Weihnachtswundernacht 2 -  - E-Book

Weihnachtswundernacht 2 E-Book

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Beschreibung

24 Geschichten für die trubelige Adventszeit. Eine besondere Weihnachtsfeier in Betlehem, ein dreister Reporter, der sich Zutritt zum Stall verschaffen will, eine ganz besondere Weihnachtsbuslinie – es sind überraschende, spannende, nachdenkliche oder einfach schöne Geschichten, die die Autoren hier erzählen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie uns inmitten der unruhigen Adventszeit auf das ausrichten, was wirklich zählt: Das Wunder der Weihnachtsnacht.

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Seitenzahl: 210

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Thomas Klappstein (Hrsg.)

24 Erzählungen für die schönste Zeit des Jahres

Mit Illustrationen von Bettina Wolf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-949-8

© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Text vom 12. Dezember aus: Andreas Malessa: »Was gibt’s da zu lachen?«,

Gießen 2009. Mit freundlicher Genehmigung des Brunnen-Verlages.

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: shutterstock

Illustrationen von Bettina Wolf

Satz: Brendow PrintMedien, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Er wartet

Vorwort des Herausgebers

1. Wirklich in Bethlehem

CHRISTINA BRUDERECK

2. Was wäre wenn?

CARSTEN »STORCH« SCHMELZER

3. Das Geschenk

CLEMENS BITTLINGER

4. Wartenwartenwarten

JÜRGEN WERTH

5. Weihnachten in der Wüste

ROLAND WERNER

6. Morgen, Kinder, wird's nichts geben

HANNELORE SCHNAPP

7. Mildes Klima im Rauhen Haus

CLAUDIA FILKER

8. So lange die Uhr noch tickt

CHRISTIAN DÖRING

9. Orangene Plastikschuhe statt rotem Mantel

CHRISTIANE RATZ

10. Der Bariton

SOENKE C. WEISS

11. Sti-hi-lle Nacht

ANDREAS MALESSA

12. Heilige Nacht

ANNEKATRIN WARNKE

13. Mehr Licht

MARTIN SCHULTHEISS

14. Josef

NICOLAS KOCH

15. Ein ungewöhnlicher Gast

SARAH TIMOTHY

16. Die Wahrheit über Weihnachten

JUTTA WILBERTZ

17. Die Pellkartoffel, oder: Mein schönstes Weihnachtsgeschenk

FRITZ PAWELZIK

18. Noch einmal Kind sein, oder: Eine Bustour zurück in die Zukunft

JAN HANSER

19. Warten auf Gottfried

PETRA PIATER

20. Weihnachten im Linienbus

MICKEY WIESE

21. Weihnachten in kurzen Hosen

PATRICK DEPUHL

22. Stille Nacht, heilige Nacht …? Warum Weihnachten kein besinnliches Fest ist

JAKOB FRIEDRICHS

23. Stalltermin

FABIAN VOGT

24. Morgens im Café

THOMAS KLAPPSTEIN

Die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Er wartet

Er

wartet.

Inmitten der

hasserfüllten Worte,

der Gesten der Brutalität,

des himmelschreienden Unrechts.

Der Widerwärtigkeit der Herzen und Hände.

Er

wartet.

Inmitten des

Gier getriebenen

Geizes, dieser Raffsucht,

die Menschen über Leichen

gehen lässt, als wären sie Wege.

Als wäre ein Leben nichts als Kalkül.

Er

wartet.

Inmitten der

kalten, trostlosen

Winterwelt der Seelen,

in der eisig erfriert die Hand.

Ewiger Winter muss es doch noch nicht bleiben:

Er wartet,

heute, hier und

jetzt und immer

noch auf Dich.

PETRA PIATER

Vorwort

Die ersten Textmanuskripte für ein Weihnachtsbuch werden in der Regel am Beginn eines Jahres geschrieben, und die letzten Geschichten trudeln dann um die Osterzeit herum beim Herausgeber ein. Der Text einer von mir sehr geschätzten Autorin für dieses Buch landete in der »Karwoche«, in der Woche vor Ostern, in meinem E-Mail-Posteingang. Verbunden mit »einem herzlichen Gruß aus Essen mit Segenswünschen für diese geheimnisvollste Woche des Glaubens«.

