11,99 €
Von der Kunst des Afternoon Tea über die Pub-Kultur bis zur Warteschlangen-Etikette: Tauchen Sie mit uns in den britischen Alltag ein. Der Autor beleuchtet altehrwürdige und bizarre Traditionen, den berühmten trockenen Humor und die tief verwurzelte britische Höflichkeit. »Weird England« stellt 55 kontroverse Fragen, die spannende Antworten und erstaunliche Einsichten in die britische Kultur liefern.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2025
Johann-Günther König
55 auch unverschämte Fragenan das Land der Royalsund Pubs
Für Aviva, Zeev und Liesel
Impressum
© Bruckmann Verlag GmbH
Infanteriestraße 11a
80797 München
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-7343-3252-4
eISBN: 978-3-7343-3348-4
Autor: Johann-Günther König
Produktmanagement: Susanne Kaufmann
Lektorat und Korrektorat: Charlotte von Schelling
Umschlaggestaltung: Mathias Frisch
Satz: Röser MEDIA, Karlsruhe
Druck und Verarbeitung: Printed in Poland by CGS Printing
Sind Sie mit dem Titel zufrieden? Dann würden wir uns über Ihre Weiterempfehlung freuen.
Erzählen Sie es im Freundeskreis, berichten Sie Ihrem Buchhändler oder bewerten Sie bei Onlinekauf. Und wenn Sie Kritik, Korrekturen, Aktualisierungen haben, freuen wir uns über Ihre Nachricht an [email protected].
Unser komplettes Programm finden Sie unter
Alle Angaben dieses Werkes wurden vom Autor sorgfältig recherchiert und auf den neuesten Stand gebracht sowie vom Verlag geprüft. Für die Richtigkeit der Angaben kann jedoch keine Haftung erfolgen. Sollte dieses Werk Links auf Webseiten Dritter enthalten, so machen wir uns diese Inhalte nicht zu eigen und übernehmen für die Inhalte keine Haftung.
Umschlagabbildung: © shutterstock/Tomas Marek
How do you do?
1Ist England der Cockwomble von Großbritannien?
2Was hatte es mit New Labour auf sich und ist es seit 2024 wieder da?
3Wie kam es zum Full English Brexit?
4Welche Hürden stehen einer Reise ins entbrüsselte England im Wege?
5Wird ausgerechnet ein Fast Food als inoffizielles Nationalgericht gerühmt?
6Haben die Bären in East Sussex sehr geringen Verstand?
7Warum reden die Leute so endlos übers Wetter?
8Hatten die Angelsachsen den Verstand verloren, als sie den Kontinent gen England verließen?
9War Löwenherz ein edler oder irrsinniger Ritter?
10Schon mal von einem König ohne Land und der Magna Carta gehört?
11Hatte das so verklärte merry England etwa einen Webfehler?
12War Robin Hood wirklich ein guter Typ?
13Welche englische Kolonie erhielt den Namen einer eitlen Jungfrau?
14East India Company abwarten und Tee trinken?
15Waren die frühen Parlamentarier ganz ohne Macken?
16Wieso heißt es nicht Full British Breakfast?
17Welche englischen US-Kolonien zogen 1776 die Notbremse?
18Welches Getränk verbirgt sich hinter der Redewendung: Just wait and see?
19Wo entstand und verschwand zuerst die englische Industrie?
20Was trieb Friedrich Engels in Cottonopolis zur Sozialforschung?
21Fand Karl Marx den Linksverkehr in England idiotisch?
22Wie viele Schrauben sind bei der ersten Eisenbahn der Welt locker?
23Welcher Erfinder des Pkws wird sonderbarerweise ignoriert?
24War das viktorianische Zeitalter eigentlich außergewöhnlich?
25Wie reagierten die Iren auf das wahnsinnige Regime der Engländer?
26Was hat die Erbmonarchie noch mit der Kabinettsregierung zu tun?
