Weinrache - Susanne Kronenberg - E-Book

Weinrache E-Book

Susanne Kronenberg

3,8

Beschreibung

Wiesbadens historisches Stadtbild kann mit einem weiteren Baudenkmal aufwarten. Eine heruntergekommene Stadtvilla wurde als Entwurf eines berühmten Bauhaus-Architekten identifiziert. Doch der Entdecker, Architekt Moritz Fischer, kann sich nicht lange an seinem Ruhm freuen: Inmitten des Treibens auf der Rheingauer Weinwoche wird er kaltblütig erschossen. Norma Tann, frühere Kriminalhauptkommissarin und seit kurzem Private Ermittlerin, wird Augenzeugin des Verbrechens. Dabei hat sie schon andere Sorgen: Ihr Noch-Ehemann Arthur ist nach einem Streit mitten im nächtlichen Wald aus dem Wagen gestiegen. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.

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Susanne Kronenberg

Weinrache

Norma Tanns erster Fall

Zum Buch

TOD EINES ARCHITEKTEN Wiesbadens historisches Stadtbild kann mit einem weiteren Baudenkmal aufwarten. Eine heruntergekommene Stadtvilla wurde als Entwurf des berühmten Bauhaus-Architekten Marcel Breuer identifiziert. Doch der Entdecker, Architekt Moritz Fischer, kann sich nicht lange an seinem Ruhm freuen: Inmitten des Treibens auf der Rheingauer Weinwoche wird er kaltblütig erschossen. Norma Tann, frühere Kriminalhauptkommissarin und seit kurzem Private Ermittlerin, wird Augenzeugin des Verbrechens. Sie verfolgt den Mörder, doch er entkommt unerkannt. Dabei hat Norma schon andere Sorgen: Ihre Ehe mit Arthur Tann, einem Kunsthistoriker, ist gescheitert. Nach einem Streit ist Arthur mitten im nächtlichen Wald aus dem Wagen gestiegen und seitdem ist er spurlos verschwunden …

Susanne Kronenberg, geboren in Hameln und seit Jahren im Taunus heimisch, entdeckte während des Studiums der Innenarchitektur ihr Faible für das Bauhaus mit all seinen Facetten und seiner Geschichte. Den Wunsch, die Architektur mit dem Schreiben zu verbinden, verwirklichte sie zunächst als Redakteurin für eine Bauzeitschrift. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt die Autorin Kurse und Workshops. Sie ist Mitglied des »Syndikats« und Mitgründerin der Wiesbadener Autorengruppe »Dostojewskis Erben«.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos pixelquelle.de/sxc.hu

ISBN 978-3-8392-3334-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

1

Freitag, der 18. August

Arthur war fort! Keine Spur mehr von ihm!

Norma trat auf die Bremse, drosch gegen den Schaltknüppel und lenkte den Wagen in einen Waldweg hinein. Das gab es doch gar nicht! Wohin war er verschwunden? Arthur scheute die Natur, und der Wald war in der Tat Natur pur. Nicht einmal an sonnigen Nachmittagen ließ er sich zu einem Spaziergang auf den Neroberg bewegen. Hier lauerte ringsum die Nacht. In immer kürzeren Intervallen wurde die Finsternis von Blitzen unterbrochen, die Arthurs Lage nicht weniger zuträglich sein konnten als die Regenschauer, die auf die Straße klatschten und sich zu Bächen sammelten. In breiter Front strömte das Wasser über den Asphalt.

Hatte Arthur unter den Bäumen Schutz gesucht? Sie hielt den Wagen an und schlug das Lenkrad ein. Schlanke, silbrig schimmernde Säulen reihten sich in den Lichtkegel, und sekundenschnell blitzten zwei grünlich glimmende Punkte auf; dicht über dem Boden. Zu klein für ihn, dachte sie grollend. Zu flink.

Das Tier, ein Fuchs vielleicht, war längst ins Dickicht eingetaucht, als sie den Wagen mit einigem Hin und Her auf dem Weg wendete und zur Hühnerstraße zurückfuhr. Dort bog sie in nördlicher Richtung ab. Der Regen ließ nach, benetzte die Scheiben nur noch in Schlieren. Sie schaltete die quietschenden Wischer aus. Ob er einen Wagen gestoppt hatte? Arthur als Anhalter: ein Gedanke, der sie in seiner Absurdität für einen Moment amüsierte. Die Gelegenheiten dazu wären allerdings gegeben. Selbst spät in der Nacht herrschte reichlich Verkehr auf der Hühnerstraße, die sich nördlich von Wiesbaden über die Höhen des Untertaunus bis nach Limburg zog.

Jeden Augenblick hoffte sie darauf, Arthur hinter der nächsten Biegung aufzuspüren. Reumütig. Beleidigt. Wutentbrannt. In welcher Laune auch immer. Aber hoffentlich munter und wohlbehalten. Der Gedanke an Arthurs körperliche Verfassung versetzte ihr einen Stich. Der Schweiß brach ihr aus, während sie das Lenkrad mit beiden Händen umklammerte und im dritten Gang voranfuhr. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn überfahren. Den eigenen Mann! Brutal umgefahren. Überrollt! Sie hielt schon den Fuß über das Gaspedal, hätte es beinahe durchgetreten. Norma Tann, die Kriminalhauptkommissarin außer Dienst und private Ermittlerin, wollte ihren Mann töten! Der ungeheuerliche Gedanke nistete sich in ihren Kopf ein wie der Auftakt zu einem Migräneanfall.

Mit dem Unterarm wischte sie sich die Stirn trocken. Sie hatte es nicht getan. Gewollt, ja! Es sich für einen winzigen Moment brennend gewünscht. Aber nicht ausgeführt. Statt ihrem Zorn nachzugeben, nahm sie den Fuß vom Gas und trat auf die Bremse. Das Letzte, das sie von Arthur gesehen hatte, war sein triumphierendes Lachen. Im Lichtkegel der Autoscheinwerfer hatte er sich umgewandt, mit den Händen in den Hosentaschen, und ihr für einen Augenblick diesen wissenden Blick geschenkt, bevor er mit einem langen Schritt zur Seite trat und in die Dunkelheit eintauchte.

