwamm und nach etwas in der Luft schnappte. »Oh, verflixter Seetang!«, entfuhr es Jacob, als er die Möwen bemerkte, die in einem kreischenden Schwarm herbeiflogen und sich auf den Kabinen der kleinen Krabbenfischerboote niederließen. King sprang bellend herum und jagte aufgeregt den Vögeln hinterher. Jacob schaute zum Kai hoch und sah eine Gruppe von Fischern in knöchellangen gelben Öljacken zu ihren Booten schlendern, die Arme beladen mit Körben für ihren nächsten Fang. Die meisten Fangschiffe für Schnapper und Tiefseethunfische liefen noch vor Sonnenaufgang von der Turmfestung aus. Genau deshalb wählte Jacob diese Tageszeit, um King zu besuchen – die Piere waren menschenleer. Zumindest, bis eine Stunde später die Krabbenfischerboote abfuhren. Für sie war es im Hellen einfacher, die Bojen auszumachen, an denen ihre Fangkörbe befestigt waren. Heute war es bewölkt, und Jacob hatte nicht bemerkt, wie hoch die Sonne schon gestiegen war. Er war zu lange hier unten am Pier geblieben. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er nur noch zwanzig Minuten hatte, bis um Punkt sieben Uhr dreißig das Frühstück serviert wurde. »Tut mir leid, Kumpel, ich muss los! Die ziehen mir bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren, wenn ich zu spät zum Frühstück komme.« Er kniete sich hin, umarmte King ein letztes Mal und gab ihm einen Kuss auf die barthaarige Wange. »Sei schön brav, ja? Ich komme wieder, sobald ich kann.«

King wippte mit dem Kopf, machte »Juuup!« und ließ sich vom Pier ins Wasser gleiten.

Jacob winkte ihm zum Abschied und rannte zum Kai zurück.

Siebzehn Minuten später schlüpfte Jacob, jetzt wieder in den Kleidern, die sein Onkel ihm gekauft hatte, zurück in das Gouverneurs-Penthouse. Aus dem Speisesaal drangen die Stimmen von Onkel Sato und Tristan zu ihm – ein normales Frühstücksgespräch. Grinsend tappte Jacob den Flur zu seinem Zimmer hinunter, öffnete und schloss die Tür lautstark und schlenderte mit einem absichtlich herzhaften Gähnen in den Saal. Weder Onkel Sato noch Tristan schenkten ihm besondere Aufmerksamkeit.

»Morgen«, sagte er mit seiner schläfrigsten Stimme. Die Köche hatten ein großes Buffet auf der Anrichte zwischen Speisesaal und Küche aufgebaut, und Jacob steuerte schnurstracks darauf zu, um sich Reis und Dörrfisch auf den Teller zu häufen. Dann nahm er ein Ei, und allein bei dem Gedanken, wie er es über dem Reis aufschlagen und in der kochend heißen Schüssel verrühren würde, bis die Mischung köstlich klebrig war, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Schon mehr als einmal hatte sein Onkel ihm erklärt, dass sie sich glücklich schätzen konnten, überhaupt Eier zu bekommen, weil nur noch so wenige Hühner übrig waren. Jacob hatte nie groß darüber nachgedacht – er wusste nur, wie gerne er Reis mit Eiern zum Frühstück aß.

Wie üblich saß Onkel Sato am Kopfende des Tisches – und wie üblich starrte er auf sein Tablet. Jacob vermutete, dass er bereits fleißig bei der Arbeit war, die Turmfestung am Laufen hielt. Gouverneur zu sein war eine wichtige und schwierige Aufgabe, doch Onkel Sato beherrschte sie bis ins kleinste Detail. Kein Wunder, dass ihn jeder so respektierte!