27England hat keine eigene Regierung. Wegen schottischen Geizes?
28Und warum steht die Nation England nicht einmal auf dem Pass?
29Welche Grafschaften sind historisch und sich selbst nicht mehr mächtig?
30An welche Veränderungen erinnert der Engel des Nordens?
31Wer entlarvt sich beim Besuch eines Pubs als anstößig?
32Welche Band brachte die Jugend in den Swinging Sixties zum Schreien?
33Warum macht bei Begegnungen der Ton die Höflichkeitsform aus?
34Wieso mündet My home is my castle in verrückten Wucherpreisen?
35Unser England ist ein Garten, heißt es. Hat es einen Vogel?
36Welches Castle hat wegen einer erfolgreichen englischen TV-Serie keinen Dachschaden?
37Ist Englishness supercalifragilisticexpialidocious?
38Hat London einen kleinen Mann im Ohr?
39Welcher Film machte einen Teil Londons shocking expensive?
40Geht es in der City of London nicht irrsinnig finanzkriselnd zu?
41Ist die Last Night of the Proms reiner Wahnsinn?
42Und wie wird besonders zur Weihnachtszeit ein geiziger Mensch genannt?
43Hat Charles III. mehr Tassen im Schrank als Charles I. und II.?
44Wie außergewöhnlich war die Engländerin Lady Di(ana)?
45Welche berühmt gewordenen Engländer waren nicht blaublütig?
46Wie heißt der sonderbarste Snack der englischen Küche?
47Wer ist eigentlich der größte Immobilien- und Landbesitzer?
48NHS – ein Kürzel zum Verrückt werden?
49Verkommt England zu einem gespenstischen Sozialstaat?
50Wann ist etwas wirklich nicht feine englische Art?
51Fahren an Platform 9 ¾ im Bahnhof King’s Cross Express-Züge ab?
52Gruselig miserable Küche oder erlesene cuisine anglaise?
53Hat der Trainer der Three Lions seine fünf Sinne patriotisch beisammen?
54Müssen Deutsche einen Rappel haben, wenn sie in England sein wollen?
55Macht es noch Sinn, nicht ausschließlich Englisch zu sprechen?
Literaturhinweise
Wie sollte eine in England angekommene Person auf die übliche Anrede »How do you do?« reagieren? Im Internet lautet der Ratschlag: »Fine, thanks«. Daran ist nichts auszusetzen, jedenfalls empfiehlt sich nicht gerade die Antwort: »You’re weird!«
Das im Englischen wie »wiehrd« klingende Wort steht im maßgeblichen Oxford English Dictionary für all diese Adjektive: seltsam, merkwürdig, eigenartig, gruselig, gespenstisch, befremdlich, sonderbar, komisch, überirdisch, außergewöhnlich, absonderlich, verschroben, kauzig, versaut, verblüffend, queer. Die Frage, ob die in England lebenden Leute a little weird sind, lasse ich vorsichtshalber offen.
Im Deutschen wird »weird« seit einiger Zeit zunehmend als Anglizismus verwendet. Im Internet stehen oft die Bedeutungen »seltsam, sonderbar oder verrückt«. In der Tat werden in politischen Artikeln Sachverhalte als »streckenweise ein bisschen weird« bezeichnet (Die Zeit) und finden sich in der schönen Literatur Sätze wie: »Einmal sagte sie: Because you‘re weird and annoying.« (Claudia Schumacher). Anders als in England aber wird der Begriff hierzulande in der Regel nur negativ besetzt.
Weird England – in den folgenden 55 Kapiteln versuche ich, eigenartige und auch sonderbare nationale Geschichtsereignisse, Hervorbringungen, Alltagserscheinungen und anderes mehr auf den Punkt zu bekommen. Ich hoffe, dabei nicht als Ultracrepidarian wahrgenommen zu werden, denn ein solcher hätte hier seine von jeglicher Sachkenntnis ungetrübte Meinung zu jedwedem Thema untergebracht… Allerdings kann ich wie die Engländerinnen und Engländer nur ein Sorry bekunden, wenn Leserinnen und Leser etwas für sie Wichtiges vermissen. Dieses Buch ist ja nicht unendlich lang.