Zum Teufel, welche Ehefrau hat niemals daran gedacht, ihren Mann umzubringen, wenn er sie bis aufs Blut reizte? Und darauf verstand Arthur sich wie kaum ein anderer. So wie er selbst in dieser Nacht, in diesem Wald mit ihr Katz und Maus spielte!

Im Scheinwerferlicht erschien das Hinweisschild zu einem Parkplatz. Norma setzte den Blinker und bog nach rechts ab. Sie schlug einen weiten Bogen über die freie Fläche. Neben einer Baumgruppe hielt sie an und stellte den Motor ab. An dieser Stelle war Arthur ausgestiegen. Sie schaute auf die Uhr am Armaturenbrett. Keine 20 Minuten waren seitdem verstrichen. Norma ließ die Scheibe hinunter. Die Luft roch nach Wald und nasser Erde. Hoch über ihr schrie ein Nachtvogel. Sie lauschte seinen melancholischen Rufen, bis sie verstummten. Früher wäre ihr der Schrei einer Eule nicht gespenstisch erschienen. Aber früher hatten sie auch nicht unaufhörlich gestritten. Warum versteckte er sich? Wollte er an ihr schlechtes Gewissen appellieren? War das ein neuer bösartiger Schachzug in diesem Spiel der Intrigen?

Gemessen am trostlosen Zustand ihrer Beziehung, hatte der Abend erstaunlich friedlich begonnen. Sie war ohne Ankündigung zu ihm gefahren, wollte nur einige Sachen aus der Wohnung holen. Wenige Minuten vor acht fuhr sie durch die Taunusstraße und bog nach halber Strecke in den Innenhof ab, der hinter den Geschäftsräumen lag. Arthurs Daimler stand nicht auf seinem Platz. Auch gut, dachte sie, sie musste ihren Mann nicht unbedingt sehen und konnte sich den Zweitschlüssel aus dem Büro holen. Arthur würde sich daran nicht stören. Er hatte ohnehin nicht verstanden, wieso sie keinen Schlüssel behalten wollte. Immerhin waren sie noch verheiratet, lebten erst seit einem Vierteljahr getrennt. Vermutlich hatte er es ihr sogar übel genommen, dass sie freiwillig auf die Schlüsselgewalt verzichtete. Wie so vieles andere wollte er ihre Beweggründe auch in diesem Fall nicht wahrhaben. Norma betrachtete die Ehe mit Arthur als ein abgeschlossenes Kapitel ihres Lebens.

Sie stellte den Wagen auf dem Kundenparkplatz ab und ging durch den Torbogen zurück zur Taunusstraße und die wenigen Schritte weiter zum Haupteingang. Arthurs Geschäft war nicht nur eines von vielen in der langen Reihe der Wiesbadener Antiquitätengeschäfte, sondern eines der renommiertesten. Die Zeiten waren schwer für die Branche, aber ein Unternehmen wie ›Tanns Antik und Kunst‹ kam nach wie vor gut über die Runden. Als studierter Kunsthistoriker lebte Arthur für seinen Beruf, und diese Leidenschaft vermittelte er seinen Kunden aus Wiesbaden und den nahe gelegenen Taunusstädten Kronberg, Bad Homburg und Königstein. Dort schien es ein unerschöpfliches Reservoir betuchter Bankiersgattinen, Erben und Unternehmerfamilien zu geben, die ihre neu gebaute oder renovierte Villa mit sündhaft teuren Antiquitäten ausstatten wollten. Neben seinen persönlichen Fähigkeiten konnte Arthur mit einem hervorragenden Partner überzeugen: Josef Brunner, ein pragmatischer bayrischer Hüne, Möbeltischler und Restaurator, verstand sein Handwerk und bewältigte mit stoischem Gleichmut die anspruchsvollsten Kundenwünsche. Josef arbeitete gewöhnlich in der Werkstatt, die drei Minuten entfernt in einem Hinterhaus in der Nerostraße lag, übernahm aber oftmals den Laden, wenn Arthur sich auf Kundenbesuch befand.

Norma stieg die beiden Stufen hinauf und drückte die Ladentür auf. Die englische Glocke, ein Mitbringsel einer gemeinsamen Urlaubsreise, bimmelte hell und fröhlich. Arthur hatte den Eingangsbereich umdekoriert, wie sie mit einem flüchtigen Blick erfasste. Die schlichte Eleganz des Art déco war zurzeit offenbar gefragter als Biedermeier und Historismus. Dazwischen ein Freischwingersessel: aus stumpfem Stahlrohr der Rahmen, die Sitzfläche mit blutrotem Gewebe bespannt. Ein Bauhaus-Möbel. Von Marcel Breuer womöglich? Auf jeden Fall könnte der Sessel wunderbar in Bruno Taschenmachers neues Restaurant passen. Verkauft stand in roten Buchstaben quer über dem Preisschild. Vielleicht hatte Bruno schon zugegriffen? Arthurs engster Freund seit der Schulzeit steckte seit Wochen mitten in den Planungen für ein exklusives Restaurant, das er in einer vom Bauhaus-Architekten Marcel Breuer geplanten Wiesbadener Villa einrichten wollte.

Die Entdeckung oder besser gesagt, Wiederentdeckung der Bauhaus-Villa war eine kleine Wiesbadener Sensation. Dem Architekten Moritz Fischer verdankte die Stadt, dass sie seit Kurzem mit dieser weiteren städtebaulichen Kostbarkeit aufwarten konnte. Die ›Villa Stella‹ reihte sich damit in eine bemerkenswerte Auswahl von Villen und Wohnhäusern des 20. Jahrhunderts, mit denen Wiesbaden glänzen konnte. Die ›Villa Stella‹ stammte aus den 30er-Jahren. In ihrer Bedeutung vergessen und von Anbauten verschandelt, rottete sie vor sich hin, bis sich sieben Jahrzehnte später Moritz Fischer der verwahrlosten Schönheit annahm. Er sammelte Gelder und mobilisierte Sponsoren, unter denen sich seine Jugendfreunde Arthur und Bruno als Wortführer hervortaten, und verwandelte die Ruine zu einem Schmuckstück. Bis es soweit war, vergingen Jahre. Ein langwieriger Prozess. Baumängel brachten die Sanierungen immer wieder ins Stocken. Zusätzlich sorgte die Diskrepanz zwischen Fischers Ideen und den Vorstellungen der Denkmalschützer für unvorhersehbare Verzögerungen.

