Wege zum Großvater - Gabriele Engelbert - E-Book

Wege zum Großvater E-Book

Gabriele Engelbert

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Beschreibung

Zuerst waren da die Fragen, auf die niemand mehr antworten konnte. Fragen zu einem Land, das in der Kindheit der vier Geschwister mit vielen Vorurteilen gleichermaßen verherrlicht und totgeschwiegen wurde: Ostpreußen und Westpreußen. Im Gepäck umfangreiche Chroniken der vielen ost- und westpreußischen Vorfahren, in den Köpfen Lust und Neugier auf eigene Erlebnisse und völlig unbelastet von eigenen Kriegs- oder Fluchterlebnissen, so machen sie sich auf den Weg. Es wird eine Reise, dicht gepackt voller neuer Eindrücke, vermischt mit ehemaligen Vorstellungen und Lebenserfahrungen anhand der Aufzeichnungen von Vorfahren. Eine Reise, die im Heute beginnt, zwischen Vergangenheiten und Zukunft pendelt und im nun bereicherten Heute wieder endet. Fazit ist ein überraschend neues Bewusstsein eigener Herkunft mit Blick auf zukünftige Generationen, und mit Anregungen weiter zu denken, weiter zu reisen.

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Seitenzahl: 173

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Gabriele Engelbert

Wege zum Großvater

eine Reise nach West- und Ostpreußen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

2. Der “Osten“ war immer weit weg - eine Annäherung

3. Wo sie damals ihre Sommerträume feierten - Mühle Slupp, Schloss Peterhoff

4. Er war nicht ganz Bismarck - in Osterode

5. Eine Grenze zur Vergangenheit - Bis zur Bernsteinküste

6. Sind wir in Ostpreußen? - Cranz

7. Ein altes Foto wird lebendig - Labiau

8. Holger und der Hund - Gilge

9. Zu Hause am Meer - Kurische Nehrung

10. Der Beginn einer Freundschaft - Tilsit, Ragnit, Instertal

11. Die Reichen, die Schönen und wir - Bernsteinküste

12. Königsberg? - Das neue Kaliningrad

13. Heidruns morsche Baumborke - Grenz-Erfahrung

14. Nie wieder Krieg - Frisches Haff

15. Christophs Bad an der Grenze im Meer - Frische Nehrung

16. Wasser, Licht und Weite - An der Weichsel

17. Erlebnisse mal vier - Abschied

Impressum neobooks

2. Der “Osten“ war immer weit weg - eine Annäherung

1. Wie es anfing

Für die meisten Kinder sind Oma und Opa lebendige Menschen. Bei uns gab es nur ein kleines Schwarzweiß-Foto unserer Großmutter, sowie ein paar blasse Erinnerungen – und das Bild eines alten Schul-Rektorhauses.

Das Foto dieses Rektorhauses von Labiau hing immer unauffällig an der Wand. Wir waren so gewöhnt an den Anblick, dass wir nicht mehr hinzugucken brauchten, denn es war längst in einen der Erinnerungswinkel unserer kindlichen Gehirne eingraviert.

Dieses Foto zeigte ein schmuckes Haus, weiß mit Fensterläden zwischen den vier hohen, geteilten Fenstern, welche zur Straßenfront hinausgehen. Ein Haus mit gemütlich breitem Ziegeldach, welches das Obergeschoss zur Straße hin und das Dachgeschoss ganz bedeckt. Zwei niedrige, geschwungene Dachgauben lugen wie halb geöffnete Augen zur Straße und betonen mit dem gewölbten Giebelabschluss an den Stirnseiten die Jugendstilbauweise. Charakteristisches Schmuckwerk bilden die beiden Kugelknäufe als obere beidseitige Dachfirstabschlüsse. Ebensolche sind auf dem dahinter sichtbaren hohen Schulgebäude erkennbar, dessen Dach die gleichen Formen und Stilelemente aufweist. Eine Mauer, deren obere Hälfte durch weiße Holzlatten aufgelockert ist, zeigt die klare Begrenzung zur Straße hin und setzt sich offenbar nach rechts vor dem gesamten Schulgelände hin fort.