In William Shakespeares König Richard II. preist im zweiten Aufzug John of Gaunt »dies Reich, dies England« als das »zweite Eden, halbe Paradies« zum »weniger beglückter Länder Neid«. Aber trifft das heute noch zu? Hinter den gepriesenen vielfältigen Landschaften Englands mit ihren sechs Millionen km2 Parks und Grünanlagen, den fast eine halbe Million denkmalgeschützten Gebäuden und 12.000 mittelalterlichen Kirchen warten so verblüffende Realitäten wie etwa blechern ausufernde Wohnwagenparks. Ach ja, generell gilt es, das im Lande ausgeprägte Klassenbewusstsein nicht zu unterschätzen. In zahlreichen Fernsehserien scheint es zum Teil wenigstens auf: zum Beispiel in The Crown, Downton Abbey, Inspector Barnaby, Der junge Inspektor Morse, Stolz und Vorurteil und in den Filmromanzen von Rosamunde Pilcher.
Der bedeutende englische Autor Julian Barnes beschreibt in seinem 1998 erschienenen Roman England, England das postmoderne Projekt eines Multimillionärs, der die Nation in Form eines Freizeitparks auf der Isle of Wight nachbilden lässt. All das, was im Ausland als typisch englisch gilt, ist dort nachgebaut. Aufgrund des großen Erfolgs erklärt sich die Touristenhochburg England, England schließlich zum unabhängigen Staat und wird Mitglied der Europäischen Union. Das eigentliche »Old England« aber verlässt die EU.
In der Folgezeit entvölkert sich die traditionsreiche Nation und verwandelt sich in ein entindustrialisiertes Agrarland. Die Regierung verbietet »jeglichen Tourismus bis auf Reisegruppen von maximal zwei Personen« und führt »ein höchst kompliziertes Visasystem ein«, schreibt Julian Barnes, der Ende der 1990er-Jahre nicht wissen konnte, dass 2016 von der englischen Mehrheit im Vereinigten Königreich tatsächlich der Austritt aus der EU beschlossen werden würde.
Auch nach dem ins Brexit-Votum und die verstärkte Isolation führenden Aufbegehren des englischen Nationalismus sind touristisch Reisende im Lande William Shakespeares noch geachtet, wenn auch häufig aus wirtschaftlichen Gründen. Die Deutschen unter ihnen waren lange ein beliebtes Objekt englsicher Witze und Satire, häufig in Verbindung mit den Nazis und dem Zweiten Weltkrieg. Die bis Ende 1941 anhaltenden zerstörerischen deutschen Luftangriffe auf London, Birmingham, Coventry, Manchester und Sheffield sind unvergessen.
Natürlich stelle ich mir die Frage, wie ich eine Person nenne, die divers ist. Angenommen, sie singt professionell. Im Englischen könnte ich nun die Geschlechtlichkeit durch das Wort they in der Einzahl aufheben: »A brillant singer knows how they can entertain the audience.« Denn das »they« schließt alle Geschlechteridentitäten ein, indem es sie nicht benennt. Da mir eine solche diversitätsbewusste Lösung in der deutschen Sprache nicht geläufig ist, kann ich nur zusichern, dass dieser Text garantiert niemanden ausgrenzen möchte.
ENGLISCHE ART
Cockwomble gehört zu den neuerdings gebrauchten Wörtern im anglophonen Bereich; es dient zur Bezeichnung eines (meist männlichen) Wesens mit überzogener Selbstwahrnehmung. England liegt auf einer Insel mit Schottland und Wales. Dieses Eiland wird kurz Britain (Britannien) gerufen. Den größten Teil des südlichen Bereichs bildet England. Es grenzt im Norden an Schottland, im Westen an Wales und die Irische See, im Osten an die Nordsee, im Süden an den Ärmelkanal und im Südwesten an den Atlantik. Die Geographie im zentralen und südlichen England ist geprägt durch Hügel und Ebenen, im Norden und Südwesten gibt es auch Hochland.
