Pünktlich wie die deutsche Bahn? - Johann-Günther König - E-Book

Pünktlich wie die deutsche Bahn? E-Book

Johann-Günther König

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Beschreibung

Ab 1835 entwickelte sich die Eisenbahn in Deutschland zu einem unverzichtbaren Verkehrsmittel. Sie blieb es bis zu Beginn der 1960er Jahre, als die Massenmotorisierung die »gute alte Zeit« der Eisenbahn beendete. Ihr Anteil im Personenverkehr ist seitdem auf nicht einmal ein Zehntel geschrumpft. Inzwischen konkurriert sie zudem mehr schlecht als recht mit Billigfliegern und Fernbussen und kann mangels politischer Weichenstellungen ihre System- und Umweltvorteile nicht ausspielen. Johann-Günther König erzählt die Geschichte der zunehmend krisenhaften Beziehung von Mensch, Politik und Eisenbahn. Dabei ist Kritik an der Bahn nicht erst ein heutiges Phänomen. Bereits 1836 hieß es etwa: »Der Tritt zum Wagen ist zu hoch, um auf und ab zu gehen.« Gegenwärtig sind es nicht nur Verspätungen, Zugausfälle und Betriebsstörungen aller Art, die den den Ruf des Marktführers Deutsche Bahn schädigen. König zeigt die Probleme und Möglichkeiten des immer komplexeren Eisenbahngeschehens auf und fragt, wie und inwieweit überhaupt noch die Weichen für einen Neuanfang gestellt werden können.

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Johann-Günther König

Pünktlich wie die deutsche Bahn?

Eine kulturgeschichtliche Reise

bis in die Gegenwart

Für die Viel-Bahnfahrer Ulrike, Heinz und Thomas Hengst.

Ich danke Clemens Wlokas für die konstruktive Begleitung des Manuskripts.

© 2018 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Stefan Hilden · München · www.hildendesign.de

Bildmotiv: Cover: Lithografie F. Revazzi / © Agile Rabbit Editions

Rückseite: Shutterstock.com / Zastolskiy Victor, Bild_ID:235428322

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86674-712-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Es rollen die Räder

1. Ihr Reiseplan

2. Ihre nächste Reisemöglichkeit

3. Verzögerte Abfahrt ins Eisenbahnzeitalter

4. Gute alte Zeit?

5. Alles Aussteigen

6. Anschluss an Modernität und Fortschritt

7. Reisen in stets überfüllten Zügen

8. Verspätete Staatsbahn verpasst 21. Jahrhundert

9. Staatsunternehmen im Wettbewerb

10. Bahnhof verstehen

11. Kursbuch ade

12. Pünktlich wie die Eisenbahn

13. Voraussichtliche Ankunftszeit

14. Klimafreundlich auf dem Nebengleis

15. Betriebsstörung bei der Verkehrswende

16. Höchste Eisenbahn für die deutsche Bahn

Anmerkungen / Nachweise

Literaturhinweise

Der Autor

Es rollen die Räder

Der große Dichter Hans Christian Andersen (1805–1875) fuhr am 10. November 1840 zum ersten Mal in seinem Leben mit der Eisenbahn. In deutschen Landen, um genau zu sein, wo sie anders als in seiner Heimat Dänemark bereits in Fahrt gekommen war. Seine durchaus märchenhaften Empfindungen bei der Reise mit dem »Dampfwagen« schilderte Hans Christian Andersen wenig später in einer kleinen Erzählung, die mit der Zeile anhebt: »Da manche meiner Leser keine Eisenbahn gesehen haben, will ich zuerst versuchen, diesen einen Begriff von einer solchen zu machen.«

Da ausweislich amtlicher Statistiken eine große Zahl der Bundesbürgerinnen und -bürger nicht mit der Eisenbahn in Berührung kommt, scheint mir Andersens Versuch, »einen Begriff von einer solchen zu machen«, alles andere als obsolet. Wohlan: »Wir wollen uns einen gewöhnlichen Landweg vorstellen, er laufe gerade, er mache eine Biegung, gleichviel, aber eben muß er sein, eben wie eine Stubendiele, daher sprengen wir jeden Berg, der sich in den Weg stellt, bauen auf starken Bogen eine Brücke über Sümpfe und tiefe Thäler, und wenn sich dann der ebne Weg vor uns erstreckt, legen wir da, wo die Räderspur gehen wird, Eisenschienen, welche die Wagenräder erkennen können. Die Dampfmaschine wird vorgespannt mit ihrem Meister darauf, der sie zu lenken und aufzuhalten versteht. Wagen kettet sich an Wagen mit Mensch oder Vieh, und fort fährt man. Auf jedem Punkt des Weges weiß man Stunde und Minute, wann die Wagenreihe eintreffen wird, man hört meilenweit die Signalpfeife, wenn der Zug in Bewegung ist, und ringsumher wo Nebenwege für gewöhnlich Fahrende und Gehende die Eisenbahn durchschneiden, läßt die aufgestellte Wache den Schlagbaum vor ihnen nieder, und die guten Leute müßen warten bis wir passirt sind. […] Seht, das ist eine Eisenbahn!«1

1. Ihr Reiseplan

Eingestiegen, abgefahren. Pünktlich angekommen? Nein. Der ICE Berlin–München verspätete sich am 8. Dezember 2017 heftig, und die Anschlusszüge in der bayerischen Metropole waren längst weg. Nichts Besonderes?

Am 8. Dezember 2017 rauschten zu der um mehrere Jahre verspäteten Eröffnung von Deutschlands neuer Schnellfahrstrecke zwei Sonderzüge mit Ehrengästen und Journalisten über die Nord-Süd-Magistrale. Sie liefen bei der von der Deutschen Bahn als Rekordfahrt beworbenen Premierentour pünktlich im Berliner Hauptbahnhof ein und fuhren nach dem prächtigen Festakt auch pünktlich wieder nach München ab. Auf der Rückfahrt nach Bayern kam einer der beiden Sonderzüge jedoch mehrmals nach Zwangsbremsungen auf der mit 29 Tunneln und 22 Brücken gespickten Strecke zum Stehen. »Störung in der Zugbeeinflussungsanlage« hieß es zunächst, dann »in Kürze gleich weiter« und schließlich »es gibt eine wiederkehrende Fahrzeugstörung«. Aus der geplanten Ankunft in München um 23.15 Uhr wurde nichts. Als der ICE gegen 0.30 Uhr nur noch im Schneckentempo »auf Sicht« vorankam und die Zugbegleiter mit der Ausgabe von Taxigutscheinen im Wert von zigtausend Euro begannen, schwante so einigen Fahrgästen aus Oberbayern, dass sie keinen Anschlusszug mehr erreichen würden.

