Waterland - Krieg der Fluten - Dan Jolley - E-Book

Waterland - Krieg der Fluten E-Book

Dan Jolley

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Beschreibung

Das große Finale der actionreichen Tiefsee-Abenteuerserie  Jacob, Tristan, Hali und ihre Freunde sind fest entschlossen ist, die wertvollen Ozeandiamanten von Sato zurückzuerobern. Doch die Zeit ist knapp: Drei der vier machtvollen Steine befinden sich bereits in seinem Besitz. Und dann gelingt es ihm auch noch, Hali in seine Gewalt zu bringen! Jacob ist verzweifelt: Es scheint nur einen Weg zu geben, Hali zu befreien und Sato davon abzuhalten, seine schrecklichen Pläne in die Tat umzusetzen: Trockensiedler und Flutvolkwesen müssen sich verbünden und gemeinsam gegen Sato in den Kampf ziehen!Großer Showdown im vierten Band der packenden Wasserfantasy-Saga: Jacob und seine Freunde ziehen in die Schlacht, die das Schicksal aller Flutwesen endgültig entscheiden wird.  Alle Bände der Serie:Dan Jolley, Waterland –  Aufbruch in die Tiefe (Band 1)Dan Jolley, Waterland – Stunde der Giganten (Band 2)Dan Jolley, Waterland – Ozean in Flammen (Band 3)Dan Jolley, Waterland – Krieg der Fluten (Band 4)

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Dan Jolley

Waterland

Krieg der Fluten Band 4

Aus dem Englischen von Sabrina Sandmann

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Die Luft und das Wasser hatten sich abgekühlt. Jacob Overland fröstelte und zog die Jacke enger um sich. Er stand am Bug des kleinen Fischerbootes, das er und seine Mutter Oona in Bergen erworben hatten, und starrte auf das Meer hinaus. Zusammen mit einem Dutzend weiterer Boote kamen sie in der Zufahrtsrinne für die Fischer schnell voran, und Jacob sah zu dem himmelhoch aufragenden Bauwerk der Turmfestung hinüber, das näher und näher rückte. Obwohl er die Jacke nun fest um sich geschlungen hatte, zitterte er noch immer – allerdings war er nicht ganz sicher, ob das an der Lufttemperatur lag oder daran, was sie hier erwartete.

Plötzlich spürte Jacob eine Hand auf der Schulter und erschrak, doch es war nur seine Mutter. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, sie wieder bei sich zu haben, nicht wirklich. Als der winzige Adrenalinstoß verebbt war, schlang er einen Arm um ihre Taille und zog sie in eine Umarmung. Manchmal berührte er sie einfach gern, nur um sich selbst zu vergewissern, dass sie wirklich da war.

»Irgendwas Auffälliges?«, fragte Oona.

»Nein. Viele Boote, die rein- und rausfahren, aber keiner der Fischer hat uns auch nur eines Blickes gewürdigt. Zumindest habe ich nichts bemerkt.«

»Gut. Na, wie seh ich aus? Geradewegs aus Treibstadt angekommen, oder?«

Jacob musste grinsen. Lächeln war in den letzten zwei Wochen eine ziemlich große Herausforderung für ihn gewesen, aber nun konnte er nicht anders. »Du siehst toll aus, Mom. Rost steht dir wirklich gut.«

Sowohl Oona als auch er hatten ihre normale Kleidung gegen die gelbe und rostrote Kluft ausgetauscht, die die meisten Bewohner aus Treibstadt trugen, eine der kleineren Trockensiedlungen. Die Kleidung bestand größtenteils aus vorflutlichen, vom Meeresboden geborgenen Sackleinen, die mit einem Färbemittel aus Algen aufgehübscht und mit Garn aus behandeltem Seetang zusammengenäht waren. Eine weitere eisige Windböe fegte über den Bug hinweg und fuhr wie ein Messer durch die Sackleinen. Jacob hatte das Gefühl, dass diese Kleidung – die sie von Kira Redtree und anderen Rebellen der WasserKrieger bekommen hatten – eigentlich für Sommerwetter gemacht war.

Trotzdem hatten sie es wohl noch besser getroffen als Jacobs Bruder Tristan. Denn der befand sich gerade unter Wasser und hielt sich an der untersten Sprosse der Heckleiter fest. Zwar hatte er beharrlich behauptet, dass ihm die Kälte nichts ausmache – seit er von einem Trockensiedler in ein voll-aquatisches Flutwesen umgewandelt worden war, spürte er extreme Temperaturen nicht mehr so sehr wie früher, sagte er –, aber Jacob konnte nur hoffen, dass das auch wirklich stimmte und Tristan damit nicht nur verhindern wollte, dass ihre Mutter sich Sorgen machte.

»Ich geh besser wieder ans Steuer«, sagte Oona und löste sich von ihrem Sohn. »Wir sind gleich da.«

Als Oona zurück zum Heck ging, um den Autopilot auszuschalten, blieb Jacob noch einige weitere Augenblicke stehen und schaute zur Turmfestung hinauf, diesem riesigen silbergrauen Ungetüm. Er war dort aufgewachsen, daher war ihm der Anblick vertraut – aber es hatte sich auch etwas verändert. Es kam ihm vor, als würde er den Turm mit zwei verschiedenen Augenpaaren betrachten. Einerseits kannte er diesen Ort wie seine Westentasche, all die Ebenen, Gänge, Aufzüge und Luken. Doch andererseits fühlte es sich an, als erblicke er die Turmfestung zum ersten Mal. Wie eine gigantische, heimtückische Bestie ragte sie vor ihm auf, ein lebendiger Berg, errichtet aus Beton und Stahl und Lügen.

