Rheingrund - Susanne Kronenberg - E-Book

Rheingrund E-Book

Susanne Kronenberg

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Beschreibung

Norma Tanns neuer Auftrag führt die Private Ermittlerin von Wiesbaden in die beschauliche Weinbaulandschaft des Rheingaus und hinauf auf die Höhen des Rheinsteigs. Ruth Diephoff, Yogalehrerin und Witwe eines Rheingauer Winzers, kann sich nicht damit abfinden, dass sich ihre Tochter Marika im Rhein ertränkt haben soll. Nun gibt es erstmals seit ihrem spurlosen Verschwinden vor 15 Jahren eine konkrete Spur, der Norma nachgehen will: Kai K. Lambert war Marika Inkens Geliebter. Ging sie mit ihm ins Ausland? Auch Marikas Tochter, die 17-jährige Inga, ist sehr an Lambert interessiert, denn sie wird von einer brennenden Frage gequält: Ist er ihr leiblicher Vater? Seit einem heimlichen Vaterschaftstest weiß sie genau, dass es Bernhard Inken, Inhaber einer Wiesbadener Medienagentur, nicht sein kann …

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Susanne kronenberg

Rheingrund

Norma Tanns zweiter Fall

Zum Buch

FAMILIENANGELEGENHEITEN Norma Tanns neuer Auftrag führt die Private Ermittlerin von Wiesbaden in die beschauliche Weinbaulandschaft des Rheingaus und hinauf auf die Höhen des Rheinsteigs. Ruth Diephoff, Yogalehrerin und Witwe eines Rheingauer Winzers, kann sich nicht damit abfinden, dass sich ihre Tochter Marika im Rhein ertränkt haben soll. Nun gibt es erstmals seit ihrem spurlosen Verschwinden vor 15 Jahren eine konkrete Spur, der Norma nachgehen will: Kai K. Lambert war Marika Inkens Geliebter. Ging sie mit ihm ins Ausland? Auch Marikas Tochter, die 17-jährige Inga, ist sehr an Lambert interessiert, denn sie wird von einer brennenden Frage gequält: Ist er ihr leiblicher Vater? Seit einem heimlichen Vaterschaftstest weiß sie genau, dass es Bernhard Inken, Inhaber einer Wiesbadener Medienagentur, nicht sein kann …

Susanne Kronenberg, geboren in Hameln und seit Jahren im Taunus heimisch, entdeckte während des Studiums der Innenarchitektur ihr Faible für das Bauhaus mit all seinen Facetten und seiner Geschichte. Den Wunsch, die Architektur mit dem Schreiben zu verbinden, verwirklichte sie zunächst als Redakteurin für eine Bauzeitschrift. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt die Autorin Kurse und Workshops. Sie ist Mitglied des »Syndikats« und Mitgründerin der Wiesbadener Autorengruppe »Dostojewskis Erben«. »Tod am Bauhaus« ist der achte Fall für Kronenbergs Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von photocase.com, rokit_de

ISBN 978-3-8392-3008-4

1

Dienstag, der 8. April

Ruth Diephoff stand am Küchenfenster und hielt das Enkelkind auf dem Arm. Sie winkte der Tochter zu, die unten vor dem Haus die Reisetasche aufnahm und in ein Taxi stieg, das sie zum Hauptbahnhof bringen sollte. Die junge Frau wollte zu einem Wochenendseminar nach Frankfurt. Mehrere Zeugen sahen sie in Wiesbaden in den Zug steigen. Bei dem Seminar kam sie jedoch nicht an.

»Seit diesem Tag fehlt von Marika Inken jede Spur.«

Lutz Tann beendete seine Zusammenfassung und blickte Norma erwartungsvoll an. Er war überraschend im Büro erschienen, als sie die Belege für die Steuererklärung sortierte und für jede Ablenkung dankbar war. Mit einem Griff räumte sie einen Packen Rechnungen vom Besucherstuhl und bot Lutz einen Kaffee an, der ihrem Schwiegervater nicht schwarz und stark genug sein konnte. Lutz unternahm einen unsinnigen Versuch, die Katzenwolle vom Kissen zu klopfen, bevor er mit einem eleganten Beinschwung Platz nahm, am Becher nippte, den Kaffee lobte und beiläufig anmerkte, er habe vielleicht einen Auftrag für sie.

Norma deutete auf die Papierstapel auf dem Schreibtisch. »Ich übernehme jeden Fall, der mich davon abhält, diese Zettel abzuheften.«

»Sogar einen Fall, der 15 Jahre alt ist?«

Er beobachtete, wie sie den Topf von der Kochplatte nahm, einen Schwall Milchschaum auf den Kaffee goss und mit dem Becher in der Hand zur Tür ging. Draußen auf der Fensterbank maunzte der Kater. Leopold stolzierte herein und hielt schnurstracks auf den Gast zu. Sanft wie ein Kätzchen strich er ihm um die Waden. Lutz gab sich unempfänglich für Schmeicheleien und beachtete das Tier nicht.

Norma kehrte an den Schreibtisch zurück. »Dann lass mal hören.«

In wenigen Sätzen berichtete Lutz von seinem Anliegen. Er kannte Ruth Diephoff von verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen, in denen sich beide engagierten. Die Mutter wollte sich mit dem ungeklärten Schicksal der Tochter nicht abfinden und wartete Tag für Tag auf ein Lebenszeichen. Die Polizei war damals von einer Selbsttötung ausgegangen. Marika Inken galt als höchst labil, berichtete Lutz. Die junge Frau litt seit der Geburt ihres Kindes unter Depressionen und hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Allerdings fand man weder einen Abschiedsbrief noch die Leiche.

Norma hatte noch nie von Marika Inken gehört. Als die junge Frau im Rheingau verschwand, sammelte sie selbst als ehrgeizige Polizeianwärterin ihre ersten Berufserfahrungen in Bremen.