In der Tat endete die glanzvoll begonnene »Rekordfahrt« trostlos um 1.22 Uhr im fast menschenleeren Münchener Hauptbahnhof. Die Verspätung betrug zwei Stunden und sieben Minuten; der Zug war ebenso lange unterwegs gewesen wie vor der Eröffnung der zehn Milliarden Euro teuren Schnellfahrstrecke des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit (inzwischen fährt er mehr oder weniger plangemäß). Für Spott brauchte die Deutsche Bahn AG nicht zu sorgen. »Verspätet – wie üblich«, lautete das ernüchternde Resümee. »Warum soll es Ehrengästen besser gehen als Normalfahrern?« das hämische.2

Warten, warten, warten – wer Bahn sagt, muss hierzulande leider allzu häufig auch Verspätung sagen. Fahrgäste sollten beim Bahnfahren jedenfalls zwei Tugenden abrufen: Geduld und Humor. Und schon kommen mir Reisen im und um das Zimmer herum des Konstanzer Literaturprofessors Bernd Stiegler in den Sinn, sprich das »Reisen ohne sich vom Fleck zu bewegen und dabei doch vieles in Bewegung zu setzen«.3 Dafür benötigt unsereins ja keine Auskünfte über Abfahrts- und Ankunftszeiten, muss keinen Anschlusszug verpassen oder gar Busersatzverkehr in Kauf nehmen und sich schon gar nicht im waltenden Tarifdschungel verheddern oder an einem Ticketautomaten verzweifeln. Durchsagen wie »Reisende, die sportlich unterwegs sind und nicht zu viel Gepäck haben, sollten den Anschlusszug noch erreichen«, bleiben einem bei Lehnsesselreisen in den eigenen vier Wänden auch erspart. Wobei von dienstlich festgelegten Phrasen abweichend formulierte Durchsagen manchmal etwas Tröstliches haben: »Für alle neu zugestiegenen Fahrgäste ohne Platzreservierung: Willkommen auf unserer Stehparty!« Oder: »Denken Sie an Pinguine! Dann ist die kaputte Klimaanlage nicht so schlimm.« Kurz: »Wir bitten Sie, den Zirkus zu entschuldigen, den wir gerade mit Ihnen veranstaltet haben.«4

Im Intercity-Express (ICE), Intercity (IC) und Eurocity (EC) wird bei der Bereitstellung das Faltblatt Ihr Reiseplan ausgelegt.5 Es enthält übersichtliche Informationen zum Zuglauf (Haltebahnhöfe mit Ankunfts- und Abfahrtszeiten), über Serviceleistungen sowie Anschlussverbindungen. Den QR-Code nicht zu vergessen, der via Smartphone »aktuelle Informationen zur Fahrt«, im Zweifelsfall zu außerplanmäßigen Halts gibt. Fatalerweise erweist sich der geduldig papierene Fahrplanauszug der Deutschen Bahn jeden Tag aufs Neue für so einige Fahrgäste als irreführend. So kann schon die erste Eintragung – z.B. Köln Hbf ab 6.44 – in der Praxis durch die Mitteilung des Zugchefs ad absurdum geführt werden: »Aufgrund einer Stellwerksstörung verlassen wir den Bahnhof mit circa dreißig Minuten Verspätung.« Weitere Konfusionen durchaus inbegriffen: »Der Zug fährt in umgekehrter Wagenreihung ohne die Wagen 18, 21 und 25. Sitzplatzreservierungen können nicht angezeigt werden.« Ob die unter der Rubrik »Service im Zug« gelisteten Leistungen tatsächlich gewährt werden – wer weiß. Die Durchsage »Aufgrund einer elektrischen Störung kann das Bordrestaurant leider keine warmen Speisen zubereiten« ist durchaus kein Fahrgastlatein. Die im Reiseplan bei allen angefahrenen Bahnhöfen angegebenen minutengenauen Abfahrtszeiten von Anschlusszügen in allen Ehren; bei Verspätungen können sie nur allzu oft »leider nicht warten«. Ist das eine Übertreibung?6

Verspätet war, ist und droht für die Zukunft so einiges bei der Eisenbahn zu sein. So kam sie in deutschen Landen erst Ende 1835 und damit fünf Jahre später nachhaltig in Fahrt als in Großbritannien, wurde die viel rentablere elektrische Traktion sehr viel später als möglich zum Standard, sind dringend notwendige infrastrukturelle Modernisierungen grotesk und das Programm »Digitale Schiene« ziemlich verspätet und so weiter und so fort. Verspätet haben nicht zuletzt die Wissenschaftler damit begonnen, den verbreiteten romantischen Verklärungen der Eisenbahn gleichsam aufs Flügelrad zu fühlen (ein Rad mit Flügeln symbolisiert weltweit die Eisenbahn und den Schienenverkehr). So gibt es bislang keine mir bekannt gewordene Untersuchung zur historischen Entwicklung der Pünktlichkeit bei den deutschen Eisenbahnen seit 1835. Dabei gehört die Pünktlichkeit zu den systemspezifischen Vorteilen des Schienenverkehrs. Übrigens erfolgte hierzulande auch die Einführung der für die Fahrpläne so wichtigen Einheitszeit, der Mitteleuropäischen Zeit, erst 1893. Die Verspätung betrug zum Beispiel gegenüber Serbien fast ein Jahrzehnt. Die Erforschung der sozialen Herkunft, der Reiseziele und -zwecke, Komfortwünsche und Beschwerden der Fahrgäste hat merkwürdigerweise mit einer gewaltigen Verspätung gegenüber der von Bahnlinien, Lokomotiven, Signalen und anderen bahntechnischen Artefakten eingesetzt; sie hält sich bislang in engen Grenzen.7In diesem Buch kommen jedenfalls sowohl verstorbene wie auch lebende deutsche Bahnreisende bzw. ihre fiktiven Gestalten ausreichend zu Wort.8