Vor dem Haus, unter dem mit Ziegeln überwölbten Torbogen der Mauer, stehen unsere Großeltern. Für ein seltenes Foto sind sie da stehengeblieben, vielleicht vor einem Spaziergang, sehr gerade in langen Wintermänteln, der Großvater mit Hut. Sie blicken uns an, sind aber so klein, dass ihre Gesichtszüge nicht deutlich werden. Das sind sie also: unser Großvater Paul Zimmermann, bis 1935 Rektor der damals größten Mittelpunktschule Ostpreußens, und Großmutter Magdalena, Lehrerin für alte Sprachen, - sie ist uns fast nur noch vom Hörensagen bekannt als „Gromo“. Es ist ein Winterbild mit kahlen Büschen ums Haus und zwei hohen Bäumen vorn im Sand des Bürgersteigs.

Dieses Großelternhaus kannten wir nur vom Foto. Ostpreußen war immer unerreichbar weit weg gewesen, ebenso wie die Kindheit unseres Vaters dort. Aber bis zum plötzlichen Tod unseres Großvaters Paul spielte sich das Kinder- und Jugendleben unseres Vaters, des kleinen Georg, fast 15 Jahre lang dort ab.

Vater war nicht übermäßig daran interessiert, die Fäden seiner Vergangenheit festzuhalten. Das Gewebe aus Kindheit schmeckte ihm vielleicht bitter. Er erzählte so gut wie nichts. Auch später wollte er den Ort nie wiedersehen. Nirgendwo in unserem Elternhaus stand ein Foto unseres unbekannten Großvaters Paul Zimmermann. Ein solches musste man schon in alten Alben suchen.

Es war fünf Jahre nach dem Tod unseres Vaters, als Christoph die Idee mit der Reise hatte.

„Ich möchte da mal hin. Und zwar mit euch zusammen.“ Es war der Wunsch zu seinem 60. Geburtstag. Wir anderen Geschwister waren verblüfft.

„Was? Da willst du hin? Da soll alles hässlich und schrecklich sein! Also nie wär‘ ich auf so ‘ne Idee gekommen! Gerade da? Nee, überall sonst, aber nicht dorthin! – Mit euch zusammen, - naja, - unter der Bedingung, meinetwegen.“

„Ich hab‘ so wenig Zeit! - Aber ohne mich fahrt ihr doch nicht? – Also, neugierig bin ich schon…“

„Ach, das ist ja so weit weg! Eine nebelhafte Vergangenheit, die uns gar nicht mehr betrifft. – Aber - wir sind eigentlich noch nie zusammen verreist. Nicht, seit wir als Kinder mit den Eltern immer an der See waren, oder?“

„Ja, seht ihr: Das sollten wir unbedingt mal machen!“

Bis wir eine gemeinsam mögliche Zeitspanne ausgeguckt und festgemacht hatten, dauerte es seine Zeit. Inzwischen aber fassten wir den Plan näher ins Auge. Und wurden neugierig.

Was ist das für ein Ort im nördlichen, russischen Ostpreußen, den Vater so konsequent verschwieg und nicht wiedersehen wollte?

Wie mag es jetzt dort aussehen?

Was ist das überhaupt für ein Land, aus einer Kriegswüste entstanden, alle Wurzeln gekappt? Frühere Menschen sind weg, ihr Grundbesitz ist weg, ihre Kultur, ihre Sprache. Ist irgendetwas noch da außer Erinnerungen und Erde?

Und was entsteht da jetzt Neues?

Was ist mit einem Land los, das vielleicht, also aus unserem heutigen, vagen Blickwinkel, zwischen gestern und morgen stehenbleibt wie in einem Schockzustand?

Und unterwegs, naja, würden wir da nicht auch durch Polen, durch das ehemalige Westpreußen kommen? Lebten dort nicht auch Vorfahren unseres Vaters, unserer Großeltern? Könnten wir dort nicht auch gleich mal vorbeifahren und einiges auskundschaften? Es gab doch irgendwo Chroniken, oder nicht?