Tristan stand auf und kam zur Anrichte herüber. »Du riechst nach Seelöwe«, flüsterte er Jacob zu. Jacob warf einen erschrockenen Blick zu ihm hoch, aber Tristan grinste ihn nur verstohlen an. »Keine Angst, alles gut. Mach’s nur nicht immer so spannend, ja?«

Jacob stieß seinem Bruder spielerisch den Ellbogen in die Rippen und ging mit seinem Teller zum Tisch. Dann kam auch Tristan mit einer dampfenden Tasse Algentee zurück.

Ein paar Minuten später und die Augen weiterhin auf sein Tablet gerichtet, sagte Onkel Sato: »Großer Tag heute. Bist du bereit, Neffe?«

Jacob wollte sich gerade einen Bissen eigetränkten Reis in den Mund schieben, ließ jedoch bei den Worten seines Onkels fast die Essstäbchen fallen. Vielleicht würde er Onkel Sato gar nicht überreden müssen? Vielleicht würde sein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gehen? Die Augen weit geöffnet, schluckte Jacob und antwortete: »Du meinst, ich darf mit dir zum Tag der Meereskönigin gehen?«

Zum ersten Mal, seit Jacob eingetreten war, schaute Sato Overland ihn direkt an und verzog bedauernd den Mund. »Ich nehme dir deinen Optimismus nicht übel. Aber, Jacob, du weißt doch, dass du noch nicht alt genug bist. Ich meinte deinen Bruder.« Satos Augen glitten zu Tristan hinüber. »Er ist jetzt ein Mann. Für ihn ist es an der Zeit, die Verantwortung einer Führungsposition kennenzulernen.«

Jacob drehte sich der Magen um.

Allein am Tonfall seines Onkels erkannte Jacob, dass er Sato nicht würde überzeugen können. Nichts, was Jacob vorbringen könnte, würde die Meinung seines Onkels ändern.

Danach begannen Onkel Sato und Tristan über die Rationierung von Sonnenenergie-Kollektoren zu sprechen.

Jacob blendete das Gespräch aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ihm war plötzlich der Appetit vergangen. Erst jetzt bemerkte er den Gegenstand an Tristans Handgelenk. Dads Uhr! Tristan trug sie an demselben Handgelenk wie sein geflochtenes Tau-Armband – Tristan hatte es selbst gefertigt, und es glich dem um Jacobs eigenem Handgelenk. Die Uhr sah gut aus neben dem verwitterten Tau.

Jacob liebte diese Uhr aus glänzendem Silbermetall und mit tickenden Zahnrädern. Ein wunderschönes Beispiel vorflutlicher Handwerkskunst. Tristan trug sie in letzter Zeit immer öfter. Früher war sie zu groß für sein Handgelenk gewesen, doch wie Onkel Sato schon gesagt hatte, war Tristan nun ein Mann, und plötzlich passte ihm die Uhr.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in Jacobs Mund aus. Blöder Tristan. Mit seinem blöden neuen Pferdeschwanz, den er sich in letzter Zeit immer band, und mit seinem blöden Erwachsenenzeug. Ständig schlich er sich weg, um seine Freunde zu treffen, und dauernd sagte er zu Jacob: Wenn du älter bist und die oberen Ebenen allein verlassen darfst, dann kannst du mit uns abhängen. Dabei konnte Jacob doch gar nichts dafür, dass er noch nicht sechzehn war! Würg!

Onkel Satos Tablet klingelte, und Jacob erkannte die Stimme von Toby Woolruff, einem der Assistenten seines Onkels. »Sir, es tut mir leid, aber Sie werden dringend auf Industrie-Ebene Drei gebraucht. Es geht um die Wasserentsalzung. Pumpenausfall.«

Sato nickte und stand auf, wischte sich dabei mit der Serviette sorgfältig den Mund ab. Zu Tristan gewandt sagte er: »Sei um neun Uhr bereit.« Anschließend kam er um den Tisch herum und legte Jacob eine Hand auf die Schulter. »Geduld zu lernen ist wichtig. Noch vier Jahre, dann bist du dran. Okay?«

Jacob nickte, den Blick starr auf den Teller gerichtet. Onkel Sato schien damit zufrieden. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum.