Die Umschreibung »geheimnisvollste Woche des Glaubens« für die Tage, die sich um den Karfreitag und Ostern gruppieren, hatte ich so noch nicht vernommen. Aber sie gefiel mir sofort, weil sie eine Wahrheit über den Tod und die Auferstehung von Jesus Christus zum Ausdruck bringt: Trotz vieler Erklärungen in der Bibel bleibt diesen Ereignissen immer ein Geheimnis anhaften.

Doch diese »geheimnisvollste Woche des Glaubens« wäre nicht möglich ohne eine weitere geheimnisvolle Zeit im Jahr: Die Advents- und Weihnachtszeit. Die »zweitgeheimnisvollsten Wochen des Glaubens« vielleicht? Eigentlich trifft es das nicht so ganz. Denn die Advents- und Weihnachtszeit ist nicht weniger geheimnisvoll als die Osterzeit. Vielleicht könnte man besser sagen: der »geheimnisvollste Monat des Glaubens« – eine Jungfrau wird schwanger, in ihrem Baby Jesus wird Gott Mensch, der Himmel berührt die Erde. Einfach eine »Weihnachtswundernacht«.

Und diese Weihnachtswundernacht sorgt seit über 2000 Jahren für so manche wundersame Situation und (Lebens-)Geschichte. Was in und durch so eine Wundernacht alles passieren kann, darüber haben wieder 24 Autorinnen und Autoren Geschichten geschrieben. Fiktive Geschichten meist, dazu einige persönlich erlebte Storys. Zum zweiten Mal. Denn ein kleines Weihnachtswunder war es für mich als Herausgeber auch, dass der erste Band der »Weihnachtswundernacht« 2012 bis zum Weihnachtsfest fast vergriffen war. Eine echte Überraschung, die mich und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Brendow Verlages motiviert hat, einen zweiten Band auf den Weg zu bringen. Viele Autorinnen und Autoren, die am 1. Band mitgewirkt haben, ließen sich auch für diesen 2. Band, den Sie nun in den Händen halten, tolle neue Geschichten einfallen. Auch einige »Neue« ließen sich motivieren, dieses Mal mit dabei zu sein. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mitgemacht haben und die sich jetzt zwischen zwei Buchdeckeln auf literarischem Wege begegnen.

Ihnen als Leserin und als Leser wünsche ich wieder anregende Momente während unseres gemeinsamen literarischen Weges durch die Advents- und Weihnachtszeit. Gesegnete Adventstage und -wochen, eine frohe Weihnachtszeit und mindestens ein echtes Weihnachtswunder.

THOMAS KLAPPSTEIN

1. Dezember

Wirklich in Bethlehem

Die Idee, Weihnachten in Bethlehem zu feiern, war ihr im vergangenen Jahr gekommen. Am Heiligen Abend war der Schnee plötzlich in dicken weißen Flocken gefallen und hatte alles mit Weiß bedeckt. Sie hatte am Fenster gestanden und fasziniert zugesehen, wie die Welt heller geworden war. Und mit dem Schnee war die Frage aufgetaucht, ob es im Stall damals eigentlich auch kalt gewesen war. Ob die Bilder stimmten, die die Hirten am Feuer und mit Wolldecken zeigten. Der Atem der Tiere an der Krippe? Maria, die sich in ein warmes Tuch hüllte? Sie hatte den Bildern aus ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und ihre Frage am Ende so auf den Punkt gebracht: Hatte das Jesuskind nun gefroren oder geschwitzt?

Niemand in ihrem Umfeld hatte ihre Frage überzeugend beantworten können. »Ich war doch noch nie da«, hatte ihr Vater nur gesagt. Ein paar kleine Ausflüge mit dem Laptop hatten ihr zwar schnell ein paar Informationen geliefert: dass es im August sehr heiß war in Israel und es im Dezember nachts kalt werden konnte, Bethlehem aber von einem deutschen Winter weit entfernt war. Doch sie hatte gemerkt, dass ihr solche Fakten nicht mehr reichten. Die Idee einer Reise nach Bethlehem hatte sie längst in ihren Bann gezogen. Sie wollte es selbst erleben. Den Sternenhimmel sehen. Den Winter in Bethlehem erleben. Weihnachten dort feiern, wo alles angefangen hatte.