Wir gingen auf die Suche. Gruben in sorgfältig bewahrten Unterlagen, in der großen Holztruhe mit Dokumenten und Familienpapieren unserer Eltern, und wir fanden so einiges. Das war zu Lebzeiten unserer Eltern uninteressant gewesen, denn die wussten ja Bescheid, die konnten bei Bedarf erzählen. Nein, das konnten sie dann eben nicht mehr. Her also mit dem, was uns blieb: dem Aufgeschriebenen.

Könnte diese Reise uns näher an die eigene Vergangenheit führen? Können wir Mosaiksteinchen sammeln und uns so in die Lebensart unserer Vorfahren hineintasten?

Könnte es eine Reise zu den Spannungspunkten zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden? Viele Fragezeichen, viele Konjunktive.

Wir überlegten und fassten zusammen: Wir haben keine eigenen Erinnerungen. Keine Gefühle werden sich in das, was wir sehen, mischen. Das romantisierende oder gar wehmütige Lebensgefühl von „damals“ gibt es bei uns nicht. So sehen die Vorrausetzungen aus. Und wir sind zu Viert. Unser gemeinsames Auge hat vier Facetten.

Jeder von uns ist zur Hälfte ostpreußisch.

Um diese Hälften wird es jetzt gehen.

2. Der Osten war immer weit weg - eine Annäherung

Wir haben die erste Juliwoche zu fassen, grau, nass von Regen, kühl.

Bei Hannover treffen sich unsere Wege aus verschiedenen Bereichen Deutschlands: Bremen, Köln, Jülich und Schlüchtern. Bahnsteige sind Treffpunkte, so auch für uns jetzt. Zwei kamen schon zusammen mit unserem Reise-Auto, zwei per Zug.

Schon dieses Treffen ist irgendwie etwas Besonderes, oder nicht? Erwartungsvoll strahlen wir uns an. Packen dann die Reisetaschen in Holgers Auto und fahren los.

„Ich hab‘ extra das ältere Auto vom Büro genommen, man weiß ja nie, wenn man so nach Osten fährt…“

Wir vier. Tatsächlich. Die Brüder vorn, wir Schwestern hinten. Gucken uns an. Wie würde das hier werden?

Seit 22 Jahren ist es möglich, nach Osten zu reisen, quer durch das gesamte, uns die ganze Schulzeit hindurch tot geschwiegene, Ostdeutschland und noch weiter. Eine Tante, die Cousine unseres Vaters mit ihrer Schwester und Nichte, war bereits mehrfach in Ostpreußen. Nein, schön sei das nicht gewesen, sie braucht jetzt nicht mehr hin, meinte sie. Vater selbst war nur einmal mit seinem entfernten Cousin losgefahren in die Erinnerung, aber nicht nach Ostpreußen, sondern „nur“ nach Westpreußen, dem jetzigen Polen, nicht weiter. Wir dagegen sind 22 Jahre lang nicht auf diese Idee gekommen. Aber jetzt.

Noch liegt jedem von uns der eigene Alltag nah. Was werden die Schwägerinnen und Schwager zu Hause gerade tun? Denkt er daran Blumen zu gießen? Kocht sie sich ihren Lieblingstee? Sitzt sie mit einem Buch im Garten?

Aber wir fahren nach vorn. Fahren in eine Zukunft - und gleichzeitig in die Vergangenheit. Beides unbekannt.

In Polen verlassen wir die Autobahn. Erste kurze Kaffeepause machen wir in einem Seitenweg. Rostiger Müll liegt am Zaun zwischen hohen Brennnesseln. Ja, was haben wir denn erwartet? Auch bei uns im Westen gibt es Schandflecke. Holger hat die Karte auf der geschlossenen Heckklappe ausgebreitet, wir sind hier richtig, orientieren uns über die Weiterfahrt.

Weiter geht es dann auf der Nr. 32. Die Straße ist gut befahrbar. Anscheinend wird erwartet, mit nicht zu hoher Geschwindigkeit zu rasen, denn sonst entgehen einem die wertvollen Informationen auf den riesigen Werbeplakaten, die wie eine überdimensionale Schilderallee den ansonsten mit keinen Blumen oder Grün belasteten Mittelstreifen zieren.

