Waterland - Ozean in Flammen - Dan Jolley - E-Book

Waterland - Ozean in Flammen E-Book

Dan Jolley

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Beschreibung

Gefährliche Gegner, todbringende Strudel und ein unverhofftes WiedersehenJacob, Tristan und Hali ist es vorerst gelungen, den Krieg, den sein Onkel Sato anzetteln will, zu stoppen. Doch nun müssen sie sich auf die Suche nach dem nächsten wertvollen Ozeanjuwel machen, bevor Sato es in die Finger bekommt. Gemeinsam folgen die Freunde einer rätselhaften Karte, kämpfen sich durch einen fleischfressenden Kelbwald und werden schließlich von einem gigantischen Wasserwirbel auf eine abgelegene Insel geschleudert. Dort erwartet Jacob und Tristan eine unglaubliche Überraschung, die alles in Frage stellt, was sie bisher zu wissen glaubten …Eine brandgefährliche Mission in eine tiefblaue Welt voller Geheimnisse, faszinierender Wesen und überraschender Wahrheiten.Band 3 der packenden Wasserfantasy-Saga!Weitere Bände:Dan Jolley, Waterland - Aufbruch in die Tiefe (Band 1)Dan Jolley, Waterland – Stunde der Giganten (Band 2)Serie bei Antolin gelistet

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Seitenzahl: 278

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Dan Jolley

Waterland

Ozean in Flammen Band 3

Aus dem Englischen von Sabrina Sandmann

FISCHER E-Books

Inhalt

123456789101112131415161718Band 41

1

Jacob Overland brach hustend und nach Luft schnappend aus dem Salzwasser hervor.

Die mächtige Welle wich unter ihm zurück, und seine zitternden Knie landeten unsanft im Sand, einen Augenblick später gefolgt von seinen Handballen. Der Mastertech-Gurt, durch den er unter Wasser atmen konnte, löste sich von seinem Kopf und glitt hinunter auf seine Schultern. Er zog ihn ab, hatte gerade die Riemen und Kästchen mit einer Hand gepackt, als eine weitere tosende Welle gegen ihn krachte.

Wie ein Stück Treibholz rollte Jacob über den Sand und prustete gefühlt einen Liter Salzwasser aus Mund und Nase. Endlich brachte er genug Kraft auf, um sich außer Reichweite des unnachgiebigen Ozeans zu schleppen. Er ließ sich in den Sand fallen und stierte in den kobaltblauen Himmel über ihm, bis sich sein Atem wieder etwas beruhigt hatte.

Dann setzte Jacob sich auf, und sofort wummerte sein Kopf so heftig, als würde ein riesiger Hammer im Rhythmus seines Herzschlags darauf eintrommeln. Er berührte die Stelle am Hinterkopf, wo es besonders weh tat, und als er die Finger wieder vor das Gesicht hielt, glänzte darauf frisches Blut. Jacob stieß ein langgezogenes, leises Stöhnen aus. Was ist bloß mit mir passiert?, fragte er sich.

Mit langsamen Bewegungen, da alles andere seinen Kopf noch stärker pochen ließ, betastete Jacob seinen restlichen Körper, konnte aber keine weiteren Wunden entdecken. Dann wackelte er mit den Zehen, um sicherzugehen, dass seine Beine noch funktionierten. Als der Schmerz im Kopf wenige Minuten später ein winziges bisschen nachgelassen hatte, biss er die Zähne zusammen und stand auf.

Sein erster Impuls war, »Hallo« zu rufen, doch er unterdrückte ihn sogleich wieder. Falls an diesem Ort etwas Gefährliches lauerte, wäre es alles andere als nützlich, seine Anwesenheit zu verraten. Nein, zuerst musste er herausfinden, wo zum Seeteufel er gelandet war.

Jacob hatte schon einmal an einem Strand gestanden, das war auf der Sichelspitze gewesen, einer der kleinen Menschensiedlungen, die verstreut aus dem Meer ragten. Aber hier sah es völlig anders aus. Auf der Sichelspitze hatten die Bewohner das Land hinter dem Sand sorgfältig umhegt und so viele reetgedeckte Holzhäuser zwischen den Bäumen erbaut, dass man den Ort als kleine Stadt bezeichnen konnte. Auf dieser Insel hier wucherte höchstens einen Meter hinter dem Übergang von Sand zu Wald ein Unterholzdickicht, das fast so undurchdringlich schien wie eine Wand. Diese Insel machte den Eindruck, als hätte kein menschliches Wesen sie je betreten – weder Trockensiedler noch Flutwesen. Oder falls doch, dann schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Jacob schaute aufmerksam zum Himmel. Es schien Nachmittag zu sein, denn die Sonne hatte bereits ihren Weg gen Horizont angetreten und stand ihm im Rücken, was bedeutete, dass er Richtung Osten blickte. Der Strand erstreckte sich sowohl nach Norden als auch nach Süden, und bald wurde ihm klar, dass er sich in einer kleinen Bucht befand.

Nichts kam ihm jedoch bekannt vor. Jacob durchforstete seine Erinnerungen nach einem Hinweis, was ihn überhaupt zu dieser Bucht geführt haben könnte, doch das angestrengte Nachdenken verstärkte nur wieder den Schmerz in seinem Kopf.

Es hatte keinen Zweck. Fakt war, dass Jacob nicht die geringste Ahnung hatte, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war.