»Marika wäre nicht die erste Selbstmörderin, die der Rhein für sich behalten hat«, fuhr Lutz fort. »Ruth kann und will diese Erklärung nicht akzeptieren und unternimmt immer neue Anläufe, Licht ins Dunkel zu bringen. Ich muss dich warnen: An der Geschichte ist bisher eine Reihe von Privatdetektiven gescheitert.«

»Und trotzdem bittest du mich, den Fall zu übernehmen?«

Er hob abwehrend die Hände. »Ganz und gar nicht! Ich bin nur der Bote, weil Ruth mich darum gebeten hat. Sie erhofft sich von dir ein besonderes Verständnis. Gerade du könntest dich in ihre Situation hineinversetzen, glaubt Ruth.«

Norma beobachtete den Kartäuserkater, der die Bemühungen um Lutz aufgegeben hatte und sich die Regentropfen vom Fell leckte. Wenn es um die persönliche Betroffenheit geht, wäre Lutz der bessere Detektiv, dachte sie. Es war sein Sohn, der im vergangenen Sommer für viele Tage vermisst wurde.

»Warum wünscht Ruth ausgerechnet jetzt einen neuen Versuch?«

Lutz räusperte sich. »Marika war damals 27 Jahre alt. In zwei Wochen jährt sich der Tag ihres Verschwindens.«

Norma zögerte. »Das alles klingt wenig aussichtsreich. Ist ihr überhaupt damit gedient, wenn sie sich neue Hoffnungen macht?«

»Ruth ist eine starke Frau. Sie weiß, was sie tut. Hast du noch einen Kaffee für mich?«

Norma nahm den Becher entgegen und schenkte nach. Die Tür wurde aufgestoßen. Der Briefträger packte mit einem Gruß die Post auf den Schreibtisch und verschwand so behände, wie er gekommen war. Norma blätterte den Stapel flüchtig durch: eine Rechnung, drei Werbebriefe, ein von Hand beschrifteter Umschlag. Sie las den Absender und musste an sich halten, den Brief nicht umgehend im Papierkorb verschwinden zu lassen.

»Unangenehme Post?«, fragte Lutz. »Vielleicht vom Gericht?«

Wie immer, wenn sie seine Besorgnis und Fürsorge spürte, fühlte sie sich zwischen Dankbarkeit und Aufbegehren hin- und hergerissen. Ohne sein Eingreifen hätte sie diesen Frühling nicht erlebt und wäre an der Seite eines ausgestopften Bären zu Tode gekommen. Zuvor hatte Lutz eisern zu ihr gehalten, solange Arthur unauffindbar war, und selbst dann nicht an ihr gezweifelt, als sie in den Verdacht geriet, darin verwickelt zu sein. Alle Ungereimtheiten und Beschuldigungen hatten seine wohlwollende Zuneigung nicht schwächen können.

»Nichts von Bedeutung!« Sie deckte das unwillkommene Schreiben mit der Werbung zu.

Lutz drehte den Kaffeebecher in den Händen. »Ruth meint, es habe sich etwas Neues ergeben. Vielleicht eine Spur.«

»Ich werde mit ihr reden.«

Der Gast erhob sich. Vor der Tür wandte er sich um. Zögernd sagte er: »Hast du dich entschieden, was mit der Wohnung geschehen soll?«

Sie vermutete, er hatte die Frage vor sich hergeschoben, weil er wusste, dass er damit einen wunden Punkt ansprach. Ihr letzter Versuch, die Wohnung in der Taunusstraße auszuräumen, in der sie einst gemeinsam mit Arthur gelebt hatte, war nach dem Durchsehen der ersten Schubladen gescheitert. Lutz hatte kurz überlegt, selbst dort einzuziehen. Die Wohnung wäre ein bequemeres Domizil als die Villa Tann im Nerotal, die er allein bewohnte. Andererseits mochte er sein Elternhaus noch nicht aufgeben. Abgesehen davon, würde sein Umzug Norma nicht davor bewahren, die Wohnung zu räumen.

»Warum ziehst du nicht selbst dort ein?«, fragte er. »Nichts gegen dein Nest unterm Dach, aber in der Taunusstraße hättest du allen Komfort. Und der Platz reicht allemal für ein schönes Büro.«

»Ich vermisse keinen Komfort, und dieses Büro genügt mir. Gibst du mir die Adresse von Ruth Diephoff?«

Er lachte. »Hätte ich beinahe vergessen.«

Er überreichte ihr eine Visitenkarte und verabschiedete sich.

Ruth Diephoff betrieb eine Yogaschule in ihrem Wohnhaus. Norma betrachtete die Karte neugierig. Anschließend warf sie die Werbebriefe in den Papierkorb und versenkte den beunruhigenden Umschlag mit spitzen Fingern in der unteren Schublade.

2

Mittwoch, der 9. April

Am darauffolgenden Morgen stattete Norma ihrer früheren Arbeitsstätte einen Besuch ab. Das Kommissariat lag auf halber Strecke zwischen dem Stadtteil Biebrich am Rheinufer und der Wiesbadener Innenstadt an einer viel befahrenen Straße.

Irene Maibaum, die allseits geschätzte Sekretärin der Abteilung, war allein im Büro und zeigte sich erfreut. Zugleich regte sich ein berechtigtes Misstrauen. »Was willst du, Norma?«

Norma strahlte sie an. »Dich wiedersehen! Du warst meine liebste Kollegin. Wie geht es dir?«

Irene zeigte auf den Eingang. »Schließe besser die Tür! Sonst kommen womöglich Dirk und Luigi hereinspaziert.« Sie seufzte. »Nun sag schon: Name? Fall?«

»Wie kommst du darauf?«

Es folgte ein zweiter Seufzer mit deutlicher Ergebenheit. »Weil du nur hier hereinschneist, wenn du etwas willst! Wen schnorrst du eigentlich an, wenn ich in Pension bin?«

»Du und aufhören? Wie sollen die Kollegen ohne dich zurechtkommen?«

»Bevor ich vor Rührung in Tränen ausbreche: Welche Akte brauchst du?«

Wenig später war Norma über die Vermisstensache ›Marika Inken‹ im Bild; zumindest aus der Sicht der Kollegen, die damals ermittelten. Das Material erwies sich als wenig ergiebig, was in sich bereits als Spur zu werten war. Für Polizei und Staatsanwaltschaft blieben keine Zweifel, dass Marika Inken ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Der Ehemann Bernhard Inken schien unverdächtig, etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun zu haben. Damit war die Untersuchung rasch beendet.