Und jetzt? Sie hatte die Warnungen in den Wind geschlagen. Die Ängste ihrer Mutter ignoriert. »Das Land ist gefährlich. Politisch unsicher. Warum musst du dir ausgerechnet so ein Ziel aussuchen? Denk doch auch an uns.« Sie hatte versprochen, vorsichtig zu sein, über die Nachrichten im Fernsehen hinweggehört und irgendwann gar nicht mehr eingeschaltet. Sie hatte einen Flug gebucht und einen Rückflug drei Wochen später. Einen Reiseführer gekauft. Ein Zimmer in einem der vielen Gästehäuser gebucht. Ihren Rucksack gepackt. Und war abgereist.

Zum wiederholten Mal kamen ihr die Tränen. Sie war gut gelandet. Das Barometer am Flughafen in Tel Aviv hatte um zehn Uhr morgens vierzehn Grad gezeigt. Der Himmel war blau. »Welcome to the Holy Land«, hatte es überall geheißen, und sie hatte den Eindruck, etwas Besonderes zu erleben. Sie war zunächst mit einem Sammel-Taxi nach Jerusalem gefahren, zusammen mit den unterschiedlichsten Typen: orthodoxen Juden, Arabern, Touristen. Von dort aus hatte sie einen Bus nach Bethlehem genommen. Romantisch oder weihnachtlich hatte es keine Sekunde lang gewirkt. Sondern abgeschottet. Verlassen. Vergessen. Staubig. Öffentliche Plätze und Durchgänge zwischen den Häuserblocks waren teilweise abgesperrt und wurden von Polizisten kontrolliert. Nach ein paar Stunden schon hatte sie zum ersten Mal gedacht, dass es ein Fehler gewesen war, hierhergekommen zu sein.

In ihrer Unterkunft war sie der einzige Gast in der ersten Etage. Am Morgen beim Frühstück traf sie manchmal ein paar andere Touristen. Ihre Gastgeber erzählten ihr, wie es gewesen war, bevor die Mauer gebaut worden war. »Ausgebucht waren wir. Zu dieser Zeit im Jahr immer. Advent und Weihnachten machten wir gute Geschäfte.« Sie boten ihr Tee an und Feigenkekse und unterhielten sich gerne mit ihr. Angela und John hätten ihre Eltern sein können. Sie fühlte sich sicher bei ihnen. Sie gaben ihr Tipps und schickten sie zu Josef in die Werkstatt, zu Haruns Olivengeschäft, zu Ibrahims Restaurant und gaben ihr die Visitenkarte von einem Taxifahrer.

Sie hatte ein paar Mal die Geburtskirche besucht und in Cafés Falafel und Hummus gegessen. Sie hatte Christen, Muslime und Juden kennengelernt. Sie war zwei Mal nach Jerusalem gefahren, um die heilige Stadt zu erkunden, am Grenzübergang war man immer freundlich zu ihr gewesen. In Bethlehem war sie stundenlang durch die vielen Souvenir-Läden gegangen. Dabei hatte sie Josef kennengelernt und ihm beim Schnitzen von Krippenfiguren zugesehen. Er hatte früher einmal an die zwanzig Angestellte gehabt. Jetzt war er allein im Laden und machte gerade einmal so viel Umsatz, dass es für seine eigene kleine Familie reichte. Warum war sie hier?