Die Eisenbahn hat hierzulande ab Beginn der 1830er Jahre die Lebensbedingungen und den Erfahrungshorizont der Menschen erheblich verändert. Unter dem Druck industrieller und finanzieller Interessen setzte sie sich rasch durch und avancierte zu einem wichtigen Träger des landgestützten Personen- und Gütertransports (Letzterer bleibt in diesem Buch ausgeblendet). Eingeführt und etabliert wurde die Eisenbahn fast durchgängig von privaten Gesellschaften. Ihr riesiges ökonomisches Potenzial erwies sich als Glücksfall für viele Unternehmer, Industrielle und Spekulanten. Ihr großes militärisches Potenzial wiederum blieb der Politik nicht lange verborgen – auch deshalb endete das erste Zeitalter der Privatbahnen auf den Hauptstrecken am Ende des 19. Jahrhunderts. Vom Aufstieg der Eisenbahn zum führenden Verkehrsmittel profitierten zumal immer mehr Fachschriftsteller und Herausgeber von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern – die Fülle grundlegender Monografien sowie von Artikeln und Jahresberichten war bereits um 1900 unüberschaubar. Nicht zuletzt die Sicherheit des Zugbetriebs wurde in Folge der stetig steigenden Geschwindigkeit sowie rapiden Verdichtung des Schienenverkehrs ein Dauerthema in Fachwelt und Öffentlichkeit.

Das 20. Jahrhundert wartete für den deutschen Schienenverkehr mit mehreren Zäsuren auf – mit der Etablierung einer einheitlichen Staatsbahn nach dem Ersten Weltkrieg, dem Betrieb von zwei Staatsbahnen nach der deutschen Teilung, dem dramatischen Bedeutungsverlust im Zuge der Durchsetzung der Massenautomotorisierung ab Mitte der 1960er Jahre und der Verschmelzung von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG nach der Vereinigung. Die Übertragung des Schienenpersonennahverkehrs in die Obhut der Bundesländer sowie die Öffnung des deutschen Eisenbahnnetzes für nichtbundeseigene Eisenbahnunternehmen kurz vor dem Millennium kamen hinzu.

Seit 1996 können private Eisenbahnunternehmen wieder die deutschen Lande erobern bzw. auf den »diskriminierungsfreien« Zugang zum mit rund 33 500 Kilometern sechstlängsten und zweitdichtesten Streckennetz der Welt pochen. Der Eisenbahn-Markt (!) unserer Tage spiegelt ein zunehmend verwirrendes Puzzle privater, öffentlich und staatlich kontrollierter Unternehmen und Holdinggesellschaften und folgt den herrschenden ökonomischen Prinzipien von Wachstum, Konkurrenz und Gewinnmaximierung. Die nach wie vor in Bundesbesitz befindliche Deutsche Bahn AG ist längst keine monopolistisch agierende Staatsbahn mehr, sondern nur mehr ein Eisenbahnverkehrsunternehmen unter anderen. Zwar meinen viele, wenn sie von der »Bahn« sprechen, die Deutsche Bahn. Aber eben zuweilen auch Wettbewerber wie beispielsweise die Hohenzollerische Landesbahn AG. Wie dem auch sei, der seit 1994 waltende und schaltende Staatskonzern Deutsche Bahn AG ist schon aufgrund seiner noch fast absoluten Dominanz im Fernverkehr ein Thema für sich und erfährt viel Kritik – nicht zuletzt in Büchern wie Schwarzbuch Deutsche Bahn und Chronik Deutsche Bahn AG.9

Bahnfahren, so verkündet das Faltblatt Ihr Reiseplan unermüdlich, schützt »Klima und Umwelt«. Züge fahren in der Tat vergleichsweise emissionsarm; etwas mehr als vierzig Prozent ihres Stroms stammen hierzulande bereits aus erneuerbaren Energien. Zudem fahren sie aufgrund des viel geringeren Rollwiderstandes von Rad und Schiene wesentlich energieeffizienter als Automobile. Warum aber werden mit dem Kraftfahrzeug hierzulande zehnmal mehr Kilometer als mit der Bahn gefahren? Den 2016 insgesamt zurückgelegten 965,5 Milliarden Kilometern im Straßenverkehr standen jedenfalls lediglich 95,8 Milliarden Kilometer im Schienenverkehr gegenüber.10

Von Beginn an gab es in Deutschland im und mit dem Eisenbahnverkehr mehr Probleme, als den Fahrgästen und anderen Betroffenen lieb sein konnte und weiterhin kann. Solange sich die Bahn für Reisende und Pendler eher als Zumutung, denn als unschlagbare Alternative zu anderen Verkehrsmitteln erweist, dürfte sie ihre Vorteile in unserer immer mehr digital organisierten und vernetzten Welt nicht ausspielen können. Ganz zu schweigen von den sich merklich verändernden Rahmenbedingungen in diesem frühen 21. Jahrhundert. Die komplexen Veränderungsprozesse, die auf die Mobilitäts- und Verkehrssysteme einwirken, speisen sich aus der technologischen Entwicklung samt künstlicher Intelligenz, der demografischen Entwicklung, der Urbanisierung, der Veränderung von Lebensstilen und wachsenden Individualisierung von Mobilitätsbedürfnissen, den Umwelt- und Klimaschutzzielen und anderen mehr. Welche Möglichkeiten, aber eben auch Veränderungszwänge und Risiken für eine zukunftsfähige Transformation des Personenverkehrsmittels Eisenbahn in Deutschland bestehen, rücke ich im letzten Drittel dieses Buches ins Blickfeld.