Nun, zum Ende des Sommers, war das Gebäude bezugsfertig. Erblüht in einer nüchternen Ästhetik, die Norma eigenartig berührte. Die Stadt und Fachwelt huldigten Moritz Fischer als Experten, der das Geheimnis der Villa oberhalb der Sonnenberger Straße aufdecken konnte.

Fischer sonnte sich in der Anerkennung und ließ sich als Retter eines Baudenkmals feiern. Nach Normas Geschmack gewann er dadurch nicht an Sympathie. Moritz Fischer war und blieb ein Großmaul und Aufschneider. Arthur machte mit ihm gemeinsam beste Geschäfte, und Bruno Taschenmacher durfte dieses Mal mit von der Partie sein. Er wollte die ›Villa Stella› für das Restaurant pachten, das Arthur im Stil der 20er-Jahre einrichten sollte. Bruno war der geeignete Mann für ein Restaurant der gehobenen Klasse. Er besaß bereits eine Weinstube in der Altstadt und das Restaurant ›Parkhof‹ beim Kurpark. Seitdem kaufte Arthur auf Brunos Rechnung jedes Objekt, das auf irgendeine Weise mit der Bauhauszeit in Verbindung stand. Bruno sagte zu allem ja und Amen. Gäbe es noch Herrscher und Vasallen, Ritter Bruno wäre König Arthurs ergebenster Gefolgsmann. Bruno hatte sich von der Begeisterung der Freunde anstecken lassen und war Feuer und Flamme für das ›Marcel B.‹ Und er hatte für Pläne und Ausstattung inzwischen einen Batzen Geld ausgegeben, wie Norma von Arthur wusste.

An der Wand über dem Freischwinger hing, in lichtem Ocker und sattem Umbra, ein abstraktes Ölgemälde, das sich, obwohl kein Jahr alt, unbekümmert in das von Antiquitäten beherrschte Umfeld einfügte. Ein weiteres Werk von Pablo Lobo; der kraftvolle Pinselstrich des Kolumbianers war ebenso charakteristisch wie seine Vorliebe für erdige Farbtöne. Pablo war ein Naturkind, eine ungeschulte Begabung. Arthur bewunderte den jungen Maler, dessen Persönlichkeit wie die Arbeiten, und setzte alles daran, Pablo Lobo in Deutschland und Europa berühmt zu machen. Norma gönnte dem Bild keinen zweiten Blick. Sie wich allem aus, das an Kolumbien erinnerte.

Lieber atmete sie diesen betörenden Duft ein, der dem Ausstellungsraum eigen war. Eine unnachahmliche Verbindung von Möbelpolituren, ätherischen Holzölen und uraltem Staub, der auch Arthur anzuhaften schien und – wie sie bisweilen vermutete – der Auslöser ihrer Liebe zu einem Kunsthistoriker war. Der Geruch weckte auch die Erinnerung an ihren Vater, der sich als leidenschaftlicher Hobbyrestaurator in jeder freien Minute der Möbel angenommen hatte, die sich im Wechsel der Generationen auf einem niedersächsischen Bauernhof einfanden. Er starb, als Norma acht Jahre alt war. Als sie Arthur zum ersten Mal begegnete, war sie kurz zuvor von Bremen nach Wiesbaden versetzt worden. Während einer Fortbildung beim Bundeskriminalamt hatte sie die Stadt kennen und schätzen gelernt und durch eine glückliche Fügung die Stelle im Wiesbadener Kommissariat erhalten. Arthur war Zeuge in einem Kunstdiebstahl. Zwischen ihm und Jan Petersen, der der Grund dafür war, dass sie so dringend aus Bremen fort wollte, lagen Welten, und sie erhoffte sich von Arthur die Ausgeglichenheit und Beständigkeit, die Jan ihr nicht hatte geben können. Irgendwann wurde ihr klar, dass Arthurs vermeintliche Ruhe in der Bequemlichkeit wurzelte, und die behauptete Toleranz der Gleichgültigkeit entstammte. Doch auch sie kannte ihre Schwächen, wollte nicht über ihn urteilen, und so bemühten sie sich 10 Jahre lang, miteinander zu leben.

Anders als erwartet, ließ er sich an diesem Abend nicht von Josef oder der Aushilfe vertreten. Ausstaffiert in der bevorzugten Kombination aus lässig und korrekt, in Edeljeans, einem dunkelblauen Leinenhemd und den handgearbeiteten Schuhen eines benachbarten Meisterbetriebs, trat er ihr entgegen. Das halblange graue Haar trug er zum Zopf geflochten. Arthur musterte Norma durch die Gläser der schwarzen Hornbrille. Eine Wolke Rasierwasserduft strich durch den Raum.

