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Kampf im Reich der Wale Kaum sind Jacob, Tristan und Hali auf dem U-Boot der WasserKrieger angekommen, meldet sich eine Trockensiedlung in Not: sie wurden von Flutwesen angegriffen. Doch was macht die Flutwesen plötzlich so aggressiv? Und was hat es mit dem rätselhaften Flutmädchen Aiko auf sich, das die Freunde bewusstlos am Strand gefunden haben? Jacob und Hali machen sich erneut auf den Weg in die Tiefen des Meeres, um Antworten zu suchen. Das Geheimnis, dem sie am Meeresgrund auf die Spur kommen, übertrifft all ihre Erwartungen: Sie müssen erkennen, dass nun nur die größten und mächtigsten Wesen des Ozeans ihnen helfen können: die Wale! Band 2 der packenden Wasserfantasy-Saga! Alle Bände der Serie: Dan Jolley, Waterland - Aufbruch in die Tiefe (Band 1) Dan Jolley, Waterland - Stunde der Giganten (Band 2) Weitere Bände in Vorbereitung
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2021
Dan Jolley
Stunde der Giganten Band 2
Kampf im Reich der Wale
Kaum sind Jacob, Tristan und Hali auf dem U-Boot der WasserKrieger angekommen, meldet sich eine Trockensiedlung in Not: sie wurden von Flutwesen angegriffen. Doch was macht die Flutwesen plötzlich so aggressiv? Und was hat es mit dem rätselhaften Flutmädchen Aiko auf sich, das die Freunde bewusstlos am Strand gefunden haben? Jacob und Hali machen sich erneut auf den Weg in die Tiefen des Meeres, um Antworten zu suchen. Das Geheimnis, dem sie am Meeresgrund auf die Spur kommen, übertrifft all ihre Erwartungen: Sie müssen erkennen, dass nun nur die größten und mächtigsten Wesen des Ozeans ihnen helfen können: die Wale!
Band 2 der packenden Wasserfantasy-Saga!
Weitere Bände:
Dan Jolley, Waterland - Aufbruch in die Tiefe (Band 1)
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Dan Jolley begann im Alter von 19 Jahren mit dem Schreiben. Er schreibt Comics, Filmromane (z.B. Star-Trek) und Storyboards für Videospiele. Mit »Waterland« startet er eine mehrbändige epischen Fantasyserie. Dan lebt mit seiner Frau und einer Handvoll träger Katzen im Nordwesten von Georgia, USA.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Leseprobe
Jacob Overland brach hustend [...]
Eine Woche zuvor
Jacob Overland saß tief unten im Ozean im Bauch eines U-Bootes – in Gedanken befand er sich allerdings ganz woanders.
»Jacob! Hallo? Jemand zu Hause?« Hali, ein Mädchen des Flutvolks und Jacobs beste Freundin, klopfte ihm sachte mit einem Finger gegen den Kopf und sah ihn mit ihren großen braunen Augen an. »Sind wir echt so langweilig?«
Jacob erwachte aus seinen Tagträumen und blickte sich um. Sie befanden sich im Speisesaal der Manta, dem riesigen, aus vielen Einzelteilen zusammengebauten U-Boot, das derzeit als Zentrale für die Aktivisten der WasserKrieger diente. Wie quasi jeder andere Raum in dem Gefährt platzte auch der Speisesaal aus allen Nähten, und Jacob saß mit Hali, einem Trockensiedler namens Sim und zwei halb-aquatischen Flüchtlingen aus Ankerhaven, Dexter und Mariko, an einem Tisch.
Um zu verbergen, wie abgelenkt er gewesen war, grinste Jacob breit. »Was?«, sagte er. »Ich hör doch zu! Ihr habt darüber gesprochen, dass es ganz schön schwierig ist, mit schwimmhäutigen Händen Essstäbchen zu benutzen.«
Hali wackelte mit ihren langen, anmutigen Fingern, zwischen denen sich nahezu durchsichtige Schwimmhäute spannten. Sie war voll-aquatisch, hatte langes, dunkelbraunes Haar und kupferfarbene Haut, die von schwarzen Tupfen übersät war. Jacob wusste, dass sie eigentlich viel lieber im Meer umherschwimmen würde, als hier im U-Boot festzusitzen, aber glücklicherweise ermöglichte ihr die feuchte und stark mit Sauerstoff angereicherte Luft in der Manta, auch außerhalb des Wassers zu atmen. »Stimmt, das ist nicht einfach«, antwortete sie. »Aber das Thema haben wir schon vor zehn Minuten abgehakt.«
»Oh«, machte Jacob und wurde rot.
Hali lächelte und stupste ihn spielerisch an. »Jetzt gerade haben wir darüber gesprochen, wie trocken das Essen hier ist.« Sie stocherte in ihrer Schüssel mit Reis und Fisch herum. »Ich muss mit jedem Bissen einen Schluck Wasser trinken, sonst krieg ich das Zeug nicht runter.«
»Trocken?«, rief Jacob ungläubig. »Du machst Witze! Durch die Luft hier trieft es nur so.«
»Das kann auch nur ein Trockensiedler sagen«, schnaubte Hali.
