We are Volcanoes - Charlotte Kerner - E-Book

We are Volcanoes E-Book

Charlotte Kerner

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Beschreibung

Ein ökologisches Triumfeminat bilden die Schriftstellerin Rachel Carson (1907-1964), die Forscherin Lynn Margulis (1938 - 2011) und die Philosophin Donna Haraway (*1944), von deren Leben und Werk dieses Buch erzählt. Diese Öko-Visionärinnen haben beschrieben, wie eng verflochten menschliches und mehr-als-menschliches Leben auf der Erde ist und schon früh Natur und Kultur neu und anders gedacht. Gegen viele Widerstände haben die drei Biologinnen Fachgrenzen überschritten, neue Verbindungen zwischen naturwissenschaftlicher Forschung, Philosophie, Soziologie und Evolutionstheorie geschaffen und Fragen aufgeworfen, die heute wichtiger sind denn je, wenn es um das Überleben in der Zukunft geht. "Wir sind Vulkane. Wenn wir Frauen unsere Erfahrungen als unsere Wahrheit, als menschliche Wahrheit, einbringen, verändern sich alle Landkarten. Es entstehen neue Berge. Das ist es, was ich will - ich will hören, wie ihr ausbrecht." Ursula K. Le Guin

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Ebook Edition

Charlotte Kerner

We are Volcanoes

Die Öko-Visionärinnen Rachel Carson

Lynn Margulis

Donna Haraway

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-042-5

1. Auflage 2024

© Westend Verlag GmbH, Neu-Isenburg 2024

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, erstellt mit dem KI-Tool Midjourney

Zitat Buchrückseite: Bryn Mawr College commencement speech, 1986, published in the essay collection Dancing at the Edge of the World: Thoughts on Words, Women, Places, 1989.

Zitiert nach: https://www.brainyquote.com/quotes/ursula_k_le_guin_150690

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Autorinnenfoto, S. 231: © W.D.Turné

Illustrationen: © Andrea Cochius, Lübeck

Inhalt

Cover

Vorwort

I STILLER FRÜHLING: Alarmsignale

Im Namen der Brise

Das frühe, feste Fundament

Schwestern im Geiste

Am Anfang von allem

Gespräche im Meer

Kalte Kriege

Geheimnisse des Meeres

Küstenwanderungen

Erfolg und die Suche nach Glück

Die Pflicht vorauszublicken

Das Jahrhundertbuch, eine grüne Bombe

Wagnis Öffentlichkeit

Das Vermächtnis der Schmetterlinge

II HEISSER SOMMER: Klimawandel

Das Rätsel der roten Schuhe

Raus aus der Ecke und rein in die Biologie

Meine persönliche Bakterienbegegnung

Symbiose als Programm

Springende Erkenntnisse

Gefühl für den Organismus

Die blaue Murmel

Gaia schreiben

Frauen setzen Zeichen

Für immer Rebellin

Verzweigungen im Leben

Eine kurze Filmreise zu der Essenz ihres Denkens

Zeitgeist und Zeitbewusstheit

Ein Versuch, den Film von Terrence Malick mit den Augen von Lynn Margulis anzuschauen

Ein letztes Mal Lynn Margulis begegnen

Die Generation Gaia

III GEFLUTETER HERBST: Klimakatastrophe

Die Lektion des Sportjournalisten

Kind des Katholizismus und des Kalten Krieges

Aufbrüche und Einbrüche

Zweierlei Maß

Einladung zur Dinnerparty

Miteinander-Werden in Kalifornien

Der richtige Ort

Auftritt der Cyborg

Ein Lob den Tragetaschen

Ein Ort für das irdische Überleben

Ich als höfliche Film-Besucherin bei Donna Harraway********

Menschliche und mehr-als-menschliche Gefährt*innen

Dinnerparty der Gefährt*innen im SF-Territorium

Von Anthropozän und Chthuluzän

Make kin, not babies!

In den kritischen Zonen

Ich als höfliche Besucherin, eingewoben in einen Cyborg-haften Fadenknäuel lustvoller Erkenntnis

Mit den Faltern fliegen

IV LEERER WINTER: ÜberLeben

Die Kraft der Vorstellung

Die Kraft der letzten Töne und Worte

Anhang

Anmerkung zu den fiktionalen Passagen

Illustrationen (S. 14, 82, 132)

Gedichte

Verwendete Literatur

Kapitel I

Danksagung

Anmerkungen

Orientierungsmarken

Cover

Inhaltsverzeichnis

»GAIA is a tough bitch.«

Lynn Margulis, Mikrobiologin

»Wir sind Vulkane. Wenn wir Frauen unsere Erfahrungen als unsere Wahrheit, als menschliche Wahrheit, einbringen, verändern sich alle Landkarten. Es entstehen neue Berge. Das ist es, was ich will – ich will hören, wie ihr ausbrecht.«

Ursula K. Le Guin, Schriftstellerin

»Es wäre ein riesiger Gewinn, Klarheit über unser Tun zu gewinnen, es wirklich ganz und gar auf diesem Planeten zu verankern … Kein dumpfer ­Weltschmerz, sondern aufgeklärte Wirklichkeit.«

Eva von Redecker, Philosophin

Vorwort

ZEITIGEN* oderDie Reise zu den drei Vulkanen

Liebe Gefährt*innen,

liebe Terrestrische oder gerne auch Erdlinge!

Hallo, liebe Kritter!

Warum ich diese ungewöhnliche Lesenden-Ansprache gewählt habe, wird sich am Ende unserer gemeinsamen Lesereise erschließen. Jetzt soll diese besondere Anrede neugierig machen und einstimmen auf die Begegnung mit Rachel Carson, Lynn Margulis und Donna Haraway, drei besonderen Frauen. Was sie eint, ist ihre besondere Fähigkeit, Natur und Kultur, unsere Erde und uns in dieser Welt neu und anders zu denken.