Normas Begrüßung fiel knapp aus: »Du bist hier?«

Er zog die schmalen Schultern hoch, griente spöttisch. »Falls dus vergessen hast: Mir gehört der Laden.«

»Ich dachte, du bist unterwegs. Dein Auto steht nicht draußen!«

Der Daimler sei in der Werkstatt. Wie so oft die Elektrik. Ein Montagsauto. Sein Lächeln wurde breiter. »Sag mal, musst du heute Abend spionieren? Vielleicht einen Ehemann auf verborgenen Wegen zu der Geliebten verfolgen?«

Ihre Arbeit war das Letzte, mit dem sich Arthur beschäftigen wollte. Es hatte ihn nicht gekümmert, was sie als Polizistin getan hatte, ihre Aufgaben als Kriminalhauptkommissarin waren ihm gleichgültig, und erst recht wollte er nicht wirklich etwas über ihre Einsätze als Private Ermittlerin wissen. Ihr neuer Beruf schien ihm peinlich zu sein. Menschen zu observieren, das war in seinen Augen verächtlicher als das, was diese Leute ihren Opfern antaten: jungen Müttern, die keinen Cent vom Vater ihres Kindes bekamen, Arbeitgeber, die den Lebensstandard ihrer schwarzarbeitenden und krankgeschriebenen Mitarbeiter aushalten mussten, und die betrogenen Ehefrauen. Während er sich von Gaunereien beeindrucken ließ, stand Norma auf der Seite der Unterlegenen. In den vergangenen Tagen hatte sie allerdings weniger für die Gerechtigkeit gekämpft als gegen die Hungergefühle der Besucher der Rheingauer Weinwoche, auf der sie hessische Spezialitäten verkaufte. Die Zahl der Ermittlungen hielt sich bisher in Grenzen, und die Miete musste bezahlt werden. Der Stand gehörte Bruno, und so konnte sie sicher sein, dass Arthur von ihrem Job auf Zeit wusste. Aber sie wollte nicht davon anfangen.

So erklärte sie nur, einen anstrengenden Tag hinter sich zu haben. »Was willst du?«

Arthur fügte ohne Umschweife eine Bitte an. Er müsse dringend nach Limburg. Dort biete ein Sammler mehrere Leuchten im Bauhausstil an, darunter eine Tischlampe von Wilhelm Wagenfeld. Falls es keine Nachbauten seien, was Arthur, wie er nicht vergaß anzumerken, mit Kennerblick feststellen würde, erwarte er echte Schnäppchen. Sofern er rechtzeitig dorthin käme. Ob sie ihn nicht fahren könne?

Über die Autobahn bedeutete das eine Fahrt von einer Dreiviertelstunde. Norma trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. »Warum sollte ich das tun?«

»Du willst die Scheidung! Dann müssen wir endlich darüber reden, wie du dir das vorstellst in der Zukunft. Wie das werden soll.«

»Aber nicht im Auto! Darüber spreche ich nicht während der Fahrt.«

Für eine solche Auseinandersetzung brauchte sie die volle Aufmerksamkeit.

Er lenkte mit sanfter Miene ein. »Ein Vorschlag: Wir sehen uns die Leuchten an, und danach lade ich dich zum Essen ein. Dabei reden wir. In aller Ruhe.«

Sein Vorschlag machte ihr bewusst, wie hungrig sie war. Sie hatte es gar nicht bemerkt an diesem turbulenten Tag. Die Rheingauer Weinwoche war in vollem Gang, und nach sieben Tagen am Verkaufsstand, von 11 Uhr morgens bis abends um halb acht, konnte sie keine grüne Soße mehr sehen, geschweige denn zu sich nehmen. Obwohl das Essen gut und schmackhaft war. Es stammte aus der Küche der Weinstube ›Räuber Leichtweis‹ und kam ihr als Vegetarierin sehr gelegen. Bruno hatte Norma die Aufsicht über die Studentinnen übertragen, und so blieb ihr selten Zeit für eine Pause. Bevor es am Abend richtig rund ging, wurde sie von seiner langjährigen Angestellten abgelöst. Gabi erschien pünktlich auf die Minute und verbreitete die Aura zuverlässiger Geschäftigkeit, sobald Norma ihr die Kasse und den Schlüssel übergeben hatte. An jedem Abend war Norma dankbar, wenn sie aus dem Trubel herauskam. Das Wetter zeigte sich in diesem Sommer wie bestellt für ein Fest dieser Größenordnung rund um das Wiesbadener Rathaus. Die milden Nächte lockten die Gäste noch zahlreicher an die Buden der Rheingauer und Wiesbadener Winzer als die sonnigen Tage. An diesem Nachmittag hatte sich die Luft von Stunde zu Stunde stärker aufgeheizt und lag in drückender Schwüle über der Stadt.

Arthurs Angebot zum Abendessen war eine Überlegung wert, auch wenn sie auf die traute Zweisamkeit gern verzichtet hätte. Ihr Kühlschrank war ausgeräumt, und der Lebensmittelladen am Ende der Taunusstraße hatte, sofern die verschnörkelte Pendeluhr neben der Bürotür genau ging, seit drei Minuten geschlossen. Außerdem musste sie an die Ermahnungen ihrer Anwältin denken, gewisse dringliche Fragen endlich abzuklären. Also gut, stimmte sie zu und ging, während Arthur die Kassenabrechnung erledigte, hinauf in die Wohnung, die über den Geschäftsräumen lag und vom Innenhof aus über eine Außentreppe zu erreichen war. Sie fand nach kurzer Suche das Yogabuch für Anfänger, das sie schon im vergangenen Winter gekauft hatte, sammelte dazu ein paar weitere vermisste Bücher aus den Regalen und packte sie zusammen mit ihrer restlichen Kleidung in eine Reisetasche.

Arthur wartete unten im Hof. Einen hellen Baumwollpulli lässig um den Nacken gewunden und den Regenschirm in der Hand, wippte er auf den Zehenspitzen. »Wieso stiehlst du meine liebste Reisetasche?«

Sie öffnete die Heckklappe und stellte die Tasche in den Kofferraum. »Man kann nichts stehlen, das einem gehört. Die Tasche habe ich damals für einen Lehrgang gekauft, und dass du sie über die Jahre benutzen durftest, verdankst du meiner Großzügigkeit.«

»Und wenn ich die Tasche brauche?«

Sie schlug die Klappe zu. »Willst du verreisen?«

Er antwortete nicht, sondern musterte kritisch den Wagen. »Du fährst das Ding immer noch?«

Norma schloss die Fahrertür auf. »Wenn es deinen Sinn für Schönheit beleidigt, dann sieh doch zu, wie du nach Limburg kommst.«

Der schwarze Ford Fiesta war ein Geschöpf des vorigen Jahrhunderts, von Schrammen und dezenten Beulen gezeichnet und unscheinbar genug, um keine Aufmerksamkeit zu erwecken, wenn er am Straßenrand parkte. Außerdem war der Wagen sparsam im Verbrauch und bisher immer zuverlässig. Vor allem, was die Elektrik betraf, wie sie beim Einsteigen nicht zu erwähnen vergaß. Arthur warf den Schirm auf den Rücksitz, in der Überzeugung, das Gewitter würde nicht lange auf sich warten lassen, und quetschte sich auf den Beifahrersitz, die langen Beine auf Storchenart zusammengefaltet. Den Pullover breitete er auf den Knien aus.