Mariko legte den Kopf schief, und ihre kurzen Locken hüpften auf und ab. Sie und Dexter hatten beide mitternachtsblaue Haut, aber Marikos war von leuchtend gelben Streifen durchzogen, während Dexters Haut große Flecken schillernder Schuppen aufwies, die bei jeder Bewegung im Licht schimmerten. »Also, ich weiß nicht. Für mich ist es genau richtig. Nicht zu trocken, nicht zu matschig«, sagte Mariko.
Dexter nickte. »Ist kein Feinschmeckergericht aus Ankerhaven, aber ich hab nichts zu meckern. Außerdem esse ich lieber fade Mahlzeiten, statt irgendwo als Haifutter zu enden.« Zusammen mit den WasserKriegern hatten Jacob und seine Freunde die Flutwesen Dexter, Mariko und all die anderen halb-aquatischen Bewohner in Ankerhaven vor dem sicheren Tod bewahrt, nachdem die Sauerstoffzufuhr der Stadt zerstört worden war, und sie waren einfach nur dankbar, am Leben zu sein.
»Ihr findet, das hier ist fade?«, fragte Hali überrascht. »Also, viele Leute denken ja, dass Flutwesen verschiedene Geschmäcker gar nicht wahrnehmen können. Aber ich glaube, dass wir unterschiedliche Aromen sogar noch besser herausschmecken als die Trockensiedler. Es gibt Tausende Arten Fisch, und viele Leute an der Oberfläche denken wahrscheinlich, dass sie alle so ziemlich gleich schmecken, aber für mich gibt es einen meerweiten Unterschied zwischen Forelle und Heilbutt …«
Wieder bemerkte Jacob, dass er in Gedanken von der Unterhaltung abschweifte. Seine ehemalige Lehrerin, Miss Petersyn, hätte ihm wahrscheinlich eins auf die Finger gegeben, weil er nicht richtig zuhörte, doch sie war weit, weit weg. Würde er sie jemals wiedersehen?, fragte er sich plötzlich. So viel hatte sich in solch kurzer Zeit verändert, dass er kaum Gelegenheit gehabt hatte, alles richtig zu verarbeiten. Kaum Zeit gehabt hatte, tatsächlich zu begreifen, dass nichts je wieder wie früher sein würde.
War es wirklich erst ein paar Tage her, dass er als einsamer kleiner Junge hoch oben auf der obersten Etage der Turmfestung, dem gewaltigen, pyramidenartigen Bau, gelebt hatte? Er versuchte, zurückzurechnen, musste jedoch feststellen, dass er alles Zeitgefühl hoffnungslos verloren hatte.
Einsam und naiv, blaffte eine Stimme in seinem Kopf. Nein, das war nicht fair, dachte er. Er war während seines Lebens in der Turmfestung nicht naiv gewesen. Woher hätte er die Wahrheit denn kennen sollen? Die Wahrheit über das Flutvolk? Er hatte erst Hali und all die anderen Flutwesen treffen müssen, um zu verstehen, wie sie wirklich waren.
Und woher hätte er wissen sollen, dass sein Onkel Sato, der Gouverneur der Turmfestung, eigentlich ein machthungriger, gemeingefährlicher Tyrann war, der das Flutvolk vernichten wollte und dafür sogar bereit war, Jacob und seinen älteren Bruder Tristan – seine eigenen Neffen – zu opfern?
Die Wahrheit lastete schwer auf Jacob. Als müsste er das Gewicht der gesamten Turmfestung auf seinen Schultern tragen. Immer und immer wieder hatte Jacob sich selbst zu überzeugen versucht, dass es nicht seine Schuld war, dass er es nicht hätte ahnen können. Aber das Gefühl wollte trotzdem nicht verschwinden.
Diese Gedanken und auch der an Tristan versetzten ihm einen sorgenvollen Stich.
»Ich hab absolut nichts gegen das Essen«, sagte Sim, als Jacob wieder mit halbem Ohr hinhörte. »Ich würde Reis und Fisch zu jeder Mahlzeit in Kauf nehmen, selbst wenn es matschig wäre. Und wisst ihr, warum? Weil ich hier wenigstens weiß, dass ich mich unter Freunden befinde. Das Essen in der Turmfestung – zumindest das, was wir uns leisten konnten – war sowieso ungenießbar.« Aus dem Augenwinkel sah Jacob, wie Dexter Sim einen festen Knuff in die Seite gab, und nach einem begriffsstutzigen Moment verstand er, dass Dexter den Knuff seinetwegen ausgeteilt hatte. Inzwischen wussten alle, dass Jacob und Tristan Sato Overlands Neffen waren. Die Turmfestung in ihrer Gegenwart zu erwähnen glich dem Herumstochern in einer offenen Wunde. Jacob war Sim jedoch nicht böse. Wahrscheinlich hatte der einfach nicht daran gedacht. Und selbst wenn er daran gedacht hatte, erzählte er nur die Wahrheit. Jacob bezweifelte keine Sekunde, dass das meiste Essen in der Turmfestung wahrscheinlich ungenießbar gewesen war – zumindest das Essen, das normale Leute sich leisten konnten, nicht das, was er, Tristan und Sato oben in ihrem erhabenen Wohnreich verspeist hatten. Der Gedanke verstärkte seine Schuldgefühle nur, jedoch sah er keinen Sinn darin, es zu leugnen, noch nicht einmal vor sich selbst.