Und dennoch: Da er hier angeschwemmt worden war, mussten mit großer Wahrscheinlichkeit auch sein Bruder und seine Freunde irgendwo hier sein. Das hoffe ich jedenfalls, dachte er und schluckte schwer. Jacob überlegte, dass ihm nun doch nichts anderes übrig blieb, als nach ihnen zu rufen. Also holte er zittrig Atem, legte die Hände um den Mund und schrie: »Hali! Tristan! Wo seid ihr?«

Die gleichmäßige Brandung der Wellen schien den Klang von Jacobs Stimme zu verschlucken. Es kam ihm so vor, als wären die Worte höchstens bis zu seinen Zehenspitzen vorgedrungen. »Denk nach, du Dummkopf, denk nach«, murmelte er, aber der Schmerz in seinem Kopf loderte wieder auf und ließ ihn zusammenzucken. Er betastete noch einmal seinen Hinterkopf, versuchte, die genaue Stelle der Wunde zu finden. Soweit er beurteilen konnte, lief ihm kein Blut den Nacken hinunter – lediglich winzige Rinnsale Meerwasser, die in der leichten Brise schnell abkühlten –, also vermutete er, dass er nicht lebensgefährlich verletzt war. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete noch einmal die Umgebung, versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.

Das hier war eindeutig eine Insel. Und sie war mindestens so groß wie die Sichelspitze, vielleicht noch etwas größer, allerdings anscheinend ohne Berg in der Mitte. Wenn es sich aber um eine Insel handelte und sie groß genug wäre, um eine Siedlung zu beherbergen … warum gab es hier dann keine? Jedes andere Stückchen Land, das es wagte, aus dem Meer hervorzuragen, wurde doch sofort besiedelt und erschlossen. Warum, also, standen hier nicht überall Häuser herum?

Es sei denn …

Jacob gefiel der naheliegendste logische Gedanke überhaupt nicht. Es sei denn, auf dieser Insel befindet sich etwas so Gefährliches, dass keiner hier leben will.

Der Wind vom Meer ließ ihm eine Gänsehaut über Arme und Rücken laufen. Jacob wünschte sich so sehr, dass sein älterer Bruder Tristan und seine beste Freundin Hali bei ihm wären. Er würde sich sogar mit Aiko begnügen, der Freundin seines Bruders. Einfach jemand Älteres, mit mehr Erfahrung, der ihm das Gefühl geben würde, nicht allein zu sein.

Plötzlich kamen ihm sein Seelöwenfreund King und Halis Haustier, der Riesenmaulhai Blabber, in den Sinn. Jacob wandte sich um und suchte das Meer ab. Vielleicht schwammen sie ja direkt vor der Küste und warteten auf ihn? Nein, das ergab keinen Sinn. King könnte genauso einfach an Land kommen wie Jacob, und wenn er gesehen hätte, dass Jacob in der Klemme steckte, wäre King schon längst über den Sand zu ihm gerobbt, um zu helfen.

Aber nichts durchbrach die Meeresoberfläche …

Doch dann raschelte im Wald hinter ihm plötzlich etwas.

Das Geräusch kam näher und wurde lauter.

Was immer sich dort herumtrieb, es kam direkt auf ihn zu.

Der Adrenalinschub brachte Jacobs Herz zum Rasen und verstärkte den Schmerz in seinem Kopf so sehr, dass dieser förmlich zu zerspringen schien. Als einzige Rettung kam ihm in den Sinn, den Mastertech-Gurt wiederanzulegen, zurück ins Meer zu sprinten und zu hoffen, dass das, was durch die Bäume auf ihn zurannte, ihm dorthin nicht folgen könnte.

Doch seine Finger zitterten so stark, dass er die Riemen nicht zu packen kriegte und der Gurt in den Sand vor seinen Füßen fiel. Als er ihn aufzuheben versuchte, knickten ihm die Knie ein, und er stürzte nach Atem ringend wieder zu Boden. Jacob war zu nichts anderem fähig, als dort auf dem Sand zu hocken und mit weit aufgerissenen Augen die schattige Gestalt anzustarren, die aus den Bäumen hervorstürmte.

»Tristan!«, rief er mit vor Angst erstickter Stimme. »Hali! Helft mir!«

Doch außer den Seevögeln antwortete ihm niemand.

Die dunkle Gestalt blickte Jacob geradewegs in die Augen, beschleunigte ihr Tempo und raste direkt auf ihn zu.

2

Eine Woche zuvor

Jacob wusste nicht recht, ob man Bergen tatsächlich als eine »Stadt« bezeichnen konnte oder nicht. So oder so war es definitiv einer der ungewöhnlichsten Orte, die er je gesehen hatte.

Mit einem schweren, wasserfesten Sack voll Reis schwamm Jacob von dem Unterwasserbereich in Bergen nach oben. Als er die Wasseroberfläche erreichte, kletterte er die steilen, in das Korallenriff gehauenen Stufen hinauf zu dem Gebäude, das als »Lagerraum 2« gekennzeichnet war. Nachdem er den Sack drinnen abgesetzt hatte, lehnte er sich gegen die salzverkrustete Holzwand und verschnaufte einen Augenblick. Das war immerhin schon der zwanzigste Sack Reis, den er von unten heraufgeschleppt hatte, und es kam ihm vor, als wöge seine wasserdurchtränkte Kleidung inzwischen mindestens genauso viel wie der Reis.