Wie ergeht es einer Gesellschaft, die die dramatisch ändernden Umweltbedingungen nicht zum Anlass für mindestens ebenso dramatische Änderungen am überbordenden und fossil geprägten Verkehrswesen nimmt? Was passiert, wenn die deutschen Eisenbahnen den Anschluss im politisch verordneten und zugleich neoliberal verzerrten »Wettbewerb« mit Pkws, Bussen und Flugzeugen verlieren? Und was passiert, wenn der Staatskonzern Deutsche Bahn AG den Anschluss an das gerade in Fahrt kommende postfossile und digitalisierte Mobilitätssystem verpasst?

Was passiert, wenn die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung einer Staatsbahn schiefläuft, lässt sich jenseits des Ärmelkanals studieren. Die Mehrheit der Briten gibt seit 2016 bei Umfragen an, sie wünsche die Wiederverstaatlichung der diversen Eisenbahnverkehrsunternehmen, deren Service, Fahrplan- und Preisgestaltung unzumutbar seien. Bezeichnenderweise berichtete die britische Boulevardpresse im Sommer 2017 über ein Preisgefälle zwischen Schienen- und Luftverkehr, das in vielerlei Hinsicht gewaltig zu denken gibt. Die Geschichte geht so:

Als die in Newcastle lebende Lucy Walker und ihre in Birmingham lebende Freundin Zara Quli beschlossen, mal wieder ein Wochenende miteinander zu verbringen, offerierte Lucy, mit dem Zug nach Birmingham zu kommen. Als die 27-jährige Lehrkraft herausfand, dass das Bahn-Rückfahrticket für die 320 Kilometer lange Strecke 105 Pfund Sterling kosten würde, war sie »schockiert« und begann eine Internetrecherche. Diese endete mit dem Ergebnis, dass eine Hin- und Rückflugkarte nach Málaga für weniger als zwanzig Pfund zu haben war. Für Zara sollte der Hin- und Rückflug von Birmingham aus rund 55 Pfund kosten. Und da an der Costa del Sol eine Nacht im Hostel für nur zehn Pfund zu haben war, verlegten die beiden Freundinnen ihr Treffen für ein langes Wochenende nach Südspanien – was statt auf insgesamt 640 Zugkilometer auf insgesamt 7840 Flugkilometer hinauslief, jedoch immer noch billiger als die Bahnfahrt war.11

Und was lehrt dieses Exempel? Nun, solange ein umwelt- und klimaschädlicher Flug über große Distanzen deutlich preiswerter als eine zwölfmal kürzere und das Klima kaum in Mitleidenschaft ziehende Eisenbahnfahrt ist, liegt offenbar ein gesellschaftlich willentlich in Kauf genommenes Politik- und Marktversagen vor. Und zwar gewiss nicht nur in Großbritannien.

2. Ihre nächste Reisemöglichkeit

Das Faltblatt Reiseplan gab es 1907 noch nicht, als ein gewisser Hans Castorp in seiner Heimatstadt Hamburg den Zug bestieg, um für drei Wochen seinen Cousin in einem Davoser Sanatorium zu besuchen. Der 23-Jährige hatte gerade sein Examen bestanden und bei einer Schiffswerft eine Stelle in Aussicht. Castorp ist der Held in dem bewegenden Roman Zauberberg von Thomas Mann. Von Verspätungen ist in der Beschreibung seiner Reise von Norddeutschland in das Schweizer Hochland keine Rede, von erreichten Anschlusszügen aber schon:

»Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise […]. Es geht durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres [Bodensee] und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten. Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten. Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Gebiet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, gelangt aber vorderhand nur bis Landquart, einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht zu enden wollen scheint.«12

Als Thomas Mann 1913 mit der Arbeit am Zauberberg begann, war das deutsche Kaiserreich ein Eisenbahnparadies, vernetzten die Hauptbahnen Städte und Regionen miteinander, verbanden verästelte Neben- und Kleinbahnen selbst abgelegene Dörfer sowie touristische Zentren mit den Hauptlinien und gab es so viele Bahnknotenpunkte wie in keinem anderen europäischen Land. Die von Thomas Mann beschriebene lange Bahnfahrt würde dieser Tage aufgrund der auf den Hauptstrecken mit viel höherer Geschwindigkeit fahrenden ICEs im Idealfall zwar weniger Zeit als 1907 kosten, aber eine ähnliche Reiseerfahrung bieten. Denn die mangelhafte Vertaktung des Schienennah-, Regional- und Fernverkehrs sowie das damit verbundene Herumstehen auf nicht selten wenig einladenden kleinen Bahnhöfen und Haltepunkten gehören schließlich nach wie vor zum Alltag vieler Fahrgäste. Eine Nebenwirkung, die für Thomas Mann bzw. seinen Protagonisten auf der Eisenbahn quasi noch naturgegeben war, hat sich allerdings in Luft aufgelöst, nämlich die Verunreinigung der Reiselektüre durch den »hereinstreichende[n] Atem der schwer keuchenden Lokomotive […] mit Kohlenpartikeln«13.

Während Thomas Mann am Zauberberg schrieb, machten in Deutschland gut 33 000 Lokomotiven Dampf. Ihr Aussterben begann Anfang der 1970er Jahre, und ein Slogan der Bundesbahn verkündete: Unsere Lokomotiven haben sich das Rauchen abgewöhnt. Das Dampfzeitalter endete in Westdeutschland im Oktober 1977, als die letzten ölbefeuerten Dampflokomotiven auf der Emslandstrecke durch Dieselloks ersetzt wurden. In Ostdeutschland wurde der letzte planmäßige Dampfbetrieb auf vollspurigen Gleisen im Oktober 1988 auf dem Umlauf Halberstadt–Magdeburg–Thale–Halberstadt offiziell eingestellt. Bücher können heute in den Fern-, Regional- und Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn und anderer Eisenbahnverkehrsunternehmen getrost gelesen oder zur Seite gelegt werden, ohne die Verschmutzung durch Kohlepartikel fürchten zu müssen. Eher schon durch überschwappende Getränke oder Sandwichmayonnaise. Bei der jederzeit möglichen Durchsage: »Nächster Halt … ach, Sie sehen es selbst, wir stehen schon«, schaufelt der außerplanmäßige Stillstand zumal mehr Zeit für die Zuglektüre frei.