Als Öko-Visionärinnen waren sie ihrer Zeit weit voraus, das erzeugte Widerstand. Was diese amerikanischen Biologinnen – ob als Forscherin oder Theoretikerin, Philosophin oder Sachbuchautorin – niederschrieben oder laut aussprachen, wurde in der Vergangenheit oft bekämpft oder einfach ignoriert, verlacht und lange nicht wirklich ernst genommen. Aber heute zeitigen sich ihre Werke, die zum großen Teil entstanden sind, bevor der Klimawandel und das Artensterben wissenschaftlich bewiesen waren, bevor die Grenzen des Wachstums offensichtlich wurden und als Ökologie sowie Nachhaltigkeit noch keine Modewörter waren.

Die Naturwissenschaftlerinnen sind reifgeworden für uns – und wir sind reif(er) geworden für ihre Gedanken. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in den End-Zeiten von Anthropozän und Kapitalozän, entfaltet ihr Werk eine neue Wucht und Wichtigkeit und macht auch Hoffnung. Deshalb dieses Buch.

Fast schon zum guten Ton gehört es inzwischen, die Meeresbiologin Rachel Carson (1907–1964) als »Mutter der Ökologiebewegung« zu zitieren, für die ihr Weltbestseller Der stumme Frühling den Startschuss gab. In diesem Sachbuch erklärte sie im Jahr 1962 erstmals einer breiten Öffentlichkeit den tödlichen Kreislauf von Insektenvernichtungsmitteln und stieß eine moderne Umweltgesetzgebung in den USA an. Doch schon zuvor hatte die naturbegeisterte Carson in einer Meerestrilogie die ganze Welt im Blick gehabt.

Unbekannter geblieben ist bis heute Lynn Margulis (1938–2011), dabei erforschte sie die für alles irdische Leben so wichtigen Bakterien und wie vor Abermillionen Jahren die Zellen geboren wurden, aus denen auch wir gebaut sind. Sie entdeckte die »Symbiose« als neue, wirkmächtige Kraft der Evolution und ergänzte Charles Darwins Theorie – mit weitreichenden Folgen für das zukünftige Zusammenleben auf dem Planeten.

Die Philosophin und Feministin Donna Haraway (*1944), die in Margulis eine inspirierende Lehrerin fand, startete mit dem Cyborg-Manifest, das bereits Mitte der 1980er-Jahre erschienen ist, eine große internationale Karriere. Regelrecht gehypt wird sie heute vor allem in Kunstkreisen: Weil sie starre Grenzen zwischen Natur und Kultur ebenso wie zwischen den Geschlechtern und zwischen Mensch und Maschine hinterfragt und aufgebrochen hat und uns schon heute, aber vor allem für die Zukunft neue, vielfältige Gefährt*innen unterschiedlichster Art zur Seite stellt.

Doch jede dieser Wissenschaftlerinnen verdient mehr als ein paar wohlmeinende Zitate aus ihren Schriften. Weil durch das Werk dieser Frauen – wie unter einem Mikroskop – das Gestern wie das Heute, aber auch mögliche Zukünfte sichtbarer und verständlicher werden.

Carson, Margulis und Haraway zeigen Wirkung: weil sie aufrütteln und Folgenhaben für unsere Sicht auf die Welt und damit für unser Handeln in der Welt. Sie werden gebraucht, weil sie verstehen helfen, was auf der Erde seit der industriellen Revolution und in einem immer schnelleren Tempo Zerstörerisches passiert. Angesichts der fortschreitenden Klimakatastrophe ist das notwendiger denn je. »Es wäre ein riesiger Gewinn, Klarheit über unser Tun zu gewinnen, es wirklich ganz und gar auf diesem Planeten zu verankern«, so die Philosophin Eva von Redecker. Was wir brauchen, ist »kein dumpfer Weltschmerz, sondern aufgeklärte Wirklichkeit«.1

Die Lesereise, zu der ich einlade, führt zu dem Triumfeminat Carson, Margulis und Haraway, die auf dem Cover als allegorische Gruppe auftreten. Die genauen Routen werden von deren unterschiedlichen Lebensgeschichten vorgegeben, die sich jedoch auch verflechten und durchdringen und so ein buntes Faden-Knäuel der Erkenntnis formen. Dazu gehören auch fiktive Auftritte jeder einzelnen Öko-Visionärin in jedem Kapitel sowie kurze Abstecher in die Wissenschaftsgeschichte, wo noch andere, frühere Vordenkerinnen und Ökofeministinnen warten.

In drei Etappen – vom »Stillen Frühling« über den »Heißen Sommer« bis in den »Gefluteten Herbst« – gliedert sich diese Expedition. In Kapitel I wird uns Rachel Carson »die Magie des Staunens« lehren. Es ist eine Reise, die unternommen wird »in der Hoffnung auf lebbare Welten«, die Donna Haraway in Kapitel III vorausdenkt. Rückenwind gibt die ansteckende Zuversicht der Mikrobiologin Lynn Margulis: »GAIA is a tough bitch!« Sie halte schon einiges aus, unsere Erde, weil sie ein »zähes Weibsbild« ist, wie wir in Kapitel II erfahren.2

Noch sind am fernen Horizont die Konturen einer zukünftigen Planet-Erde-Wohngemeinschaft nicht klar zu erkennen. Deshalb erfolgt in Kapitel IV »Leerer Winter« eine sanfte Landung auf der SF-Wiese, wo einige Blumen der Science-Fantasie und Science-Fabulation – auch aus früheren Kapiteln – blühen. Rachel Carson hat sich am Anfang von Silent Spring bereits an eine SF-Fabel gewagt. Wie eine große uralte Saga kommen dagegen Lynn Margulis’ Erzählungen über die Anfänge des Erdenlebens vor über vier Milliarden Jahren daher, während Donna Haraway am Ende ihres letzten Buches Unruhig bleiben einen Mensch-Schmetterling-Hybrid in die Zukunft abheben lässt.