Letzte Woche hatte sie Olivenöl gekauft, und der Besitzer des kleinen Ladens und seine Frau hatten ihr frischgebackenes Brot angeboten, dazu Salz und Öl zum Probieren. Sie hatten eine Tochter, die zwanzig war wie sie und gerade in den USA studierte, morgen aber für die Feiertage nach Hause kommen würde. Sie fragte, hörte interessiert zu. »Einige unserer Olivenbäume stehen hinter dem großen Zaun, abgeschnitten von uns. Andere sind weiter zugänglich. Wenn du magst, gehen wir einmal hin. Nach dem Fest, dann ist es nicht so gefährlich.« In einer Ecke des kleinen Shops hatten sie stundenlang zusammen gesessen und erzählt und viel über Traditionen gesprochen. Als sie immer mehr Fragen gestellt hatte, weil sie wirklich wissen wollte, wie palästinensische Christen die Geburt von Jesus feierten, hatten Clara und Harun sie spontan eingeladen: »Feier doch mit uns. Wir gehen in die Kirche und dann essen wir zusammen. Malaika wird sich sicher über einen Gast in ihrem Alter freuen. Ein paar andere Christen kommen auch. Und auch ein paar Nachbarn.« Noch immer war ihr nicht weihnachtlich zumute, aber immerhin wusste sie jetzt, wo sie den besonderen Abend verbringen würde.

Gestern Morgen hatte es um sieben Uhr früh einen Selbstmord-Anschlag an einem der Grenzübergänge gegeben. Josefs Bruder Jakob war in die Holzwerkstatt gestürmt. Überrascht hatte Josef gefragt: »Du wolltest doch nach Jerusalem. Warum bist du zurück? Was ist passiert?« – »Ein Anschlag«, hatte Jakob gesagt, sich auf einen Stuhl fallen lassen und atemlos erzählt: »Alle sind nervös wegen der Feiertage. Alle. Die Soldaten waren besonders streng. Wählerisch. Es war eine Frau. Jung. Hübsch. Sie stand ein paar Meter vor mir in der Schlange.« Er schluckte. »Sie war schwanger. Sie jammerte, sie müsse zum Arzt. Man hatte sie schließlich durchgewunken. Einen Moment später explodierte die Bombe.« Als Jakob noch erzählte, war sie in Schluchzen ausgebrochen und hatte sich lange nicht beruhigen können. Diese Reise war ein einziger großer Fehler gewesen. Weihnachten jedenfalls hatte es ihr nicht nähergebracht.

Und jetzt war es so weit. Sie waren alle da. Ihre neuen Bekannten: Clara hatte eine Schürze um und strich sich die Haare aus der Stirn. Es roch nach frischem Brot, Knoblauch und Lamm. Josef war mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern zu Gast. Neben ihr saß Malaika. Harun stimmte ein Lied an. »O come, all ye faithful – Herbei, oh ihr Gläubigen …« Sie summte mit. Angela und John kamen und nickten freundlich in die Runde und stimmten mit ein. Sie sangen drei Strophen. Dann sah Harun auffordernd in die Runde, und sie sangen weiter. Aus »O come, let us adore him – O lasset uns anbeten« wurde im nächsten Refrain »O come, let’s not ignore it – Lasst es uns nicht übersehen. Wir dürfen nicht gleichgültig sein. Du sollst dich nicht gewöhnen.« Aus dem Weihnachtslied war ein Protestlied zur Befreiung geworden. Dann stand Clara auf und las die Weihnachtsgeschichte vor. »Es begab sich aber …«

Sie hörte zu und übersetzte innerlich die Verse ins Deutsche. Und dann sah sie es mit anderen Augen. Die Hirten – da waren Clara und Harun mit ihren Olivenbäumen. Der Stall – da waren Angela und John mit ihrer Gastfreundschaft. Da war Josef, der treu für seine Familie sorgte. Da war eine Schwangere, die harmlos aussah und sich in die Luft sprengte. Und da war Maria, der niemand zugetraut hatte, mit ihrem Kind die Welt zu verändern. Da war Malaika, ihr Name bedeutet Engel. Und Angela mit derselben Namensbedeutung. Da war ein Lied, das von Gottes Ehre sang und vom Frieden und das ein Loblied war und ein trotziges Protestlied zugleich. Und da waren die Kinder, die voller Hoffnung waren, voller Lebensfreude und Erwartungen. Geschenke gab es auch. Kein Gold, keinen Weihrauch, aber frisches, duftendes Brot. Am Himmel über ihnen leuchteten die Sterne von Bethlehem. Und sie selber war da. »Willkommen, Johanna. Danke, dass du uns besucht hast. Besuch zu bekommen ist etwas sehr Weihnachtliches«, sagte Clara und umarmte sie. Die Tränen kamen wieder, aber diesmal musste sie dabei lächeln.

