Nachhall
und ein Urteil ohne Richter
Samstag. Zwei Stunden nach der Glocke.
Vegas tut so, als wäre nichts geschehen; die Stadt hält den
Atem nicht an, sie verkauft ihn, Neon für Neon, als liefe die Nacht
auf Kredit und der Morgen hätte kein Mandat. Die Klimaanlage sägt
unter dem Teppich eine unsichtbare Kerbe, der Spiegel im Zimmer
zieht eine kalte Linie durch mein Gesicht, bis aus dem Rest nur
noch Zählung übrig bleibt, eine Zahlenschiene, die von der Stirn
bis in die Brust fährt und dort leise klickt. Vier rein. Vier raus.
Was nicht zählt, lärmt wie Staub im Hals.
An meinem Handgelenk liegt der Fetzen, ihr Blau, nicht als
Talisman und nicht als Schuld, eher wie ein Pflaster auf einer
Stelle, die nie geblutet hat; wenn der Daumen darübergeht,
antwortet nichts, und dennoch bleibt er, ein absichtlich ungelöster
Knoten, der nicht drückt und doch die Haut neu ordnet. Ich drehe
das Handy nicht um, das Bauch an Holz vibriert — einmal, wieder
einmal, dann ein drittes Mal, kurz genug für Dringlichkeit und lang
genug, um die Luft zu stören: Nora, Ajarn, Ziffern, die stechen wie
kalte Nadeln. Nicht, weil ich nicht könnte, lasse ich es liegen,
sondern weil niemand Zugriff auf die Luft bekommt, die ich gerade
zählen muss; nicht einmal sie.
Der Fernseher schreit stumm in den schwarzen Rahmen hinein,
unten in der Lobby spiegeln sich Werbetafeln wie eine falsche
Sternkarte im Glas der Tische, und als ich ans Fenster trete, liegt
die Wärme draußen auf der Scheibe, während innen die Kälte in die
Finger läuft. Gegenüber wechselt eine LED-Wand durch ihr Programm,
fünf Motive, dann bleibt sie stehen, als wäre die Stadt kurz im
Takt gestolpert: Aiko. Blau-silber, klarer Hintergrund, das Gesicht
in einer Linie, die nichts erbittet und doch alles hält. Darunter
steht nicht „Live tonight“, sondern die Zeit, die bereits vergangen
ist — FRIDAY // 20:00 — ein Restschriftzug, der die Nacht nicht
mitbekommen hat; von „keine TV-Zeit“ zu einem Gesicht, das die
Kamera von selbst erkennt, ohne dass jemand es ausruft.
Es passiert nebenan und liegt gleichzeitig hinter allem, wie
ein Ton, der im Raum bleibt, obwohl der Lautsprecher längst stumm
ist.
Die Uhr auf dem Nachttisch behauptet standhaft die zwei
Stunden, während die Vaseline an der Naht über meinem rechten Auge
noch matt glänzt; beim Blinzeln knirscht etwas, als hätte jemand
Sand zwischen Haut und Abend geblasen. Ich trinke Wasser in
Vierteln, nicht wegen Durst, sondern weil jede Viertelstrecke eine
kleine Entscheidung ist, die keine Erlaubnis einholt.
Mein Name steht im Netz in Großbuchstaben, obwohl ich ihn
seit Jahren klein schreibe:
MIRAN — SUSPENDED — COMMISSION REVIEW — KADE INDUZIERTES
KOMA — STATEMENT AUSSTEHEND. Schlagzeilen wie Türen in
einem Haus, in dem niemand wohnt. Ein Feed schiebt einen Screenshot
der Mail der Kommission ins Karussell: vorläufige Suspendierung bis
zur Klärung, Anhörung angesetzt, keine Auftritte, keine Lizenz,
keine Gage. Dieses „bis zur Klärung“ ist die längste Gasse der
Stadt; man tritt hinein, und das Ende rückt nicht näher. Einmal
lesen.
Das Bad ist nicht für Hygiene, sondern für Stille; die
Fliesen werfen das Licht zurück, als wären sie in einer Debatte und
wollten nicht nachgeben. Ich lasse die Dusche kalt, lehne die Stirn
gegen Stein, Fingerspitzen an den Rand des Beckens, bis die Knöchel
hell werden, und spüre, wie der Fetzen Feuchtigkeit aus der Luft
trinkt, ohne schwerer zu werden. Vier rein. Vier raus. Zwischen die
beiden Takte schiebt sich ihr Dreier wie ein fremder Befehl über
meinen, nicht Musik, eher ein Marsch, den niemand angesagt hat und
dem ich doch gehorche, weil er unter der Haut entlangläuft.
Wieder Vibration, Nora im Kreis, Nachrichten, die sich
selbst verfolgen; unten in der Schleife zieht eine rote Bauchbinde
durch das Bild —
„Miran unreachable.
“ Das ist kein Humor, nur eine Feststellung, die
genauer ist, als sie aussehen darf. Heute bin ich Atem, nicht mehr;
alles andere ist Dekoration und muss warten, bis die Luft wieder
Platz macht.
Als der Flur leer klingt, gehe ich hinaus; Teppich frisst
Schrittgeräusche, an der Ecke hängt ein stummer Feed aus einer
anderen Halle, und dort liegt Aikos Gesicht unter Lichtern, die nie
ganz ausgehen. Unten ist das Casino eine Kirche, in der man Ziffern
betet, und vor der Tür spült eine Tafel Clips an die Oberfläche,
die wichtig tun und doch nichts sagen; für einen Moment rutscht ihr
Preview hinein — FRIDAY — dann die Karte, dann wieder hinaus in den
Loop. Ich sehe nicht die Moves, ich sehe Haltung, und die ist neu
und alt zugleich.