Jacob versuchte, dieses Gefühl abzuschütteln, als er sich zu seiner Mutter ans Heck gesellte. Sie hatte die Leistung des elektrischen Motors um ein Viertel gedrosselt und lenkte sie durch die immer enger werdende Zufahrtsrinne.

»Und«, sagte Jacob mit bemüht lockerer Stimme, »wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein?«

Oona schüttelte leicht den Kopf, und ihre Augen schimmerten. »Fast so, als wäre ich nie weg gewesen.« Er konnte nicht so recht einschätzen, ob das gut oder schlecht war, aber er wusste auch nicht, wie er seine Mutter danach fragen sollte, daher schwieg er.

Sie reihten sich hinter einem großen Fischerboot ein und steuerten auf einen der Piere zu. Jacob musste immer wieder daran denken, wie seltsam sich das alles ohne Hali an seiner Seite anfühlte. Aber sie hatten es nicht vermeiden können, sich aufzuteilen. Daher waren Hali, Aiko, King und Blabber hinter der Umzäunung der Gewässer um die Turmfestung zurückgeblieben, um Satos Schiff aufzuhalten, sobald es auftauchte. Jacob wusste zwar nicht genau, wie zwei Flutvolk-Mädchen, ein mutierter Seelöwe und ein halbwüchsiger Riesenmaulhai Gouverneur Sato Overland auf seinem Weg nach Hause ausbremsen sollten – aber wenn es irgendwer schaffte, dann sie.

Hali war auch noch in Bezug auf eine andere Sache ihr Trumpf im Ärmel. Ihre Fähigkeit, mit Tieren zu kommunizieren, hatte sie zwar zu Anfang nicht kontrollieren können, doch mittlerweile hatte sie ihr Talent besser im Griff, und es schien sich mit der Zeit immer weiterzuentwickeln. Hali hatte angekündigt, dass sie ihnen mit einem Vogelschwarm ein Zeichen senden würde, sobald Satos Schiff bei der Umzäunung ankam. Jacob schüttelte ungläubig den Kopf darüber, dass so etwas überhaupt möglich war.

Niemand von seinen Freunden und seiner Familie hatte Halis Verbindung zu den Meerestieren in Frage gestellt, und anfangs hatte Jacob das ziemlich seltsam gefunden angesichts der Tatsache, dass keiner von ihnen jemals zuvor von solch einer Fähigkeit gehört hatte. Andererseits hatten sie auch kaum Gelegenheit gehabt, über andere Dinge nachzudenken als über die ihnen bevorstehende Aufgabe.

Jacob beschwor ein Bild von Hali in seinem Kopf herauf. Es fiel ihm mehr als leicht, sie sich mit ihrer kupferfarbenen Haut, dem langen, wallenden dunkelbraunen Haar und den tiefbraunen Augen vorzustellen. Währenddessen beschleunigte sich sein Herzschlag – aber er dachte lieber nicht über den genauen Grund dafür nach, abgesehen davon, dass er um ihre Sicherheit besorgt war. Warum passiert das mit ihr?, fragte er sich. Wohin wird das führen? Er nahm sich fest vor, ihr bei der Suche nach einer Erklärung dafür zu helfen, sobald die Situation auf der Turmfestung unter Kontrolle war.

Denn wenn Sato siegen sollte, schwebte Halis Leben – genau wie das unzähliger weiterer Flutwesen – in großer Gefahr.

Der Mann, den Jacob schon sein ganzes Leben lang als »Onkel Sato« kannte, hatte sich nämlich als völkermörderischer Tyrann entpuppt, der vor nichts zurückschreckte, um alle Flutwesen im Ozean zu vernichten. Einschließlich Hali. Und einschließlich seines eigenen Neffen Tristan.

Sie mussten ihn unschädlich machen. Koste es, was es wolle.

Oona fing Jacobs Blick auf, lächelte ihn kurz an und zwinkerte ihm ermutigend zu. Er konnte es gar nicht in Worte fassen, wie dankbar er war, wie erleichtert, dass sie nun an seiner Seite stand und die Dinge in die Hand nahm. So lange hatte er geglaubt, dass seine Mutter und sein Vater tot wären, und nun, da er Oona wiederhatte –

Plötzlich brach eine Welle der Trauer über ihn herein, traf ihn so hart und schmerzlich, dass Jacob laut aufkeuchte. Allem Anschein nach hatte Oona ihn nicht gehört, da die Windböen noch weiter auffrischten, und er wandte sein Gesicht ab, damit sie die Traurigkeit in seinen Augen und das Zittern seiner Lippe nicht sehen konnte. Jacob hatte auch seinen Vater Elias zurückbekommen. Allerdings nur für ein paar Tage.

Bis er gestorben war, um sie vor Sato zu beschützen.