Und Jesus? Hatte er geschwitzt oder gefroren? Wie auch immer. Beides wohl. Jedenfalls war er an einem Ort geboren worden, der wirklich war. Mitten in dieser Welt. Nicht weitab von der Tagespolitik und der Gefahr, sondern mitten im besetzten Gebiet. Er wusste, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und musste entsetzliches Heimweh gehabt haben. In diesem Moment wusste sie sich ihm so nah wie noch nie. Und sie war glücklich, Weihnachten wirklich in Bethlehem zu feiern.

CHRISTINA BRUDERECK

2. Dezember

Was wäre wenn?

Als Salvatore Angelico sich mühsam die Stufen der schmalen Leiter hinaufquälte, konnte er nicht ahnen, dass er in wenigen Minuten Opfer eines Verbrechens würde. Sorgsam wie immer stellte er die Leiter in die Dachluke, rüttelte an ihr, um sicherzugehen, dass sie einen festen Stand hatte. Für seine fast achtzig Jahre war er noch sehr rüstig, auch wenn er das Wort nicht mochte.

Mit einer letzten Anstrengung zog er sich auf das flache Dach, das ihm denselben spektakulären Ausblick darbot wie immer. Er stand über dem Meer von Dächern, das die große Stadt berühmt macht. Mühsam zog er das riesige Transparent hinauf, doch bevor er sich daran machte, es aufzuhängen, musste er sich sattsehen. Wie so oft trat er vorsichtig an den Rand und sah hinunter.

Die Händler bauten ihre Buden auf, ein schwerer Lastwagen hinterließ tiefe Furchen im Kies, als er die Bühne brachte. Der Ort war gut gewählt, wie jedes Jahr hatte die Stadtverwaltung versucht, eine einstweilige Verfügung gegen ihn zu erwirken. Wie jedes Jahr war sie gescheitert, und wie jedes Jahr würde sein Transparent überall in den Zeitungen erscheinen. Der große Vorplatz war voller Betriebsamkeit, vom Tor bis zu dem Haus, von dem aus Salvatore die Aufbauarbeiten beobachtete. Direkt vor dem beeindruckenden Säulenportikus wurde wieder einer der größten Weihnachtsbäume der Welt aufgestellt.

Vom Dach aus konnte man bis zum Hafen sehen, der, weit entfernt, tief unten das Land mit dem Meer verband. Die Fantasie des Beobachters flog, weiter als sein Auge zu sehen vermochte, endlose Kilometer über die See hinweg, die immer bedrohlicher wirkte, je weiter er sich vom rettenden Ufer entfernte.

Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht hörte, wie ihre Schritte auf den kleinen, bemoosten Steinchen knirschten, mit denen das Dach ausgelegt war. Erst als der größere der beiden ihn über die Kante stieß, setzten seine Nebennieren einen Adrenalinstoß frei. Salvatores Gehirn kam nicht mehr dazu, die Übelkeit zu registrieren oder den Augenblick übersteigerter Wachheit zu nutzen. Bevor er etwas spüren konnte, war er bereits in der Luft, hing einen Moment zwischen Himmel und Erde, bevor er mit erstaunlicher Geschwindigkeit fiel. Instinktiv ruderte er mit den Armen, wollte schreien, konnte es aber nicht. Dann kam der Aufprall. Dumpf, schmerzhaft. Seine Niere platzte als Erstes, Menschen liefen zusammen, auf dem Dach entfernten sich zwei Schatten. Dann fiel der Vorhang, Dunkelheit umfing ihn. Salvatore Angelico war tot.

***

Erwartungsvoll blickte er von einem Teilnehmer zum anderen. Vielleicht war der Vortrag etwas zu engagiert gewesen? Jedenfalls hatte er einen trockenen Mund. Er trank einen Schluck, vermutlich breiteten sich gerade Schweißflecken unter seinen Armen aus. Gut, dass er das Jackett angelassen hatte. Sie schauten noch immer auf ihre Notizen und Laptops, das war nicht gut.