Gelesen wird in der Eisenbahn, um Monotonie und Langeweile gar nicht erst aufkommen zu lassen und um sozusagen hinter einer Zeitung das kleine Sitzterritorium für die private Autonomie zu retten. Inzwischen bieten digitale »Begleiter« erheblich erweiterte Möglichkeiten. Dass das Lesen im Waggon anders als in einer rumpligen Postkutsche kein Problem sein würde, hatte bereits 1833 ein Zeitgenosse mit Verweis auf die englischen »Dampfwagen« verdeutlicht. Ihre Bewegung sei »so leicht, sanft und bequem«, betonte er, »daß man nicht nur vollkommen dabei lesen, sondern sogar schreiben kann«.14 Nun erzwangen schon die Verhältnisse in den lange üblichen Abteilwagen mit ihrer der Postkutsche nachempfundenen Sitzanordnung ein Visavis-Verhältnis, das vielen Fahrgästen unangenehm erschien und so manchen unerträglich war. Der Griff zur »abschirmenden« Lektüre lag da mehr als nahe, zumal mit der rasch wachsenden Gewöhnung an das neue Verkehrsmittel und dessen größer werdender Geschwindigkeit der Blick aus dem Abteil- bzw. Coupé-Fenster an Reiz einbüßte. Da die bei schwachem oder dämmrigem Tageslicht in den Personenwagenabteilen zu jener Zeit entzündeten Öllampen nur einen kläglichen Lichtschein abgaben, mussten Leseratten freilich mit Augenschmerzen rechnen. Erst nach der Einführung der ersten Durchgangsabteilwagen Ende des 19. Jahrhunderts, die die gänzliche Isolation im Coupé aufhoben, und nicht zuletzt der Gasbeleuchtung, die das Lesen sehr erleichterte, kannte bei den bürgerlichen Passagieren der Wunsch nach Lektüre schließlich fast keine Grenzen mehr.

Fehlten nur noch die das Lesebedürfnis spezifisch bedienenden »Reise- und Eisenbahnbibliotheken« von Verlagen wie Reclam und natürlich die Händler für Zeitschriften und »Reiseliterarien«. Sie bereicherten hierzulande peu à peu ab 1847 das Bahnhofsleben in Nürnberg, Würzburg, München, Stettin und andernorts – übrigens durchaus später als etwa in England, wo sie ab Beginn der 1840er Jahre üblich geworden waren. 1854 ließ der ungemein produktive Berufsschriftsteller Karl Gutzkow in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd denn auch wissen: »Es ist auffallend, dass sich unsere deutschen Buchhändler, die doch sonst so unternehmerisch sind, noch nicht auf die Eisenbahnen gewagt haben. Sollten sie von dem strengen officiellen Tone, der auf unseren Bahnen herrscht, zurückgeschreckt worden sein? Ein Buchladen auf Stationen, wo sich, wie z.B. in Halle, zwei Linien kreuzen, müsste gute Geschäfte machen; denn mit dem Bücherkaufen geht es in Deutschland doch wie mit dem Einkaufen in Versicherungsanstalten. Man denkt immer und immer daran, will und will und plötzlich hat uns die Gefahr getroffen, wenn es zu spät ist. So kauft man Bücher erst, wenn man sich langweilt, einen Führer erst, wenn man schon reist, eine Karte erst, wenn man sich schon zehn Mal geirrt und seine Mitreisenden durch ein ewiges Ausfragen gelangweilt hat.«15

Aus den zunächst nur provisorischen Verkaufsständen der örtlichen Buchhändler, erhellt Christine Haug, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bahnhofsbuchhandel als eigenständige Teilbranche des Sortimentsbuchhandels. »Bemerkenswert ist, dass der Verkauf von Reiselektüre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausschließlich über spezielle, funktionale Bücherwagen und Verkaufskioske betrieben wurde. Die geschlossenen, beheizten Verkaufspavillons waren ein Zugeständnis an die Angestellten, denn die Verkäufer litten gerade im Winter unter der Kälte und Zugluft in den Bahnhofshallen. Die von Kunden begehbaren Bahnhofsbuchhandlungen, wie wir sie heute kennen, entstanden erst in den 1950er Jahren.«16

Um 1870 gab es ein Dutzend Bahnhofsbuchhändler, um 1900 gut zweihundert, um 1930 knapp sechshundert. Ihre Kioske, Verkaufswagen und ausklappbaren Stände fanden sich auf vielen Bahnsteigen bzw. Perrons.17 In seinem 1930 publizierten Artikel Kriminalromane, auf Reisen ließ Walter Benjamin wissen: »Die wenigsten lesen im Eisenbahnwagen Bücher, die sie zu Hause im Regal stehen haben, kaufen lieber, was sich im letzten Augenblick ihnen bietet. Der Wirkung von langer Hand bereitgestellter Bände mißtrauen sie und mit Recht. Außerdem legen sie vielleicht Wert darauf, gerade am buntbewimpelten Fahrgestell auf dem Asphalt des Perrons ihren Kauf zu machen. Jeder kennt ja den Kultus, zu dem es einlädt. Jeder hat schon einmal nach den gehißten, schwankenden Bänden gegriffen, weniger aus Lesefreude als im dunklen Gefühle, etwas zu tun, was den Göttern der Eisenbahn wohlgefällt. Er weiß, die Münzen, die er diesem Opferstock weiht, empfehlen ihn der Schonung des Kesselgottes, der durch die Nacht glüht, der Rauchnajaden, die sich über dem Zuge tummeln, und des Stuckerdämons, der Herr über alle Schlaflieder ist. Sie alle kennt er aus Träumen, kennt auch die Folge mythischer Prüfungen und Gefahren, die sich als ›Eisenbahnfahrt‹ dem Zeitgeist empfohlen hält, und die unabsehbare Flucht raumzeitlicher Schwellen, über die sie sich hinbewegt, angefangen vom berühmten ›Zu spät‹ des Zurückbleibenden, dem Urbild aller Versäumnis, bis zur Einsamkeit des Abteils, zur Angst, den Anschluß zu verpassen …«18