Nicht jetzt. Jacob bemühte sich, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Wir haben um ihn getrauert. Und jetzt werden wir ihn rächen. Reiß dich zusammen. Du hast keine andere Wahl.

Zwei Tage zuvor war Jacob dreizehn Jahre alt geworden, aber er fühlte sich älter. Viel älter.

Sobald sie bei der Turmfestung ankamen, mussten sie schnell handeln, um es Oona zu ermöglichen, ihren rechtmäßigen Platz als Gouverneurin einzunehmen – und damit Sato ein für alle Mal vom Thron zu drängen. Wenn Oona die Bewohner der Turmfestung davon überzeugen könnte, sich auf ihre Seite zu schlagen, würde es ihnen sicherlich gelingen, Satos Plan der Massenvernichtung im Keim zu ersticken.

Die Turmfestung vor ihnen wurde immer größer, je näher sie kamen, und jetzt nahm sie seine komplette Sicht ein. Von außen betrachtet glich sie einer gewaltigen, hoch aufragenden Pyramide, aber Jacob hatte sie immer als das angesehen, was sie wirklich war: eine Stadt. Eine komplette Stadt, die in einem einzigen Gebäude untergebracht war, verankert auf einer unglaublich breiten Plattform aus Stahlbeton mit riesigen Stützpfeilern darunter, die den weiten Weg bis hinunter zum Meeresboden reichten und sich tief in das Grundgestein gruben. Die Turmfestung hielt bereits seit Jahrzehnten den Elementen stand, ein Monument dafür, dass die Willenskraft des Menschen stark genug war, um dem Schlimmsten zu trotzen, das die Natur zu bieten hatte.

Aber wenn sie Sato nicht das Handwerk legten, würde er die Turmfestung in einen gigantischen Grabstein verwandeln. Ein Mahnmal, das an den Tod von Hunderttausenden unschuldigen Flutwesen erinnern würde.

Oona schaltete den Motor nun vollständig ab und ließ das Boot neben einem viel größeren Schiff an einen Anleger treiben. Der Bootsrumpf stieß gegen den Pier, und Oona und Jacob verzurrten flink die Taue an der Klampe.

»Ich hoffe, Tristan ist nicht sauer, dass wir ihn völlig umsonst dazu gebracht haben, den ganzen Weg hierher unter Wasser zurückzulegen«, sagte Jacob, während er und seine Mutter zum Heck gingen.

»Es war nicht umsonst. Wenn jemand an Bord gekommen wäre und ihn entdeckt hätte, wären wir geliefert gewesen. Aber genug davon – du musst jetzt die besprochenen Utensilien für deinen Bruder besorgen, okay?«

»Zu Befehl, Käpt’n«, erwiderte Jacob jetzt verschmitzt. »Könnte nur sein, dass ich mich dann ein bisschen über ihn lustig mache.«

Oona warf ihm einen Blick zu, der auch ohne Worte unmissverständlich bedeutete: Wag es ja nicht!

»Ist ja gut, ist ja gut«, lenkte Jacob ein und hob beschwichtigend die Hände. »Also, du bleibst hier und suchst Tristans Verkleidung zusammen, richtig? Und ich komme so schnell wie möglich mit dem Zeug zurück.«

Oona nickte. »Beeil dich.« Sie öffnete eine kleine, an der Wand befestigte Kiste und zog einen tieforangefarbenen, breitkrempigen Schlapphut daraus hervor.

Jacob sprang vom Boot und musste den Impuls unterdrücken, den Pier entlangzusprinten. Stattdessen lief er auf die Art und Weise, wie Kira Redtree und die anderen WasserKrieger es vorgeschlagen hatten: schnell und zielstrebig, so als wüsste er genau, wo er hinging, und als hätte er jedes Recht, dort zu sein. Auf der anderen Seite des großen Fischerboots, das sie genutzt hatten, um sich vor unerwünschten Blicken zu schützen, fand er eine Reihe von fünf kleineren Booten, und nur auf einem von ihnen war etwas von der Besatzung zu sehen. Jacob sprang an Bord eines der anderen Fischerboote – zog dabei keine übermäßige Aufmerksamkeit auf sich, versteckte sich aber auch nicht direkt –, und nachdem er die ersten beiden durchsucht hatte, entdeckte er das Gesuchte auf dem dritten. Er verließ das Boot wieder, seine Beute unter der Tunika verborgen, und lief dann auf demselben Weg zurück zu Oona und Tristan.

Während Jacob Ausschau hielt, ob auch wirklich niemand sie beobachtete, lehnte sich Oona über den Bootsrand und klopfte viermal auf den Rumpf. Sie hielt eine Decke bereit, die sie um Tristan wickelte, sobald er die Leiter hinauf und aufs Deck geklettert war.