Der nächste Weg führte sie zu Ruth Diephoff. Norma hatte sich für ein unverbindliches Vorgespräch angemeldet. Sie freute sich auf die Fahrt in den Rheingau. Die Regentage waren überstanden. Das sonnige Frühlingswetter schien wie gemacht für einen Ausflug ins Grüne. Sie fuhr von Biebrich aus in westlicher Richtung. Hinter Schierstein verließ sie die Rheinebene und steuerte den Polo bergauf, vorbei an zart blühenden Obstbaumwiesen und bald darauf durch Martinsthal hindurch. Ruth Diephoff wohnte oberhalb des Winzerdorfs an einem steil aufragenden Hang. Das Anwesen war leicht zu finden: Ein Weingut mit dem einzigen Wohnhaus weit und breit. Knorrige Weinreben umschlangen die grob verputzten Mauern, als hätten sie sich der Aufgabe verschworen, den wuchtigen Bau zusammenzuhalten. Norma stellte den Polo neben dem Tor ab und warf durch das geschmiedete Gitter einen Blick in den Innenhof. Die Nebengebäude wirkten frisch gestrichen und waren in einem deutlich besseren Zustand als das Wohnhaus selbst.

Sie klingelte an der Haustür aus getöntem Glas, die nicht zum rustikalen Charme des Hauses passen wollte. Für die Yogaschule gab es eine zweite Klingel. Im Garten schlug ein Hund an. Ruth Diephoff schien erfreut, als hätte sie Normas Erscheinen ungeduldig erwartet, und führte sie über eine steile Treppe hinauf in das Wohnzimmer. Norma warf einen Blick auf die Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand, die Szenen der Weinlese zeigten und aus den 50er-Jahren stammen mochten. Dazwischen hingen Porträts von Männern und Frauen mit abgearbeiteten und lebensklugen Gesichtern.

Ruth trat näher heran. »Die Familie meines Mannes hat das Weingut über viele Jahrzehnte betrieben. Das ist nun Vergangenheit. Mir gehören nur noch das Haus und ein Garten, der so steil ist, dass der Hund sein einsames Vergnügen damit hat. Die Weinberge musste ich nach dem Tod meines Mannes verkaufen. Ein befreundeter Winzer hat alles übernommen.«

»Kam Ihr Mann bei einem Unfall ums Leben?«

Ruth blickte zum Fenster, aus Normas Perspektive ein postkartenblauer Himmelsausschnitt. »Nein, das Herz setzte aus. Die Krankheit zog sich über Jahre hin. Die Arbeit entglitt ihm immer stärker. Eigentlich sollte Marika den Betrieb weiterführen. Sie hat in Geisenheim Weinbau studiert, und der Tag ihres Abschlusses war für meinen Mann der schönste Tag im Leben. Wie stolz er auf seine Tochter war! Aber wie so oft kam alles anders. Wollen wir uns setzen?«

Der flache Couchtisch war mit zwei Tassen und einer Teekanne gedeckt. Das Teelicht flackerte. Neben dem Stövchen lag ein prall gefüllter Ordner mit der Aufschrift ›Marika‹: Die Unterlagen der anderen Privatdetektive, vermutete Norma, um die sie im Telefongespräch gebeten hatte.

Ungeschickt sank sie auf das Sofa nieder. »Gab es Probleme zwischen Ihrem Mann und Marika?«

Ruth setzte sich in den Sessel gegenüber. Sie lehnte sich nicht zurück und hielt sich gerade. »Es ging überhaupt nicht. Sie ist ganz die Tochter ihres Vaters. Zwei Hitzköpfe, die aufeinanderprallten. Der Praktiker gegen die Studierte. Es konnte nicht gut gehen. Marika heiratete Bernhard und arbeitete ab sofort in der Agentur.«

»Um was für eine Agentur handelt es sich?«

»Es geht um Film und Fernsehen. Unter anderem vermittelt mein Schwiegersohn zwischen Drehbuchautoren, Produktionsfirmen und den Sendeanstalten.«

Norma nickte. Wiesbaden war ein beliebter Standort für Leute, die sich mit Film und Fernsehen beschäftigten, und zudem ein bevorzugter Wohnort für Mitarbeiter des Zweiten Fernsehens, das in der Nachbarstadt Mainz auf der gegenüberliegenden Rheinseite angesiedelt war.

Ruth schenkte Tee ein. »Als mein Mann starb, wollte Marika das Weingut nicht aufgeben. Aber wir waren hoch verschuldet, sie musste den Plan begraben. Bernhard hätte es sowieso nicht gewollt.«

Norma fragte sich, ob Ruth die Yogaschule betrieb, weil sie trotz ihres Alters Geld verdienen musste. Sie warf sich mit Schwung nach vorn und griff nach der Tasse. »Erzählen Sie mir von dem Tag, als Ihre Tochter verschwand.«

Ruth trank Tee und ließ sich mit der Antwort Zeit. »Marika wollte zu diesem Seminar in Frankfurt. Die Kleine hatte Fieber, und Marika war unsicher, ob sie überhaupt fahren sollte. Ich habe ihr zugeredet und dachte, es täte ihr gut, andere Leute zu treffen. Oft denke ich, wenn sie nur hier geblieben wäre …«

Sie warf Norma einen gequälten Blick zu.