Geschichten seien viel größer als Ideologien und geben Hoffnung, wie die Philosophin nicht müde wird zu betonen. Deshalb steht am Ende unserer gemeinsamen Naturkultur-Erkundungen und Gefährt*innen-Begegnungen die SF-Short-Story ÜberLeben: eine Geschichte aus einer Zukunft, die schon begonnen hat.

Wohin unser Planet und seine Bewohner taumeln, war auch das Lebensthema der weltberühmten Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018). Vor gut einem halben Jahrhundert schrieb sie bereits einen Roman mit dem heute prophetisch klingenden Titel Das Wort für Welt ist Wald.3

Die US-Schriftstellerin Le Guin sprach im Jahr 1986 vor den Absolventinnen des amerikanischen Frauen-College Bryn Mawr. Der Titel dieser berühmten Mut-Rede, We are volcanoes, steht nun auch auf dem Cover dieses Buches.4 Denn »Vulkane« waren ihre Zeitgenossinnen Carson, Margulis und Haraway ohne Zweifel.

Schon früh sind sie ausgebrochen, und bereits als Studentinnen waren sie unüberhörbar – was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch mehr Kraft kostete als heute. Jede hat in ihrem persönlichen Leben und Fachgebiet eingefahrene Wege verlassen und die »Landkarten« des Denkens verändert und so neue Landschaften und Berge zum Entstehen gebracht.

Aber die drei Biologinnen waren nicht nur, sie sind Vulkane geblieben, heute größer und sichtbarer denn je.

Zu ihnen führt diese Reise.

Um zu hören, wie sie immer noch ausbrechen.

Charlotte Kerner, im Februar 2024

I STILLER FRÜHLING: Alarmsignale

»In der Natur existiert nichts allein.«

Rachel Carson (1907–1964)

Im Namen der Brise

Großes beginnt oft ganz klein. Im Fall von Rachel Carson soll es ein Fischfossil gewesen sein, welches das Grundschulkind im elterlichen Garten gefunden hat. In der Kleinstadt Springdale, Hunderte Meilen von der amerikanischen Ostküste entfernt, hält sie diese uralte, verschlüsselte Botschaft des Meeres in der Hand. Die naturbegeisterte Maria Carson erklärt der staunenden Tochter ausführlich, was es damit auf sich hat. Danach verlässt eine tiefe Sehnsucht nach dem großen Wasser das Mädchen aus Pennsylvania nie wieder. Als Rachel heranwächst, stellt sie sich vor, wie der Ozean aussieht, wie er riecht und wie sich die Brandung anhört. Doch erst mit Anfang zwanzig, im August 1929, sieht die Biologiestudentin Carson das Meer zum ersten Mal.

Im Meeresbiologischen Labor von Woods Hole, an der Südwestspitze von Cape Cod, wurde ihr vor dem Studienbeginn ein Laborplatz zugeteilt. Und so steht Rachel nun an einem warmen Sommertag endlich dort, wo sich Land und Atlantik begegnen, und atmet die Seeluft ein.

Ozeanische Gefühle. Kein Nachdenken. Liebe auf den ersten Blick. Sich eins fühlen mit der Natur »unter dem Meerwind«, begleitet von der ewigen Musik der Wellen, die sich an der Küste brechen. Reines Glück, kaum zu fassen.

Ihre »intellektuelle Antwort« auf diese Überwältigung formuliert sie erst Jahre später. Nach der Lektüre einer »reichen Literatur über die See«1 entscheidet sich die Biologin, das »Meer selbst« zur Hauptperson in ihrem ersten Buch zu machen: »Es entstand aus der tiefen Überzeugung, dass das Meerleben unsere ganze Aufmerksamkeit wert ist.« Denn die Küsten, Strömungen und alles Leben am und im Meer »sind gewesen, ehe der erste Mensch an der Küste des Ozeans stand und staunend hinausblickte; und sie werden dauern, Jahr um Jahr, durch Jahrhunderte und ganze Zeitalter hindurch, während große menschliche Reiche aufsteigen und zu Staub zerfallen«.2

Vielleicht hat sie sich an ihre zwölf Jahre zurückliegende erste Begegnung mit dem Meer erinnert, als sie für ihr schriftstellerisches Debut den Titel Under the Sea-Wind wählt. Dass sie hier beginnt, Umweltgeschichte zu schreiben, ahnt Rachel Carson nicht: Am Ende ihres Lebens wird sie mit nur vier Büchern eine Gedankenrevolution und Zeitwende mit befeuert haben. Ihr letztes Buch Der stumme Frühling gilt heute als eine Art Gründungsmanifest der modernen Ökologiebewegung und damit als ein Werk, das die Welt verändert hat.

Seitdem gibt es eine Zeit vor und eine Zeit nach Rachel Carson.

Welche Schriftstellerin kann das schon von sich behaupten?

Ich, wirft Lynn Margulis ein.** Sie hat das zweite Kapitel verlassen, um sich gleich zu Beginn des ersten einzumischen. So selbstbewusst und raumgreifend tritt sie hier auf, wie ihre Zeitgenoss*innen sie immer geschildert haben. Eine sympathische Rebellin, die sagt, was sie denkt, ungefiltert.

Zwar bin ich nur eine schriftstellernde Mikrobiologin, aber gut ein Dutzend populärer Bücher habe ich immerhin auch veröffentlicht, das ist Rachel Carsons Opus mal drei! Die Fachliteratur kommt noch hinzu, vor allem meine erste große wissenschaftliche Publikation zur Rolle der Symbiose in der Evolution, die als »Endosymbiontentheorie« bekannt wurde … Keine Angst vor dem Fachausdruck, Erklärungen folgen später in dem mir gewidmeten Kapitel!***

Diese neue Theorie musste ich Ende der 1960er-Jahre gegen ungeheure Widerstände verteidigen, genau wie Rachel Carson zuvor ihr Werk Silent Spring. Aufgegeben hat keine von uns, jede glaubte an sich und wusste um die Qualität und Wichtigkeit ihrer Arbeit. Und deshalb gibt es in der Biologie ebenfalls eine Zeit vor und eine Zeit nach Lynn Margulis. Meine Theorie fehlt heute in keinem Biologielehrbuch.