Tristan sah nicht so offenkundig aquatisch aus wie viele andere Flutwesen. Denn bei Wasseratmern war es völlig normal, dass ihre Haut in brillanten Farben und noch dazu in unterschiedlichen Farbtönen leuchtete sowie ausgeprägte Streifen, Tüpfel oder andere Muster aufwies. Manche Flutwesen hatten sich sogar noch ein paar Schritte weiterentwickelt: Jacob hatte schon wasseratmende Männer mit Haiköpfen oder mehreren Armen wie die Tentakel eines Tintenfisches gesehen. Zwar schimmerte Tristans goldbraune Haut noch im selben Farbton wie zuvor, dennoch konnte niemand an seiner wahren Natur zweifeln, wenn er ihn länger als ein paar Sekunden anschaute. Seine Augen waren anderthalbmal so groß wie vor der Umwandlung, Arme und Beine waren länger geworden, und zwischen den Fingern und Zehen spannten sich Schwimmhäute. Außerdem sah er ein kleines bisschen schuppig aus. Nahm man dann noch den dicken, auffälligen Metall-Kragen dazu, den er um den Hals trug und der ihn beim Atmen über Wasser unterstützte, würde er niemals als Luftatmer durchgehen.

Bis jetzt.

Oona schob Tristan zur Kajüte, während er eine Hand hob und einen Knopf an dem Metall-Kragen drückte. Eine Lampe direkt unter seinem rechten Ohr leuchtete erst rot auf, dann blau, schließlich grün und erlosch schlussendlich. Tristan nahm einen tiefen Atemzug, während er sich auf einen der beiden Stühle in der Kajüte setzte.

»Wie fühlt es sich an?«, fragte Jacob. »Kriegst du genug Sauerstoff?«

»Es fühlt sich seltsam an.« Tristan runzelte die Stirn. »Hallo. Hallo. Test, Test, eins, zwei, drei.« Angesichts Oonas fragendem Blick erklärte er: »Sorry, ich bin es nur inzwischen gewöhnt, meine Stimme durch die Übersetzungsfunktion zu hören, wenn ich nicht im Wasser bin. Sie so wahrzunehmen – dass sie sich wieder wie meine Stimme anhört – ist schön, aber etwas gewöhnungsbedürftig.«

Jacob gab ihm einen Beutel. »Verlier die hier nicht. Jede Ladung hält nur etwa vier Stunden.«

Tristan nickte und nahm den Beutel an sich. Er war voll mit Batterien, die Tristan immer wieder an seinem Kiemen-Kragen würde austauschen müssen, damit er durchgängig funktionierte. Halis genialer Erfinder-Freund Tennant hatte ein paar dieser neuen Geräte angefertigt, die es voll-aquatischen Flutwesen erlaubten, sich an Land zu bewegen, ohne auf Atmungshelme voll mit Meerwasser zurückgreifen zu müssen oder – noch unbeliebter – Mastertech-Gurte.

Jacob liebte seinen Mastertech-Gurt, den Hali so für ihn umgearbeitet hatte, dass er damit unter Wasser atmen konnte, und der Gurt, den sie für sich selbst zum Luftatmen gebaut hatte, funktionierte ebenfalls einwandfrei. Das Problem bei allen Mastertech-Geräten war allerdings, dass sie dazu neigten, aus heiterem Himmel zu explodieren. Zwar hatte Hali die Gurte für sich selbst und Jacob perfekt eingestellt, aber sie waren übereingekommen, dass sie das Schicksal vielleicht zu sehr herausforderten, wenn sie versuchen würde, für alle von ihnen einen Gurt anzufertigen.

Also hatte Tennant die Kiemen-Kragen entwickelt, mit denen Wasseratmer an der Oberfläche zwar Luft bekamen, die aber häufige Batteriewechsel erforderten. Dennoch waren sie sich alle einig gewesen, dass es diese Unannehmlichkeit wert war, nicht aus Versehen in die Luft gejagt zu werden.

Oona wandte sich an Jacob. »Ich gehe mal davon aus, dass du was gefunden hast, das wir gebrauchen können?«

Jacob holte ein rundes, flaches Behältnis hervor und gab es Oona. Sie klappte es auf und offenbarte eine Reihe kleiner, durchsichtiger Plastikgefäße und mehrerer verschiedener Pinsel mit kurzen, stumpfen Borsten. Sie seufzte. »Also, wisst ihr, die Turmfestung ist die einzige mir bekannte Siedlung, in der die Leute reich genug sind, um sich Make-up und andere Kosmetik leisten zu können.«

»Na, so ein Glück«, entgegnete Tristan säuerlich.

Oona zog den anderen Stuhl näher an ihn heran. »Du sei still. Und vor allem halte jetzt still. Ich brauche nicht lange.« Sie öffnete eines der Gefäße, in dem sich eine Art goldbraun gefärbte Creme befand, nahm mit einem Finger einen Klecks davon heraus und verteilte ihn auf Tristans Gesicht.

Mach dich nicht über deinen Bruder lustig, mahnte Jacob sich und musste gleichzeitig ein Lachen unterdrücken.