Sie zog die Nase kraus. »Seit wann parfümierst du dich?«

Er fingerte an der Rückenlehne herum. »Das Rasierwasser war ein Geschenk.«

Sie verkniff sich die Frage, von wem, und nutzte eine Lücke im Verkehr, um schwungvoll auf die Taunusstraße einzubiegen. »Übrigens wäre ich mit dem Hebel vorsichtig …«

Schon war die Rückenlehne umgeschlagen, und Arthurs Hinterkopf donnerte gegen die Holzkiste, in der Norma einen Stapel Bücher, zerrupfte Zeitschriften, die Digitalkamera für alle Fälle, volle und leere Wasserflaschen, eine angebrochene Flasche Rotwein samt Glas und weitere Utensilien aufbewahrte, die ihr ein oft stundenlanges Ausharren erleichtern sollten.

Arthurs Arme ruderten in der Luft herum, bis er die Ablage zu fassen bekam und sich daran hochziehen konnte.

»Wie war das mit der Zuverlässigkeit deines Wagens?«, murrte er und rieb sich den Hinterkopf.

Norma bog in die Sonnenberger Straße ein und parkte den Wagen vor einer Ausfahrt, bis Arthur die Lehne wieder in eine stabile und rückenfreundliche Position gebracht hatte. Auf jeden weiteren Versuch, sich mehr Beinfreiheit zu schaffen, verzichtete er.

2

Die Eule meldete sich erneut. Dieses Mal erklang der Ruf dicht über dem Wagen, bis er unvermittelt abbrach und das an- und abschwellende Rauschen der Autos, die zu dieser späten Stunde unterwegs waren, wieder in Normas Aufmerksamkeit rückte. Die grünen Ziffern am Armaturenbrett zeigten 12.13 Uhr an. Gegen 10 hatten sie in einem italienischen Restaurant in der Limburger Altstadt gegessen. Zuvor war Arthur mit dem Leuchtenverkäufer einig geworden, was eine Weile gedauert hatte, weil der Mann sich besser auskannte und hartnäckiger verhandelte, als Arthur erwartet hatte. Anschließend wollte er ihnen unbedingt seine Sammlung alter Kinoplakate vorführen; ein Angebot, dem Norma als leidenschaftliche Kinogängerin leichtfertig zustimmte, hatte sie doch nicht geahnt, wie ausschweifend ein stolzer Besitzer auf jedes Beutestück eingehen konnte. Der Vorgang wurde nicht eben dadurch beschleunigt, dass Arthur mehrere Telefongespräche mit Kunden führte.

Als das Essen serviert wurde, schaltete er auf ihre Bitte das Telefon aus. Der Erwerb der Leuchten, wirklich seltene und gut erhaltene Stücke, die nun in einen Karton verpackt im Kofferraum verstaut waren, hatte ihn in beste Laune versetzt. Norma fühlte sich angenehm gesättigt von ›Linguine al Pesto‹. Besänftigt durch einen ›Winkeler Hasensprung‹, stellte sich eine unerwartete Vertrautheit ein, als wäre ihnen ein Sprung in die Vergangenheit gelungen, in der die Wochen und Monate des Streitens, der Zerwürfnisse und Versöhnungen und ihr Entschluss, ihn zu verlassen, weit weg waren. Das Gespräch drehte sich um Arthurs Geschäft, um die Kunden und jene früheren gemeinsamen Freunde, die nun, nach der Trennung, allein die seinen waren. Über die Scheidung fiel kein Wort. Keiner wollte die friedliche Stimmung zerstören.

Noch während des Essens hatte es zu donnern begonnen, und als sie durch die steile Gasse hinunter zum Parkhaus eilten, kam Wind auf, und die ersten Tropfen fielen. Sie liefen die letzten Schritte und hatten kaum das Tor erreicht, da brach der Himmel auf. Der Verkehrsfunk meldete einen Stau auf der A 3, einer unfallträchtigen Strecke in Richtung Wiesbaden, und Arthur schlug vor, für den Rückweg die Hühnerstraße zu nehmen und über Taunusstein und die Höhe der Platte zu fahren. Der Regen prasselte gegen die Frontscheibe. Die Musik war kaum zu verstehen. Arthur stellte den Ton lauter und summte mit. Joe Cocker besang die Vorzüge der Freundschaft.

Die Hühnerstraße führte abwechselnd durch Wald und Feld, hin und wieder durchquerten sie ein Dorf. Norma fuhr langsam, achtete auf den Verkehr und hing dabei ihren Gedanken nach. Zwei Tage Arbeit lagen noch vor ihr, dann wäre das Weinfest vorüber, und sie brauchte einen neuen Job. Hoffentlich als Ermittlerin! Sie hatte innerhalb der ersten Monate als Privatdetektivin mehrere Aufträge ausgeführt; hervorragend ausgeführt, wie ihre Klienten versicherten. Jedoch, Empfehlungen benötigten Zeit. Das Thema war sensibel. Wer posaunte schon gern heraus, dass er seinen Ehepartner oder einen Angestellten beschatten ließ? Oder beabsichtigte, das zu tun? Trotzdem sah sie voller Hoffnung auf ihre berufliche Zukunft. Noch vor gut einem halben Jahr, als sie aus dem Polizeidienst ausschied, war das anders; damals stand sie vor einem Scherbenhaufen. Ihr Leben lang hatte sie sich keinen anderen Beruf als den der Polizistin und später der Kommissarin vorstellen können. Die Erkenntnis, nicht mehr fähig zu sein, die Aufgaben, die sie so liebte, weiterhin auszuüben, erschien ihr wie ein Todesurteil. Inzwischen gab sie nicht mehr ausschließlich Arthur die Schuld an ihrem Scheitern. Jeder ist seines Glückes Schmied. Aber Arthur hatte seinen Teil zu ihrem Unglück beigetragen.