Sobald sich die Eingangstür hinter seinem Onkel geschlossen hatte, wandte Jacob sich Tristan zu. Er hoffte, dass man seiner Stimme die plötzliche Verzweiflung in seinem Herzen nicht anmerken würde. »Hör mal. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Einen ziemlich großen sogar.«

Tristan kaute an einem Bissen Salzfleisch. »Ich glaube nicht, dass ich dir dabei helfen kann.«

»Du weißt doch noch gar nicht, worum es geht.«

Tristan sah seinen jüngeren Bruder mit hochgezogener Augenbraue an. »Du willst mit uns zum Tag der Meereskönigin.«

Jacob schoss jede Vorsicht in den Wind. »Okay, ja. Bitte nimm mich mit! Bitte?!«

Tristan hob abwehrend die Hände. »Du hast doch gehört, was Onkel Sato gesagt hat. Du bist nicht alt genug. Und das ist auch nicht nur seine Vorschrift. Das ist allgemeine Vorschrift. Du kannst nicht mitkommen.«

»Aber ich würde so gerne! Hier hab ich sowieso nichts zu tun, mir ist sterbenslangweilig!«

Tristan lachte spöttisch. »Du musst zum Unterricht! So in ’ner halben Stunde?«

Jacob verstummte kurzzeitig, malte sich in Gedanken den Privatunterricht aus, den er jeden Tag über sich ergehen lassen musste – ausgerechnet bei Miss Petersyn, einer strengen alten Schachtel mit dem Humor einer Miesmuschel. »Ach, komm schon. Onkel Sato muss es ja nicht erfahren. Ich stör dich auch nicht, ich will nur die Meereskönigin sehen, und du wirst nicht mal merken, dass ich da bin!«

Tristan stand auf und wuschelte ihm – zu Jacobs enormer Verärgerung – durchs Haar. »Tut mir leid, Kleiner. Die Antwort lautet immer noch nein.«

Jacob verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch. »Du bist nicht unser Dad, weißt du. Du hast mir gar nichts zu sagen.«

Tristan erstarrte. »Ich will Dads Platz gar nicht einnehmen«, sagte er. »Ich versuche nur, zu tun, was für dich am besten ist.«

»Was für mich am besten ist?«, rief Jacob aus. »Du meinst, keine Freunde zu haben? Oder keine Freiheit? Die ganze Zeit hier oben im Turm eingesperrt zu sein und Zeug zu lernen, das ich niemals brauchen werde?«

Tristan ballte die Hände zu Fäusten. »Jetzt hör mir mal –«

»Nein! Jetzt hörst du mir mal zu!«, unterbrach Jacob ihn. »Du sagst, du willst dich nicht wie Dad benehmen – aber du benimmst dich auch nicht mehr wie mein Bruder! Nie hast du mehr Zeit für mich! Hast immer was ›ganz Wichtiges‹ zu tun. Bin ich nicht auch wichtig, Tristan?«

Tristan machte große Augen. »Natürlich bist du –« Er warf die Arme in die Luft. »Du verstehst das nicht! Alles, was ich tue, muss ich tun f–«

Tristan verstummte mitten im Wort.

Dann drehte er Jacob bewusst den Rücken zu und blickte auf die Uhr ihres Vaters hinunter. »Tut mir leid, aber ich hab jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Ich muss los. Wir sprechen noch darüber – später.«

Tristan ging aus dem Zimmer, ohne ihn noch einmal anzusehen. Genau wie Onkel Sato. Ein paar Sekunden später fiel die Eingangstür erneut ins Schloss, diesmal hinter Tristan.

Jacob sackte auf dem Stuhl zusammen. Er stützte den Kopf in die Hände, versuchte, es zu verstehen – diese Veränderungen, dieses Gefühl, als sei sein Bruder jemand anderes geworden. Natürlich, Tristan wurde langsam erwachsen. Das war Jacob klar, und das war ja auch mehr oder weniger normal. Aber … Moment mal …

In Jacobs Kopf begann es, zu rattern.