Während Jacob nicht besonders angestrengt damit beschäftigt war, ernst zu bleiben, grummelte Tristan weiter in seinen Bart. »Puh, das Zeug riecht schrecklich«, sagte er, und: »Wir müssen aber nicht meinen kompletten Kopf damit einreiben, oder?«, und: »Haben wir hier einen Spiegel? Das fühlt sich irgendwie komisch an …«

Endlich, nachdem sie die gesamte Creme aufgetragen und ihm mit einem Pinsel noch den letzten Schliff gegeben hatte, trat Oona zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Ich finde, das sieht nicht schlecht aus. Jacob, glaubst du, das ist gut so?«

Jacob konnte nicht anders. Er musste lachen, und als er bemerkte, wie sehr das Tristan verärgerte, lachte er noch mehr. »Ich sag mal lieber nichts dazu«, kommentierte er schließlich und wich einem halbherzigen Knuff seines großen Bruders aus. »Hey, warte. Zeig mir mal deine Hände.«

Tristan hielt sie vor sich. Die Schwimmhäute zwischen den Fingern waren nicht ganz so auffällig wie bei Hali, und wenn er seine Finger nicht anspannte, bemerkte man sie kaum. Doch Jacob meinte: »Ich hab eine Idee. Halt mal still.« Tristan tat ihm den Gefallen, und Jacob nahm einen Stift, der laut Oona zum Nachzeichnen der Augenbrauen gedacht war. Er zog damit lange Linien an der Außenseite von Tristans Händen entlang und über die Finger. »So. Was meint ihr?«

Tristan blickte stirnrunzelnd auf seine Hände, aber Oonas Gesicht hellte sich auf: »Jacob, du bist genial! Tristan, jetzt sieht es aus, als würdest du Handschuhe tragen!«

Tristan drehte seine Hände hin und her. Endlich grinste auch er. »Dann muss ich sie nicht so sehr verstecken. Danke, Jacob.«

»Hier«, sagte Oona und reichte Tristan den großen Schlapphut und einen langen Umhang. »Wie geht’s deinen Füßen? Drücken die Stiefel sehr doll?«

»Die Stiefel sind nicht das Problem«, antwortete Tristan, während er den Hut mit offensichtlicher Skepsis beäugte. »Meine Füße sind bei der Umwandlung zwar länger geworden, aber zum Glück nicht allzu sehr.« Er blickte über die Hutkrempe zu Jacob hinüber. »Wenn ich so große Füße wie deine Freundin hätte, könnten wir das hier niemals durchziehen.«

Jacobs Gesicht wurde plötzlich unangenehm heiß, während sich Tristan in die Luftatmer-Kleidung zwängte.

Sie ist nicht meine Freundin!, protestierte eine Stimme in Jacobs Kopf. Es ist ja schließlich nicht so, als hätte ich sie geküsst oder ihre Hand gehalten … Dann wurde die Stimme sanfter und fügte hinzu: Nicht, dass ich nicht schon darüber nachgedacht hätte …

Doch als Tristan sich den Hut auf den Kopf setzte, wischte das alle Gedanken aus Jacobs Kopf fort, und ihm kam die Dringlichkeit der Situation wieder in den Sinn.

Der Umhang bedeckte Tristans Arme, ein breiter Schal verbarg seinen Kiemen-Kragen, und solange er den Kopf gesenkt hielt, waren selbst seine übergroßen Augen nicht mehr so auffällig. Als Tristan aufstand, sah er mehr oder weniger aus wie ein sehr großer und dünner Trockensiedler.

»Ich würde sagen, du bist bereit«, sagte Oona zu Tristan und wandte sich an Jacob. »Bist du bereit?«

Jacob schluckte schwer, schulterte den kleinen Rucksack, den er mitgebracht hatte, und nickte.

»Okay, Jungs«, sagte Oona und ging voran aus der Kajüte. »Zeit, nach Hause zu gehen.«

2

»Ich finde, du solltest ihnen sagen, dass sie einfach herkommen sollen«, schlug Jacob vor, während sie den gewaltigen Kai entlangliefen. Die drei waren die Treppe vom Pier her hinaufgestiegen und steuerten nun über den Kai auf die Turmfestung zu. Jacob wusste, dass Tristan versuchen wollte, ein Kommunikationsgerät ausfindig zu machen, sich ins Hauptsystem zu hacken und mit den WasserKriegern Kontakt aufzunehmen. Zwar trug er immer noch das armbandartige, mit Elektronik vollgestopfte Gerät, mit dem er sie schon in der Vergangenheit kontaktiert hatte, aber das darüber gesendete Signal ähnelte eher einem einseitigen SOS-Ruf, mit dem er keine weiteren Informationen übermitteln konnte. Sie waren sich alle einig gewesen, dass sie auf jeden Fall eine verlässliche Möglichkeit brauchten, um Verstärkung zu rufen, egal, was passierte.

»Nee, das geht nicht«, antwortete Tristan leise. »Noch nicht. Wir haben ja keine Ahnung, wann Sato hier aufkreuzt, und das riesige U-Boot der WasserKrieger würde in jedem Fall den Alarm der Turmfestung auslösen, egal, wie vorsichtig sie wären. Wenn wir sie zu früh herholen, geht uns das Überraschungsmoment verloren.« Oona nickte zustimmend.

Jacob musste einräumen, dass Tristan und Oona wahrscheinlich recht hatten, aber er wusste auch, dass die Sicherheitskräfte der Turmfestung Elektroschocker benutzten, die ziemlich gefährlich waren. Je mehr gut ausgebildete Leute an der Seite von Oonas Truppe kämpften, desto besser.