Norma probierte den Tee, einen durchscheinenden Darjeeling mit dem Duft von Zitrone. »Worum ging es in diesem Seminar?«

»Das Thema hieß ›Lebensbewältigung und neue Per­spektiven‹. Marika machte sich Vorwürfe, weil das Weingut verloren war. Sie glaubte, sie hätte ihren Vater nicht genug unterstützt.«

Norma stellte die Tasse ab. »Frau Diephoff, ich habe mich erkundigt. Die ermittelnden Beamten kamen damals zu dem Schluss, dass Marika sich das Leben genommen hat. Sie hatte es schon einmal versucht.«

Ruths Antwort kam ohne ein Zögern, wie zurechtgelegt. Vermutlich hatte sie wieder und wieder über dieser Frage gebrütet. »Es stimmt, Marika war depressiv. Nach Ingas Geburt kam sie deswegen in Behandlung und verbrachte mehrere Wochen in der Klinik. Für die Polizei war der Fall schnell erledigt.«

»Vieles spricht dafür. Man fand Marikas Reisetasche unter der Schiersteiner Brücke. An genau der Stelle, an der sie bei ihrem ersten Versuch ins Wasser gestiegen war.«

Ruth legte die Hände auf die Knie. »Trotzdem glaube ich, dass meine Tochter lebt. Irgendwo auf der Welt. Bevor ich sterbe, will ich Gewissheit. Ich dachte, dass gerade Sie … Sie haben selbst erlebt, wie es ist, wenn ein geliebter Mensch nicht nach Hause kommt.«

Rundfunk und Regionalfernsehen hatten, ebenso wie der ›Wiesbadener Kurier‹ und das ›Tagblatt‹, über das Geschehen im August berichtet, und der Prozess würde das Thema in die öffentliche Aufmerksamkeit zurückbringen.

Entschlossen schob Norma jeden Gedanken daran zur Seite. »Persönliche Betroffenheit ist für eine Ermittlung nicht unbedingt von Vorteil.«

»Vielleicht nicht für die Nachforschungen selbst. Aber für den Einsatz, mit dem Sie an die Aufgabe herangehen werden. Das erhoffe ich mir von Ihnen.«

Norma vermutete, ein straff aufrechtes Kreuz war die einzige Haltung, in der es sich in diesem Möbelstück überleben ließ. Sie rutschte auf die Kante vor. »Was lässt Sie glauben, dass Marika noch leben könnte? Hat sie sich bei Ihnen gemeldet?«

Ruth schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber ich bin überzeugt, sie ist in Tasmanien.«

»Tasmanien! Ausgerechnet! Wie kommen Sie darauf?«

Ruth sah auf und richtete den Blick ihrer klaren grauen Augen beharrlich auf Norma. »Neulich haben Bernhard und ich gestritten. Heftig gestritten.«

»Weswegen?«

»Zuerst ging es um Inga. Dazu müssen Sie wissen, dass meine Enkeltochter bei mir aufwächst, was oft nicht einfach ist. Ein Wort gab das andere, und bald stritten wir uns wegen Marika. Bernhard hat mir vorgeworfen, ich pflege ein allzu rosiges Bild von meiner Tochter. ›Hast du gewusst, dass sie eine Affäre hatte, deine feine Tochter!‹, schrie er. Er war völlig außer sich.«

»Eine Affäre mit wem?«

Ruth stieß die Luft aus, als machte ihr der Streit noch immer zu schaffen. »Der Mann heißt Kai Kristian Bieler. Kristian mit K.«

Norma überlegte. Der Name wurde in den Polizeiakten nicht erwähnt.

»Bieler stammt aus Dresden wie Bernhard und Martin«, erklärte Ruth.

Ein Mann namens Martin tauchte in den Berichten auf, erinnerte sich Norma. »Sie sprechen von Martin Reber? Er war damals in der Agentur Ihres Schwiegersohns angestellt.«

Ruth nickte zustimmend. »Das ist er noch heute. Martin ist der Lektor der Agentur. Alle drei waren eng befreundet; damals in der DDR. Bernhard und Martin kamen Anfang der 80er-Jahre nach Wiesbaden. Beide sind auf abenteuerliche Weise aus dem Land geflohen. Bieler musste bis zur Wende warten. Bernhard gab ihm Arbeit in der Agentur, obwohl Bieler …«

»Was war mit ihm?«

»Er war in keiner guten Verfassung. Psychisch, meine ich. Doch er fing sich mit der Zeit. Vier Jahre später bekam Bieler den Auftrag, Reiseberichte über Tasmanien zu drehen. Er reiste einige Wochen vor dem Tag ab, an dem Marika verschwand, und kehrte nicht mehr zurück. Mir ist nie aufgefallen, dass zwischen den beiden etwas war. Wenn doch, haben sie es gut verheimlicht.«

Aber offensichtlich nicht vor dem Ehemann. Oder hatte er erst später davon erfahren? »Wo war Bernhard, als Marika ins Taxi stieg?«

Ruths Blick wurde misstrauisch. »Wie meinen Sie das?«

Norma lächelte freundlich. »Ich stelle nur die Fakten zusammen. Wie sollte ich mir sonst ein Bild machen?«

»Natürlich, entschuldigen Sie. Bernhard war bei mir.«

»Er war hier im Haus, während Marika abreiste?«

»Nein, nein, er kam später. Auf meine Bitte hin. Ich hatte ihn angerufen. Bernhard war in seinem Fitnessclub. Dort hielt er sich zu der Zeit an jedem Freitagabend auf, wenn er es irgendwie einrichten konnte. Heutzutage ist er lieber auf dem Golfplatz unterwegs.«

»Am besten erzählen Sie von Anfang an«, schlug Norma vor.

Ruth atmete tief ein. »Also, Marika verabschiedete sich und stieg ins Taxi.« Sie hatte dem Wagen nachgesehen und anschließend die Kleine ins Bett gebracht. Inga war fiebrig und quengelte. Es dauerte eine Weile, bis sie Ruhe gab. Als das Kind schlief, ging Ruth in den Garten, um nach den Arbeiten an der Terrasse zu sehen. »Ein sehr nasser Winter lag hinter uns, und die alte Trockenmauer hatte nachgegeben, bis der Terrassenhang abrutschte. Der Garten sah verheerend aus. Eine neue Mauer musste her und der Hang wieder hergestellt werden. Ich hatte meinen Schwiegersohn gebeten, sich darum zu kümmern.«

Die Männer hätten über mehrere Tage zügig gearbeitet, fuhr Ruth fort. Am Freitag war die Mauer gebaut, und der Bereich dahinter sollte am kommenden Montag mit Erde aufgefüllt werden. Die Arbeiter hatten einen kleinen Bagger mitgebracht, die Maschine allerdings so schief am Hang abgestellt, dass Ruth befürchtete, er könne abrutschen und die neue Mauer beschädigen. Sie rief ihren Schwiegersohn auf der Mobilnummer an. Bernhard versprach, innerhalb der nächsten 15 Minuten zu ihr zu kommen und sich der Sache anzunehmen.