Einen als Tausender zu bezeichnenden Berg sucht mensch vergebens; der höchste ist der Scafell Pike mit 978 Metern. Der Fluss Thames (Themse) ist berühmt durch das Boat Race, der alljährlich ausgetragenen Ruderregatta zwischen den beiden englischen Universitäten Cambridge und Oxford.
Zur Unterscheidung von Brittany (Kleinbritannien) – genauer gesagt: der Bretagne in Frankreich – gibt es für Britain die durchaus pompös klingende Bezeichnung Great Britain. Großbritannien umfasst also auch Schottland und Wales. Die Einwohnerzahlen der jeweiligen Länder nähern sich diesen Größenordnungen: England fast 58.000.000, Schottland 6.000.000 und Wales 3.500.000.
Großbritannien gehört zu dem im Nordwesten Europas gelegenen Archipel British Isles (Britische Inseln), und zwar zusammen mit Irland, Shetland, Orkney, den Scilly-Inseln, den Hebriden, Anglesey, der Isle of Wight und der Isle of Man. Letztere liegt in der Irischen See und ist direkt der britischen Krone unterstellt – GOD SAVE THE KING – und stellt als Steueroase und Sitz von Offshore-Unternehmen ein gesondertes Rechtssubjekt dar.
Bemerkenswerter Weise gehört die Isle of Man weder zum vielbeschworenen United Kingdom (Vereinigtes Königreich), noch zu den 14 British Overseas Territories (Britischen Überseegebiete) und war nie Mitglied der Europäischen Union. Das gilt auch für die vor der französischen Küste im Ärmelkanal liegenden Channel Islands, die als selbstverwaltete Kronbesitzungen auch gesonderte Rechtssubjekte sind, darunter die touristisch beliebten Kanalinseln Jersey und Guernsey.
GOOD TO KNOW
Zu den British Overseas Territories gehören: Anguilla, Bermuda, Gebiete in der Antarktis und im Indischen Ozean, die Falklandinseln, die britischen Jungferninseln, die Kaimaninseln, die Turks- und Caicosinseln, Gibraltar, Montserrat, Pitcairn, St. Helena samt abhängiger Gebiete (Ascension, Tristan da Cunha), Südgeorgien und die südlichen Sandwichinseln, die unter britischer Staatshoheit stehenden Militärstützpunkte bei Akrotiri und Dhekelia. Diese den Commonwealth bildenden Territorien sind nicht Teil des Vereinigten Königreichs, sondern der britischen Krone unterstellt. Sie verfügen über eine eigene Legislative, Exekutive, Judikative und ein eigenes Haushalts- und Steuersystem. Auch die Channel Islands Alderney, Guernsey, Jersey und Sark sowie die Isle of Man sind Crown Dependencies. Sie sind weder Teil des Vereinigten Königreichs noch gehören sie zu dessen Überseeterritorien.
Was es mit dem United Kingdom auf sich hat, wird deutlich, wenn ich den staatstragenden Begriff vollständig nenne: United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland (Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland) und besteht aus den vier countries (Ländern): England, Schottland, Wales und Nordirland. Allerdings prangt erst seit Ende September 2021 das entsprechende Kürzel UK als Nationalitätszeichen auf den in England, Schottland, Wales und Nordirland zugelassenen Fahrzeugen. Zwar erhob sich damals in Großbritannien einiger Unmut über die Änderung der nationalen Kennung, denn mit dem bis dahin aus Great Britain hergeleiteten GB identifizierten sich viele Engländer, Schotten und Waliser. Die ein Auto besitzenden Nordiren hingegen fühlen sich durch das UK-Zeichen endlich wirklich ernstgenommen – schließlich lag und liegt die Provinz nie auf britannischem Boden. Übrigens ist es unstatthaft, die drei Bezeichnungen England, Großbritannien und United Kingdom – wie so häufig hierzulande – als Synonyme füreinander einzusetzen.