Gerade traten sie auf den weitläufigen, offenen Marktplatz hinaus, allgemein bekannt als die Meeres-Ebene. Zwar herrschte nicht rund um die Uhr voller Betrieb auf dem Markt, aber die meisten der Stände waren dauerhaft hier aufgestellt, und das vielfältige Spektrum an Geschäften und Verkäufern hatte sich über die Jahre so sehr erweitert, dass sie nun fast den gesamten Raum zwischen dem Fuß der Turmfestung selbst und dem Rand der gigantischen Betonplattform einnahmen, auf der der Turm thronte. Jacob kannte sich hier gut aus, aber es wunderte ihn auch nicht, dass ein Außenstehender in den wirren, labyrinthartigen Gängen schnell den Überblick verlieren konnte. Allerdings kann man sich auch nicht allzu sehr verirren, dachte er, während er zu der pyramidenartig aufsteigenden Turmfestung hinaufsah. Man muss nur hochgucken und kann einigermaßen erraten, wo man ist.

Ein paar Bewohner der Turmfestung warfen ihnen im Vorbeigehen desinteressierte Blicke zu, aber keiner sprach sie an. Jacob überraschte das nicht. Er wusste, dass jeder von ihnen sein eigenes Leben und seine eigenen Probleme hatte und im Allgemeinen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um sich groß um das Verhalten anderer Leute zu scheren. Für die Leute um sie herum sahen er, Tristan und Oona einfach nur aus wie drei Leute aus Treibstadt, die sich genau wie alle anderen um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten.

Jacob tat sein Bestes, um mit derselben Selbstsicherheit über den Markt zu laufen, wie er es schon beim Durchstöbern der Fischerboote nach Make-up getan hatte – aber gleichzeitig versuchte er, sich vorzustellen, wie sich wohl jemand aus Treibstadt bei seinem ersten Besuch in der Turmfestung fühlen würde, und gönnte sich ein paar staunende Blicke hinauf zu dem himmelhoch aufragenden Turm.

Sobald sie sich durch das geschäftige Treiben des Marktes gekämpft und die freie Fläche um den Fuß des Turmes erreicht hatten, wandte sich Tristan Jacob und Oona zu. »Alles klar, ihr wisst, was meine Aufgabe ist. Sobald ich fertig bin …« Er deutete mit dem Kopf in Richtung einer der größeren Verkaufsstände, der trotz der Massen von Leuten auf dem Markt aufgrund seines hoch aufragenden rot-weiß gestreiften »Kirchturms«, der die Spitze seines Zeltdaches zierte, gut zu erkennen war. »… treffen wir uns hier bei Eduardos Heißem Backfisch wieder.«

Oona drückte einmal kurz Tristans Oberarm. »Viel Glück. Und sei vorsichtig.« Sie und Jacob beobachteten, wie Tristan sich einen Weg durch die Menge bahnte, um zu einer der Technikertüren in der Turmfestung zu gelangen. »Okay. Und wo gehen wir noch mal hin?«

»Zur Braunen Wohnebene«, erklärte Oona.

»Ach ja«, entgegnete Jacob und dachte einen Augenblick nach. Die beste Route dorthin war definitiv sein alter Schleichweg durch den Raum mit den Reinigungsgerätschaften. »Na dann, mir nach.«

»Jawohl, Sir«, antwortete Oona mit einem schelmischen Lächeln.

Jacob führte Oona um den Turm herum zu einer Stelle, wo die Marktstände immer dünner gesät waren. Zwei hohe, rechteckige Metallkästen waren dort an der Seite des Turmes angebracht und gaben ein elektrisches Summen von sich. Als niemand zu ihnen hinsah, zog Jacob Oona in die Lücke zwischen ihnen. Dann führte er sie den weniger als einen Meter breiten Gang hinunter, bog an einer Stelle, an der es so aussah, als würden die Kästen auf die Turmwand treffen, scharf um die Ecke und huschte dann eine kurze Betontreppe hinunter, die vor einer rostigen Metalltür endete.

Unten an der Treppe angekommen, staunte Oona: »Ich wusste gar nicht, dass sich so was hier befindet.«

Jacob lachte leise. »Das ist ja gerade der Trick.«

»Das hier sind Staubfilter«, erklärte Oona und deutete auf die sperrigen Kästen. »Die gehören zum Luftfiltersystem in den Technik-Ebenen.«

Doch Jacob schaute sich gerade das Schloss an der Tür an. »Perfekt – das sieht noch genauso aus wie beim letzten Mal«, stellte er erfreut fest. Dann drehte er den runden Türknauf, hob die Tür leicht in ihrem Rahmen an und stieß sie auf, so dass ein dunkler Gang dahinter offenbart wurde. »Eigentlich soll sie immer verschlossen sein, aber wenn der Riegel nicht richtig eingerastet ist, bringt das Abschließen nicht viel.« Er führte Oona ins Innere und machte die Tür hinter ihnen zu, so dass sie in fast vollkommene Dunkelheit getaucht wurden.