Jacob fühlte Halis Blick auf ihm ruhen und wie so oft schien sie seine Gedanken zu lesen, aber er stellte sich vor, dass er eine Mauer in seinem Kopf errichtete, um sie vom Eindringen abzuhalten. Über gewisse Dinge wollte er einfach nicht sprechen, nicht einmal mit ihr. Gerade überlegte er, was er zu Sim sagen könnte, um dessen Gewissen zu beruhigen, als ein markerschütterndes Heulen durch das U-Boot dröhnte. Jacob wollte sogleich von seinem Stuhl aufspringen.
»Bleib locker«, sagte Sim. »Das ist nur die Ankündigung einer Durchsage.«
»Ich bin locker«, entgegnete Jacob und strich seine Kleidung glatt. »Total locker.« Das Herz schlug ihm so heftig gegen die Rippen, dass er schon fürchtete, man würde es mit bloßem Auge erkennen. Er war absolut nicht locker, doch der Schreck hatte ihn zumindest aus seinen düsteren Gedanken gerissen.
»Achtung, bitte!«, hallte eine Stimme kalt und blechern durch ein paar Lautsprecher. »Alle an Bord, die aktuell nicht im Dienst sind, begeben sich bitte augenblicklich für eine Notfallbesprechung zu Gemeinschaftsraum 1.« Der Lautsprecher knackte und verstummte.
Sofort stand Sim auf. »Ihr habt die Durchsage gehört – lassen wir die anderen besser nicht warten.«
Jacob und Hali erhoben sich ebenfalls, kurz darauf gefolgt von Dexter und Mariko. »Worum geht es denn?«, fragte Mariko. »Hat jemand eine Idee?«
Sim schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig. Aber es muss ja was mit den WasserKriegern zu tun haben, oder? Und wenn sie eine Notfallbesprechung einberufen, ist es bestimmt wichtig. Also, gehen wir.«
Jacob folgte Hali und den anderen einen schmalen, niedrigen Gang entlang, der zum Bug der Manta führte. Es tat ihm leid, dass es Hali solche Mühe bereitete, sich außerhalb des Wassers zu bewegen. Ihre Beine waren so lang und ihre gerade eben funktionstüchtige Lunge so schwach, dass sie halb gebückt laufen und sich mit beiden Händen an den Metallhandläufen der Gänge festhalten musste. Als sie bei Gemeinschaftsraum 1 angekommen waren, dem größeren der beiden Versammlungsräume, keuchte Hali leise.
Die etwa zwei Dutzend Leute, die nacheinander den Raum betreten hatten, drängten sich nun Schulter an Schulter. Jacob stellte sich auf die Zehenspitzen und hüpfte ein paarmal hoch, um über die Köpfe aller blicken zu können, suchte in der Menge nach Tristan. Doch er konnte ihn nirgends entdecken. Er stupste Hali in den Rücken und fragte: »Siehst du meinen Bruder irgendwo?«
Hali richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, so dass ihr Kopf die Decke streifte, und spähte im Raum umher. »Nein«, sagte sie leise. »Tut mir leid.«
Jacob durchfuhr ein weiterer sorgenvoller Stich. Das war nicht die erste Versammlung, die Tristan verpasste.
Gleich nachdem Jacob und Hali seinen Bruder aus Ankerhaven gerettet hatten, ging es Tristan augenscheinlich gut. Dabei war er entführt und einem gefährlichen Experiment unterzogen worden, bei dem er sich innerhalb von achtundvierzig Stunden von einem Luftatmer zu einem voll-aquatischen Flutwesen umgewandelt hatte – ein Prozess, der normalerweise mehrere Wochen dauerte. Es hatte sogar den Anschein gehabt, als wäre er begeistert über die Veränderung seines Körpers gewesen und als freute er sich auf das neue Leben, das nun für ihn begann. Doch dann stellte sich heraus, dass es ihm überhaupt nicht gut ging.
Nachdem das Adrenalin von der Flucht aus Ankerhaven aus seinem Körper gewichen war, versank Tristan in ein tiefes, dunkles Loch. Die letzten zwei Male, als Jacob ihn suchen gegangen war, hatte er ihn im Schleusenbecken der Manta gefunden, einem breiten Raum in der Nähe des Bugs, der mit Meerwasser gefüllt war und von dem aus eine Luke in die offene See führte. Beide Male war Tristan dort mit King umhergeschwommen, Jacobs hochintelligentem Seelöwen-Freund, und mit Blabber, einem Riesenmaulhai, der Halis Haustier war.
Tristan hatte behauptet, dass er nur ein bisschen Bewegung brauche und King und Blabber Gesellschaft leisten wolle, doch Jacob wusste es besser. Er versteckte sich. Vor Jacob, vor den WasserKriegern – vor allen.