»Dann fragte er nach Inga. Zu der Zeit war er noch ganz verrückt nach dem Kind. Als er hörte, dass Inga Fieber hatte und Marika trotzdem gefahren war, wurde er ärgerlich. Er sah auch als Erstes nach der Kleinen. Inga war wieder aufgewacht.«

»Wie ärgerlich war er?«

»So ärgerlich, wie sich jeder besorgte Vater aufführt. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Können Sie sagen, um wie viel Uhr Bernhard bei Ihnen war?«

»Er kam kurz vor 19 Uhr«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Ich habe mir die Nachrichten angesehen, während er sich um das Kind kümmerte.«

Zur selben Zeit, genauer, um 18.55 Uhr, stieg Marika auf dem Wiesbadener Hauptbahnhof in die S-Bahn nach Frankfurt. Das bewiesen glaubwürdige Zeugenaussagen, wie Norma aus dem Protokoll wusste.

»Ihr Gedächtnis ist ausgezeichnet.«

Ruth lächelte hintergründig. »Das Wissen verdanke ich weniger meiner Erinnerung als meinem Tagebuch. Seit ich ein junges Mädchen bin, führe ich über meinen Tagesablauf Buch. Möchten Sie noch Tee?«

Während Ruth die Teetassen auffüllte, fragte Norma: »Und später sah Bernhard sich im Garten um?«

»Gegen 8 Uhr gingen wir zusammen hinaus. Er stimmte mir zu und fand die Lage des Baggers ebenso bedenklich. In der Baufirma war niemand zu erreichen. Bernhard wollte den Bagger mit Balken abstützen, und ich schlug vor, er solle oben beim Gartenhaus nachsehen. Mein Mann hatte dort früher immer Holz gelagert; er konnte sich von nichts trennen.«

Sie sei ins Haus gegangen, um nach Inga zu sehen, erzählte Ruth. Das Kind war aufgewacht und weinte. Ruth las ihr vor und legte sich zu ihr. Dabei schlief sie selbst ein. Als sie wach wurde, lief draußen ein Motor.

»Bernhard hatte es geschafft, den Bagger zu starten. Ich sah nur die Scheinwerfer, es war inzwischen dunkel. Als ich hinauskam, sagte Bernhard, das Holz sei morsch und nicht zu gebrauchen gewesen.«

Viel blieb nicht mehr zu tun, erklärte Ruth. »Bernhard hatte mit der Baggerschaufel einen Erdhügel aufgefüllt und den Bagger darauf abgestellt. So war das Gerät gut aufgehoben. Am Montag flachsten die Leute herum, weil Bernhard ihnen so viel Arbeit abgenommen hatte.«

Norma trank einen Schluck Tee und stellte die Tasse ab. Besser, sie stand auf, bevor ihr Rücken durchbrach. Sie trat an das Fenster heran und schaute auf die Terrasse unterhalb. Die angrenzende steile Böschung war mit Rosen bepflanzt, und die Kante der Mauer, die den Hang hielt, wurde von einer Reihe blaugrüner Lavendelbüsche überwuchert. Ein brauner Hund ruhte mit ausgestreckten Beinen auf dem Treppenabsatz.

Sie wandte sich zu Ruth um, die unbeweglich im Sessel ausharrte, als absolviere sie eine Asana. »Sie sagten, damals habe Bernhard sich sehr um seine Tochter gesorgt. Das klingt, als hätte sich sein Verhältnis zu Inga später geändert. Wann fing das an?«

Ruth dachte einen Augenblick nach. »Schwer zu sagen. Inga blieb bei mir, nachdem Marika fort war. Erst ist es mir gar nicht aufgefallen, dass er sich immer weniger um sie kümmerte. Ich schob es auf seine Sorgen um Marika. Später glaubte ich, es läge an mir, und ich hätte das Kind zu sehr vereinnahmt.«

»Sehen Sie das heute genauso?«

Ruth erhob sich mit der Grazie einer Balletttänzerin. »Wir haben beide Fehler gemacht.«

Sie trat zu Norma ans Fenster heran. »Inga sieht ihrer Mutter sehr ähnlich. So sehr, dass es mich jedes Mal trifft, wenn ich sie ansehe. Aber ihr Charakter ist völlig anders. Inga ist ein sehr stilles, verschlossenes Mädchen. Marika ist aufbrausend. So wie ich leider auch.«

»Ich nahm an, ein Mensch, der Yoga praktiziert, sei besonders ausgeglichen«, entgegnete Norma verwundert.

»Man kann Yoga gerade deswegen ausüben, um vielleicht zu dieser Ausgeglichenheit zu finden«, erwiderte die Yogalehrerin schmunzelnd.

Der Hund war in den Garten getrottet und ging unsichtbaren Spuren im Rasen nach.