Die ersten Takte von ›Yesterday‹ erklangen. Norma schaltete das Radio aus.

Arthur summte einen Teil der Melodie allein. »Immer noch so zart besaitet?«

Denk nicht daran, nicht jetzt, ermahnte sie sich. Sonst brichst du sofort einen Streit vom Zaun.

Sie konzentrierte sich auf Arthurs Worte, der auf sein aktuelles Lieblingsthema zurückkam: die Ausstattung der ›Villa Stella‹. Die neu erworbenen Leuchten seien die perfekte Ergänzung.

»Nick Reichels wird begeistert sein«, sagte er zufrieden. »Du hast sicherlich von ihm gehört?«

Wer in Wiesbaden hätte das nicht! Der junge Koch, der sich mit seinem Ehrgeiz viel Anerkennung und diverse Fernsehauftritte erkocht hatte, bildete zurzeit das Lieblingsthema der hiesigen Schickeria. Gut aussehend, von temperamentvoller Frische und mit kribbeligem Charme war dem Spross einer rheinhessischen Winzerfamilie der Erfolgssprung von der Mainzer Rheinseite hinüber nach Wiesbaden auf Anhieb gelungen. Norma war sein blendendes Zahnpastalächeln verdächtig.

»Was hat Nick Reichels mit der ›Villa Stella‹ zu schaffen?«, fragte sie verwundert.

Arthurs hintergründige Miene war selbst im Halbdunkel erkennbar. »Nick wird im ›Marcel B.‹ kochen.«

»Bruno will diesen Fernsehkoch einstellen? Davon hat er gar nichts erzählt.«

Bruno hatte in den vergangenen Tagen kein Wort über das neue Restaurant verloren, fiel Norma auf. Noch zu Beginn der Weinwoche war er unermüdlich immer wieder auf das ›Marcel B.‹ zu sprechen gekommen, wenn er am Stand nach dem Rechten sah.

»Nick übernimmt das Restaurant«, erklärte Arthur gelassen. »Bruno ist draußen.«

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Das kann Fischer nicht machen! Bruno ist sein Freund, und Bruno hat einen Haufen Arbeit und Geld in das Projekt gesteckt.«

»Der beste Freund von Moritz ist ein gutes Geschäft. Nick bietet einfach die besseren Konditionen. Die Familie hat Geld. Verfügt über beste Kontakte. Und Nick ist ein Sonnyboy. Der grinst mit seinem Lächeln alle in Grund und Boden. Das zählt heute. Nicht der altbackene Charme eines Emporkömmlings vom Schlag Bruno Taschenmacher.«

»Bruno hat schwer für den Erfolg gearbeitet! Es gibt Absprachen zwischen ihm und Fischer.«

Arthur wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung fort. »Er hat versäumt, einen Vertrag zu verlangen. Bruno wird sein Leben lang bleiben, was er ist: der ungeliebte Sohn einer Alkoholikerin, der keine Ahnung hat, wer sein Vater ist. Die miese Herkunft hängt an ihm wie Modergeruch.«

Norma starrte durch die Regenschleier auf die im Scheinwerferlicht glitzernde Fahrbahn. Sie drosselte das Tempo. »Wie kannst du so gemein über Bruno sprechen? Er ist dein Freund seit der Schulzeit! Ebenso wie Moritz.«

Er lachte wieder. »Moritz ist mein Freund, weil wir Geschäfte machen. Und Bruno war mein Freund, solange die Geschäfte mit ihm gut liefen. Kein Geschäft, keine Freundschaft. So einfach ist das. Bruno hockt auf einem absterbenden Ast. Nimm die rosa Brille ab, mein Kälbchen!«

Auf der linken Seite wurde ein Parkplatz angezeigt. Norma riss den Wagen herum und jagte durch die Einfahrt. Der Fahrer hinter ihnen hupte.

Arthur suchte Halt am Armaturenbrett. »Hast du sie nicht mehr alle!«

Der Fiesta rollte noch, als sie sich Arthur zuwandte. »Was willst du mir damit sagen? Dass ich mein Leben lang nach Stallmist stinken werde?«

Er hob abwehrend die Hände, die seine belustigte Miene nur unzureichend verdeckten. »Willst du deine Herkunft verleugnen? Kannst du keinen Spaß vertragen?«

Sicherlich war ihre Reaktion übertrieben, aber seine Missachtung reizte sie bis aufs Blut. Sie beherrschte sich mühsam.

»Ich schäme mich nicht für meine Herkunft. Ich bin, was ich bin. Meine Kindheit, die ich nicht missen will, hat mich geprägt. Was berechtigt dich zu dieser unerträglichen Arroganz gegen alle, die nicht wie du mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden? Nein, du willst mich nicht verspotten. Du willst mich demütigen!«

Er verschränkte die Arme über der Brust und verdeckte das Muster des Pullovers, den er sich im Restaurant übergestreift hatte. »Deine Haut ist verdammt dünn seit Kolumbien, Norma.«

»Meine Haut«, erwiderte sie mit eisigem Unterton, »meine Haut ist nicht dünn. Sie ist perforiert wie ein Sieb. Und wie es dazu kam, weiß niemand besser als du!«

Den Vorwurf wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Wie immer stritt er alles ab. Stellte sich dumm. Wollte sich der Verantwortung entziehen. Weiter ging es hin und her, sie schlugen sich die Beschimpfungen wie Schwerter um die Ohren. Bis er die Tür aufstieß. Plötzlich stand er vor dem Wagen, und sie setzte den Fuß auf das Gaspedal. Aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte ihn nicht überfahren.