Jacob fiel einfach nichts ein, womit er Tristan helfen könnte, sich besser zu fühlen. Er verstand nicht einmal, was genau mit ihm los war. Andererseits war das alles vielleicht auch gar nicht verwunderlich. Tristan hatte ein Experiment überlebt, dem sich in der Geschichte der menschlichen Spezies nie zuvor jemand unterzogen hatte. Vielleicht war das eine zu erwartende Reaktion darauf. Vielleicht musste Jacob einfach geduldig sein.
Nur war Geduld leider nicht seine größte Stärke.
Hali lehnte sich weit genug hinunter, um Jacob ins Ohr zu flüstern. »Mach dir keinen Kopf«, sagte sie, woraufhin Jacob sich fragte, ob ihm die Sorge so deutlich ins Gesicht geschrieben stand oder ob Hali wirklich seine Gedanken lesen konnte. »Es wird ihm bald besser gehen. Wenn das hier vorbei ist, kannst du ja mal nach ihm sehen.«
Jacob nickte. Hali stupste ihm aufmunternd gegen die Schulter und richtete sich dann wieder auf.
»Danke, dass ihr alle so schnell hergekommen seid«, sagte eine stämmige, hellhäutige Trockensiedlerin, die Jacob als Kira Redtree erkannte. Kira war eine der WasserKrieger-Anführerinnen, die er kurz nach ihrer Ankunft auf der Manta kennengelernt hatte. Sie löste sich aus der Menge, ging zum vorderen Teil des Raumes und wandte sich schließlich den Leuten zu, indem sie sich auf ein kleines Podium lehnte. Sie hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst und blickte finster drein. »Keiner hört gern schlechte Nachrichten«, sagte Kira, »aber wir machen gerade schwere Zeiten durch, Leute, und da es sich um die Wahrheit handelt, ist es nicht nur so dahingesagt, wenn ich euch mitteile: Eine Situation muss erst viel schlimmer werden, bevor sie sich bessern kann.«
Ein Raunen lief durch die Menge.
»Das ist wohl sicher«, murmelte einer.
»Erzähl uns mal was Neues«, sagte ein anderer.
»Wir haben heute Abend Neuigkeiten von der Turmfestung erhalten«, fuhr Kira fort. »Und die werden euch nicht gefallen. Die WasserKrieger haben es dort nie leicht gehabt, aber jetzt hat sich die Situation drastisch verschlechtert. Jeder, der mit den WasserKriegern in Zusammenhang steht: Freunde, Familie, sogar Kollegen – jeder, der auch nur irgendeine Verbindung zu ihnen aufweist –, wird festgenommen und in den Knast geworfen.«
Nun klang das Raunen verärgert. Hinter Jacob rief ein Mann: »Mit welcher Begründung denn?«
Kiras Miene verdunkelte sich noch mehr. »Anscheinend brauchen sie keine. Die Sicherheitskräfte erfinden inzwischen einfach irgendwelche Vergehen.«
Aus der Menge ertönten noch mehr Rufe, und innerhalb von Sekunden war der Gemeinschaftsraum von wütenden Schreien erfüllt. Kira Redtree hob die Arme. »Ruhe! Seid bitte alle still!« Es dauerte bestimmt eine Minute, dann versank die Masse in verbittertes Schweigen. »Natürlich können wir das nicht dulden.«
»Und was wollen wir dagegen tun?«, rief eine Frau von der linken Seite herüber.
»Na, was glaubt ihr?«, erwiderte Kira. »Wir holen sie da raus, wir geben unseren Leuten die Freiheit zurück!«
Diesmal erklangen Jubelrufe. Kämpferische Jubelrufe. Normalerweise wäre Jacob mit eingefallen, aber sein Kopf schwirrte, erinnerte sich an alles, was er über das Sicherheitssystem der Turmfestung wusste. Denn er hatte in seinen Jahren als Neffe des Gouverneurs ziemlich oft heimlich herumgestöbert. Bitte um freiwillige Meldungen, flüsterte die Stimme in seinem Kopf. Du weißt genau, dass du das willst, Kira. Du musst es tun. Bitte um freiwillige Meldungen. Nun mach schon!
Kira Redtree sagte: »Das wird ein außerordentlich gefährliches Unterfangen. Daher bitte ich ausschließlich um freiwillige Meldungen.«
Fünf Leute riefen durch den Raum, erklärten ihre Bereitschaft, ihre Begierde, mitzugehen. Sim, der neben Jacob stand, war einer von ihnen. Jacob holte Luft, um genau dasselbe zu tun – doch dann hielt er inne.
Konnte er wirklich zur Turmfestung zurückkehren?
An diesen Ort, an dem sein Onkel im Grunde allmächtig war?
Vergiss nicht, wie gerne er dich und Tristan tot sehen will, meldete sich die Stimme in seinem Kopf erneut, und Jacob musste den Impuls unterdrücken, laut zu entgegnen: »Würdest du vielleicht endlich mal die Klappe halten?!«
Als Jacob die Hand hob, hoffte er, dass niemand das Zittern bemerken würde. »Kira? Hey, siehst du mich?« Die Menge zwischen Jacob und Kira teilte sich, als die Köpfe sich umwandten, um nachzuschauen, wer gesprochen hatte.
»Ja, jetzt sehe ich dich«, sagte Kira, eine Augenbraue hochgezogen.