Das flache Land ist unschön zersiedelt. Bau-Favoriten sind offenbar „Bumann-Haustypen“. So nennen wir die viereckigen Hausklötze, die monströsen, grauen Duplo-Steinen gleichen, uns aber an das würfelförmige Flachdachhaus „unserer“ einstigen Vermieterin und Mitbewohnerin Frau Bumann erinnern, in dem und dessen Garten wir die ersten Kindheitsjahre sorglos verspielten. Ein hässlicheres Zweifamilienhaus können wir uns kaum vorstellen, aber eine sorglosere Kindheit ebenso wenig.

Übernachtungsplätze für Wohnmobile, nach denen ich nebenbei gewohnheitsmäßig Ausschau halte, gibt es nicht. Aber auch keine Wohnmobile. Wir sind in einem fernen Land. Abgesehen von den Bauversuchen hier ist es sommerlich üppig. Riesige Wiesenflächen und Kornfelder breiten sich in die Ebene, und in weiten, grünen Flussniederungen entdecken wir Störche. Die ersten bestaunen wir als Sensation, die weiteren, die vielen, schließlich unzählbaren als sommerlich landestypische Zutaten und herrliche Bereicherungen.

Am späten Nachmittag sind wir in Posen. Die Pension, eine „Villa“, ist abseits gelegen in einer stillen Straße mit einer Reihe junger Birken auf dem Rasenstreifen zwischen Fahr- und Fußweg. Die Unterkunft macht einen noblen Eindruck. Draußen ist es trocken und warm. Die frische Luft tut gut nach dem langen Sitzen im Auto. Es gibt Tische und Sessel im Garten, den Versuch einer streng beschnittenen Naturpracht mit dunklen Nadelhölzern und einer Buchsbaumlaube.

Hier atmen wir frische Luft der Fremde, es tut gut, sich draußen zusammen zu setzen. Erleichtert sind wir. Die erste, lange Strecke ist geschafft, der Alltag ferner gerückt. Noch merkwürdig ist diese Mischung aus alter und neuer Gemeinsamkeit. Lachen allerdings konnten wir immer gut zusammen. Ist das ein ostpreußisches Erbe? Im Laufe der nächsten Tage wird uns das immer deutlicher. So gelacht hat die Familie unseres Vaters, jedenfalls einige Verwandte, an die wir noch herzerwärmende Erinnerungen haben.

Wir haben die Vergangenheit im Gepäck. Noch vor dem Abendessen, das eigens für uns gekocht wird, holen die Brüder die sorgfältig gebündelten Dokumente aus den Reisetaschen und breiten sie auf einem der Gartentische in der Laube aus: alte Messtischblätter, die Chroniken der väterlichen Groß- und Urgroßeltern.

Vor Ostpreußen kommt für uns gemäß der Fahrtroute Westpreußen. Ohne die vielen Orte dort, an denen etliche Vorfahren gewirkt und gelebt hatten, gäbe es weder unsere Großeltern, noch das Rektor-Haus in Labiau als Großelternhaus.

„Peterhoff“, so heißt das legendäre, ehemalige Familienschloss der Familie Chomse, auf dem die Jugend vor vielen Jahrzehnten ihre Sommer zu feiern pflegte. Und in der „Mühle Slupp“, wo unsere väterlich-großmütterliche Urgroßmutter geboren wurde, traf sich ebenfalls die Familie.

Das sind Ziele des morgigen Tages. In den Köpfen seid ihr sortiert, ihr lieben Altvorderen. Was werden wir finden?

3. Wo sie damals ihre Sommerträume feierten - Mühle Slupp, Schloss Peterhoff

Das Mühlengut Slupp gehörte lange Zeit der Familie Goldnick. Nach dem Tode ihres ersten Mannes heiratete Therese Goldnick Wilhelm Rosenbaum. Dieser verkaufte es nach dem Tode seiner Frau Therese 1905.