Ruth verfolgte seinen Weg mit den Blicken. »Inga leidet sehr unter den Spannungen in der Familie. Sie ist überzeugt, ihr Vater würde sie nicht lieben.«

»Liebt er sie?«

»Sie wendet sich immer stärker von ihm ab.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

Ruth wandte sich Norma zu. Sie musste den Kopf heben, um Norma in die Augen zu sehen. »Sie nehmen es genau, das gefällt mir. Zu Ihrer Frage: Die Antwort heißt nein. Bernhard liebt seine Tochter nicht. Und auch das schmerzt mich. Er ist doch der Vater!«

3

Norma ging zum Wagen, um den Ordner abzulegen, der von den vergeblichen Nachforschungen ihrer glücklosen Vorgänger zeugte, und nahm bei der Gelegenheit die Regenjacke heraus. Noch schien die Sonne, aber wer wollte dem Aprilwetter trauen? Über dem Wald bauschten sich dunkle Wolken auf. Auf der linken Seite des Grundstücks führte ein Fußweg steil bergauf und hielt sich dicht an den Zaun aus rostigem Maschendraht. Innerhalb der Umzäunung wucherte eine Hecke blühender Sträucher. Norma folgte dem Pfad, bis sich auf halber Höhe eine Lücke auftat und die Sicht auf das Haus freigab. Die Terrasse lag im Sonnenschein. Die Mauer, die das ansteigende Rosenbeet hielt, erwies sich als mächtiger, als der Blick aus dem Fenster hatte vermuten lassen. Sie war mannshoch und aus flachen grauen Steinen errichtet.

Der braune Hund lugte angespannt durch die Lavendelbüsche. Als er die Spaziergängerin bemerkte, stutzte er einen Moment, sprang dann die Treppe herunter und jagte bellend heran. Ein Labrador, vermutete Norma, doch allzu gut kannte sie sich mit Hunderassen nicht aus. Als sie ihn freundlich ansprach, verstummte er und folgte ihr bergauf, wie das Rascheln in der Hecke verriet. Hinter dem oberen Ende des Grundstücks, das sich schmal und lang gestreckt den Hang hinaufzog, begann der Wald. Der Pfad mündete auf einen unbefestigten Weg, der dem Verlauf des Waldrands folgte. An einem Baumstamm entdeckte Norma eine auffällige Markierung, ein blaues Rechteck, das von einer weißen Schlangenlinie durchzogen wurde, in der man ebenso den Lauf des Rheins erkennen konnte wie den Buchstaben R: Das Zeichen des Rheinsteigs. Norma verschnaufte für einige Atemzüge und wandte sich nach rechts. Der Wanderweg verlief hier eben und führte unmittelbar hinter Ruth Diephoffs Garten entlang, der sich auch auf dieser Seite hinter Zaun und Hecke versteckte. Der Hund hatte im Gestrüpp einen Durchlass gefunden und zwängte sich mit eifrigem Hecheln am Draht entlang. Auf der Anhöhe herrschte ein kühler Wind. Sie blieb stehen und zog den Reißverschluss zu. Dabei fiel ihr hinter den Büschen ein verblasstes Blau auf. Eine Bretterwand? Vielleicht der Giebel des Gartenhauses, von dem Ruth gesprochen hatte? Im Näherkommen erkannte sie die Umrisse einer Hütte und gelangte nach einem kurzen Wegstück zu einem Tor, hinter dem ein Plattenweg zum Gartenhaus hinunterführte, das auf dieser Seite halb in den Hang gegraben war. Vom Tor aus waren nur die obere Kante der Rückwand zu erkennen, in der ebenerdig ein Fensterband verlief, und darüber das Ziegeldach mit faustgroßen Löchern. Bei einem Fenster fehlte die Scheibe.

Norma betrachtete den Hund hinter dem Drahtgitter, der wiederum sie aufmerksam musterte. Mit harmloser Miene, sofern ihr Hundeverstand sie nicht täuschte. Gemächlich trottete er heran und beschnupperte die Hand, die Norma gegen die Maschen drückte. Ein heftiges Rütteln an der Klinke brachte ihr die Erkenntnis, dass die Tür –  wie zu erwarten –  abgeschlossen und der Hund –  wie zu hoffen –  nicht zu einem Angriff zu bewegen war. Sie nahm den Bund Dietriche aus der Jackentasche. Der Hund betrachtete ihr Tun mit schief gelegtem Kopf; ein braunes Schlappohr halb über dem Auge hängend, das andere in der Luft baumelnd. Löwenmut sah anders aus.

»Du bist ein lieber Kerl, nicht wahr? Du machst bestimmt keinen Lärm.«

Das Schloss war frisch geölt und ließ sich nach wenigen Versuchen öffnen. Entschlossen drückte sie das Tor auf und schlüpfte durch den Spalt in den Garten hinein. Der Labrador hielt den Einbruch für ein Spiel und alberte um ihre Beine herum, als sie den Plattenweg hinunterging. In der Vorderfront des Häuschens befand sich, umrahmt von zwei kleinen Fenstern, eine schlichte braune Tür. Der Hund hob den Kopf und trabte voraus. Vor der Schwelle blieb er stehen, schaute sich zu Norma um, als erwarte er ihre Unterstützung, bevor er wild aufheulend am Holz kratzte.

Aus dem Innern der Hütte klang eine junge Stimme: »Halt die Klappe, Arlo!«

Die Tür wurde aufgerissen, und Norma stand einem Mädchen gegenüber. Schmal, dunkelhaarig und in einen übergroßen Norwegerpullover gehüllt, strafte sie den Hund mit Missachtung. Das Gesicht war verweint. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und fixierte Norma mit abweisender Miene.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Mein Name ist Tann. Du bist Inga, nicht wahr?«

»Sind Sie die neue Privatdetektivin? Woher weiß Ruth überhaupt, dass ich hier bin?«

»Deine Großmutter hat mich nicht geschickt. Ehrlich gesagt, sie hat keine Ahnung, dass ich mich hier oben umsehe. Schwänzt du den Unterricht?«

Inga stützte sich in den Türrahmen, als müsste sie die Hütte vor Norma beschützen. Die weiten Ärmel rutschten herunter und legten sehr magere Oberarme frei. »Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich arbeite.«

Eine Spur Stolz schwang in der dünnen Stimme mit.

»Hier?«, fragte Norma verblüfft.