»Nun«, brach die Programmdirektorin das Schweigen, »erst einmal danke für Ihren – Entwurf. Es klingt auch alles recht gut, aber die Verbindung zu unserem eigentlichen Thema scheint mir etwas – dünn geraten.«

Er protestierte: »Die Verbindung ist durch die Zeit gegeben. Die Geschichte spielt kurz vor dem Heiligen Abend in Rom. Das Opfer stürzt mitten in einen Weihnachtsmarkt.«

»Hat Rom denn überhaupt einen Hafen?«, murmelte jemand vor sich hin. Er spürte, dass sein Stern sank.

»Wie geht die Geschichte eigentlich weiter?«, wollte jemand wissen.

»Ehrlich gesagt weiß ich das noch nicht genau. Ich dachte, dass vielleicht die Polizei den Mord ermittelt und dabei auf die Weihnachtsgeschichte stößt. Vielleicht geht auch der Vorhang in einer anderen Welt wieder auf oder die Vorgeschichte zeigt, wie Salvatore den Sinn des Festes entdeckt und Jahr für Jahr gegen dessen Kommerzialisierung kämpft, bis er von der Mafia ermordet wird, die ihre Profite gefährdet sieht.«

»Ist das Meer dann eine Metapher für den Schiffbruch der Religion?«

Endlich ein Geist, der ihn verstand. »Ja, so ungefähr. Möglicherweise.«

Ein Raunen und Rascheln ging um den Tisch, die Mienen wurden ratlos. Er wusste, dass er verloren hatte. Die Kommission würde sich für ein anderes Skript entscheiden. Das Schlusswort hatte, wie immer in solchen Komitees, die Programmleiterin.

»Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Mühe. Leider erscheint Ihre Darstellung des Themas – nicht ganz rund. Ich hoffe, Sie nehmen als Autor einen guten Rat an. Sie müssen wissen, was Sie schreiben. Eine Geschichte muss geplant sein. Ein Autor, der die Frage nicht beantworten kann, wie es weitergeht, wird es zu nichts bringen.«

Auf dem Weg hinaus klopfte ihm einer der Teilnehmer aufmunternd auf die Schulter. »Das Meer als Metapher, das hat mir gefallen.«

Er bedankte sich höflich und trat auf den Flur. Er brauchte unbedingt ein Bier.

***

Er nahm die erste Kneipe mit Stühlen auf der Straße, die er finden konnte. Hier gab es mehr Tauben als Menschen, genau das Richtige. Den Schnaps trank er sofort, mit dem Bier ließ er sich etwas Zeit, es war immerhin erst Mittag. Während er das Pinnchen auf dem Tisch drehte, dachte er bitter an die beiden langweiligsten Geschichten, die er kannte. Beide stehen in der Bibel: die Weihnachtsgeschichte und die Ostergeschichte. Wenn der Engel Maria verkündet, dass »sie vom Heiligen Geist überschattet wird«, weiß jedes Kind, dass Jesus wieder aufersteht. Das Ende ist im Anfang eingeschlossen wie die Fliege im Bernstein. Da gibt es nichts Unvorhergesehenes oder Spannendes.

»Vielleicht hätten Maria und Josef über ihre Geschichte beten sollen«, dachte er bitter, entschuldigte sich aber in einem frommen Reflex gleich wieder für diesen Gedanken. Offenbar war Gott ein anderer Typ Autor als er selbst. Bei Gott lief immer alles nach Plan auf ein vorgefasstes Ziel hinaus. Das ist schon beeindruckend, immerhin schreibt Gott seine Geschichten nicht mit Tinte. Seine eigenen waren anders. Er wusste nie im Voraus, wie sich ein Buch entwickeln würde. Mit geschlossenen Augen sah er zu, was seine Figuren taten, kritisierte, änderte an manchen Stellen etwas, aber eigentlich war er nur der Chronist, der alles aufschreibt. Die Geschichten entwickelten sich von selbst.