Die Siedlung war in sehr kurzer Zeit ziemlich gewachsen. Ein Großteil der Flüchtlinge aus der Unterwasserstadt Ankerhaven hatte sich hier niedergelassen, denn die meisten von ihnen befanden sich mitten in der Umwandlung vom Trockensiedler zum Flutwesen, somit bot ihnen Bergen mit seinen Behausungen über und unter Wasser den besten Unterschlupf. Als er das erste Mal mit Hali nach Bergen gekommen war, hatten die vielen Schiffswracks, die überall auf dem Korallenriff verstreut waren, nahezu unberührt dagelegen. Inzwischen hatten die Leute jedes einzelne davon eilends in Behausungen, Geschäfte oder Lagerräume wie diesen hier umgewandelt. Das würde Onkel Sato gefallen, dachte Jacob, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Sato war schon immer vom Nutzen des Handels überzeugt gewesen. Und nun war buchstäblich über Nacht ein neuer Markt aus dem Boden geschossen, und sowohl Flutwesen als auch Trockensiedler waren hier aufgetaucht, um potenziellen neuen Kunden ihre Waren feilzubieten. Trockensiedler und halb-aquatische Flutwesen bewegten sich frei zwischen den Gebäuden, die über Hängebrücken miteinander verbunden waren, und gingen ihren Geschäften nach. Jacob beobachtete zwei Flutvolk-Kinder dabei, wie sie über eine der wackeligen Hängebrücken rannten und vor Lachen aufschrien, als die Treibholzlatten unter ihrem Gewicht auf und ab hüpften.

Es fühlte sich alles so … normal an. Und das war irgendwie schön.

»Platz da, Brüderchen«, rief Tristan und drängte sich an Jacob vorbei, eine Tonne mit Fischen auf den Armen. Fast ohne den üblichen Verzerrungseffekt drang die Stimme seines älteren Bruders durch die Lautsprecher des Wasseratmungshelms – und das dank Hali, denn sie hatte kürzlich ein bisschen an der Übersetzungsfunktion herumgebastelt, ohne die kein voll-aquatisches Flutwesen außerhalb des Wassers sprechen konnte. Tristans riesige dunkle Augen blitzten in seinem goldenen Gesicht mit dem leichten Schuppenmuster, das durch das Wasser in seinem Helm nur wenig verfälscht wurde. Jacob hatte sich schon beinahe daran gewöhnt, seinen Bruder so zu sehen. Beinahe. »Was, bist du etwa außer Atem?«, feixte Tristan. »Wie kannst du außer Atem sein bei dem ganzen Schwimmtraining in letzter Zeit?«

Jacob richtete sich auf, und bestimmt wäre ihm auch noch eine schlagfertige Erwiderung eingefallen, doch dann musste er erneut den Weg frei machen, als Hali und Aiko mit einer weiteren riesengroßen Tonne mit Fischen hereinkamen. Nachdem die beiden Mädchen die Tonne abgesetzt hatten, nahm Aiko Tristans Hand in ihre und hauchte einen schnellen, spielerischen Kuss auf seine Fingerknöchel.

Hali und Jacob stöhnten gleichzeitig auf. Jacob musste lachen und sagte: »Haut ab mit eurem Geturtel!«

»Du wirst es verstehen, wenn du älter bist«, feuerte Aiko grinsend zurück, blendete ihn förmlich mit ihren strahlend weißen Zähnen, dem dichten kobaltblauen Haar und der schimmernden Silberhaut. Sie hielt noch immer Tristans Hand und zog ihn aus dem Lagerraum. »Das war die letzte Tonne. Können wir uns jetzt bitte an einem der Stände was zu essen holen? Wenn ich noch eine Mahlzeit auf der Manta essen muss, reiße ich mir die Haare aus.«

»Das wäre aber sehr schade«, antwortete Tristan leichthin und legte ihr einen Arm um die Taille. »Natürlich, gehen wir was holen.« Er tippte seinen faltbaren Wasseratmungshelm an. »Ich komme bestimmt lange genug ohne den hier klar, um eine Portion Reis mit Eiern zu vertilgen.«

»Die beiden wären ganz schön nervig, wenn sie nicht gleichzeitig so niedlich wären«, seufzte Hali und lehnte sich Jacob gegenüber an die Wand neben dem Eingang. Wie Tristan war sie voll-aquatisch, aber im Unterschied zu ihm trug sie einen Mastertech-Gurt, mit dem ihre Kiemen genauso leicht Luft atmen konnten wie Wasser. Mastertech-Produkte waren extrem selten und neigten gelegentlich dazu, aus heiterem Himmel zu explodieren, aber Jacob vertraute Halis Talent in technischen Dingen voll und ganz: Solange sie diejenige war, die an seinem Mastertech-Gurt herumwerkelte, würde er ihn bedenkenlos tragen. Na ja, zumindest relativ bedenkenlos. Sein eigener Gurt lag ihm jedenfalls um die Schultern, da er sich selbst deaktiviert hatte, sobald Jacob an der Wasseroberfläche aufgetaucht war.

Manchmal war Jacob sehr bewusst, wie sehr sich sein Äußeres von dem seiner Freunde unterschied. Von allen Vieren war nur noch er ein richtiger Luftatmer. Tristan war natürlich auch als Luftatmer geboren worden, aber die wissenschaftlichen Experimente, denen er in Ankerhaven ausgesetzt gewesen war, hatten ihn in ein voll-aquatisches Flutwesen umgewandelt. Dann war da Hali mit ihren riesigen braunen Augen, der bronzefarbenen, von Schwärmen schwarzer Tupfen übersäten Haut und den langen Fingern mit Schwimmhäuten dazwischen. Wahrscheinlich hatte Aiko äußerlich noch die größte Ähnlichkeit mit Jacob, denn sie war nur halb-aquatisch und konnte so lange außerhalb des Wassers bleiben, wie es ihr beliebte.