Ich habe nicht mitgezählt, wie oft ich in meinem wissenschaftlichen Leben sagen musste: I don’t consider my ideas controversial, I consider them right.**** Dieser Satz wurde so etwas wie mein Markenzeichen und er trifft auch auf die Kollegin Carson zu. Aber sie provozierte nicht so gerne wie ich, sie war leiser und zarter, eher eine sanfte Umstürzlerin. In unserem Denken gleichen wir uns wie zwei Wassertropfen!

»Die Geschichte des Lebens auf der Erde«, schrieb sie, »ist stets eine Geschichte der Wechselwirkung zwischen den Geschöpfen und ihrer Umgebung gewesen. (…) Das Gleichgewicht der Natur ist ein verwickeltes, genau ausgewogenes und weitgehend zu einem übergeordneten Ganzen zusammengeschlossenes System von Beziehungen zwischen Lebewesen.«3 Und das zu verstehen, war unser Lebensziel. Schon als Kinder liebten und achteten wir Pflanzen und Tiere und immer lebten wir mit Hunden und Katzen zusammen.

Später entdeckte jede von uns ihre Liebe zu Emily Dickinson, neben deren Haus ich einmal wohnen sollte. Eine Dichterin, deren federleichte Ironie und trockener Humor auch wir beherrschen. Wie sie das Credo von uns Evolutionsgläubigen – hier schließe ich Donna Haraway ausdrücklich mit ein – auf drei Zeilen verdichtet hat, ist wunderbar. Insbesondere Rachels Werden und Wesen ist hier im Kern erfasst:

Im Namen der Biene –

Und des Schmetterlings –

Und der Brise – Amen!

Amen, mein Stichwort, nun meldet sich auch noch Donna Haraway zu Wort. Ein ansteckendes Lachen und das Klimpern langer Ohrringe kündigt sie an, während ihr Hund im dritten Kapitel weiter bellend umhertobt.

Amen und nochmals Amen im Namen der Bienenvölker und Schmetterlingskolonien und aller Tiere, die nicht die geringeren Menschen sind, sondern andere Welten. Sie seien mit uns – und wir mit ihnen! Mein irisch-katholischer Hintergrund bricht sich Bahn! Dickinsons Naturkultur-Gedichte bewundere ich als sprachverliebte Wortschöpferin / Biologie-Gefährtin / Feministin / Philosophin sowieso, heute, in der Jetzt-Zeit. Eine Zeit vor und eine Zeit nach Donna Haraway gibt es nicht. Noch nicht!? Unsere Geschichten sind verflochten vor-in-nach unserer Zeit. Gedanken-Räume, in denen wir uns verwandt machen.4 Angehörig machen, unterscheidbar und zurechenbar, auf vielen Ebenen. Anders-als menschlich, mehr als menschlich, inklusive Flüssen, Steinen, Bergen und Landschaften und menschlichen wie nicht menschlichen Gesellschaften, in Luft / auf Land / im Wasser. Bis hin zum Meer, wo Meeressirenen im Wasser singend/sinkend alle Erdenbewohner*innen mahnen im Namen der Brise und der Meer-Wind-Wellen-Poetin Rachel.

Das frühe, feste Fundament

Recht einfach ist das Leben in dem zweistöckigen Farmerhaus der Familie Carson, dessen Außenwände mit hellen Holzschindeln verkleidet sind. Typisch für die amerikanische Provinz ist die 2x2-Aufteilung, unten und oben je zwei Räume, ohne fließendes Wasser und Zentralheizung. Reich dagegen ist die Umgebung, die das Kind Rachel fast täglich durchstreift: der Garten, die Obstplantagen, die angrenzenden Felder und nahen Wälder, das Tal des Flusses Allegheny. Alles ist »frisch und neu und schön«, wenn sie Vögel und Insekten beobachtet, Pflanzen sammelt und dann zu Hause alles bestimmt, unterstützt von ihrer Mutter. Diese schenkt der Tochter einen »Sinn für das Staunen, so unverwüstlich, dass er ein ganzes Leben lang hält, als unfehlbares Mittel gegen die Langeweile und Enttäuschungen späterer Jahre. Gegen die sterile Beschäftigung mit Dingen, die künstlich sind, und gegen die Entfremdung von den Quellen unserer Kraft«.5 Erst in der Rückschau begreift Rachel, wie wichtig dieses Rüstzeug war, das Maria Carson ihr mit auf den Lebensweg gegeben hat.

Ihre Mutter, eine gut ausgebildete Lehrerin, die 1887 ein Frauenseminar in Washington mit einer Auszeichnung in Latein abgeschlossen hatte, konnte nach der Heirat mit Robert Warden Carson nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten; denn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden Lehrerinnen – auch in Deutschland – qua Gesetz verpflichtet, zölibatär zu leben. Nur noch Klavierstunden gibt die talentierte Musikerin in Springdale, um zum Familieneinkommen beizutragen. Sie war schon achtunddreißig, als das jüngste Kind im Mai 1907 geboren wurde. Rachel Louise ist wissbegieriger und klüger als der acht Jahre ältere Bruder Roger und die zehn Jahre ältere Schwester Marian, die beide nur eine Grundschule besuchen werden. Maria Carson, die ihren Kindern jeden Abend vorliest, wird eine bedingungslose Förderin und Mentorin der Kleinsten, die schon bald Bücher über alles liebt. Eine Mitschülerin, die öfters Lesenachschub aus der Bibliothek im nahen Pittsburgh – vor Ort fehlt eine Gemeindebücherei – vorbeibringt, berichtet später von lebhaften Tischgesprächen bei Tee, Keksen und Äpfeln. Jede erzählt von ihrer neuesten Lektüre, wobei Maria Carson immer lebensfroh und zugewandt wirkt und gerne Gespräche über aktuelle Ereignisse anregt.6

Schon in der Grundschule wird Rachel Mitglied bei einer populären Kinderzeitschrift und beginnt selbst zu schreiben. Mit neun illustriert sie ein kleines Buch für ihren Vater, der keine prägende Rolle in ihrem Leben spielt. Intellektuell ist Robert Carson seiner Ehefrau unterlegen und auch geschäftlich bleibt er erfolglos. Er scheitert als Immobilienmakler, versucht sich irgendwann als Versicherungsvertreter und arbeitet später als Angestellter im lokalen Elektrizitätswerk. Von Pittsburgh aus rücken im Laufe der Jahre die modernen Fabriken mit ihren qualmenden, stinkenden Schloten immer näher heran an das Kinderparadies.