ENGLISCHE ART
Im ausgehenden 20. Jahrhundert wohnte ich einige Meilen entfernt vom Seebad Brighton am Ärmelkanal. Dort erlebte erlebte ich 1997 die Jubelfeiern, als New Labour unter Tony Blair einen großen Wahlsieg über die Tories errungen hatte. Bunte Gruppen des Dienstleistungsprekariats, die working poor – darunter Kellner und Kassiererinnen –, fuhren in offenen Doppeldeckerbussen durch die Stadt und feierten das erhoffte Ende der ab 1979 unter Margaret Thatcher praktizierten neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Das Vereinigte Königreich konnte zwar dank Nordseeöl und Finanzindustrie steigende Staatseinnahmen vorweisen, aber die extreme Kluft zwischen Arm und Reich, das heruntergekommene Gesundheitssystem, das klassengesellschaftlich organisierte Bildungssystem, die dramatisch steigende Altersarmut und andere drastische Ungerechtigkeiten mehr sorgten damals für immer mehr Unmut in der Bevölkerung.
2010 war nach den Parlamentswahlen New Labour mitsamt dem viel beschworenen »Dritten Weg« Geschichte. Für das Scheitern der sozialdemokratischen Regierung gab es diverse Gründe. So gelang die den Wählern versprochene umfassende Sozialreform nicht. Die Zahl der wirtschaftlich ausgegrenzten Menschen und die der Wohlfahrtsempfänger lag sogar höher als 1997. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte trotz Mindestlohn und Steuererleichterungen für die working poor noch weiter auseinander. Auch hatte sich Gordon Browns Verheißung, die kapitalistischen Zyklen von boom and bust seien unter der Wirtschafts- und Finanzpolitik von New Labour ein für allemal ausgerottet, als fatale (Selbst-)Täuschung erwiesen.
Die im Mai 2010 gebildete britische Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten unter dem Premier David Cameron wollte daraufhin das Königreich in eine Big Society verwandeln. Dieser vermeintliche »Plan von atemberaubender Reichweite« gipfelte im Brexit und einer zunehmend chaotischeren Regierungspolitik unter den Premiers Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak. Nach knapp 13 Jahren Tory-Regierung und kurz nach dem Ende der Pandemie führte der Unmut über Sparmaßnahmen, die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten zu einem der größten Streiks überhaupt. Anfang 2023 demonstrierten in England mehrere Hundertausend Lokführer, Sicherheitskräfte, Lehrkräfte und Beamte für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.
Da die regierenden Tories in der Folgezeit unter immer enormeren Druck gerieten, weil nicht zuletzt die Engländer bei jedem Einkauf und jeder Miet- und Energiekostenzahlung die Krise der hohen Lebenshaltungskosten zu spüren bekamen, verkündete Premierminister Rishi Sunak im Mai 2024, die für die zweite Jahreshälfte erwartete Parlamentswahl auf den 4. Juli vorzuziehen. Zwar hatten die Tories bei den Kommunalwahlen Anfang Mai insbesondere auch in Nordengland eine schwere Niederlage erlitten. Aber da Sunak zugleich seine erfüllten Wahlversprechen ins Feld führte – die Inflation war auf rund zwei Prozent gesunken und das Abschieben von Flüchtlingen nach Ruanda parlamentarisch durchgesetzt – hoffte er wohl auf das im Wahlkampf gelingende Überholen der in Umfragen als haushoher Favorit geltenden Labour Party unter Parteichef Keir Starmer.