Als er Oona in ihren Taschen kramen hörte, erklärte er: »Wir brauchen keine Taschenlampe. Gib mir einfach deine Hand.« Ohne etwas zu erwidern, nahm Oona seine ausgestreckte Hand, und Jacob führte sie den Gang entlang, durch eine unverschlossene Tür und in eine Art Wartungsbereich, nur schwach erleuchtet von ein paar Glühbirnen an der Decke und übersät mit zerbrochenen Wischmopps, Besen und Putzeimern auf Rädern. An der hinteren Wand befand sich ein Warenaufzug.

Oona blickte sich um und runzelte die Stirn. »Sieht so aus, als würden hier die kaputten Reinigungsgerätschaften zur letzten Ruhe gelegt.«

Jacob öffnete seinen Rucksack und zog mehrere Kleidungsstücke der unförmigen braunen Kluften daraus hervor, die die Reinigungskräfte der Turmfestung trugen. »Eigentlich werden die kaputten Reinigungsgerätschaften hier zur Reparatur hingebracht. Aber du siehst ja, wie häufig das tatsächlich passiert.« Er reichte ihr eine Hose und eine Tunika. »Hier, zieh das an. Ich kann die Sachen aus Treibstadt im Rucksack verstauen für den Fall, dass wir sie später noch mal brauchen.«

In weniger als einer Minute hatten Jacob und Oona ihre Treibstadt-Verkleidung gegen die Reinigerkluft getauscht, und Jacob suchte zwei der am wenigsten beschädigten Mopps und Putzeimer heraus. »Bitte sehr«, sagte er und drückte Oona einen der Mopps in die Hand.

Oona packte ihn, als wäre er ein Speer und schwang ihn ein paarmal herum. »An dem sind ja fast keine Fransen mehr dran …« Dann beäugte sie den Putzeimer. »Und der hier hat ein Loch im Boden.«

»Keine Sorge, das ist ja nur zum Schein.« Damit führte Jacob seine Mutter zum Aufzug und nahm dabei den anderen Mopp inklusive Eimer mit. »In dieser Kluft achten die Leute nicht groß auf uns. Wenn also einer in den Aufzug steigt oder wir in den Gängen jemandem begegnen, halte einfach den Kopf gesenkt und sag nichts, dann werden alle so tun, als wären wir gar nicht da.« Er drückte auf den schwach leuchtenden Knopf neben den Aufzugtüren. Von irgendwo weit über ihnen setzte sich ein Mechanismus in Bewegung, und die Aufzugkabine begann ihre Fahrt zu ihnen hinunter.

»Das klingt ja so, als hättest du so was schon mal gemacht, mein lieber Sohnemann«, bemerkte Oona mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ein paarmal schon, ja«, gab Jacob kleinlaut zu. »Hätte allerdings nie gedacht, dass ich das auch mal mit meiner Mom mache.«

Oona lachte. »Dann ist es ja was ganz Besonderes.«

Nach einigen Minuten kam der Aufzug bei ihnen an, und Jacob schob das hölzerne Gatter zur Seite, damit sie eintreten konnten. Sobald er das Gatter wieder geschlossen hatte, wandte sich Jacob der schmierigen, fleckigen und nichtsdestotrotz funktionierenden Reihe von Knöpfen an der Innenseite zu und drückte einen von ihnen. »Braune Wohnebene, los geht’s.«

Nach einigen weiteren Minuten der Stille sagte Oona: »Du bist ein beeindruckender junger Mann, weißt du das?« Sie hielt inne. »Seit ich fort war, bist du ganz schön erwachsen geworden.«

Jacob brauchte einen Augenblick, um zu antworten. Er wollte nicht vorlaut klingen, aber seine Mutter hatte recht – er war in der Tat ziemlich erwachsen geworden. Nicht so sehr seit dem Verschwinden seiner Eltern, sondern vielmehr seit diesem schicksalhaften Tag auf der Meereskönigin, als Tristan entführt worden war. Da hatte er keine andere Wahl gehabt. Er hatte die kindliche Unschuld hinter sich lassen müssen, um zu überleben. »Danke«, sagte er daher nur leise.

Der Aufzug stieg langsam zur Braunen Wohnebene hinauf, doch dann hielt er plötzlich auf halbem Weg an und ein Bote stieg ein, um ein Paket zu einer der oberen Ebenen zu liefern. Die gesamte Zeit über, die der Mann mit ihnen im Aufzug verbrachte, klopfte Jacobs Herz wie verrückt, doch der Bote würdigte sie kaum eines zweiten Blickes. Als er endlich ausstieg, atmeten sowohl Jacob als auch Oona erleichtert auf. Zum Glück hielt der Aufzug nicht noch einmal an, bis sie ihr Ziel erreichten.

Als sich die Türen zum Personalflur hin öffneten, wartete niemand auf sie. Sie schoben ihre kaputten Putzeimer mit den Mopps den Flur entlang bis zu einer Tür, neben der der Name Crestwood in den Beton gemeißelt war. An Oonas Eimer quietschte ein Rad, was Jacob total nervös machte, aber glücklicherweise trat niemand auf den Gang, um sich über den Lärm zu beschweren. Oona holte einmal tief Luft und drückte dann auf den glänzenden Stahlknopf unter dem Namen. Von der anderen Seite her erklang ein Läuten.