Maria Carson muss ihre Tochter ermutigt haben, an Schreibwettbewerben teilzunehmen, und so gewinnt Rachel nicht nur mehrere Medaillen, sondern erhält auch ein erstes Honorar in Höhe von zehn Dollar für eine abgedruckte Geschichte. Bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr schreibt sie regelmäßig für die Kinderzeitschrift zum Beispiel über Wolken und Wandertage oder Vogelnester, die sie entdeckt hat. Als Bruder Roger im Ersten Weltkrieg in Frankreich kämpft, verarbeitet sie seine Briefe in einer Fliegergeschichte.

Dass sie im zehnten Schuljahr von der lokalen Highschool auf jene im nahen Parnassus wechselt, ist ausgemacht. Stipendien erhält Rachel mühelos, trotzdem werden die Eltern im Laufe der Jahre Grundstücke und Familiengeschirr verkaufen, um die höhere Bildung der Tochter finanziell abzusichern. Klassenbeste bleibt Rachel ihr Schulleben lang, die Freundinnen nennen sie in einem Gedicht so »helle wie die Sonne«, bright as the sun. Keine Frage auch, dass sie 1925 auf das beste College gehen wird. Im Bewerbungsbogen des Pennsylvania College for Womenbezeichnet sie sich als »Idealistin« und Naturliebhaberin und betont, »die wilden Tiere sind meine Freunde«. Ausgestattet mit einem Stipendium, beginnt sie dort zu studieren, und nichts liegt näher als das Fach Englische Literatur. Denn schon immer, selbst in der frühesten Kindheit, hat sie sich gewünscht, einmal Schriftstellerin zu werden: »Ich habe keine Idee, warum.« Vorbilder in der Familie gab es keine. Aber als Vielleserin hat sie wohl begriffen, »jemand hat das Buch geschrieben«, und sich gedacht, »es könnte Spaß machen, selbst auch Geschichten zu erfinden«.7

Fast jedes Wochenende fährt die Mutter fortan 25 Meilen weit in die Provinzhauptstadt, um die College-Atmosphäre zu genießen und im geistigen Austausch mit der Tochter zu bleiben. Rachel bleibt gerne im Wohnheim, weil es zu Hause noch enger geworden ist: Schwester Mirian, inzwischen einer unglücklichen Ehe entflohen, ist mit ihrer ersten Tochter Virginia wieder zu Hause eingezogen, und auch Robert muss öfters unterkommen. Rachels Kommilitoninnen wundern sich zwar über diese ungewöhnlich enge, aber respektvolle Beziehung, in der es nie Streit zu geben scheint. Etwas speziell jedoch war die Carson-Tochter schon immer, die zwar beim Sport und Musikmachen mittendrin ist, aber mehr als alles andere das Schreiben liebt.

Rachels Texte für die literarische Beilage der College-Zeitung begeistern ihre Englischprofessorin Grace Croft, und kaum eine der Mitstudentinnen zweifelt daran, dass sie einmal Schriftstellerin werden wird. Und sollte das nicht klappen, freut sich ein zukünftiger Mann über seine literarisch gebildete Ehefrau; die für diese Rolle wichtigen gesellschaftlichen Umgangsformen wurden auf Bällen eingeübt, auch das zählte zu der damals üblichen »Frauenausbildung«. Nur einmal besucht Rachel eine solche Veranstaltung in männlicher Begleitung, dann nie wieder. Früh zeigt sich, dass das Übliche ihre Sache nicht sein wird. Schon mit siebzehn erklärt sie, ihr Interesse gelte der Literatur, nicht Männern.8

Damals ist das Patriarchat, das seit Jahrhunderten von Männern dominierte Gesellschafts- und Familiensystem, und wie es Frauen ein- und beschränkt, noch kein Thema und gleichgeschlechtliche Liebe ein Tabu, darüber spricht niemand offen. Es ist mehr als eine pubertäre Spielerei, dass Rachel auch »Ray« gerufen wird. Auch später dürfen enge Freundinnen sie so nennen, und sie selbst unterzeichnet Briefe gerne mit diesem Namen, der das Geschlecht verbirgt. Sicher spürt sie bereits als Teenager, ohne dieses Gefühl offen zu benennen, dass Frauen sie auch sexuell anziehen. Das College ist noch ein Schutzraum, die jungen Frauen bleiben unter sich und lernen frei und ohne Rollenzwänge.

Als die Studentinnen im zweiten Studienjahr das Pflichtfach Biologie belegen müssen, gründet eine Gruppe, darunter auch Rachel, den wissenschaftlichen Club Mu Sigma. Die griechischen Buchstaben stehen für die Initialen M und S ihrer Professorin Mary Scott Skinker, dem verehrten Star der Fakultät. Eine schöne Frau, die sich gerne extravagant kleidet, und eine pädagogisch begabte Biologin, die mutig von Darwins Evolutionslehre schwärmt, welche vielen als gottlos gilt und deren Verbreitung in einigen Bundesstaaten sogar verboten ist.