Jacob räusperte sich. »Ich weiß wahrscheinlich mehr über das Sicherheitssystem der Turmfestung als jeder andere hier im Raum«, sagte er, sprach dabei so laut, wie es seine flatternden Nerven erlaubten. »Vielleicht sogar mehr als jeder hier auf dem U-Boot. Ich muss mit auf diese Mission.«
»Wenn er geht«, rief Hali, »komme ich auch mit.«
Kira blickte zwischen ihnen hin und her, als wollte sie den beiden noch eine letzte Chance zum Rückzug geben. Da keiner von ihnen die Gelegenheit wahrnahm, fuhr sie fort: »Also gut. Dann haben wir unseren Rettungstrupp beisammen.« Sie klatschte laut in die Hände. »Alle Freiwilligen treffen sich mit mir in Gemeinschaftsraum 2! Wir müssen den Plan besprechen und haben nur sechs Stunden Zeit, um alle Schwachstellen zu finden!«
Jacobs Herz zog sich vor Aufregung und Angst gleichermaßen zusammen. In sechs Stunden würde er zur Turmfestung zurückkehren. Dahin, wo alles begonnen hatte. Zurück nach Hause.
Jacobs Schritte hallten von den metallenen Wänden des Korridors wider, kündigten sein Kommen genauso laut und deutlich an, als wenn er an eine Tür geklopft hätte. Das Surren der Motoren unter Jacobs Füßen ließ den Boden sanft vibrieren, und das U-Boot um ihn herum war erfüllt von den Geräuschen umherlaufender und sprechender Leute. Doch als er den kurzen Gang hinter sich ließ und in die Schleusenkammer trat, verstummte das alles, und Jacob sah und hörte nur noch seinen Bruder.
Tristan schwamm wie ein Athlet durchs Wasser, vollführte Korkenzieherdrehungen und Wendemanöver, bei denen er seinen Körper einmal in der Mitte zu falten schien. Zwei große dunkle Schatten jagten ihm hinterher. Das mussten der mit Kiemen ausgestattete Seelöwe King, welcher sich als kluger und findiger Verbündeter erwiesen hatte, und Blabber, der junge Riesenmaulhai sein, den Hali mehr als alles andere auf der Welt liebte. Inmitten einer Drehung schoss Tristan in die Luft hinauf, und in dem umherspritzenden Meerwasser bemerkte Jacob einen leuchtend bunten Ball.
Er spielt mal wieder, dachte Jacob bei sich. Das schien das Einzige zu sein, worauf Tristan Lust hatte, seit er an Bord des U-Boots gekommen war. Vermutlich war das besser, als wenn er bloß im Becken umhertrieb und Löcher in die Luft starrte. Dabei hatte Jacob ihn nämlich auch schon ein paarmal erwischt. Angesichts seiner eigenen gedanklichen Abwesenheit vorhin im Speisesaal sollte er darüber allerdings nicht zu hart urteilen.
Das Schleusenbecken hatte die Form eines Halbmondes, dessen runde Seite sich dort befand, wo die Schiffswand ans Meerwasser grenzte. Jacob stand am Rand des Beckens und beobachtete, wie Tristan tief hinuntertauchte, während der Seelöwe und der Hai ihm weiter hinterherjagten. Endlich kam er heraufgeschwommen und durchbrach unweit von Jacob die Wasseroberfläche. Tristan schenkte seinem kleinen Bruder ein winziges Lächeln, während er im Wasser paddelte und seine festen, durchsichtigen zweiten Augenlider öffnete. Die transparenten Häutchen zogen sich in Tristans Augenwinkel direkt neben dem Nasenrücken zurück. Beiläufig fragte sich Jacob, wohin genau sie eigentlich verschwanden. Falteten sie sich einfach zusammen wie Papierfächer? Die zusätzlichen Augenlider waren nur eine der unzähligen Veränderungen, die sein Bruder bei der Umwandlung durchgemacht hatte. Wahrscheinlich wäre Tristan ziemlich genervt, wenn Jacob ihn über alles ausfragen würde.
Und trotzdem war Tristan immer noch Tristan. Er hatte immer noch dieselben dunkelbraunen Augen und dasselbe glatte schwarze Haar wie eh und je. Und auch dieselbe Stimme, denselben fürchterlichen Sinn für Humor. Dennoch musste Jacob ein Schaudern unterdrücken, als Tristan jetzt vor ihm umhertrieb, denn all diese Dinge waren gleichzeitig auch anders an Tristan. Na ja, vielleicht nicht der Sinn für Humor. Aber die dunklen, intelligenten Augen seines Bruders, die Jacob schon sein Leben lang kannte, waren nun … einfach riesig. Und inzwischen band Tristan sein Haar nah am Kopf zusammen, damit es ihm beim Schwimmen nicht in die Quere kam. Auch klang seine Stimme nicht mehr ganz genauso wie zuvor, obwohl schwer zu beschreiben war, inwiefern. Andererseits, wie sollte sie auch gleich klingen, wenn Tristan inzwischen mehr mit den Kiemen als mit der Lunge atmete?