Zurzeit buhlen rund fünfhundert Bahnhofsbuchhandlungen (2017) um die Gunst von Reisenden. Laut ihrem Verband haben sie »an 365 Tagen im Jahr und mindestens 100 Stunden in der Woche geöffnet«, und deckt sich »jeder dritte Reisende« in einer von ihnen mit der gewünschten Zuglektüre ein19 – nicht zuletzt über die Eisenbahn selbst, über die es unzählige Bücher und eine große Anzahl von Zeitschriften gibt.20 Und wem gedruckte Literatur zu teuer oder nicht geheuer oder bei der Bahnfahrt zu hinderlich ist, den lässt das Internet gewiss nicht im Stich – und WLAN wird in immer mehr Zügen zwar reichlich spät, aber endlich zum Standard.

Internetsuchmaschinen liefern heutzutage zu jedem bahnspezifischen Stichwort eine Vielzahl von Links, die teils auf bemerkenswert informationsreiche Webseiten verweisen. Eine Fülle von Dokumentar- und Spielfilmen – etwa Mord im Orient-Express – sowie Videos auf YouTube kommen hinzu. Von der 1991 im Dritten Fernsehprogramm des Südwestfunks als Pausenfüller gestarteten Reihe Eisenbahn-Romantik zum Beispiel sind allein bis 2017 über neunhundert Folgen ausgestrahlt worden. Der Eisenbahn-Romantik-Zuschauerclub zählt bereits mehr als 10 000 Mitglieder.

Apropos Romantik. Als romantisch wird alles Mögliche bezeichnet – die Spanne reicht vom Abendessen bis hin zur Zugfahrt. »Kein anderes Transportmittel eignet sich so sehr für romantische Gefühle wie die Eisenbahn«, betonen gewiefte Marketingexperten, und präzisieren: »Eine Dampflok mit jahrzehntealten Waggons, die gemütlich über die Schienen schleicht, hängt bezüglich der Romantik jedes Flugzeug und jedes schnelle Auto ab. Auf der Schiene lässt es sich gemeinsam träumen, während die Welt langsam vorbeizieht.«21

Wenn Verkehrsmittel in die Jahre kommen, finden sich Liebhaber und Museumsbetreiber, die sie hegen und pflegen. Wie es scheint, wird bei keinem anderen Verkehrsmittel der vermeintliche »Charme vergangener Zeiten« so gezielt und umfänglich beschworen wie bei der Eisenbahn. Der vielerorts mit großem Aufwand und Engagement aufrechterhaltene Betrieb von Museums- und Schmalspureisenbahnen kommt nicht von ungefähr. Nun kann das Mitfahren auf den Holzbänken eines alten Eisenbahnwaggons dritter Klasse in unserem aufgepolsterten Digitalzeitalter in der Tat ein herrliches Erlebnis sein. Ob jedoch das häufig damit verknüpfte nostalgische Beschwören der »guten alten Eisenbahn« oder der »guten alten Zeit« auch seine Berechtigung hat, also einer historischen Überprüfung standhält, ist doch sehr die Frage. Zu ihrer Beantwortung möchte dieses Buch jedenfalls hinlänglich beitragen. Nicht zuletzt die im Bahnhofsbuchhandel ausliegenden Eisenbahn-Zeitschriften, -Magazine und nostalgischen Bildbände präsentieren so etwas wie das Idealbild einer Eisenbahn, die weder Verspätungen oder Zugausfälle noch drangvoll überfüllte Wagen und andere unschöne Begleiterscheinungen kennt. Schön wär’s.

Nun wurden ausgerechnet während der Romantik, deren große Geister die Abwendung von der Zivilisation und Hingabe zur Natur einforderten, gleich zwei motorisierte Verkehrsmittel in die Welt gesetzt, die alles andere als idyllische Zustände heraufbeschworen: 1801 fuhr das erste taugliche Automobil (mit Dampfmaschinenantrieb) durch die Landschaft und 1804 die erste Eisenbahn. Als 1835 die Epoche der Spätromantik in den letzten Zügen lag, eröffnete am 7. Dezember die auf Aktien gegründete Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft die erste deutsche Bahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth. Die Personenwagen wurden übrigens zunächst nicht ausschließlich von der Dampflok »Adler«, sondern aus Kostengründen auch von Pferden gezogen. Aber was machte das schon: Einen Anschlusszug, den Reisende hätten verpassen können, gab es ja weder in Nürnberg noch in Fürth.

Als der deutsche Eisenbahnverkehr mit Dampfkraft in Fahrt kam, stieß dies bei zahlreichen zeitgenössischen Beobachtern nicht eben auf begeisterte Zustimmung. Der Literat Karl Immermann kommentierte das Geschehen mit den Worten: »Mit Sturmesschnelligkeit eilt die Gegenwart einem trockenen Mechanismus zu; wir können ihren Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir für uns und die Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen und diese Insel so lange als möglich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.«22 Johann Wolfgang von Goethe, der die Eisenbahn fahrend nicht mehr zu Gesicht bekam, hatte bereits im Oktober 1825 vorsichtshalber angemerkt: »Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt, Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.«23

Fest steht, dass die im Laufe des 19. Jahrhunderts im deutschen Kleinstaaterei-Gebilde mit einiger Verzögerung einsetzende Industrialisierung der Arbeits- und Alltagswelten ohne die Revolutionierung des Transport- und Verkehrswesens durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt nicht vorangekommen wäre. Übrigens auch nicht ohne die Revolutionierung der Kommunikationssysteme durch die Telegraphie und die Standardisierung von Posttarifen. Ach ja. Der Begriff Bahn bezeichnet eigentlich den Fahrweg, auf dem sich ein Objekt bewegt – und sei es eine Fahr- oder Landebahn. Die Eisenbahn ist so gesehen der spezifische Fahrweg der Züge. Da wir jedoch das rollende Material auch als Eisenbahn oder kurz Bahn bezeichnen, ist das Wort für den Fahrweg bei diesem Verkehrsmittel sozusagen inbegriffen. Allerdings kommt, wenn die Bahn überhaupt kommt, nur ein Zug oder Triebwagen, nicht der Eisenweg …