Neben den Dreien fühlte sich Jacob bisweilen spektakulär langweilig.

»Wo sind all die anderen von der Crew hin?«, fragte er jetzt.

»Da lang«, antwortete Hali und zeigte in die entsprechende Richtung. »Die restlichen Vorräte sollten alle zu Lagerraum 1 und 3 gebracht werden. Die sind größer als Nummer 2.« Hali fuhr sich mit der Hand durchs Haar, um etwas von dem Salzwasser rauszudrücken. »Aiko ist nicht die einzig Hungrige hier. Ich bin kurz vorm Umfallen. Du etwa nicht?«

Wie auf Knopfdruck knurrte Jacobs Magen. Als er die heiße Nachmittagssonne auf der Haut spürte, fiel ihm auf, dass sie schon seit dem frühen Morgen die Vorräte aus der Manta verluden, die ein paar Meter unter der Wasseroberfläche trieb. »Doch, ich auch. Und ich bin Aikos Meinung: Was anderes als U-Boot-Futter wäre super.«

Hali winkte ihm. »Dann komm mal mit. Auf der anderen Seite gibt es einen Stand mit wirklich unwiderstehlichem Sashimi. Da bin ich früher schon immer hingeschwommen, wenn ich mal ein paar Münzen zusammenkratzen konnte.«

Während sie sich von dem Lagerraum entfernten und Jacob ihr auf eine der Hängebrücken folgte, fragte er: »Wollen wir nicht vielleicht einen der neuen Stände ausprobieren?«

Hali warf ihm über die Schulter einen angewiderten Blick zu. »Essen kaufen, das von einem dubiosen Trockensiedler zubereitet wurde? Und von Ständen, die gerade erst eröffnet haben? Vergiss es.«

Jacob legte einen Schritt zu, damit er neben ihr laufen konnte. Dafür war die Brücke gerade eben breit genug. »Aber wir können uns doch zumindest mal ein bisschen umsehen. Rausfinden, was es hier so Neues gibt.«

Sie traten von der Brücke herunter und auf den Westweg, die einzige Überwasserstraße des Riffs. Obwohl es eigentlich genauso übertrieben war, den Weg als »Straße« zu bezeichnen wie Bergen eine Stadt zu nennen. Der Westweg glich eher einem breiten Pfad, der über die am höchsten gelegenen Bereiche des Riffs verlief und an dem entlang hastig ein paar Verkaufsstände errichtet worden waren.

Jacob rümpfte die Nase, als er und Hali näher kamen.

Den tollsten und beeindruckendsten Markt hatte Jacob wahrscheinlich auf der Meereskönigin gesehen, dem gigantischen Bauwerk, das aus vier uralten Ozeandampfern errichtet worden war, deren Rümpfe man größtenteils von ihren Außenwänden befreit hatte. Direkt nach dem Markt auf der Meereskönigin kam wohl der auf der Meeres-Ebene der Turmfestung, dem pyramidenförmigen Gebäude, in dem Jacob und Tristan aufgewachsen waren.

Hier auf dem Westweg sah der Markt dagegen aus, als hätten die Leute ihn aus Ständen zusammengezimmert, die auf den anderen beiden Märkten zerhackt und weggeworfen worden waren. Nun klebten sie dort wie Seepocken an einem Schiffsrumpf.

Jacob und Hali gingen an Trockensiedlern vorbei, die Streifen von übel riechendem getrockneten Fisch verkauften oder unansehnliche Ketten aus zerbrochenen Muscheln, aufgefädelt auf Seetangschnüren, oder halb kaputte, verrostete Werkzeuge, die zweifellos vor der Großen Flut hergestellt worden waren und aussahen, als könnte man schon vom Hingucken Tetanus bekommen. Die Aneinanderreihung minderwertiger Produkte zog sich in einem fort, je weiter sie liefen.

Allerdings galt Jacobs Interesse nicht so sehr der angebotenen Ware, sondern vielmehr den Verkäufern. Männer und Frauen und manchmal auch Kinder versuchten hier, ihr Bestes zu geben, jedoch hing über allem ein spürbares Gefühl der Verzweiflung. Er fragte sich, wo sie herkamen – aus Ankerhaven stammten bestimmt nicht alle von ihnen. Waren sie vielleicht auch aus der Turmfestung hierhergeflüchtet? Oder von der Sichelspitze oder Treibstadt oder irgendeiner anderen Luftatmer-Siedlung, von der Jacob noch nie gehört hatte?

Niemand sollte so leben müssen, dachte er.

Zwar hatte Jacob absolut nichts gesehen, was er gern kaufen wollte, aber er beschloss, ein oder zwei Münzen bei den am magersten aussehenden Verkäufern auszugeben, damit sie sich mal eine ordentliche Mahlzeit leisten konnten. Er wollte schon seinen Geldbeutel zücken, als Hali ihn am Arm packte. »Guck mal da«, zischte sie.

Zwischen zwei Verkaufsständen war so etwas wie ein Zaun zusammengenagelt worden, und Jacob blieb urplötzlich die Luft weg, als er die Fahndungsplakate sah, die daran befestigt waren. Dort hingen mindestens fünfzehn davon – nein, zwanzig. Alle zeigten handgezeichnete Bilder von abgebrühten Kriminellen. Und auf allen standen die Worte: »AUS DEM KNOCHENGRUFTGEFÄNGNIS ENTFLOHEN. MÖGLICHERWEISE BEWAFFNET UND GEFÄHRLICH.«

Schlagartig hatte Jacob keinen Hunger mehr.