Je länger er über diesen Unterschied nachdachte, umso weniger war er sicher. Vielleicht wälzte er gerade eine der ältesten Fragen der Menschheit und es ging gar nicht um das Schreiben, sondern um Theologie. Legte Gott alles fest oder ließ er als Autor seinen Geschichten die nötige Luft, sich zu entwickeln? Die Jünger waren Ostern offensichtlich nicht im Bilde, sie waren verzweifelt, hatten das Gefühl, dass Gott die Sache entglitten war. Aber Weihnachten?

Seine Gedanken glitten immer weiter ab, reisten rückwärts in der Zeit. Die Städte verschwanden, Wälder breiteten sich aus. Nach Osten hin sah er Kreuzritter mit muslimischen Truppen um Jerusalem kämpfen. Rom zerfiel in zwei Reiche, erst fiel Masada, dann Jerusalem. Zuletzt sah er ein Mädchen im Teenageralter, das allein in einer ärmlichen Behausung stand.

Sie freute sich darauf, bald zu heiraten. Plötzlich strahlte ein überirdisches Licht im Raum auf. Sie presste sich an die Wand, kniff die Augen zu und sah dennoch, wie das Licht sich zu einem Mann zusammenzog. »Maria«, sagte er. »Du hast Gnade gefunden vor Gott.« Maria begann zu weinen. Sie glaubte nicht daran, dass Engel ausgerechnet zu jungen Mädchen aus einfachen Verhältnissen kommen. Schluchzend, um ihren Verstand fürchtend, rannte sie einfach durch die Erscheinung hindurch. Draußen atmete sie ein paar Mal tief durch. Sie schwor sich, nie wieder allein hineinzugehen.

Er selbst gab seinen Figuren solche Freiheiten, aber hatte auch die echte Maria das Recht, einfach abzulehnen? Nein, vermutlich nicht. Also kommt die schwangere Maria kurz darauf zu ihrem Verlobten.

»Josef, ich, ich muss dir etwas sagen.«

»Was ist los, Maria? Warum guckst du so traurig? Du kannst mit mir über alles reden.«

Maria nickt und packt den Stier bei den Hörnern. »Ich bin schwanger.«

Es ist, als träfe Josef eine Abrissbirne. (Automatisch strich er das Wort in seinem Kopf durch. Vor zweitausend Jahren gab es keine Abrissbirnen. Noch mal).

Es ist, als wäre Josef von einer Keule getroffen. Er wendet sich ab, kann erst nach einer Weile wieder sprechen. Dann sagt er, betont langsam, um Fassung ringend: »Von wem?«

Maria entrüstet sich, was denkt er denn von ihr? Dass sie nebenher einen heimlichen Liebhaber hat? »Von einem Engel. Nein, eigentlich von Gott selbst.« Kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hat, merkt Maria, wie dumm sie klingen. Nicht nur sie.

»Was Besseres fällt dir nicht ein?« Josef stürmt hinaus, er knallt die Tür so stark, dass die Tassen in den Regalen klimpern. Maria will ihm nachrennen, bleibt aber wie angewurzelt stehen. Allein in der Wüste, vielleicht einen Kilometer von Bethlehem entfernt, sitzt Josef allein auf einer Düne. Er spürt nicht, wie ihm die Sonne auf den Kopf brennt. Es wäre ihm auch egal, er will ohnehin lieber sterben als leben, wenn er an die Schande denkt. Die Sache wird ihm immer anhängen. Selbst wenn er Maria verlässt, wird man über ihm tuscheln. Am meisten ärgert ihn die faule Geschichte mit dem Engel. Wenn er Maria nicht verlässt, muss er damit leben, in einem Dorf mit jemandem zu leben, der seine Frau geschwängert hat.

Josef wird immer bitterer. Da kommt es zu einem merkwürdigen Phänomen. Die gleißende Sonne verdichtet sich zu einem Mann mit Lederschurz. Er trägt ein Schwert an seiner Seite. »Josef«, spricht er ihn an. »Josef, deine Verlobte lügt nicht. Verlass sie nicht.«

Erst in diesem Moment spürt Josef die Hitze. Er hat einen Sonnenstich, halluziniert bereits. Er muss so schnell wie möglich in den Schatten kommen. Am nächsten Tag löst er die Verlobung.