GOOD TO KNOW
Am 27. Februar 1900 wurde die britische Labour Party in der Methodist Memorial Hall im Zentrum Londons gegründet. 1924 stellte sie mit Ramsay MacDonald den ersten sozialdemokratischen Premier; seine Regierung scheiterte bereits nach zehn Monaten. Nachhaltig wirksam agierte die Partei nach dem großen Wahlsieg 1945. Die Regierung von Clement Attlee bescherte den Briten in den folgenden Jahren einen modernen Sozialstaat, sie etablierte das (für alle unentgeltliche) nationale Gesundheitssystem und baute das Rentensystem aus. In den 1960er-Jahren unter Harold Wilson moderierte Labour das friedliche Ende des Britischen Empire, begründete die Open University, liberalisierte die Abtreibungsgesetze, nahm den Kampf für gleichen Lohn auf, schaffte die Todesstrafe ab. Die großen sozialen Gesetzgebungstaten gerieten im Laufe der von Kohle- und Ölkrisen geprägten 70er-Jahre ins Stocken. Mit Lady Thatchers Wahlsieg 1979 begann dann eine lange Phase neoliberaler Politik.
Bei der Parlamentswahl am 4. Juli 2024 ergab sich eine massive Machtverschiebung im Vereinten Königreich, war die 14 Jahre währende politische Dominanz der Tories zu Ende, siegten die Sozialdemokraten mit noch größerem Abstand als 1997. Nun gehört die von Labour gewonnene Mehrheit zwar zu den größten, die eine einzelne Partei auf der Insel je schaffte – kein Wunder, schließlich warb die Partei mit Wohlstand und Wandel, mit dem Schließen von Steuerschlupflöchern, der Einstellung von 6.500 Lehrkräften, dem Senken des Wahlalters auf 16 Jahre und dem Stop der Abschiebung von irregulär gekommenen Migranten nach Ruanda. Aber anders als New Labour unter Tony Blair wird – ich sage mal – Pragmatic Labour unter dem contraunionseuropäischen Keir Starmer eine politische oder wirtschaftliche Wiedervereinigung mit der EU keinesfalls anstreben.
Starmer schließt eine Rücknahme des Brexits ausdrücklich aus, und der 2019 vorgetragene Wunsch des wegen des völkerrechtswidrigen Irak-Kriegs nicht sonderlich beliebten Ex-Premiers Blair, die Briten sollten noch einmal über den Austritt aus der EU abstimmen, ist unerfüllt und Geschichte, ebenso wie New Labour.
ENGLISCHE ART
Am 22. Januar 1972 ging für den konservativen Premierminister Edward Heath (1916–2005) ein großer Wunsch in Erfüllung: In Brüssel konnte er endlich den Vertrag über den Beitritt des Königreichs zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, kurz EWG, der Vorläuferin der heutigen EU, unterzeichnen. Als nach den Parlamentswahlen im Herbst 1974 sein Vorgänger, der Sozialdemokrat Harold Wilson (1916–1995), zum Premier ausgerufen wurde, ging es zugleich auch um die EWG, denn große Teile der Labour Party waren gegen sie. Eben deshalb ließ Wilson im Juni 1975 erneut abstimmen. Immerhin zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler des Vereinigten Königreichs waren für die Beibehaltung der Mitgliedschaft.
Am 23. Juni 2016 hingegen sprachen sich die Wahlberechtigten knapp mehrheitlich für den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs aus. Und warum? Die Tories hatten sich ab den 1980er-Jahren als in eine zunehmend den Nutzen der Europäischen Gemeinschaft in Frage stellende Partei entwickelt – erinnert sei an eine Rede Margaret Thatchers, in der sie vor einem »europäischen Superstaat« warnte. Die EU-Skeptiker wurden spätestens seit 2000 zusätzlich durch die den Austritt fordernde UKIP, die United Kingdom Independence Party, befeuert. Der Tory-Premier David Cameron ließ sich schließlich auf die Forderung nach einer Volksabstimmung ein.