Sie waren seinetwegen ausgebrochen. Nachdem er und Hali die sonargesteuerte und bewusstseinskontrollierende Maschine von Onkel Sato zerstört hatten, war bei der Explosion auch das Sicherheitssystem der Knochengruft kurzgeschlossen worden, so dass alle Gefangenen hatten entwischen können. Für Jacob machte es keinen Unterschied, dass sie durch die Zerstörung der Maschine – ein sogenanntes Sonargerät – unzählige Leben gerettet und einen Krieg zwischen den Trockensiedlern und dem Flutvolk verhindert hatten. Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, fühlte es sich trotzdem so an, als hätte ihm jemand mit voller Wucht in die Magengrube geboxt.

Hali warf nur einen kurzen Blick auf Jacobs Gesicht und wurde sofort ernst. »Hey, hey«, sagte sie. »Es war nicht unsere Schuld, dass die ausgebrochen sind.« Sie kam ihm mit ihrem Gesicht ganz nah, und ihre großen braunen Augen bohrten sich in seine schwarzen. »Sato war schuld. Nicht wir. Er ist derjenige, der versucht, einen Krieg anzuzetteln.«

Jacob seufzte. »Ich weiß. Das weiß ich ja. Es ist nur –«

Er wollte den Satz nicht zu Ende führen. Dass sie es den Verurteilten ermöglicht hatten, aus der Knochengruft zu entkommen, war nicht das einzig Schlimme, das passiert war. Sie hatten auch den Feuerkern an Sato verloren – einen der vier Ozeanjuwelen, die Sato als Energiequelle für irgendeine Art von Kriegswaffe nutzen wollte, an der er baute. Die Erinnerung daran, wie sein Onkel mit diesem unglaublich mächtigen Edelstein in seinem Boot davonraste, trieb Jacob jedes Mal wieder ein bisschen in den Wahnsinn.

Hali nahm ihn beim Arm und zog ihn den Westweg hinunter, weg von den Fahndungspostern. Jacob wusste, dass sie recht hatte. Wenn er richtig darüber nachdachte, war ihm selbst klar, dass der Ausbruch aus der Knochengruft wirklich nicht ihre Schuld gewesen war. Er wollte die Angelegenheit jetzt hinter sich lassen.

Dann erblickte er das letzte Poster in der Reihe und blieb wie angewurzelt stehen.

Der Insasse auf diesem Poster glich einem Ungeheuer aus den Albträumen seiner Kindheit. Aus einem der richtig schlimmen, die Jacob manchmal gehabt hatte, wenn Tristan und seine Freunde ihm Gruselgeschichten erzählt hatten. Wie ein Trockensiedler sah der Mann nicht aus, aber … auch nicht wie irgendein Flutwesen, das Jacob jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er sah eher aus wie …

Ein Dinosaurier.

Wenn der Zeichner das Aussehen des Gefangenen auch nur annähernd naturgetreu dargestellt hatte, dann starrte Jacob gerade das Abbild eines Wesens an, dessen Haut zerklüftetem Gestein gleichkam – durchzogen von Furchen, die nur sehr vage die Umrisse von Schuppen andeuteten – und dessen Kopf und Hals so wuchtig wirkten, dass die darunterliegenden Knochen eher die Form von Felsbrocken haben mussten als von irgendeinem Teil des menschlichen Skeletts. Jacob hatte schon zuvor furchteinflößende Flutwesen zu Gesicht bekommen. Den Wachmann mit mehreren Tentakeln, auf den er in Ankerhaven getroffen war. Die haiköpfigen Zwillingsbrüder, die den Eingang zur Knochengruft bewachten. Aber dieser steinhäutige Mann stach all die anderen, zahmeren Beispiele wasseratmender Bösartigkeit mühelos aus. In seinem klaffenden Mund befanden sich Reihe um Reihe hakenförmiger rasiermesserscharfer Zähne, und darüber blickten ihn drei Augen unter klobigen Brauen an. Drei. Zwei an den Stellen, wo normale menschliche Augen saßen, und das dritte etwa einen Fingerbreit höher in der Mitte zwischen den beiden.

Jacob erschauderte. Die Abbildung zeigte den Geflüchteten lediglich vom Hals aufwärts. Wie musste bloß der Körper dieses Monsters aussehen, wenn die Zeichnung auch nur ungefähr stimmte?

»Cubo«, wisperte Hali über Jacobs Schulter. Er blickte auf und sah, dass sie neben ihm stand und genau wie er auf das Bild starrte.

»Was?«

Sie deutete auf den Schriftzug des Posters. »So heißt er. Cubo. Warum kommt mir der Name bloß bekannt vor?«

Jacob konzentrierte sich auf die Buchstaben, und der Anblick weckte urplötzlich eine Erinnerung. »Isolation«, sagte er. »Da war ein Schild. In der Knochengruft wurde einer der Insassen in Isolationshaft gehalten, ganz hinten am Ende des kurzen schmalen Ganges.« Jacob schluckte schwer. »Das war er.«

Halis Stimme zitterte. »Er sieht aus wie … Keine Ahnung. Wie um alles im Ozean würdest du dieses Gesicht beschreiben? Als wäre es … aus einem Felsblock gemeißelt oder so.«

Jacob konnte den Blick nicht davon losreißen. »Stimmt. Allerdings war der Steinmetz nicht gerade talentiert.«

Genau in diesem Augenblick ertönte eine derbe Männerstimme hinter ihnen: »Du hast mich sehr wohl gehört! Ich hab gesagt, du bist ein Wilder, und so hab ich das auch gemeint!«