Unser Vater, Georg Leberecht Zimmermann, schrieb von seinem Besuch der Mühle Slupp anlässlich seiner Westpreußenreise im Sommer 1990 gemeinsam mit seinem entfernten Vetter Carl Wüst:

„Wir hatten lange vergeblich nach der Mühle Slupp, - betrieben vom Wasser der Ossa -, gesucht. Sie ist das Elternhaus meiner Großmutter Wüst, geborene Goldnick. Nun erfuhren wir, dass das Gut Sallno dort mahlen lässt, die Frau nebst ihren beiden Töchtern fuhr mit uns hin. Der Müller war unfreundlich und erlaubte uns das Fotografieren nicht. Während des langen Palavers zwischen Carl und dem Müller habe ich aber unbemerkt einige Aufnahmen gemacht. Die Mühle arbeitet noch voll. Carl kennt diese Gegend sehr genau, da er hier in der Schlacht am Mellnosee in den allerersten Tagen des Polenfeldzuges als Bataillonsadjutant sehr aktiv mitwirkte.“

Dr. Ernst Leberecht Wüst (der spätere Schuldirektor in Osterode, unser Urgroßvater) berichtet in seiner Chronik über seine heimliche Verlobung mit Martha Goldnick aus der Mühle Slupp. Im Sommer 1867 kam Therese Goldnick (geb. Schnackenburg) aus der Mühle Slupp nämlich mit ihrer 16 Jahre alten Tochter Martha nach Berlin, wo Ernst L. Wüst seit 1865 studierte. Er kannte Martha aus seinen früheren Sommerferien in Orle.

„Ich war mehrere Tage der ständige Begleiter der beiden Damen, machte mit ihnen Besorgungen, führte sie zur Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und eines Abends auch ins Königliche Opernhaus. Da war es, als wir beiden jungen Menschen während einer Ballett-Aufführung nebeneinander sitzend, uns bei der Hand fassten, um uns für alle Zukunft nicht wieder loszulassen. Es lag ein köstlicher Reiz darin, die Heimlichkeit unserer Liebe zu bewahren und keinem von unserem Versprechen etwas zu sagen. Erst im Herbst desselben Jahres 1867 bei der Hochzeit meiner Schwester Auguste, die in Orle stattfand, merkten schärfer blickende Verwandte, was die Glocke geschlagen, und es fehlte in der nächsten Zeit nicht an solchen, die mahnten und Vorstellungen machten und Ratschläge erteilten und drohten. Was sollte auch ein Einverständnis zwischen einem noch die Schule besuchenden Mädchen und einem Studenten bedeuten? War es überhaupt ernst zu nehmen? Wir aber, die wir uns einmal die Treue versprochen hatten, hielten fest, kümmerten uns nicht viel um das Gerede der lieben Verwandten, schrieben uns gute und liebe Briefe und warteten.“

Erst Weihnachten 1868, als Ernst Wüst seine erste Anstellung als Lehrer in Königsberg erhalten hatte, kam es zur offiziellen Verlobung. Die Hochzeit fand im Oktober 1870 statt.

Auch im Sommer 1871 besuchten Ernst Leberecht Wüst und seine Martha die Mühle Slupp. Diesmal blieb die junge Ehefrau länger dort, weil sie ihr erstes Kind erwartete und weil der Haushalt in Königsberg zur Übersiedlung nach Danzig aufgelöst werden musste. Das Verbleiben in Slupp war für die junge Frau und ihr bald darauf geborenes Kind Ernst ein Glück, denn in den Monaten August und September 1871 wütete in Königsberg die Cholera, eine Seuche, deren Schrecken man sich heute kaum mehr richtig vorstellen kann.

Unser Urgroßvater Ernst Leberecht Wüst, brauchte sich auch später während seiner Zeit als Schuldirektor in Osterode nicht um Ferienreisen zu kümmern. Die Ferienzeit verbrachte die große Familie mit den Kindern meist auf dem Mühlengut Slupp bei der Mutter, bzw. Schwiegermutter bzw. Großeltern. Davon schreibt Ernst Wüst, der älteste Sohn des Schuldirektors, unser Onkel Viva:

„In Slupp wurde jeden Abend musiziert. Meine Großmutter und meine Mutter spielten beide hervorragend Klavier, besonders Chopin, - und daher stammt meine Liebe für diesen Komponisten. Dazu gesellte sich ein sehr guter Geiger: Inspektor Panschowski, der mit meiner Großmutter in der Dämmerung ohne Noten klassische Musik spielte, oft sich nur die Tonart zurufend. Es waren unvergessliche stimmungsvolle Abende. Im Musiksaal, dessen Fenster auf den Park gingen, war nur ein schwarzer Flügel aufgestellt, und an den Wänden rot gepolsterte Bänke. Im Park plätscherte leise die Fontäne, und die Fama erzählt, dass die Nachtigallen auf der Schwelle der weit geöffneten Tür saßen und zuhörten. – Außerdem spielten wir Vettern Quartett, leichte Musik, Ouvertüren, Zampa, Dichter und Bauer und mehr. Für die Zuhörer wohl nicht immer ein reiner Genuss, aber wir selber waren begeistert von unseren Leistungen.