Was hatte Tristan über das gesagt, was er tun musste?

Oder vielmehr: Was hatte Tristan ihm verschwiegen?

Jacob setzte sich wieder auf, ging den letzten kurzen Wortwechsel noch einmal im Kopf durch, immer und immer wieder. Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er davon, dass … na ja, dass Tristan irgendwas verheimlichte.

Hier ging es nicht um normalen Teenager-Kram. Das konnte nicht sein. Irgendetwas war passiert. Jacob wusste es plötzlich. Er spürte es instinktiv, und je mehr er darüber nachdachte, desto konkreter wurde das Gefühl. »Was versteckst du vor mir?«, fragte Jacob den leeren Raum leise.

In seinem Herzen machte sich Entschlossenheit breit. Umgab es so fest wie ein Panzer.

Jacob hatte neben King nur noch eine einzige Freundin – eine Fischerin namens Mari. Als kleiner Junge hatte er sich tagein, tagaus auf ihrem Fischerboot herumgetrieben, hatte mit Tristan Verstecken gespielt, kannte ihr Boot in- und auswendig.

Was bedeutete, dass er den perfekten Platz kannte, um als blinder Passagier mitzufahren – falls er es schaffte, zu ihrem Liegeplatz zu gelangen, bevor sie in Richtung Meereskönigin ablegte …!

Jacob rannte los, um seine Verkleidung zu holen.

2

Eine kleine Stofftasche an die Brust gedrückt, starrte Jacob durch das Bullauge nach draußen. Große, salzige Wellen türmten sich auf und klatschten alle paar Sekunden gegen die Seite von Maris Boot. Wie sehr wünschte Jacob, dass er vorne hinausschauen, die Meereskönigin genau betrachten könnte, wenn sie endlich nah genug wären, sie auf sich wirken lassen könnte – aber so hatte er sich nun mal entschieden. Hatte einen guten Ausblick für ein sicheres Versteck eingetauscht.

In der kleinen Kammer, in der er unter Deck hockte, wurde normalerweise die Taucherausrüstung verstaut, aber Mari trug nicht gerne »so eine Kluft«, wie sie es nannte, und konnte sie sich ohnehin nicht leisten. Alles um ihn herum war mit Staub und Schmutz bedeckt. Doch das machte Jacob nichts aus. Jeder Fleck auf seinem Reiniger-Kostüm würde es nur echter aussehen lassen.

Er war unschlüssig gewesen, was er mitnehmen sollte, als er seine Sachen zusammengesucht und in die Stofftasche gepackt hatte, also hatte er das Gouverneurs-Penthouse mit ein paar Reisbällchen, etwas getrocknetem Fisch und einem kleinen Beutel voll mit seinen gesparten Schwimmtalern verlassen. Er würde sich die Zugbänder um die Schultern legen und das kleine Bündel wie einen Rucksack tragen, wenn sie an der Meereskönigin ankamen. Vorausgesetzt, er könnte seine Beine je wieder dazu bringen, sich zu strecken.

Er lehnte sich zurück, gegen die Kammertür, starrte hinaus auf die Wellen und den weiten blauen Himmel und fühlte das sanfte, beständige Surren des Elektromotors. Mari könnte auch die Segel auf ihrem Boot in den Wind drehen, wenn sie wollte, aber sie waren mit dem glatten schwarzen Sonnenabsorbierungsmaterial überzogen, das die meisten der Fischerboote nutzten. Es fing die Sonnenstrahlen ein und leitete die Energie nach unten zu den Propellern. Einmal hatte Jacob Onkel Sato darüber sprechen hören, dass Boote und Schiffe früher einmal irgendeine Flüssigkeit verbrannt hatten, um ihre Motoren zum Laufen zu bringen. Das konnte er sich kaum vorstellen. Eine Flüssigkeit, die brannte? Er sah ein flüchtiges Bild von Feuer auf Wasser vor sich und erschauderte.