Jacob und Hali fuhren gleichzeitig herum. An einem Stand auf dem Westweg etwa zehn Meter von ihnen entfernt beschimpften sich ein Trockensiedler und ein großer, voll-aquatischer Flutvolk-Mann mit grün-weiß gestreifter Haut. Beide hatten die Hände zu Fäusten geballt, die Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest«, schoss der Flutvolk-Mann zurück. »Wie alle von deiner Sorte!«

Die Augen des Trockensiedlers weiteten sich. »Meine Sorte? Willst du lieber hören, was deine Sorte meinem Bruder auf der Sichelspitze angetan hat?« Er stach dem Flutvolk-Mann mit einem spitzen Finger in die Brust. »Deine Sorte ist ein Pack von Barbaren und Mördern! Wenn du ein echter Mann wärst, würdest du’s zugeben!«

Ihre Stimmen wurden mit jedem Wort lauter. Jacob murmelte: »Gehen wir besser da rüber, bevor sie noch eine Schlägerei anzetteln.« Hali nickte stumm. Sie machten sich auf den Weg, doch sie hatten nicht mehr als ein paar Schritte gehen können, als sich drei weitere Trockensiedler zu dem schreienden Mann gesellten und vier voll-aquatische Flutwesen – Männer wie Frauen – hinter dem grün-weiß gestreiften auftauchten.

»Nicht mehr so ’ne große Klappe, wenn unsere Fäuste auf euch warten, was?«, brüllte ein Trockensiedler – Jacob konnte nicht erkennen, welcher –, und schon zuckte eine schuppige Faust vor und hätte fast den Kiefer eines Luftatmers getroffen.

Jacob und Hali drängelten sich durch die immer dichter werdende Menge und kamen genau in dem Augenblick im Zentrum des Aufruhrs an, als der grün-weiß gestreifte Mann den am nächsten stehenden Trockensiedler am Kragen packte, die andere Hand zur Faust ballte und sich bereit machte, ihm größtmöglichen Schaden zuzufügen. Jacob hatte schon Luft geholt, um etwas zu rufen wie: Ihr versteht das alle falsch! Das war Sato Overland! Er war derjenige, der die Flutwesen rasend gemacht hat, sie konnten gar nichts dafür!

Doch stattdessen verwandelte sich die Szene in ein glühendes, blendendes Rot, fast unverzüglich gefolgt von einem ohrenbetäubenden Bumm!

Jacob erkannte an dem Licht und dem Geräusch, dass es sich um ein Leuchtsignal der WasserKrieger gehandelt hatte, und blinzelte wild mit den Augen, um durch die plötzlich in seinem Sichtfeld schwimmenden hellgrünen Punkte wieder etwas sehen zu können. Da! Ein paar Meter entfernt stand Kira Redtree, die Anführerin der WasserKrieger, und hielt eine rauchende Signalpistole in der Hand.

Die Menge, die gerade noch kurz vor einem Kampf gestanden hatte, verstummte kurzzeitig vor Überraschung und beruhigte sich daraufhin etwas. Kira trat vor und ließ ihre äußerst eindrucksvolle Stimme ertönen, mit der sie schon so viele Reden vor der Gemeinschaft von Friedensaktivisten, auch bekannt als die WasserKrieger, gehalten hatte.

»Das reicht!«, brüllte Kira, und ihr Bubikopf aus kastanienbraunen Haaren zitterte. »Der Sinn und Zweck von Bergen ist doch, jedem Einzelnen Zuflucht zu bieten, der sie benötigt! Ihr wollt die Erinnerung an eure gefallenen Angehörigen in Ehren halten? Ihr wollt eine friedliche Welt erschaffen? Das werdet ihr mit Prügeleien auf der Straße nicht erreichen! Also verzieht euch, auf der Stelle! Ihr alle!« Sie wartete. Keiner rührte sich. »Jetzt!«

Einige Sekunden lang murrten die Trockensiedler und Flutwesen noch vor sich hin, jedoch wandten sich innerhalb kurzer Zeit alle voneinander ab, und die Spannung zwischen ihnen verflog wie Wasserdampf in einer leichten Brise.

Kira kam zu Jacob und Hali herübergelaufen und verstaute dabei die Signalpistole in ihrem braunen Overall. »Was treibt ihr beiden denn hier?«, fragte sie. »Alles gut bei euch?«

Hali nickte. »Wir wollten dasselbe versuchen wie du. Die Schlägerei verhindern. Nur hast du das viel besser hingekriegt, als es uns gelungen wäre.«

Da Jacob einer Koralle am Boden einen Tritt versetzte, fragte Kira: »Bei dir auch alles in Ordnung, Jacob?«

Er seufzte. »Na ja, es – ich dachte, die Situation würde sich verbessern. Verstehst du? Wir haben die Maschine von meinem Onkel vernichtet. Wir haben dafür gesorgt, dass jeder Einzelne zwischen Ost und West von der Zerstörung erfährt. Und auch davon, dass die Flutwesen absolut nichts dafür konnten, dass sie nur wegen des Sonargeräts durchgedreht sind. Ich hatte gedacht, dass das alles helfen würde. Aber …« Er deutete den Trockensiedlern hinterher, die sich zwar langsam entfernten, von denen aber immer noch zwei dem ersten Flutvolk-Mann verbitterte Blicke zuwarfen, während der den Westweg in die entgegengesetzte Richtung entlanglief. »Aber das hat es nicht. Es kommt mir vor, als wäre den Leuten egal, was der eigentliche Grund war oder was wirklich passiert ist, ihnen ist einfach alles egal. Sie wollen bloß irgendwas oder irgendwen hassen.«