Höhepunkt des Jahres waren Weihnachten und Neujahr. Im Saal standen drei riesige Tannenbäume, einer für die Familie, einer für das Gesinde, einer für die Hunde, mit Würsten behangen! Und Sylvester 24 Uhr erschienen alle Knechte vor dem Haus, und in der zauberhaften Kulisse des tief verschneiten Parks peitschten sie mit langen Peitschen das alte Jahr aus.“

Wenn man gleichzeitig Ziele in Raum und Zeit verfolgt, muss man früh aufstehen. Schlafen können wir zu Hause wieder. Um sechs Uhr klingelt der Wecker. Wir haben bei weit offenem Fenster prima geschlafen. Jetzt scheint schon die Sonne, so wie es sich für Sommer gehört, es ist windstill und warm. Vor dem Frühstück packen wir das Auto ein, Christoph und ich vertreten uns die Füße vor dem Hotel. Das Sträßchen scheint wie ausgestorben, wir sind die einzigen Gäste in der unauffälligen Siedlung.

Früh um acht Uhr sind wir wieder unterwegs. Was für riesige Dimensionen haben die Felder hier, die Landschaft ist so weit.

Und dann kommen wir an die Weichsel. Es gibt kaum Eindrucksvolleres als so mächtige, strömende Flüsse. Wir überqueren den Strom das erste Mal bei Thorn. Fahren langsam über die Brücke mit den hohen Stahlgerüsten. Das Wasser strömt silbergrau schimmernd unter dem hellen Sommerhimmel dahin.

Zum zweiten Mal sehen wir die Weichsel bei Graudenz, der Stadt mit dem geheimnisvoll düster klingenden Namen. Wieder gibt es so eine hohe Stahlbrücke. Wir sehen schon die Altstadt oberhalb der weiten Wiesen an der Uferböschung.

In den Weihnachtsferien 1870 besuchten die jungen Eheleute Ernst Leberecht Wüst und seine Frau Martha, (geb. Goldnick) Mühle Slupp, das Elternhaus der Martha. Von dieser ersten Reise als Ehepaar von Königsberg aus berichtet Ernst Leberecht Wüst in seiner Chronik:

„Eine Reise zur Winterzeit von Königsberg nach Graudenz und von Graudenz hinaus nach Slupp war dazumal mit erheblichen Strapazen und Fährlichkeiten verknüpft. Zwar die Bahnfahrt bis Warlubie an der Ostbahn war bald und leicht zurückgelegt, anstrengender und unbequemer war schon die Postfahrt von Warlubie bis zur Weichsel. Schlimm und gefährlich gestaltete sich erst die Überfahrt über den Weichselstrom, sobald dieser, wie es damals Weihnachten 1870 sich fügte, noch keine feste Eisdecke hatte, sondern „Eisgang“ herrschte. In großen und festen Booten, von starken und erfahrenen Fischern und Ruderknechten gerudert, mussten die Postreisenden Platz nehmen. Und nun begann zwischen den treibenden gewaltigen Eisschollen hin die Fahrt, bald gegen den Strom, bald der Strömung folgend, je nachdem eine Blänke, - also freies Wasser -, sich zeigte, eine Stunde und die zweite Stunde und dabei schneidende Kälte und eisiger Wind mit Schneetreiben. Wehe dem, der da nicht mit Pelzwerk und warmen Schuhen ausgestattet war.

Erst in der Nähe des Graudenzer Ufers war der Fluss zum Stehen gekommen, Bretter und Bohlen, hier bergauf, dort bergab führend, waren über die Schollen gelegt und bildeten eine Brücke, die nun betreten werden musste. Aus dem Kahn herausgehoben versuchte man festen Fuß zu fassen. Und siehe da, es glückte, und nun strebte man eilig dem festen Ufer zu, das endlich und mit Mühe erreicht wurde.