Unsanft schreckte Jacob aus seinen Tagträumen hoch, als etwas gegen die Bootswand klatschte und eine Sekunde lang das Licht vor dem Bullauge verdunkelte. Er lehnte sich vor, blickte durch das dicke Glas und hätte fast aufgeschrien, denn ein großes dunkelbraunes Auge hüpfte in und außer Sicht. Von draußen hörte Jacob ein leises »Juuup!«.

»King!«, flüsterte Jacob. »Was machst du hier? Wegen dir werden wir noch erwischt!«

Immer wieder sprang King neben Maris Boot aus den Wellen, drehte sich, spritzte Wasser in alle Richtungen und rief »Hey!«, bevor er wieder zurück in die Fluten platschte.

Von oben hörte Jacob Maris verärgerte Stimme: »So einem wie dir geb’ ich keine Fische! Weg mit dir! Sonst fange und häute ich dich!«

»Juuup juuup!«, rief King und verschwand unter Wasser. Nur Sekunden später, fast zu leise, als dass Jacob ihn auf die Entfernung hören konnte, erklang sein bellender Ruf von der anderen Seite des Bootes: »Juuup!«

Mit stampfenden Schritten jagte Mari über Jacobs Kopf auf dem Deck umher. »Du bist nich’ süß, du kleiner Seeteufel! Das glaubste nur!«

Normalerweise hätte Jacob gelacht, doch das Boot war dank Kings Kapriolen Richtung Steuerbord getrieben, und plötzlich – durch das Bullauge – lag sie vor ihm.

Die Meereskönigin.

Jacob konnte nicht abschätzen, wie weit entfernt sie noch waren, aber sie schien den halben Ozean einzunehmen.

Sie sieht aus wie eine ganze Stadt.

Das war sein erster Gedanke. Wie eine der Städte aus den uralten, schimmeligen Büchern, die Miss Petersyn ihm so gerne zeigte. Jacobs Gehirn versuchte, das alles zu verarbeiten. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln: Dort schwamm eine Stadt auf den Wellen! Als sie langsam näher kamen, begann er allmählich zu verstehen, was er da eigentlich vor sich sah: Irgendwann in der Vergangenheit musste eine Gruppe genialer Ingenieure und Technologen große Teile der Außenwände des riesigen Schiffes – Jacob wusste, dass diese Art Schiff »Ozeandampfer« genannt worden war – entfernt haben. Nicht so tief hinunter, dass das imposante Bauwerk mit Wasser vollzulaufen drohte, aber tief genug, dass Deck über Deck nun in Sonnenlicht gebadet waren, wie ein mehrstöckiger Freiluftmarkt. Noch nie hatte Jacob so etwas gesehen.

»Als hätte jemand die Turmfestung mit der Innenseite nach außen gekehrt«, hauchte er. Dann fingen seine Augen an zu brennen, und Jacob stellte fest, dass er nicht mehr geblinzelt hatte, seit die Meereskönigin in Sicht gekommen war.

Er erinnerte sich an einiges, das Onkel Sato ihm über sie erzählt hatte. Zum Beispiel war die Meereskönigin dauerhaft mit dem Meeresboden verankert, und Teile der umgestalteten Außenwände konnten nach oben geschoben und befestigt werden, wenn ein Sturm kam.

Die Meereskönigin war das absolut Unglaublichste, das Jacob je in seinem Leben gesehen hatte. Jede noch so hohe Bestrafung, die ihm drohte, wenn Onkel Sato irgendwie von seinem Ausflug Wind bekam, wäre es mehr als wert. Jacob stöhnte leise, als Mari das Boot wieder auf Kurs brachte und die Meereskönigin außer Sicht geriet, doch nur fünfzehn oder zwanzig Minuten später wurde der Elektromotor abgeschaltet. Das Herz klopfte Jacob bis zum Hals, als das Boot an einem der Piere der Meereskönigin