Mehr als das übliche Schülerin-Lehrerin-Verhältnis und mehr als Schwärmerei verbinden schon bald Skinker und ihre begabteste sechzehn Jahre jüngere Studentin, die im College-Jahrbuch von 1927 als eine der hübschesten auffällt. Rachel trägt eine schwarze Seidenbluse, an der Schulter eine Organza-Rose. Die ondulierte Bobfrisur im Stil der 1920er-Jahre – eine kesse Locke ist in die Stirn gezogen –, passt zu dem verträumten Lächeln und dem festen, nach links gerichteten Blick dieser »Feuermuse«.9 Die zwei verbringen in den folgenden Jahren Wanderferien zusammen und vertiefen ihre Freundschaft, die ein Leben lang halten wird. Im Jahr 1948 wird sich die angehende Autorin Carson noch Geld leihen müssen, um quer durch Amerika nach Chicago zu fliegen und an das Sterbebett von Freundin Mary eilen zu können. Ein letztes Wiedersehen wünschten sich beide.

Doch nicht nur wegen ihrer liebenden Verehrung für diese Professorin wechselt Rachel das Hauptfach und strebt nun im Fach Zoologie einen Master-Abschluss an. Und zwar am liebsten an der bekannten Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, wohin die bewunderte Skinker gewechselt ist. In den Biologiekursen muss jenes tiefe Interesse an der Natur wieder aufgelebt haben, für das ihre Kinderjahre den Boden bereiteten: »Sind die Gefühle erst einmal geweckt (…), dann wollen wir über den Gegenstand unseres Fühlens auch etwas wissen. Haben wir ihn erst entdeckt, ist seine Bedeutung von Dauer.« Die Fakten, die sie sich aneignen wird, sieht sie als die Samen an, aus denen »Wissen und Weisheit wachsen« können.10

Ihre Englischdozentin, die Rachel immer gefördert und ermutigt hat, ist gekränkt, und die College-Direktorin und ihre Mutter sind ebenfalls entsetzt. Jede rät dringend von dem Wechsel ab: Als Naturwissenschaftlerin eine gute Stelle zu finden, werde so viel schwerer sein. Doch die junge Frau fühlt sich erwachsen genug, ihre eigene Entscheidung zu treffen. Vielleicht dämmert Rachel bereits, dass sie als Biologin Themen finden kann, über die sich schreiben lässt. Sie wankt nicht, obwohl für den Fanclub außer dem Idol Skinker andere weibliche Vorbilder in den Naturwissenschaften rar sind.

Schwestern im Geiste

Nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt wird erst ab Mitte der 1970er-Jahre – angeregt durch die erstarkende Frauenbewegung – vor allem in den Naturwissenschaften die verschüttete Geschichte der Frauen ausgegraben und neu erzählt, und dann wird die amerikanische Biologin Rachel Carson auch in Europa neu entdeckt und zu einem Vorbild werden.

Im Pennsylvania College for Women haben die angehenden Naturwissenschaftlerinnen sicher von Madame Curie gehört, der ersten Nobelpreisträgerin in den Fächern Chemie und Physik. Schließlich hatte die Französin im Jahr 1921 mit ihren Kindern eine Reise in die Vereinigten Staaten unternommen und für Schlagzeilen gesorgt: Bei einem Treffen war ihr vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, Warren G. Harding, als symbolische Anerkennung für ihre bahnbrechenden Forschungen zur Radioaktivität ein Gramm des teuren Wunderstoffes Radium überreicht worden. Dafür hatten amerikanische Frauen Spenden eingeworben. Auf dem »Atomzeitalter«, das mit der Entdeckung der Radioaktivität durch Marie Curie im Jahr 1901 begonnen hat, ruhten große Hoffnungen: auf noch mehr segensreiche Errungenschaften wie Röntgengeräte und eines Tages vielleicht eine unerschöpfliche Energie, die aller Armut ein Ende machen kann. Madame Curie hatte gezeigt, dass sich – sogar von einer Frau – die Natur enträtseln und in Zukunft beherrschen lässt. Dieser Glaube wird erst durch den Abwurf der in den USA entwickelten Atombomben auf Japan erschüttert werden und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Schockwellen aussenden, bis in Rachel Carsons Leben hinein.

Im Fach Biologie hat Skinker ihren Schützlingen wohl auch einige der Frauen vorgestellt, die in der populären Bewegung natur study movement aktiv waren, wie zum Beispiel Anna Botsford Com­stock, die ein Handbuch für Naturstudien verfasst und auch Rachels Mutter schon geprägt hatte. Gut möglich, dass die Dozentin auch über Maria Sybilla Merian gesprochen hat. Denn diese europäische Schwester im Geiste, die in den USA bis heute sehr populär ist, war ihnen als Insektenforscherin im 17. Jahrhundert vorausgegangen, und Schmetterlinge faszinierten auch die Studentin Rachel, die in einem Lyrikseminar11 gedichtet hat:

Butterfly poised on a thistle’s down, Lend me your wings for a summer day. What care I for a kingly gown, When I might wear your gossamer gown. And sit enthroned on an orchid spray?*****

Für sie müsste es ein Leichtes gewesen sein, sich mit Maria Sybilla zu identifizieren. Denn deren Vater, der Kupferstecher Merian, soll der Dreijährigen bereits auf dem Sterbebett eine große künstlerische und ruhmreiche Zukunft prophezeit haben. Genau wie ihre eigene Mutter immer an Rachel glaubte und an ihr festhielt. Als die Merian-Tochter mit zehn in einer Frankfurter Seidenraupenzucht beobachtete, wie der Seidenspinner einen langen Faden webte und sich verpuppte, staunte sie – genau wie Rachel, als sie das Meeresfossil bewundert hatte und nie mehr vom Meer loskam. Auch ihr Lebensthema hat Sybilla Merian früh gefunden: Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung (so der Titel ihres zweiten Buches), die sie in kolorierten Kupferstichen und beschreibenden, oft poetischen Texten dokumentierte. Auch sie hörte fortan nie mehr auf, sich zu wundern und wissen zu wollen. Genau wie die Carson-Tochter.