Jacob hatte gehofft, dass Kira ihm widersprechen und ihm sagen würde, dass alles ganz anders war, aber stattdessen nickte sie nur mit düsterer Miene. »Es braucht einfach Zeit. Zeit und –« Sie warf einen Blick über die Hängebrücke zu Lagerraum 2 hinüber. »Sagen wir mal ›guten Willen‹. Wenn wir mit der Manta zu allen Siedlungen fahren, weiterhin deutlich machen, was tatsächlich passiert ist, und unsere Argumente mit einigen dringend benötigten Vorräten unterstreichen, werden die Leute auf uns hören. Irgendwann.«

Jacob fühlte sich ernüchtert. Das klang alles so schwierig und hoffnungslos.

Kira klopfte Jacob auf die Schulter. »Kopf hoch, Kleiner. Wir haben keine Zeit, Trübsal zu blasen, auf uns wartet noch jede Menge Arbeit. Die Vorräte zu allen bringen, die sie brauchen. Die Botschaft – die Wahrheit – verbreiten. Das sollte unsere Marschrichtung sein. Und absoluten Vorrang haben. Verstanden?«

Jacob brachte ein halbherziges Lächeln zustande. »Ja, Ma’am«, antwortete er.

Zwanzig Minuten später befanden sich Jacob und Hali an dem zuvor von ihr erwähnten Unterwasser-Sashimi-Stand und machten es sich halb sitzend, halb schwebend an einem der zwei kleinen, im Felsen verschraubten Tische gemütlich. Zu beiden Seiten der Tische waren jeweils zwei Stühle ebenfalls im Felsen festgemacht und zwischen den vorderen Stuhlbeinen mit einer speziellen Querverstrebung versehen worden, hinter der die Gäste ihre Füße verhaken konnten. Jacob vermutete, dass die Tische und Stühle hier angebracht waren, um den halb-aquatischen Neuankömmlingen in Bergen eine Erinnerung an ihr vorheriges Luftatmer-Leben zu bieten.

Hali und er aßen aus »Flutvolk-Tellern« – kugelförmigen, aus Seetang gewebten Körben mit kleinen Löchern an der Seite, durch die gerade eben eine Hand passte. Jacob schob seine Finger hinein, nahm ein weiteres Stück Sashimi und steckte es sich in den Mund. Es war salzig und saftig und absolut köstlich. Er war inzwischen richtig gut darin, unter Wasser zu essen, und verschluckte kaum noch Meerwasser.

»Du weißt, was Kira uns eigentlich sagen wollte, oder?«, fragte Hali zwischen zwei Bissen.

Jacob kaute nachdenklich. Er beäugte die anderen Leute um sie herum – die halb- und voll-aquatischen Bewohner von Bergen, die zusammen arbeiteten und miteinander sprachen und gemeinsam ihr Bestes gaben, um »Leib und Seele zusammenzuhalten«, wie Miss Petersyn es formulieren würde. Nicht zum ersten Mal fragte Jacob sich, was seine ehemalige Privatlehrerin wohl in der Turmfestung machte. Ob es ihr gut ging. Oder ob er sie vielleicht irgendwann hier unter den Wellen sehen würde, weil sie wie so viele andere das Trockensiedler-Leben aufgegeben hatte.

Endlich schluckte Jacob den Fischbissen hinunter und sprach. »Ja. Sie wollte damit sagen, dass wir nicht mit der Manta nach dem Meeresfunken suchen können«, antwortete er. Hier unter Wasser ertönte seine Stimme aus den Kiemenkästchen des Mastertech-Gurts, die an den Seiten seines Halses saßen. »Ich meine, ich kann es ihr ja nicht verdenken. Es ist viel sinnvoller, einen weiteren Krieg zu verhindern – damit unternimmt sie schließlich etwas, das sie auf jeden Fall bewerkstelligen kann und das viele Leben retten wird, keine Frage –, anstatt einem Stein hinterherzuschwimmen, der sich nur möglicherweise dort befindet.«

In nachdrücklichem Ton entgegnete Hali: »Er befindet sich da. Das ist doch auf der Karte eingezeichnet.«

Jacob dachte an die altertümliche, verwitterte Seekarte, die sie aus dem geheimen Museum auf der Sichelspitze hatten mitnehmen dürfen. Sie schien tatsächlich den Standort des Meeresfunken anzuzeigen, einem der vier Ozeanjuwelen. Sie hatten bereits den Windstein und den Feuerkern an seinen Onkel verloren, und wenn es nur die geringste Chance gab, dafür zu sorgen, dass sein Onkel den Meeresfunken nicht in die Finger bekam, dann mussten sie diese ergreifen. Bloß wie?