3. Verzögerte Abfahrt ins Eisenbahnzeitalter

»Unschlüssigkeit und Atemlosigkeit genügen sicherlich, einen Menschen von zorniger Gemütsart zum Fluchen zu bringen, noch dazu, wenn er, gehetzt vom Abfahrtssignal, in Windeseile die unbequemen Stufen des Wagens hinaufklimmen muß und sich das Schienbein an das Trittbrett anschlägt. Er flucht, flucht auf die Stufen und auf ihre dämliche Konstruktion, flucht auf das Schicksal. Indes hinter solcher Ungehobeltheit steckt eine richtigere, ja aufreizendere Erkenntnis, und wäre der Mensch helldenkend, er könnte es wohl aussprechen: bloßes Menschenwerk ist dies alles, ach, diese Stufen, angepaßt der Beugung und Streckung des menschlichen Knies, dieser unermeßlich lange Bahnsteig, diese Tafeln mit Worten darauf und die Pfiffe der Lokomotiven und die stählernd glitzernden Gleise, Fülle von Menschenwerken, sie alle Kinder der Unfruchtbarkeit.«24

Bevor sich um 1930 jemand wie der Wiener Autor Hermann Broch vom Abfahrtssignal gehetzt fühlen konnte, musste das »bloße Menschenwerk« erst einmal geschaffen werden. Die ersten zweckdienlichen Dampfwagen für den Transport von Menschen und Gütern auf Straßen und Schienen setzte der englische Grubeningenieur Richard Trevithick (1771–1833) in Fahrt. Er hatte 1798 eine für mobile Zwecke brauchbare Hochdruckdampfmaschine konstruiert, die ihre Tauglichkeit 1801 in einem veritablen Automobil unter Beweis stellte.25 Mangels Kaufinteressenten richtete Trevithick sein Interesse auf Schienenfahrzeuge und baute mit seinen Mitarbeitern einen waagerecht liegenden Hochdruckdampfkessel mit Schornstein – die erste Dampflokomotive. Die Maschine mit Spurkranzrädern fuhr das erste Mal am 25. Februar 1804 auf einer Hüttenwerksbahn in Südwales und zog fünf Waggons mit einer Last von zehn Tonnen über eine Strecke von rund fünfzehn Kilometern. Es war die erste nachweisbar gelungene Fahrt eines mechanischen Dampfwagens mit Anhängern auf Schienen, der nicht nur Güter transportierte, sondern zugleich an die siebzig Personen, die die Mitfahrt gewagt hatten.

Als nachhaltig industrieller Verwerter der von Trevithick entwickelten Technik trat ab 1814 der englische Unternehmer George Stephenson (1781–1848) auf. Er leitete von 1821 bis 1825 den Bau einer Bahnlinie im Kohlerevier zwischen Stockton und Darlington und gründete in Newcastle die weltweit erste Lokomotivenfabrik, in der 1829 mit der »Rocket« ein bereits 48 km/h schnelles Zug- und Dampfross gebaut wurde. Ein Jahr später, bei der Einweihung der ersten öffentlichen Linie Liverpool–Manchester, zeigte sich das enorme Potenzial des neuen Verkehrsmittels. Die bereits zweigleisig geführte Strecke verlief durch einen zwei Kilometer langen Tunnel sowie über 65 Viadukte. Die Bahnhöfe verfügten über Ausweich- und Rangiergleise, und es gab einen Fahrplan. Der deutsche Publizist Georg Weerth brachte das durch wagnisbereite Aktiengesellschaften geprägte Geschehen kenntnisreich so auf den Punkt:

»Im Jahre 1830 wurde dem Publikum die Bahn eröffnet, und von 30 Kutschen welche bisher zwischen Manchester und Liverpool fuhren, stellten 29 sofort ihren Dienst ein. Früher reisten täglich 500 Personen zwischen beiden Städten, jetzt stieg diese Zahl sogleich auf das Dreifache, und schon in den ersten Tagen expedierte man 1600 Passagiere täglich. […] Jedenfalls machte der Personentransport von Anfang an den Hauptgewinn der neuen Bahn aus. Schon bald zeigte man eine Dividende von 10 Prozent an, und die Aktien stiegen auf 120 Prozent Prämie. Somit war die Sache im Gange.«26

Nach dem Bekanntwerden dieser Erfolgsgeschichte reisten Heerscharen von Kaufleuten, Regierungsmitgliedern, Technikern und Bankiers vom Kontinent nach England, um das Eisenbahnsystem zu studieren, flammte im liberal gesinnten deutschen Bürgertum nachhaltiges Interesse für das neue Verkehrsmittel auf. Zu den bedeutenden Akteuren, die auf den Bau von Eisenbahnen drängten, zählten u.a. die Nürnberger Stadtväter Georg Zacharias Platner (1781–1862) und Johannes Scharrer (1785–1844), der als »Vater des Ruhrgebiets« gerühmte Unternehmer und Politiker Friedrich Harkort (1793–1880), der Wegbereiter der Bahn in Bayern, Joseph Freiherr von Baader (1763–1835), und der Begründer der Herzoglich Braunschweigischen Staatseisenbahn, Philipp August von Amsberg (1788–1871).

Eine herausragende Rolle spielte Friedrich List (1789–1846). Der in den 1820er Jahren wegen seiner demokratischen Überzeugung politisch verfolgte und eine Zeitlang ins Exil getriebene Wirtschaftstheoretiker hatte ab 1828 in seinen Mittheilungen aus America das deutsche Publikum von den Anfängen des Eisenbahnwesens in den Vereinigten Staaten unterrichtet und in Pennsylvania mit anderen Gesellschaftern eine Eisenbahnlinie begründet. Deren praktischen Nutzen kannte List aus eigener Erfahrung, als er nach dem Erhalt der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1833 im Range eines amerikanischen Konsuls in das Großherzogtum Baden entsandt wurde.