Womit Jacob jedoch am meisten zu kämpfen hatte, war Tristans Haut. Nicht der matte, goldene Schimmer, den sie angenommen hatte. Damit hatte er kein Problem. Umso mehr aber mit den Schuppen. Auf Tristans Haut hatte sich unter dieser goldenen Schicht ein Netz aus winzigen Schuppen gebildet, und wenn Jacob Tristan nahe genug kam, um diese Einzelheiten zu erkennen, schienen die Schuppen auf Tristans Gesicht zu schillern, Falten und Schatten zu erzeugen, die Jacob zuvor nie an ihm gesehen hatte.
Und das machte es für Jacob unmöglich, herauszulesen, wie sich Tristan in Wahrheit fühlte. Nicht nur mit diesen Veränderungen. Was wiederum dazu führte, dass sich Jacob selbst – und das gab er wirklich nur ungern zu – in der Gesellschaft seines Bruders manchmal richtig unwohl fühlte.
Das war nicht fair. Jacob wusste das. Zuerst – kurz nachdem sie Tristan aus dem Labor in Ankerhaven befreit hatten, wo seine Umwandlung ausgelöst worden war – hatte Jacob es nicht begriffen, aber natürlich war es logisch, und er war nicht der Einzige, dem das auffiel.
Nämlich, dass Tristan immer noch in der Umwandlung steckte.
Warum hätte der Prozess auch anhalten sollen, nur weil sie ihn und die anderen in Sicherheit gebracht hatten? Und wie konnte Jacob unter diesen Umständen hoffen, zu verstehen, was Tristan durchmachte?
Ich muss einfach geduldig mit ihm sein, sagte er sich im Stillen. Irgendwann wird schon wieder alles in Ordnung kommen.
Sich an diesen Gedanken klammernd, atmete Jacob einmal tief durch und lächelte Tristan an, versuchte, ihn normal anzuschauen. »Hey«, sagte er. »Alles okay bei dir?«
Tristan zuckte mit den Schultern und ließ sich etwas weiter ins Wasser sinken.
»Warum warst du nicht bei der Besprechung?«, fragte Jacob.
Tristan blinzelte ein paarmal. Wieso antwortete er nicht? Wusste er es selbst nicht? Oder wusste er es, aber wollte es nicht sagen? Wollte er vielleicht Zeit schinden, um sich eine plausible Erklärung auszudenken? Jacob konnte die Antwort nicht herausfinden, denn genau in diesem Augenblick sprangen King und Blabber aus dem Wasser und platschten anschließend wieder ins Becken, spritzten Tristan von beiden Seiten nass. Tristan hielt den bunten Ball in die Höhe. »Hey, soll ich dir mal den neuen Trick zeigen, den ich King beigebracht habe?«
Blabber war zurück ins Wasser gesunken, aber King trieb weiter neben Tristan und machte: »Juuup juuup!«
Tristan gluckste leise und warf den Ball zum anderen Ende des Schleusenbeckens. King schoss hinterher, erreichte den Ball, bevor der das Wasser berührte, und balancierte ihn auf der Nasenspitze zurück zu Tristan.
Das war wirklich ein toller Trick! Jacob hätte selbst Spaß daran gehabt, King genau so etwas beizubringen. Der eigentliche Trick dabei war jedoch gewesen, dass Tristan es geschafft hatte, das Thema zu wechseln, ohne Jacobs Frage zu beantworten.
Allerdings war Jacob etwas aufgefallen. Tristans Hand hatte gezittert, als er den Ball warf, und Tristan hatte versucht, das zu verbergen. Wenn so etwas bei Hali passiert wäre, hätte Jacob kein Blatt vor den Mund genommen und gleich wissen wollen, was das Zittern verursachte und ob er sich deswegen über sie lustig machen könnte. Aber bei seinem Bruder …
Tristan schien im Moment am glücklichsten zu sein, wenn alle um ihn herum so taten, als wäre die Welt in Ordnung.
Trotzdem wirkte er allerdings nicht wirklich glücklich. Eher am wenigsten unglücklich.
Jacob setzte sich auf den Beckenrand, zog Schuhe und Strümpfe aus und rollte dann seine Hosenbeine bis zu den Knie auf. Als seine Füße in das Meerwasser eintauchten, belebte ihn das kühle Nass. Machte ihn mutig. Zumindest mutig genug, um zu reden.
»Hör mal, es passiert bald was, über das du Bescheid wissen solltest.« Und worüber du bereits Bescheid wüsstest, wenn du zu der Besprechung gekommen wärst, wie du es eigentlich hättest tun sollen, flüsterte Jacobs innere Stimme, aber er verkniff sich einen Kommentar. Er fragte sich, ob diese innere Stimme so etwas war wie … ein spitzzüngiger Kobold vielleicht? Irgendein fieses kleines Monster in seinem Kopf, das ihn immerzu anspornte, die unangemessensten Dinge geradeheraus auszusprechen? Falls ja, hatte er sich das ganz sicher bei Hali abgeschaut. »Wir starten eine Befreiungsaktion.«
Das schien Tristan mehr zu interessieren als andere Dinge sonst. Er kam etwas näher zu Jacob hinüber. »Wer wird denn befreit? Und woraus?«
Jacob stützte die Ellbogen auf die Knie und erzählte Tristan alles, was Kira Redtree über die Inhaftierung von Anhängern der WasserKrieger in der Turmfestung berichtet hatte. Mit jedem Wort verhärtete und versteinerte sich Tristans Blick immer mehr.