Weiß der Teufel, wo Arthur steckte! Wieso verschwendete sie überhaupt einen Gedanken an ihn? Vermutlich hatte er längst ein Taxi gerufen. Oder sich von Bruno abholen lassen. Bruno brachte es fertig, im Restaurant alles stehen und liegen zu lassen und sich um Mitternacht auf den Weg zu machen, weil Arthur nach einer Gefälligkeit verlangte.

Bruno ist ein Schaf, dachte sie mitleidig. Ließ sich von seinen so genannten Freunden ausnutzen. Arthur verhielt sich keinen Deut besser als Fischer.

Doch mit ihrer Gutmütigkeit war Schluss. Sie sparte sich jeden weiteren Versuch, Arthur über das Mobiltelefon zu erreichen, und startete den Motor. Höchste Zeit, nach Hause zu fahren und aus den Sachen herauszukommen, die sie seit dem Morgen trug. Das Gewitter hatte einen kühlen Lufthauch mitgeführt, der durch das offene Fenster strich und sie frösteln ließ. Eine heiße Dusche, ein Glas Riesling und dann ins Bett. Sie war todmüde und sehnte sich nach Schlaf.

Wie unaufmerksam sie bei der Sache war, erwies sich nach wenigen Kilometern, als sie an einer Kreuzung auf einen Wegweiser stieß. Sie war unterwegs in Richtung Limburg! Von dem mehrmaligen Wenden hatte sie sich verwirren lassen. Als sich am rechten Straßenrand im Schatten der Baumstämme eine Lücke auftat, überlegte sie nicht lange und stoppte den Wagen. Sie schlug das Lenkrad ein und setzte den Fiesta rückwärts in einen Waldweg. Mit zu viel Schwung, wie sich beim Anfahren herausstelle. Der Motor heulte auf. Die Räder drehten durch. Der Wagen saß fest.

Verflixt! Fluchend durchwühlte sie die Holzkiste auf dem Rücksitz, bis sie die Taschenlampe zu fassen bekam. Beim Aussteigen zeigte sich die Bescherung: Beide Hinterräder steckten in einem Graben, der sich quer über den Weg zog. Eigentlich war es gar kein Weg, wie ein Schwenken des Lichtkegels verriet: Ein Halbkreis aus jungen Buchen umschloss die winzige Lichtung, vor den Stämmen wucherten Gestrüpp und Brombeeren. Die Scheinwerfer leuchteten aufwärts über die Fahrbahn hinweg und zeigten auf die Baumkronen gegenüber. Drei weitere Versuche bestätigten: Ohne Hilfe bekäme sie den Wagen nicht frei.

Sie stellte den Motor aus, löschte das Licht mit dem leisen Bedauern, kein ADAC-Mitglied zu sein, und trat, mit der Taschenlampe bewaffnet, dem Verkehr entgegen. Nachdem der vierte Wagen ungebremst an ihr vorbeigerauscht war, stellte sie sich dem nächsten frech in den Weg. Sie winkte und wirbelte mit der Taschenlampe in dem Bewusstsein, dass ihr aschblonder Haarschopf der einzige helle Fleck in der Nacht war, trug sie doch dunkle Jeans und ein schwarzes Shirt und hatte auch nicht mit bleichen nackten Armen, sondern einer sonnengebräunten Haut aufzuwarten.

Ein flinker Sprung zur Seite rettete sie, als der Wagen mit einer Vollbremsung zum Stehen kam. Der Fahrer, der sich aus dem Fenster lehnte, wirkte nicht eben erfreut über diesen Überfall. Als sie ihm ihre Lage schilderte, schaltete er wortlos das Warnblinklicht ein und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Dann stieg er aus und trat ins Scheinwerferlicht.

Oh, Norma, dachte sie ernüchtert. Welchen Prinzen hast du dir herangezaubert!

Die Jahre bei der Polizei hatten ihre Instinkte geschärft. Dass dieser Mann kaum als Musterschwiegersohn durchgehen würde, bedurfte allerdings keiner geschulten Menschenkenntnis. Er hatte etwas Heimlichtuerisches an sich, und seine offensichtliche Nervosität hätte die Frage aufgeworfen, ob der Wagen gestohlen sein mochte, falls irgendjemand einen uralten BMW stehlen wollte. Die Motorhaube war zerbeult, und bei einem Scheinwerfer brannte nur das Standlicht. Bei näherer Betrachtung konnte selbst in dunkler Nacht die Frage aufkommen, womit der Gutachter des TÜV bestochen worden war. Oder bedroht?, überlegte sie mit stillem Spott. Ein Mann mit der Statur ihres potenziellen Retters besaß eine gewisse Überzeugungskraft. Er war, wie sie erkannte, als er ihr nun entgegen trat, kaum größer als sie mit ihren 1,75 m, aber kräftig und untersetzt und bewegte sich so geschmeidig wie ein geübter Sportler. Die Art, wie er die Arme leicht abspreizte, ließ darauf schließen, dass er einen Kampfsport betrieb. Und er wirkte nicht wie der Typ, der sich mit strikt geregeltem Judo begnügte.

Du hast es so gewollt, Norma Tann!

Sie blickte ihm entgegen, begegnete seinem abschätzigen Blick, mit dem er ihr wortlos die Taschenlampe aus der Hand nahm. Er richtete den Lichtkegel auf den Wagen; zu ihrer Verblüffung mit einem leisen Lachen.

»Ich hatte mit einem Totalschaden gerechnet. So irre, wie Sie auf der Straße herumgehüpft sind.«

Der warme Klang seiner Stimme vertrieb die Gespenster.