»Wir können nicht einfach mit King und Blabber versuchen dorthinzuschwimmen«, sagte Jacob und steckte noch einmal seine Hand in den Kugelteller. »Du hast ja selbst gesehen, über welche Entfernung wir hier sprechen. Das würde viel zu lange dauern.« Verdrießlich fügte er hinzu: »Deshalb hatte ich ja gehofft, dass Kira uns mit dem U-Boot hinbringt. Wie wir es ursprünglich geplant hatten.«

Hali schnippte mit den Fingern – diese Angewohnheit hatte sie sich von Jacob abgeguckt. Unter Wasser erzeugte das jedoch kaum ein Geräusch. »Hey! Weißt du, was? Vielleicht kenne ich da jemanden. Iss mal schnell auf!«

Während sie sich das restliche Sashimi in den Mund stopfte, fragte Jacob: »Du kennst da jemanden? Was meinst du damit? Was ist das für ein Jemand?«

Mit einen Mundvoll voll rohen Fisch antwortete Hali: »Das ist ein Typ hier in Bergen – er arbeitet schon länger an diesen, ähm, er nennt sie einfach ›Fahrzeuge‹, glaube ich. Und wenn er endlich welche gut genug hinbekommen hat, kann ich ihn vielleicht dazu überreden, uns welche zu verkaufen. Das würde unsere Reisedauer um die Hälfte verkürzen – mindestens! Vielleicht sogar mehr!«

Sie aßen auf, und nachdem Hali die Kugelteller zurückgegeben hatte, folgte Jacob ihr aus dem Essensstand heraus. »Los, komm«, sagte sie und zeigte auf eine kleine, schmale Schlucht zwischen zwei Korallenkämmen. »Er wohnt da unten.«

Sie waren erst auf halbem Weg in den Schluchteingang, als eine zittrige, hohe Stimme nach ihnen rief: »Hali? Hali, bist du das, Mädchen?«

Jacob beobachtete, wie eine winzig kleine Flutvolk-Frau mit glattem weißem Haar aus einem der nahe gelegenen Häuser schwamm und Hali zuwinkte. Er musste kurz überlegen, woher er die Frau kannte, aber dann erinnerte er sich: Als er das erste Mal mit Hali nach Bergen gekommen war, hatte diese Frau mit ihr gesprochen, sie dabei sehr freundlich behandelt und ihr etwas zu essen gegeben.

Damals war Hali praktisch auf sich allein gestellt gewesen. Ihr Vater, Bourne, war einfach verschwunden, und sie hatte keine andere Wahl gehabt, als sich allein durchzuschlagen, so gut sie konnte. Jacob hoffte, dass Hali nun das Gefühl hatte, eine Art Ersatzfamilie zu haben – selbst wenn sie mit dieser Familie nicht blutsverwandt war.

»Evelyn«, sagte Hali und hielt an. Sie lächelte der betagten Flutvolk-Frau zu und schwamm mit ausgebreiteten Armen zu ihr.

Sie umarmten sich, und mit einem verschmitzten Grinsen sagte Evelyn: »Wie ich sehe, verbringst du immer noch viel Zeit mit Trockensiedler-Jungen.« Die alte Frau zwinkerte Jacob zu, und er wurde rot. »Bleibst du jetzt für längere Zeit in Bergen?«

Hali schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind nur auf der Durchreise. Wie geht’s dir? Wie läuft es mit all den Flüchtlingen hier unten?«

Evelyns Lächeln erstarb. »Die Lage ist … na ja … angespannt, das ist sie. Ich habe es noch keinen laut aussprechen hören, aber alle spüren es. Als wäre was Übles im Anmarsch. Aber ich will dich nicht mit solchen Sachen langweilen. Wie geht’s deinem Vater? Hab ihn ja ewig nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

Jacobs Magen verkrampfte sich. Er wusste, dass auch Hali Bourne seit Tagen nicht gesehen hatte. Nicht, seit er die Manta – wieder einmal – ohne Abschied oder auch nur irgendeinen Hinweis auf sein Ziel verlassen hatte. Hali antwortete nicht, was Jacob gut verstehen konnte, doch als sie noch länger schwieg – und als Evelyn schon verwirrt die Stirn runzelte –, schaute Jacob Hali ins Gesicht.

Sie machte überhaupt nicht den Eindruck, als würde sie nach einer Antwort oder Erklärung suchen oder als hätte sie Schwierigkeiten, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie … starrte einfach vor sich hin. In die Ferne. So als würde sie … vielleicht ein weit entferntes Geräusch hören wollen. »Ähm, Hali?«, fragte Jacob. »Alles in Ordnung?«

Hali blinzelte, und als wäre nichts gewesen, kam sie auf das Gespräch zurück. »Tut mir leid, Evelyn, ich hatte ein paar Tage keinen Kontakt zu Dad. Wenn ich ihn das nächste Mal spreche, sage ich ihm, dass du nach ihm gefragt hast.«

Nachdem sie sich noch ein paar Minuten mit Evelyn unterhalten hatten, machten sich Jacob und Hali wieder auf den Weg zu der Korallenschlucht. Sobald sie außer Hörweite von jeglichen Bewohnern waren, fragte Jacob: »Was war das denn eben?«

Hali sah ihn nicht an. »Was meinst du?«

Er zeigte mit seinem Daumen über die Schulter. »Da hinten, mitten in der Unterhaltung – es sah aus, als wärst du ganz plötzlich meilenweit weg gewesen.«

»Oh.« Noch immer blickte sie ihn nicht an und wandte dann sogar das Gesicht leicht ab. »Das war gar nichts.«

»Bist du sicher?«

»Mir geht’s gut, Jacob. Ganz sicher.«

Jacob schwamm schweigend neben ihr her. Er versuchte, sich in sie hineinzuversetzen, wie sie sich wohl mit einem unberechenbaren, halb kriminellen Vater fühlte, der sich irgendwo da draußen in den Wellen herumtrieb. Wahrscheinlich war es ihr gutes Recht, dass sie manchmal mit ihren Gedanken woanders war. An ihrer Stelle wäre er bestimmt schon halb verrückt vor Sorge.

Er hoffte nur, dass Hali wirklich nur die Sorge um ihren Vater beschäftigte, nichts weiter.