»Ich komme mit euch. Muss nur kurz zu meiner Kabine und ein paar Sachen einpacken.«
Jacob setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, großer Bruder, aber Kira denkt, du solltest besser hierbleiben. Und, ähm, ich seh das ehrlich gesagt genauso.«
Tristan schwamm zum Beckenrand, stützte sich hoch und ließ sich dann neben Jacob nieder. Tristans Gliedmaßen waren während der Umwandlung länger geworden, so dass er – genau wie Hali – geschmeidig und irgendwie aalartig wirkte. Außerdem war er noch größer als zuvor schon. Hoch neben Jacob aufragend, sagte Tristan: »Und hättest du auch die Güte, mir zu erklären, warum?«
Jacob blickte hinauf in das Gesicht seines Bruders und fragte sich, ob er sich wirklich so viel Sorgen machen musste, wie er es im Moment tat. Schließlich war sein Bruder ein geborener Anführer. Natürlich hatte die Umwandlung einiges verändert, aber sicherlich nicht das, oder? Trotzdem war Vorsicht besser als Nachsicht.
»Versteh doch, du steckst noch in der Umwandlung, okay?«, sagte Jacob schließlich. »Und so wie bei dir passiert das zum ersten Mal, also weiß keiner, was dich noch erwartet. Und da die Aktion echt schwierig wird, glaubt Kira einfach, dass du uns eine größere Hilfe wärst, wenn du hierbleibst.«
Mit unergründlicher Miene ließ Tristan sich wieder ins Wasser gleiten, behielt jedoch den Kopf über der Oberfläche. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, Jacob hatte allerdings nicht das Gefühl, dass es die Augen seines Bruders erreichte. »Kein Problem. Ihre Bedenken sind verständlich. Du bist aber dabei, oder?«
Jacobs Wangen begannen, zu glühen. »Ja, bin ich. Hab ihnen erzählt, wie viel ich über das Sicherheitssystem der Turmfestung weiß. Kira glaubt, das könnte hilfreich sein.«
»Und da hat sie ganz sicher recht. Dann viel Glück. Und sag allen, falls sie doch noch irgendwie meine Hilfe gebrauchen können, na ja …« Er hob eine Hand und zeigte auf das Schleusenbecken um sich herum. »Sie wissen ja, wo sie mich finden.«
Jacob verabschiedete sich von Tristan und lief den kurzen Gang hinunter, der vom Schleusenraum wegführte. Es war ein seltsames Gefühl, festzustellen, dass Tristan und er irgendwann in der letzten Zeit irgendwie die Plätze getauscht hatten, so dass Jacob nun plötzlich der Tatkräftige war, während Tristan in Sicherheit blieb.
Jacob wünschte sich so sehr, dass die Dinge wieder so wären wie früher. Nicht das Zusammenleben mit Onkel Sato, natürlich – unwissentlich Teil all seiner Lügen zu sein –, aber einfach mit seinem Bruder zusammenzuwohnen. Tristan samstagsmorgens spät aus seinem Zimmer stolpern zu sehen, das Haar an einer Seite des Kopfes ganz platt gedrückt, während er sich im Speisesaal über Reis und Eier hermachte.
Doch das würde nicht passieren. Nie wieder. Keine Chance.
Vier Stunden später fanden sich Jacob und Hali zusammen mit Kira Redtree und einem halben Dutzend Mitglieder der WasserKrieger in Gemeinschaftsraum 2 ein. Die anderen – es waren sowohl Frauen als auch Männer dabei – sahen aus, als wären sie zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, und alle standen Kira in ihrer verbissenen Entschlossenheit in nichts nach.
Die WasserKrieger hatten Taucheranzüge übergezogen und ihre Helme unter den Arm geklemmt oder auf einen der Tische oder Stühle in der Nähe gelegt. Nur Jacob besaß eine andere Ausrüstung – einen Mastertech-Kiemengurt, mit dem er unter Wasser atmen und sogar sprechen konnte, und zwar fast so gut wie die Flutwesen selbst. Hali hatte ihm den Gurt mehr oder weniger geschenkt, denn sie war unglaublich gut darin, elektronische Geräte zu reparieren und umzubauen, was ihr in der Turmfestung großes Ansehen eingebracht hätte.
Wenn sie nicht gleichzeitig auch ein Flutwesen gewesen wäre.
Jacob biss wütend die Zähne zusammen. Sein Onkel hatte so viel auf dem Kerbholz. Sein Hass auf das Flutvolk, den er auch Jacob und Tristan einzuflößen versucht hatte – zum Glück ohne Erfolg –, war die eigentliche Ursache für all die schlimmen Dinge, die passiert waren. Jacobs Wut auf Sato schwelte schon seit Tagen in seinem Bauch vor sich hin, aber er hatte jetzt keine Zeit, sich näher damit zu beschäftigen.
Diesmal nutzte Kira kein Podium. Sie stand einfach da, als Teil der Gruppe, dennoch verstummten alle anderen, sobald sie zu sprechen anfing.