»Unsinn. In der Agentur natürlich.«

»Bei deinem Vater also. Und heute hast du frei?«

Ein vernichtender Blick streifte Norma. »Was geht Sie das an?«

»Pure Neugierde. Eine Berufskrankheit. Entschuldigung, ich sollte wohl Sie sagen.«

Ein missmutiges Einlenken: »Schon gut. Noch bin ich nicht 18.«

»Wir können uns gern duzen. Ich heiße Norma. Lässt du mich rein?«

Das Mädchen zögerte, nahm endlich die Hände herab und trat beiseite. Arlo nutzte die Lücke und trottete voraus. Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum. Vor einem der Fenster stand ein Weinfass, das als Tisch diente. Daneben waren zwei Holzstühle aufgestellt, die einen neuen Anstrich vertragen hätten. Auf dem Fass lag ein Briefumschlag. Die linke Stirnwand war mit Regalen zugebaut, in denen lange Reihen verstaubter Weinflaschen lagerten. Davor stand ein brusthohes Rüttelpult. Die Öffnungen, die eigentlich Sektflaschen vorbehalten waren, blieben ungenutzt. Gegenüber befand sich ein Sofa mit altmodischen Rundungen, dessen Schäbigkeit nicht einmal das Zwielicht beschönigen konnte. Der Bezug war von Flecken übersät, und hier und da bohrte sich eine Sprungfeder unternehmungslustig ins Freie. Es gab ein quietschendes Geräusch, als Arlo auf das Sofa sprang und sich zwischen den Drähten wie eine Katze zusammenrollte.

Inga setzte sich neben das Fass und deutete wortlos auf den zweiten Stuhl.

Auch Norma nahm Platz. »Bist du oft hier?«

Inga streckte die Hand aus und zog den Brief zu sich heran. »Manchmal.«

»Und deine Großmutter?«

»Ich nenne sie Ruth. Sie will das so. Ruth kommt niemals hierher. Jedenfalls nicht mehr, seit der Großvater tot ist.« Sie schob den Brief zwischen den Fingern hin und her. »Der Großvater starb ein paar Monate nach meiner Geburt. Das Gartenhaus war sein Refugium, sagt Ruth.«

»Und jetzt ist es dein Reich.«

Das Mädchen sah zum Fenster hinüber. Das Wetter war umgeschlagen. Draußen heulte der Wind auf und blies Regentropfen gegen die Scheibe. »Ich bin hier nur Gast. In Wahrheit gehört die Hütte den Schlangen. Hier unter dem Holzboden verbringen sie den Winter. Und im Sommer legen sie dort ihre Eier ab. Manchmal, wenn es ganz still ist, kann man hören, wie sie dort unten durch das Laub kriechen.«

Norma hielt unwillkürlich nach Löchern in den Dielen Ausschau. In Ingas monotone Stimme kam Leben, als sie fragte, ob Norma schon einmal eine Äskulapnatter gesehen habe.

Als Norma verneinte, lächelte das Mädchen verständnisvoll. »Man muss ihre Verstecke kennen und braucht Glück und eine Menge Geduld. Ich habe schon viele Äskulapnattern beobachtet. Sie sind wunderschön.«

Norma hatte davon gehört, dass es in den Weinbergen des Rheingaus vereinzelte Exemplare dieser Schlangenart geben sollte, und stellte sich eine Art größere Blindschleiche vor. Ein wenig bunter vielleicht.

Diese Vermutung löste bei Inga heftiges Unverständnis aus. »Blindschleichen sind keine Schlangen, sondern Eidechsen ohne Beine. Das weiß man doch!«

»Meine Dummheit«, räumte Norma ein.

»Außerdem sind die Äskulapnattern viel größer als Blindschleichen.«

»Wie groß denn?«

Inga breitete die Arme aus. »Wenn sie ausgewachsen sind: Anderthalb bis an die zwei Meter.«

»Herrje!« Norma nahm sich vor, beim Gehen gut auf den Weg zu achten.

Inga lachte. »Keine Sorge, die Schlangen haben mehr Angst als du! Außerdem sind sie ungiftig und völlig harmlos.«

»Weshalb faszinieren dich die Schlangen?«

Inga überlegte. »Sie stammen aus einer anderen Zeit. Sie sind frei und unabhängig. Ganz anders als zum Beispiel ein Hund. Arlo würde keinen Tag ohne Menschen aushalten. Du scheinst keine Schlangen zu mögen. Oder doch?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber ich glaube, es ist unwichtig, ob mir die Schlangen gefallen oder nicht. Nicht entscheidend für die Schlangen, meine ich. Es kommt darauf an, sie zu achten wie jedes andere Lebewesen auch.«

Inga betrachtete sie mit erwachender Neugierde. »Das stimmt. Deshalb esse ich kein Fleisch.«

Norma lächelte. »Wie ich.«

»Ehrlich? Oder sagst du das nur so?«

»Ich war jünger als du jetzt, als ich diesen Entschluss fasste.«

Die Regenwolken verdunkelten die Hütte. Ingas Elfengesicht erschien mit einem Mal zart und verletzlich.

»Ruth will, dass du nach meiner Mutter suchst. Kannst du dir vorstellen, dass Marika am Leben ist?«

Norma erklärte geduldig, dass nach Lage der Akten und der vergangenen Zeit wenig Hoffnung bestünde. »Ich habe deiner Großmutter versprochen, es trotzdem zu versuchen.«

Inga legte die Hand auf den Umschlag. »Suchst du dabei auch nach anderen Leuten? Nach Bekannten von meiner Mutter, meine ich?«

Im Hintergrund fiepte der Hund im Schlaf.

Norma wartete, bis er still war. »Denkst du an eine bestimmte Person?«

»Bernhard hat den Namen erwähnt. Das war, als er neulich mit Ruth gestritten hat. Der Mann heißt Bieler. Kai Kristian Bieler.«

Dass sich Ingas farblose Wangen dunkel färbten, blieb Norma im Zwielicht nicht verborgen. Das Mädchen schob ihr den Umschlag zu. Der Brief war zerknittert vom mehrfachen Herausnehmen, Lesen und Zusammenfalten und übersät von Tränenflecken. Norma überflog die wenigen Zeilen. Das Schreiben war an Inga gerichtet. Ein Vaterschaftstest, Ergebnis negativ. Die DNA beider Personen schließe eine verwandtschaftliche Beziehung aus, hieß es lapidar.