Wieder im Lande begrüßte Friedrich List, für den die Überwindung der innerdeutschen Zollschranken ein wichtiges Anliegen war, den gerade gegründeten Deutschen Zollverein. Zugleich setzte er sich vernehmlich für den Aufbau eines deutschen Eisenbahnnetzes ein. Noch 1833 verfasste er eine kleine Schrift, die er in hoher Auflage kostenlos verteilen ließ: Ueber ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden. Schon dieser erste Entwurf beinhaltete einige später gebaute Hauptlinien. Weitere Vorschläge und Planungen des liberalen Ökonomen und bedeutenden Eisenbahnpioniers ließen nicht auf sich warten. Sie verrieten visionären Sachverstand.27

Die erste öffentliche Dampfeisenbahn auf dem europäischen Kontinent fuhr allerdings nicht in deutschen Landen, sondern ab 5. Mai 1835 auf der Teilstrecke Brüssel–Mecheln. Die belgische Regierung hatte 1834 George Stephenson mit der Entwicklung eines auch die Nachbarländer einbeziehenden Eisenbahnnetzes beauftragt, das dann ebenfalls entstand – als erste Staatseisenbahn der Welt. Das deutsche Eisenbahnzeitalter läuteten mit einiger Verzögerung gegenüber dem Mutterland der Industrialisierung nun nicht die von List angetriebenen Sachsen ein, sondern fränkische Kaufleute, die im Mai 1833 die Gesellschaft für die Errichtung einer Eisenbahn mit Dampfkraft zwischen Nürnberg und Fürth aus der Taufe gehoben hatten. Im Februar 1834 erhielt die Gesellschaft von König Ludwig das Privileg zum Betrieb der Strecke für den Zeitraum von dreißig Jahren, einige Monate später begann der Ingenieur Paul Camille von Denis (1795–1872), der sich auf Reisen durch Nordamerika und England mit dem Eisenbahnwesen vertraut gemacht hatte, mit der Vermessung der Strecke und der Erstellung der Pläne und Zeichnungen. Im Mai 1835 wurden die Erdarbeiten in Angriff genommen, ab Juli die Gleise nach dem englischen Vorbild verlegt.

Der deutsche Schienenpersonenverkehr mit Dampfkraft startete am 7. Dezember 1835 auf der knapp sechs Kilometer langen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth. Die Trasse war zuvor trotz fehlender praktischer Erfahrung und dem Mangel an technischen Hilfsmitteln in wenigen Monaten fertiggestellt worden. Und das, obwohl die Schienen aus Deutschlands zu jener Zeit einzigem walzfähigen Eisenwerk im dreihundert Kilometer entfernten Neuwied mühselig mit Pferdefuhrwerken herangeschafft werden mussten. Fuhrwerke wurden auch zum Heranschaffen der Kohle aus Zwickau eingesetzt. Da das bei einer Entfernung von zweihundert Kilometern mit hohen Kosten verbunden war, kam die aus der Fabrik von George Stephenson importierte Lokomotive »Adler« anfangs nur selten zum Einsatz. Gut drei Viertel der Zugfahrten erfolgten zunächst nicht mit dem eisernen, sondern mit tierischen Rössern. Immerhin reduzierte sich beim Dampfbetrieb die Fahrzeit gegenüber der Pferdekutsche von 25 auf fünfzehn Minuten.

Die erste deutsche Bahnlinie war sozusagen der Vorläufer des heutigen öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Von Nürnberg nach Fürth wurde täglich vormittags dreimal mit Pferden gefahren, nachmittags zwei- bis dreimal mit der Lok »Adler« und später mehrere Male erneut mit Pferden. Die Rückfahrt von Fürth nach Nürnberg erfolgte spiegelbildlich entsprechend. Zusätzliche Fahrten wurden eingerichtet, wenn Bedarf bestand. Die Personenwagen hatten Platz für zwölf bis dreißig Personen, wobei die einfachsten nach oben offen und die für die vornehme Klientel gegen die Einflüsse von Wind und Wetter mit Glasfenstern versehen und mit Tuch und Borten geschützt waren.

Friedrich Lists Aufruf zur Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden ging auch in Erfüllung und bescherte den Deutschen die erste Ferneisenbahn.28 Die mit einem Tunnel aufwartende 150 Kilometer lange Gesamtstrecke zwischen der Messestadt und der Residenzstadt war vom 7. April 1839 an durchgängig befahrbar. Sie verkürzte die Reisezeit zwischen beiden Städten von 21 auf damals schier unglaubliche drei Stunden.

Die dritte deutsche Linie Berlin–Potsdam – zugleich die erste preußische Eisenbahn – wurde am 22. September 1838 eröffnet. An diesem Tag nahm die Berlin-Potsdamer Eisenbahn-Gesellschaft auf der Teilstrecke Zehlendorf–Potsdam den öffentlichen Verkehr auf. Die Spurweite richtete sich übrigens wie schon in Nürnberg und Leipzig nach britischen Gepflogenheiten. Sie betrug 1,435 Meter und ist uns als sogenannte Normalspur bis heute erhalten geblieben. Die sechs Lokomotiven mussten mangels deutscher Alternativen von Stephensons Fabrik aus Newcastle bezogen und bei der Einfuhr nach Preußen verzollt werden. Immerhin durften die mitgelieferten Muster-Personenwagen dann in Berlin nachgebaut werden.

»In gewisser Beziehung ist dieses Ereignis, da es den Anfangspunkt der Benutzung der Eisenbahnen im preußischen Staat bildet, für diesen eines der wichtigsten des Jahrhunderts«, kommentierte ein Reporter der Vossischen Zeitung das Eröffnungsgeschehen der Berlin-Potsdamer-Eisenbahn. »In der Geschichte der Industrie wenigstens dürfte ihm keins an die Seite zu setzen sein. […] Schon vom frühen Morgen an bot die Gegend um den Bahnhof ein belebtes Schauspiel dar. Gegen die Mittagszeit aber waren Tausende von Zuschauern herbeigeströmt, welche