»Also gut, wir sind auf Position gebracht«, sagte Kira. »Das heißt, wir sind so nah an der Turmfestung dran, wie wir uns mit der Manta sicher heranwagen können. Irgendeine Technologin da oben hat beschlossen, dass sie Elektrozäune besonders gern mag.«
Das erinnerte Jacob an ein ähnliches Ereignis, und sein Blick verfinsterte sich. Sein Onkel hatte nämlich ein Elektronetz direkt über die Flutvolk-Siedlung Ankerhaven gespannt, nachdem er die Sauerstoffzufuhr dort zerstört und damit eine Evakuierung erzwungen hatte. All das hatte er getan, um die Schar der Fliehenden entweder außer Gefecht zu setzen oder gar gleich zu töten.
Kira fuhr fort: »Wie ihr sicher wisst, war das Gewässer um die Turmfestung herum ohnehin schon immer mit einem zylindrischen Drahtnetz vom restlichen Ozean abgetrennt, also quasi einem endlos langen Zaun, der von der Wasseroberfläche bis zum Meeresboden reichte. Und bis vor Kurzem war es auch wirklich nur ein Drahtnetz. Das hat sich jedoch geändert. Jetzt ist da auch noch Strom drauf.«
»Und wie sollen wir dann durchkommen?«, fragte einer der WasserKrieger, ein großer, muskelbepackter Mann mit dunkelbrauner Haut und langen Flechtzöpfen. Jacob hatte gehört, wie jemand ihn Pika nannte.
In der einen Hand hielt Kira einen Bolzenschneider hoch, in der anderen eine graue Metallbox, aus der Drähte herausragten. »Damit. Wir überbrücken die Spannung, isolieren eine Stelle und schneiden ein Loch hinein. Man braucht nur das richtige Werkzeug.« Sie legte den Bolzenschneider und die Box zur Seite. »Sobald wir durch die Absperrung hindurch sind, ist unser nächstes Ziel eine Müllklappe am Sockel des Turms. Genau dort, wo das Fundament beginnt.« Sie durchbohrte Jacob mit einem gewieften Blick. »Kommt dir das bekannt vor?«
Jacob schluckte mühsam. Er fand Kira Redtree äußerst einschüchternd. »Das klingt wie eine der Hauptmüllklappen. Um den ganzen Sockel sind ungefähr vierzig davon verteilt.«
Kira schürzte kurz die Lippen. »Gut zu wissen. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass wir die richtige finden, was? Jedenfalls, sobald wir ankommen, schleichen sich drei von euch in den Turm, während die anderen unten bleiben und sich für das weitere Geschehen bereithalten. Die drei Auserwählten sind Sim, Pika und Jacob. Sim, du bist für die Technologie zuständig. Pika, du sorgst für eure Sicherheit. Und, Jacob, du zeigst den beiden den Weg. Der Codename eurer Kontaktperson lautet ›Seestern‹. Sie hilft euch bei der Tarnung. Sobald ihr Kontakt aufgenommen habt, könnt ihr sicher sein, die richtige Person gefunden zu haben, wenn sie mit ›Na denn man los‹ antwortet. Alles verstanden?«
Jacob nickte eifrig. »Ja, Ma’am.«
Sie schnaubte. »›Ma’am‹, sagt er. Nenn mich Kira, Kleiner.«
Obwohl die Gedanken in seinem Kopf um Müllklappen und Sicherheitssysteme kreisten, überraschte ihn das. Eine Erwachsene, die ihm sagte, er solle sie beim Vornamen nennen? So, als wäre er nicht gerade erst zwölf Jahre alt geworden? Als wären sie … was?
Ebenbürtig?
Jacob wusste nicht, ob er deswegen stolz oder besorgt sein sollte.
Kira blickte Sim und Pika an. »Seid ihr zwei damit einverstanden?«
Sim nickte, und Pika sagte: »Wenn der Kleine uns an den Sicherheitskräften vorbeikriegt, ist er meiner Ansicht nach glatt sein Gewicht in Perlen wert.«
Das schien Kira zufriedenzustellen. »Sobald ihr die Gefangenen aus ihren Zellen befreit habt, führt ihr sie zu der besagten Müllklappe, wo wir Übrigen – und ja, dazu gehören auch King und Blabber, die Frage steht dir schon ins Gesicht geschrieben, Hali – die Ausrüstung bereithalten, mit der wir die anderen an Bord der Manta bringen können. Alles klar so weit?«
Genau genommen war Jacob nicht alles klar, er war noch nicht einmal sicher, ob er überhaupt die Hälfte von ihren Anweisungen verstanden hatte, aber er beschloss, dass Hali oder Sim oder Pika oder zur Not auch Kira Redtree selbst ihm das Ganze auf dem Weg noch einmal erklären konnten, falls nötig. Als alle anderen nickten, nickte Jacob also ebenfalls.
»Super«, sagte Kira. »Dann wollen wir mal.«
Der Mastertech-Gurt zog sich um Jacobs Hals und Kopf fest, sobald das Wasser in die Luftschleuse strömte.
Na dann, dachte er. Jetzt gibt’s kein Zurück mehr.