Das Pinnchen wird immer noch hin- und hergedreht, obwohl er schon fast zwei Stunden dasitzt. Die Philosophen sprechen von Kontingenz, womit sie etwas Ähnliches meinen wie Zufall. Es gibt viele Möglichkeiten, aber nur eine wird umgesetzt. Das Leben ist nicht vom Schicksal oder einem kosmischen Plan bestimmt. Der ganze Verlauf der biblischen Geschichte könnte auch anders sein. Was wäre, wenn Herodes Jesus als Kind getötet hätte? Könnte Josef seinen Ziehsohn geschlagen, missbraucht, seelisch verbogen haben? Im Nicänischen Glaubensbekenntnis heißt es über Jesus: »… der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen und Fleisch geworden ist, Mensch geworden ist.«

Menschsein heißt, der Kontingenz unterworfen zu sein. Ein Leben zu leben, das so oder ganz anders sein könnte.

»Sie sehen aus, als könnten Sie noch etwas vertragen. Was kann ich Ihnen bringen?«

Bei den Worten der Kellnerin schreckte er aus seinen Gedanken hoch.

»Einen Kaffee, bitte.«

Er klappte seinen Laptop auf und begann zu schreiben. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde die alte Geschichte wieder spannend. Der tiefste Aspekt der Weihnachtsgeschichte ist, dass Gott selbst sich der Kontingenz unterwirft. Bereit, sich auf Unsicherheit einzulassen, die aus Liebe ein Wagnis eingeht, sich der Möglichkeit des Versagens aussetzt.

Salvatore blieb tot. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, tippte sein Schöpfer einen neuen Titel: »Was wäre wenn?« Die erste Zeile war schnell geschrieben: »Liebe sucht Chancen, keine Sicherheiten.«

CARSTEN »STORCH« SCHMELZER

3. Dezember

Das Geschenk

Es schellte an der Tür. Missmutig schob ich meinen Schreibtischsessel zurück und schlurfte zur Tür. Mit einem »Ich-mag-es-nicht-wenn-man-mich-stört-Gesicht« öffnete ich die Haustür und blickte in die aufgeweckten Augen eines etwas schäbig gekleideten, älteren Herrn.

»Keine Angst, ich will Ihnen nichts verkaufen«, begrüßte mich der Alte lächelnd, »mein Name ist Nimmzeit, und ich möchte Ihnen etwas schenken.«

»Aha«, dachte ich bei mir und stellte mich vorsichtshalber noch etwas breiter in die Tür: »Sie wollen mir etwas schenken, da bin ich aber mal gespannt! Schießen Sie los, worum handelt es sich?«

Herr Nimmzeit hatte seinen Hut abgenommen und schien nun seltsam in die Ferne zu blicken. Es war, als hätten seine Pupillen durch mich und alle Wände meines Hauses hindurch etwas ganz anderes im Auge.

»Das, was ich Ihnen schenken möchte, brauchen Sie dringend. Sie haben zwar schon oft versucht, es zu kaufen, aber Sie haben es niemals bekommen. Und heute komme ich zu Ihnen, um Ihnen das, wonach Sie sich so sehr sehnen, zu schenken.«

Während seine Worte leise verklangen, funkelten mich seine kleinen Augen herausfordernd an, und über seinen Mund glitt ein kaum sichtbares Lächeln.

»Halten Sie mal keine großen Reden, kommen Sie zum Kern der Sache. Ich habe zu tun. Zeit ist schließlich Geld und somit teuer.«

Ich hoffte, mit diesen Worten unsere Begegnung zu einem raschen Ende zu bringen, obwohl ich ehrlicherweise zugeben muss, dass ich gar nicht so dringend beschäftigt war.

Doch solche merkwürdigen Gespräche sind mir immer unangenehm. Es gibt ja Menschen, die können Bände füllen mit ihren Ausschweifungen, ohne jemals wirklich etwas zu sagen, geschweige denn irgendwann einmal auf den Punkt zu kommen.

Der ältere Herr nickte unmerklich: »Genau deshalb bin ich hier!«, antwortete er mit einem fast feierlichen Unterton.