Nach einigem Hin und Her kann die 22-jährige Rachel mit einem Stipendium endlich an die berühmte Johns-Hopkins-Universität wechseln, was der Lokalzeitung eine Meldung wert ist. Das Studium beginnt mit einer Enttäuschung: Mary Skinker hat inzwischen aus privaten Gründen eine Stelle im Staatsdienst angenommen und ist fortgezogen. Doch sie konnte der Freundin noch vor dem Studienbeginn im Herbst 1929 einen Aufenthalt im Marine Biological Laboratory in Woods Hole vermitteln.

Es ist ein besonderer Ort, nicht nur weil Rachel hier in Maine das Meer zum ersten Mal sieht. Das dort ansässige Labor, für dessen Unabhängigkeit und Bestand eine Bostoner Organisation für Frauenbildung schon 1887 gesorgt hat, ist ein Glücksfall: Der weibliche Anteil unter den Forschenden beträgt über 50 Prozent.12 Nur Ermutigung erlebt hier die Anfängerin, die öfters hierher zurückkommen wird, auch um unter dem Mikroskop Fischnieren zu sezieren für ihre Masterarbeit. Die Welt der Forschung steht ihr weit offen.

Ein wichtiger Treffpunkt bleibt Woods Hole auch für die nächsten Generationen; alle drei Öko-Visionärinnen werden immer wieder an diesen Ort zurückkehren, wo sich im Laufe der Zeit weitere ozeanografische Forschungsinstitute ansiedeln. Im Jahr 1968 ist Donna Haraway im selben Marine-Labor wie Carson zu Gast, ebenfalls als Studentin der Zoologie. Doch sie ist nicht so brav wie gut vier Jahrzehnte zuvor die gleichaltrige Rachel: Als Teil der Hippie-Generation feiert Haraway nach einigen Joints ausgelassen an den Docks, während im Meer Planktonteppiche leuchten. Tagsüber untersucht die Studentin unter dem Mikroskop die Eier des Oktopus, einer Spezies mit einer besonderen Intelligenz bis hinein in jede Tentakelspitze. Dass ihre philosophische Denkweise einmal »tentakulär« genannt werden wird, ist ein schöner Zufall. Damals fragt sie sich noch: Wie wird aus einzelnen Zellen ein kompletter Organismus? Doch sie merkt schnell, dass sie nicht zur »Laborpraktikerin« taugt: »Mein Herz gehörte der Biologie als einem Weg, die Welt zu erkennen.«13

Und weil die Biologie für Haraway im Laufe ihrer Karriere vor allem »ein Diskurs« werden wird, leitet sie als Professorin knapp ein Vierteljahrhundert später erneut an diesem Ort ein Seminar zur Primatenforschung. Einige Monate zuvor hatte sie Aufsehen erregt mit ihrem Werk Primate Visions – Gender, Race and Nature in the World of Modern Science. Den Titel ziert das Foto einer weißen Frauenhand, über die sich eine behaarte Affenpranke wölbt: ich Tarzan, du Jane. Haraway hat in dem Buch den Mythos entlarvt, dass solche Geschlechterhierarchien und Stereotype von der »Natur« her begründet seien und damit als vermeintlich unverrückbar erscheinen.******

Im Publikum des Seminars sitzt im Jahr 1990 die sechs Jahre ältere Lynn Margulis, die gerade an einem Buch über Die Evolution der menschlichen Sexualität arbeitet, so der spätere Untertitel von Geheimnis und Ritual.******* Im Vorwort bedankt sie sich ein Jahr später »für die soziokulturelle Kritik an der Evolutionslehre« bei der Kollegin Haraway.14 Von deren Einfluss zeugt das Fazit, das Margulis zieht: »Wo immer wir der Kultur den Spiegel der Natur vorhalten, sehen wir ein maskiertes Bild der Kultur.«

Dennoch trennen politische Welten die linke feministische Aktivistin Haraway und die Evolutionsbiologin Margulis: Als Feministin hat sie sich nie bezeichnet, sondern gerne betont, sie spiele nie die Frauenkarte. Ihr Leben lang schert sie sich wenig um Konventionen und lebt emanzipiert. Und weil Superwoman nur als Mythos existiere, habe sie Stress und Schwierigkeiten meistens ignoriert: »I have been very poor, but I have never been sorry.«********

Und genau das trifft auch auf die junge Rachel Carson zu.

Anfang der 1930er-Jahre kommt die Studentin Carson an der Universität langsamer als geplant voran, denn sie muss als Teilzeitlehrerin und Laborassistentin Geld verdienen. Längst ist sie Haupternährerin der Familie, deren Lage in der Weltwirtschaftskrise immer prekärer wird, zumal Vater und Schwester gesundheitlich angeschlagen sind. Deshalb sind alle zusammen in ein Haus in Stemmers Run, Maryland, gezogen, von dem aus Rachel zur Universität in Baltimore pendeln kann. Nur fünf Monate war Rachel bisher von ihrer Mutter getrennt, sie wird es nie wieder sein.

Der gemeinsame Haushalt spart Geld und entlastet die arbeitende Studentin, weil Maria Carson alle Hausfrauenpflichten übernimmt. Es ist eine Rollenverteilung, die bis zum Tod der Mutter Bestand haben wird. Diese familiäre Übereinkunft schützt Rachel auch vor lästigen Fragen nach Heirat und Kindern: Diese Alternative gibt es nicht, sie hat keine Zeit und wird zu Hause gebraucht, Punktum.

Am Anfang von allem

Mit 25 Jahren ist Rachel Diplom-Biologin – ihr Abschlussthema war die frühe embryonale Entwicklung der Welse – und wieder hat sie als eine Besten das Examen abgelegt. Doch sie kann die geplante Doktorarbeit nicht abschließen, in der sie die Fähigkeit des Aals, zwischen Salz- und Süßwasser zu wechseln, untersuchen wollte. Das Stipendium ist an die Bedingung gekoppelt, Vollzeit zu studieren – für sie eine Unmöglichkeit. Aus dieser kräftezehrenden Unsicherheit weist Lebensfreundin und Ratgeberin Mary Skinker einen Weg, der Rachels Leben in eine neue Richtung lenken wird: Sie empfiehlt ihrer früheren Studentin, Eignungsprüfungen für den Staatsdienst abzulegen, die diese umgehend besteht. Aber gerade fehlen offene Stellen für Junior-Biologinnen. Deshalb vermittelt Mary der Freundin einen ersten Job, in dem Schreibtalent und biologisches Fachwissen gefragt sind.