Graudenz

Mühle Slupp

Und bald war alle Gefahr wieder vergessen und in Tante Tinchens (das war eine vertraute Freundin der Rosenbaum-Familie, Schneiderin) Stube am warmen Ofen und bei einer Tasse heißem Kaffee wurde gefragt und erzählt, bis der Wagen aus Mühle Slupp vorgefahren war, der uns, die wir weiter noch in mitgebrachte Mäntel gehüllt wurden, aufnahm und uns nach weiteren drei Stunden von Graudenz über Salno und Orle an den Bestimmungsort brachte.“

Jenseits der Brücke und kurz unterhalb der historischen Altstadt finden wir einen Parkplatz. Wir gehen über Kopfsteinpflaster. Vor dem roten, hoch gemauerten Backstein-Stadttor, den hohen Häusern und den schon halb sichtbaren engen Gassen dahinter biegen wir aber über Betonplatten zum Wasser hinunter. Denn wir müssen natürlich mit den Füßen in den Fluss. Müssen die Weichsel hautnah zwischen den nackten Zehen spüren. Wir krempeln die Hosenbeine hoch, platschen über die dicken Steine und knietief ins Nass.

Augenblicke des Innehaltens, Atemholens, Umschauens den Strom entlang. Südlich seitwärts sehen wir die Brücke, dahinter eine Skyline von Hochhäusern. Vor uns die Altstadtkulisse mit wieder aufgebauten Backsteingemäuern und teilweise neuen, hellroten Ziegeldächern und sicher engen Gassen jenseits des Stadttors. Das lockt zwar, aber wir haben einen Zeitplan. Also schlüpfen wir wieder in die Sandalen.

Weiter geht es also nach Osten. Mengen von Störchen treffen sich zum Frühstück auf den ausgedehnten Wiesen.

In Grutta gibt es kein erkennbares Gasthaus mehr. Nur eine Kirche steht noch auf ihrem Hügel zwischen spärlichen Häusern. Vermutlich war auch hier das Gasthaus benachbart, gemäß der Regel, dass „K + K“, - Kirche und Kneipe -, zusammengehören. Hier also speiste die Familie, von Graudenz unterwegs nach Peterhoff in die Sommerfrische, zu Mittag. Auf dem Kirchhügel ist der alte Friedhof ordentlich angelegt, unterhalb ein großer, neuer. Die vielen Heiligenfiguren und hohen, gemauerten Grabmäler sind natürlich von der heutigen, katholischen Bevölkerung.

Wieder sehen wir Störche auf der Weiterfahrt zum Orla-Besitz. Der gehörte zum Schloss Peterhoff. Das dazugehörige Gutshaus ist noch vorhanden. Dort waren früher also die Waisenjungen als Stipendiaten untergebracht. Es gibt ein verlandetes Seeufer mit herrlich wilder Blumenpracht. Und ringsum verwilderter Wald, ungepflegte, halb zugewachsene, holprige sandige Feldwege, Gebüsch und Gestrüpp.

Dann kommen wir aber erstmal den Mühlen auf die Spur. Mühle Schwetz ist ein beeindruckend großes, dreistöckiges Gebäude aus roten Ziegeln und schwarzem Fachwerk. Mühle Slupp erweist sich als eine noch größere Mühle, ebenfalls aus rotem Ziegelmauerwerk und schwarz gestrichenem Fachgebälk. Wir steigen aus und gehen zögernd näher. Das herrschaftlich anmutende Wohnhaus liegt weiter hinten separat, umgeben vom gepflegten Garten mit alten Obstbäumen und seitwärts dem schilfgrünen Wasser der Ossa, mit dichten Laubbäumen und Wiesen am anderen Ufer. Das Haus ist bewohnt. Hier also wurde unsere Urgroßmutter und Gromos Mutter Martha Goldnick geboren. Beim Anblick heute zwingt sich die Vorstellung einer verwunschen-romantischen Kindheit auf. Die Mühle scheint fast wie