Crestwood. Der Name kam Jacob bekannt vor, aber er wusste nicht, woher. Er wandte sich um und schaute aus dem nächstgelegenen Fenster, das ihm einen atemberaubenden Ausblick auf die untere Hälfte der Turmfestung und die sich darunter erstreckende Meeres-Ebene bot – die aus dieser Entfernung eher wie ein Flickenteppich aussah als wie ein überfüllter Marktplatz – sowie die blaugrüne Weite des Ozeans darum herum.

Dann öffnete sich die Tür. Als Jacob sich wieder umdrehte, erblickte er einen breitschultrigen Mann mit rotbrauner Haut und in der Art von legerer Kleidung, die viele in der Mittelklasse der Turmfestung gerne trugen: eine weiche Leinen-Tunika, taubengraue Hosen und lederne Hausschuhe. Die Wohnung hinter ihm sah sauber, hell und einladend aus, mit teuren Möbelstücken und handgewebten Teppichen auf dem Betonboden. Diese Wohnung repräsentierte ohne Zweifel, wie einfach das Leben auf der Turmfestung sein konnte – zumindest für die wenigen Privilegierten.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann. Er klang zwar freundlich, aber auch ein wenig verwirrt. »Die Reiniger waren eigentlich gestern schon da.«

In diesem Augenblick erkannte Jacob die Stimme und wusste, wo er den Namen schon mal gehört hatte. Vor sich sah er Byron Crestwood, den Leiter der Kommunikationsabteilung in der Turmfestung. Schon sein ganzes Leben lang hatte Jacob Crestwoods Stimme aus den Lautsprechern im Turm dröhnen hören, wenn er Ankündigungen machte und Nachrichten verlas. Auf eine sehr reale Art und Weise war Byron Crestwood die Stimme der Turmfestung höchstselbst.

»Hallo, Byron«, sagte Oona und hob den Blick, um ihm in die Augen zu schauen. »Schön, dich wiederzusehen.«

Nur selten hatte Jacob so viele verschiedene Gefühle in so schneller Folge über das Gesicht einer Person huschen sehen. Crestwoods Mimik ging von Verwirrung augenblicklich in Schock über, wandelte sich dann in Überraschung und endete schließlich wieder, wo sie begonnen hatte: bei der Verwirrung. Er blickte von Oona zu Jacob, und als er auch Jacob erkannte, weiteten sich seine Augen. Crestwood öffnete die Tür weit und sagte: »Rein mit euch, schnell. Hat euch irgendwer gesehen?«

Jacob und Oona hasteten hinein, zusammen mit ihren Wischmopps und Putzeimern. Sobald er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, zog er Oona in eine so feste Umarmung, dass ihre Füße vom Boden abhoben. Genauso geschwind setzte er sie auch wieder ab und wich zurück. »Entschuldigung! Tut mir leid, das war vollkommen unangemessen! Ich kann nur einfach nicht glauben, dass du es wirklich bist!«

Oona sah eher amüsiert aus: »Keine Sorge, Byron, ich verstehe das. Schließlich kommt es nicht so oft vor, dass Tote plötzlich an die Tür klopfen.«

Crestwood blickte noch einmal zwischen ihr und Jacob hin und her. »Aber wie kann das sein?«, wunderte er sich. »Sato hat uns erzählt, du und Elias wärt fort – für immer verloren! Und du, junger Mann – du giltst hier als Verräter. Ähm … nichts für ungut.«

Jacob zuckte die Achseln. »Mich hat man schon viel Schlimmeres genannt.«

Oonas Lächeln verbreiterte sich. »Wir erzählen dir alles, versprochen. Aber nicht ohne eine Tasse deines Algen-Tees. Den hab ich seit Jahren nicht getrunken.«

Nun machte sich auch auf Crestwoods Gesicht ein Grinsen breit. »Immer noch die gute alte Oona! Algen-Tee, kommt sofort! Bitte tretet doch ein, und setzt euch. Ich will eure Geschichte unbedingt hören.«

Sogleich begann Oona zu erzählen, und Jacob ergänzte ein paar Details, wenn er denn mal zu Wort kam. Schließlich war er bei den meisten Ereignissen dabei gewesen! Dort, in Crestwoods luxuriösem Wohnzimmer, während sie an Tassen mit dampfend heißem Tee nippten, klangen all die Ereignisse noch unglaublicher.

Wie Sato Overland seinen Bruder Elias und Oona in eine Falle gelockt hatte, durch die sie jahrelang auf einer unbewohnten Insel gestrandet gewesen waren.

Wie Sato alle belogen und ihnen erzählt hatte, dass Oona und Elias tot wären.

Wie Sato den Posten als Gouverneur der Turmfestung unrechtmäßig für sich beansprucht und von der Existenz der vier Ozeanjuwelen erfahren hatte – dem Meeresfunken, dem Feuerkern, dem Windstein und dem Gezeitendiamanten. Dass Sato plante, die unermessliche Energie der vier Ozeanjuwelen zu nutzen, um damit eine Kriegswaffe ans Laufen zu bringen, mit der er jedes einzelne Flutwesen unter den Wellen töten wollte.

Je länger Oona erzählte, desto mehr Farbe wich aus Crestwoods Gesicht. Nachdem sie zu sprechen aufgehört hatte, schluckte er schwer und fragte: »Wie kann ich helfen?«