Elmar Higgins, Leiter des Fish-and-WildlifeService, FWS, möchte die Arbeit seiner Abteilung im Radio der interessierten Öffentlichkeit vorstellen. Doch die Manuskripte, die seine Mitarbeiter in der Fischereibehörde für die geplante Serie Romanze unter Wasser geliefert haben, sind unbrauchbar. Rachel Carson darf sich an den Texten versuchen und überzeugt. Higgins erkennt ihr Talent, wissenschaftliche Sachverhalte eingängig zu vermitteln, und 1936 wird sie als zweite Frau in den Staatsdienst übernommen, offiziell als Gewässerbiologin, aber das Verfassen von Broschüren wird schon bald ihre Haupttätigkeit.

Ein erneuter Umzug in das Städtchen Silver Spring in Maryland steht nun für die gesamte Familie Carson an: Nach dem Tod des Vaters im Sommer 1935 und bald darauf auch der Schwester Marian im Januar 1937 sorgt ab sofort Maria Carson für ihre heranwachsenden Enkelinnen Marjorie und Virginia. Lebenstüchtig und effizient, halten Mutter und Tochter den Frauenhaushalt zusammen. Um das Einkommen aufzubessern, schreibt die Biologin Buchbesprechungen sowie Zeitungs- und Zeitschriften-Artikel, die Themen liegen nun tatsächlich »auf ihrem Schreibtisch« oder sind in der hauseigenen Bibliothek zu finden.

Das erste Mal in ihrem Leben sei sie als Journalistin mit massiven Vorurteilen gegenüber Frauen konfrontiert worden, erinnert Rachel später: Redaktionen geben ihr zu verstehen, die Leserschaft würde bei naturwissenschaftlichen Themen eher der Kompetenz von Männern vertrauen. Weshalb sie öfters mit »R.L. Carson« unterzeichnet, um nicht als Frau erkannt zu werden. Aus ihrer Feder stammen Reportagen über Forellenzucht und Bisons, Flugrouten von Vögeln und die Signale der Fledermäuse, deren Echolot-Ortung sie mit den Sensoren von Unterseebooten vergleicht.

Fünfzehn Jahre lang – mit einer späten Beförderung zur Verantwortlichen für alle Publikationen im Jahr 1949 – bleibt sie in der staatlichen Fischereibehörde. Fast täglich liest sie Fachartikel, stellt die wesentlichen Fakten und Ergebnisse zusammen und »übersetzt« in verständliches Englisch. Sie übt sich in dem, was heute Wissenschaftsjournalismus heißt. Das Recherchieren, sich in ein neues Thema einzuarbeiten und die richtigen Ansprechpartner und Expertinnen zu suchen und zu befragen, liegt ihr besonders. Sie lernt alles, was sie später für ihre Bücher brauchen wird, im Rückblick eine entscheidende Zeit und gleichzeitig eine erfüllte und sorgenfreie Lebensphase, in der sie viele neue Freundschaften schließt.

Zusammen mit der Illustratorin Katherine Howe bereist sie die Naturparks und Küsten von Maine bis Florida für die Broschüren-Reihe Conservation in Action. Die Kollegin Shirley Briggs, die ihre Freundin Rachel im FWSals witzig und durchsetzungsstark erlebt hat, teilt sich mit ihr nicht nur das Büro. Die begeisterten Vogelbeobachterinnen wandern viel zusammen, im Jahr 1945 auch im Appalachen-Gebirge. Von diesem Ausflug existiert ein Foto der Hobbyfotografin Shirley, das Rachel auf dem felsigen Gipfel des Hawk Mountain zeigt, seit Mitte der 1930er-Jahre ein Zentrum der Raubvogelbeobachtung. Nach Meinung der amerikanischen Biologieprofessorin Sandra Steingraber, die Carsons komplette Werke in den 2010er-Jahren neu ediert hat, zeigt es die »wahre Rachel Carson«. Diese Frau habe nichts mit dem Zerrbild »einsame, unglückliche alte Jungfer« zu tun, das später nicht nur von den Silent-Spring-Gegnern, sondern auch noch von den ersten Carson-Biografen gezeichnet werden wird. Keiner kann sich damals vorstellen, dass eine Frau ohne Ehemann ein erfülltes Leben lebt.15

Die kinnlangen, leicht lockigen Haare sind auf diesem Schnappschuss vom Wind zerzaust und nach hinten geweht; die 38-jährige Rachel trägt eine lässige Lederjacke, ausgerüstet ist sie mit einem Fernglas, das am Band um den Hals hängt, dem Erkennungszeichen jedes Bird Watcher. Hier schaut eine moderne und in sich ruhende, zufriedene Frau in die Weite. Sie ist bei sich angekommen, eingewoben in ein festes Freundinnen- und Familiennetz. Leidenschaftlich mitfühlend nimmt sie sich mit allen Sinnen als Teil dieser Natur wahr, glücklich und staunend. Schließlich sitze sie auf diesem Gipfel inmitten eines Urzeit-Ozeans, umgeben von Kalkstein, der aus Myriaden von kleinen Tierskeletten geformt wurde: »Jetzt lege ich mich zurück mit geschlossenen Augen und versuche mir vorzustellen, dass ich auf dem Boden eines anderen Ozeans liege – einem Ozean aus Luft, auf dem die Habichte segeln.«

Zu dieser Zeit scheint sie die Enttäuschung verwunden zu haben, dass ihr vor vier Jahren erschienenes erstes Buch Unter dem Seewind