Der herausfordernde Blick des Mädchens besaß nichts Kindliches mehr. »Ich habe es immer gewusst. So wie er mit mir umgegangen ist, all die Jahre. Bernhard Inken ist nicht mein Vater. Ich will meinen wirklichen Vater finden. Und das muss Kai Kristian Bieler sein!«

4

Die Sonne fiel mit verlockender Pracht durch die Jalousie und malte ein Streifenmuster auf die Schreibtischplatte. Martin Reber klimperte missmutig auf der Tastatur herum. Draußen erblühte der Frühling, und er hockte wie ein Gefangener im Büro und wartete auf die Nachricht eines Drehbuchautors, von dem er nichts hielt, anstatt mit dem Mountainbike im Rheingau unterwegs zu sein. Seine Überstunden zählte er seit Jahren nicht mehr. Zum Ausgleich nahm er sich die Freiheit, nach Lust und Laune für einen halben Tag zu verschwinden. Aber Bernhard lag an diesem Autor, und er umgarnte ihn wie eine Diva. Das angekündigte Exposé sollte von Martin umgehend und mit gebührendem Respekt begutachtet und beantwortet werden.

Martin rief ungeduldig das Postfach auf: Nur der Newsletter einer Börsenzeitschrift, auf den er jetzt keine Lust hatte. Stattdessen klickte er auf seinen persönlichen Ordner und öffnete das Tourenbuch, in dem er alle Routen in Stichworten festhielt, mit Fahrzeiten, zurückgelegten Strecken und Höhenmetern, und dazu das Wetter und mögliche Besonderheiten notierte. Auch über die geplanten Touren führte er genau Buch. Er gehörte nicht zu denen, die ins Blaue hinausradelten, und hielt sich ehrgeizig an die geplanten Strecken und veranschlagten Zeiten. Zurzeit war er meistens auf dem Rheinsteig unterwegs, seiner Lieblingsroute im Rheingau. Er ergänzte seine Berichte mit Aufnahmen der Digitalkamera: Immer wieder dieselben Motive, zu den unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten. Manchmal fotografierte er auch schlichte Dinge, die ihm auffielen; ein toter Vogel am Wegrand, eine seltsame Blüte zwischen den Sträuchern.

Als er das Album mit den neusten Bildern betrachtete, wurde die Tür aufgestoßen. Bernhard erschien mit einem Stapel Manuskripte unter dem Arm.

»Weißt du, wo Inga steckt? Das Sekretariat ist seit Stunden nicht besetzt.«

Martin wechselte mit einem Mausklick auf den Bildschirmschoner. »Sie hat sich heute Morgen bei mir krank gemeldet.«

Bernhard trat einen Schritt vor. »Wieso ruft sie nicht mich an? Als ihren Chef und Vater?«

»Was hättest du ihr gesagt?«

»Dass sie ihre Zipperlein gefälligst hier auskurieren soll. Falls sie überhaupt krank ist. Sie schleicht doch wieder durch den Wald. Auf der Suche nach Kriechtieren!«

»Wenn das deine Antwort ist, musst du dich nicht wundern, warum sie nicht dich anruft. Sondern mich.«

Bernhard winkte ab. »Spiel du nur weiter den lieben Onkel Martin! Ist das Exposé angekommen?«

Martin öffnete das Postfach. »Immer noch nichts! Eigentlich sollte ich dankbar sein. Mir wird übel von dem Gesülze, das der Kerl zusammenklaubt.«

Bernhard lachte. »Oh, wie sie leidet, die zarte Künstlerseele!«

Martin schwang auf dem Drehstuhl herum. So wie Bernhard vor ihm stand, breitbeinig, den massigen Oberkörper vorgebeugt, und mit überheblicher Gönnerhaftigkeit auf ihn herabschaute: Martin hätte ihn am liebsten mitten ins Gesicht geschlagen. Ein Verlangen, das ihn in letzter Zeit öfter überkam. Er ballte die Faust, blieb aber sitzen. »Hauptsache Quote! Zählt gar nicht mehr, wofür wir einmal eingetreten sind?«

Bernhard stöhnte affektiert. »Nicht doch, Martin! Erspare du mir dein Gesülze. Bert van der Val ist der angesagte Autor zurzeit. Seine Geschichten kommen an. Die Redakteure sind gierig auf Berts Bücher. Auch auf dieses Buch, jede Wette. Und da will ich wieder abkassieren!«

Der letzte Film, der nach einem Drehbuch aus van der Vals Feder entstanden war, hatte die Kritiker gleichermaßen entsetzt, wie er das Fernsehvolk entzückte. Bernhard lag viel daran, einen solchen Erfolg zu wiederholen.

Martin fand so viel Geldgier abstoßend. »Immer geht es nur um dich!«

Bernhard stellte sein Lächeln ein. »Reiß dich zusammen, Martin. Vergiss nicht, wer dir jeden Monat dein Konto füllt. Für den Job, den du hier machst, könnte ich jederzeit eine diplomierte Hochschulabsolventin kriegen. Die zudem einen hübscheren Anblick bietet als du.«

Martins Faust begann zu kribbeln. »Willst du mir kündigen?«

»Heute noch, wenn du so weitermachst! Das ist nicht der erste Warnschuss. Denk daran!«

Bernhard drehte auf dem Absatz um und schlug die Tür hinter sich zu. Martin blieb verwirrt zurück. Es war nicht seine Art, Bernhard zu provozieren, und trotzdem geschah es ihm in letzter Zeit immer wieder. Das empfahl sich nicht für den Dinosaurier dieser Agentur, vor dessen Tür die junge und ehrgeizige Konkurrenz mit den Hufen scharrte. Obwohl bald 50, würde er kaum auf der Straße landen. Dazu besaß er zu gute Kontakte in der Branche. Aber er hatte sich in Bernhards Firma eine ökologische Nische erobert, in der es sich gemütlich überleben ließ, und war wenig scharf auf den Kampf in der Arena der Eitelkeiten.