»Das Ergebnis einer Fehleinschätzung«, erklärte sie mit einem Lächeln. »Ich wollte hier wenden.«

»Haben Sie sich verfahren?«

»Ich suche meinen Mann. Ihnen ist nicht zufällig ein Fußgänger aufgefallen?«

Er bückte sich nach einem Stock, der unter einem Hinterreifen steckte, und ruckte daran herum. »Mir ist niemand begegnet außer einer Lebensmüden, die sich mir vor den Wagen warf! So, jetzt versuchen Sie es noch einmal.«

Er räumte einen Stein aus dem Weg, während sie den Wagen erneut startete und den ersten Gang einlegte. Im Rückspiegel erschien sein Rumpf wie ein Schattenriss und verdeckte die Hände, die er gegen die Scheibe presste. Ein Ruck, und der Wagen war frei. Sie wollte aussteigen, aber er bedeutete ihr durch ein Winken, gleich weiter zu fahren. So rief sie ihm nur einen Dank zu, bevor sie den Blinker setzte und in Richtung Wiesbaden abbog.

RÜD – WW und eine dreistellige Zahl, die sie ebenso wenig vergessen würde wie die Buchstaben des Kennzeichens für den Rheingau-Taunus-Kreis, Wiesbadens ländlichen Nachbarkreis. Seit sie ein Kind war, setzten sich Buchstaben- und Zahlenkombinationen ungefragt in ihrem Kopf fest, und Arthur, der sich kaum die eigene Telefonnummer merken konnte, neidete ihr dieses Talent.

3

Samstag, der 19. August

Norma träumte. Arthur verfolgte sie durch die Nacht. Er schleuderte eine riesenhafte Leuchte nach ihr und traf ihren Magen. Eine warme Last breitete sich auf ihrem Bauch aus, die nicht nachlassen wollte. Als sie erwachte, blickte sie geradewegs in runde Bernsteinaugen. Die schwarzen Pupillen hatten sich im Morgenlicht zu senkrechten Schlitzen zusammengezogen. Ein grollendes Knurren drang an ihr Ohr, und das Gewicht geriet ins Wanken, als ihr Besucher sich eine bequemere Lage suchte. Sie packte die Vorderpranken mit beiden Händen und schüttelte sie sanft: ein Begrüßungsritual, das ihn wie immer in Entzücken versetzte. Das Grollen schwoll an, und die ledrigen Sohlen stemmten sich gegen ihre Handflächen. Er hatte sich durch das Dachfenster eingeschlichen. Bei ihrer nächtlichen Heimkehr war sie von einer stickigen Schwüle empfangen worden und hatte im Vertrauen darauf, dass weitere Gewitterschauer ausbleiben würden, die Dachfenster aufgemacht und für Durchzug gesorgt. Nun schien die Sonne auf das Bett und überzog den Pelz des Kartäuserkaters mit einem blaugrauen Schimmer. Norma vergrub die Finger in seinem Fell und sah zum Radiowecker hinüber. Kurz nach sieben. Sie schloss die Augen und wollte, bevor sie aufstand, noch eine Viertelstunde dem genüsslichen Schnurren lauschen und den aufgeregten Morgengrüßen der wilden Papageien, die gerne in den Platanen übernachteten. Die Vögel vertrugen das milde Klima am Rhein so gut, dass mehrere 100 Exemplare verschiedener Großsittich- und Papageienarten Wiesbadens Parkanlagen bevölkerten, hatte Norma von ihrer tierlieben Vermieterin erfahren. Die grünen Halsbandsittiche bildeten die größte Population.

Das Klingeln des Telefons mischte sich in das Kreischen der Vögel. So zeitig? Das musste Arthur sein! Ein weiterer Punkt in der Liste seiner schlechten Angewohnheiten. An diesem Morgen war ihr der Anruf willkommen. Der Streit in der Nacht hätte nicht sein müssen, jedenfalls nicht in dem Ausmaß. Im sanften Morgenlicht und mit dem schnurrenden Kater auf den Knien erschien es ihr, als hätte sie völlig überzogen reagiert.

»Entschuldige, Poldi!«

Sie hob den Kater hoch, der sich widerspenstig in die Bettdecke krallte. Norma beförderte ihren Gast ans Fußende, bückte sich gähnend und tastete auf dem Teppich nach dem Telefon, bis sie es unter dem Bett entdeckte.

»Arthur! Guten Morgen!«

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss«, lautete die Antwort.

Bruno. Dass er schon am frühen Morgen so angespannt klang! Er nimmt sich zu viel auf einmal vor, dachte sie mitfühlend. Seit Agnieszka ihn verlassen hatte, vergrub er sich in Arbeit. Die junge Polin war seine zweite Frau. Auch die erste Ehe war schief gegangen. Und nun kam auch noch der Ärger mit Moritz Fischer dazu.

Sie lächelte aufmunternd, als stünde er ihr gegenüber. »Hallo, Bruno! Es ist nur … ich hatte gestern Abend Krach mit Arthur.«

»Wann habt ihr keinen Streit? Du nimmst zu wenig Rücksicht auf ihn, Norma!«

Als sie ihn fragte, ob er Arthur in der Nacht abgeholt habe, zeigte er sich verwundert. Er habe seinen Freund nirgendwo hingefahren, entgegnete er. Sie hätten auch nicht miteinander telefoniert, fügte er unwirsch hinzu und kam auf den Grund seines Anrufs zu sprechen. Ob sie ihren Dienst eine Stunde früher antreten könnte? Für diesen Samstag, den vorletzten Tag der Weinwoche, sei mehr als gewöhnlich vorzubereiten.

Er rechnete demnach mit einem guten Geschäft. Norma vergrub die Zehenspitzen im Pelz des Katers, der sich unwillig mit dem Fußende begnügte. Eigentlich wollte sie sich mit dem Yogabuch beschäftigen und vor der Fahrt in die Stadt die ersten Übungen ausprobieren. Die Geschmeidigkeit der Katzen faszinierte sie von jeher, und mit Leopolds täglichem Beispiel vor Augen fand sie es an der Zeit, mehr für die eigene Beweglichkeit zu tun. Außerdem sollte Yoga viel Größeres bewirken, als die körperliche Fitness zu verbessern. Das versprach jedenfalls das Buch.

Bruno wartete auf eine Antwort. Er könne sich selbst nicht um den Stand kümmern, erklärte er ungeduldig.