Zurück ins Zimmer. Ich halte die Stirn ans Holz der Tür, nur
um etwas zu fühlen, das nicht sendet. Zwei Stunden und
neunundzwanzig Minuten. Die Kommission hat mich vom Brett gehoben
und sagt, sie legt mich bald woanders wieder hin. In meinem
Postfach wartet ihre Karte wie ein Parkticket. Hearing. Ich klappe
den Laptop auf, nur um das Wort groß zu sehen. Ich klappe ihn zu.
Die Welt ist lauter als die Mail, und ich bin klein genug, um in
jede Zeile zu passen, die mich ordnet, ohne mich zu kennen.
Ein neuer Ton. Kein Anruf. Eine Nachricht, die aufploppt,
obwohl ich alles ausgestellt habe, was ploppen darf:
Aiko. Zwei kurze Zeilen, die die Luft verdichten:
„War Publikum; wollte rüber — Nora sagt: heute
keine Extra-Presse.“ // „Bleib Vegas mit WWE; nicht deine Schuld.
“ Ich atme, als hätte der Raum plötzlich weniger
davon. Ich tippe: „Iss.“ Lösche. „Pass auf.“ Lösche. „Ich sehe
dich.“ Lösche. Ich tippe nichts. Sie ist nicht hier für meine
Sätze. Sie ist hier, um zu arbeiten. Und ich bin hier, um die
Konsequenzen zu tragen.
Dazu gehört Schweigen; dazu gehört auch, dass ich mir selbst
beim Wichtigtun zusehe, während draußen das Protokoll ohne mich
weiterläuft.
Ich halte den Bildschirm nah an den Mund, als könnte er warm
werden, wenn ich nahe genug bin. Der Fetzen am Handgelenk wird
schwer, obwohl Stoff kein Gewicht hat.
Ich drehe mich, setze mich auf den Boden, Rücken an die Tür,
Knie angezogen. Das Holz im Rücken macht keine Versprechen. Gut.
Ich brauche keines. Ich brauche Haltung, und Haltung fühlt sich
heute an wie stillstehen, während niemand hinsieht und die Kamera
trotzdem alles sieht, was ich falsch halte.
Im Zimmer darüber übt jemand Reden. Man hört nur die
Leerstellen zwischen den Sätzen. Das ist der einzige Ton, der mir
heute noch etwas sagt. Vier rein. Vier raus. Zwischendrin eine
Zahl, die ich nicht zählen will: Monitore. Schläuche. Kade
. Ich stelle ihn mir vor, wie er arbeitet, ohne
Körper, ohne Bühne, nur mit Maschinen. Ich hoffe, dass Hoffen kein
dummer Muskel ist.
Ich hoffe, dass ich genug davon habe. Ich hoffe überhaupt zu
viel, und nichts davon hilft.
Das Handy fährt eine Welle an mich heran. Direktnachrichten
überschlagen sich, als wäre eine Schleuse aufgesprungen. „Monster.“
„Meisterwerk.“ „Bann ihn.“ „Halt durch.“ „Du hast ihn am Hals
erwischt.“ „Schlüsselbein. Lest die Regeln.“ „Killer-Knie.“
„Sauberer Body-Shot.“ Zwischen den Steinen liegt eine Perle, die
nicht glänzt: Yumi
. Kein Foto, kein Emote. „Ich bin bei ihr. Privat.
Punkt.“ Ich sehe keine Szene dazu. Ich sehe nur Zuverlässigkeit in
Schrift. Und daneben mich, klein geschrieben von mir, groß
geschrieben vom Netz — beides falsch, beides unbequem.
Die dritte Stunde kommt nicht angelaufen, sie kriecht. In
dieser Geschwindigkeit lebt nur Wahrheit. Ich koche Wasser in einem
Pappbecher, obwohl es nach nichts schmeckt. Ich trinke, weil Kauen
Regeln kennt und Trinken Herkunft hat. Ich stelle den Gürtelkoffer
um, damit ich nicht aus Versehen über ihn stolpere. Er mag
unschuldig sein. Er sieht es nicht aus. Ich vielleicht auch nicht;
ich halte das Licht schlecht und gebe danach der Lampe die Schuld.
Die Kommission hat inzwischen eine Pressewand gefunden.
Irgendein Mann in einem Anzug mit Gesicht sagt Standard-Prozedur,
sagt Sicherheit, sagt anhaltende Untersuchung, sagt vorläufig. Er
sagt nicht „Atem“. Er sagt nicht, dass Zahlen auch Tiere sein
können, die man nicht zähmen kann.
Es klopft; einmal, dann eine kurze Pause, dann noch einmal —
Noras Art, die Arbeit anzukündigen, ohne den Ton zu verschönern,
eine Signatur aus zwei Schlägen, die keine Nähe behauptet und
trotzdem Ordnung bringt. Ich bleibe still, die Klinke rührt sich
nicht, Schritte ziehen ab, und später kommt ihre Nachricht wie ein
sauber gefaltetes Protokoll:
„Presse will live. Ich sage nein. Kommission will,
dass du dich meldest. Ich sage: später. Sponsor XY setzt Zahl auf
hold. Melde dich.“
Ich lese den Takt in ihren Zeilen, sehe die Klammern, die sie
um den Tag legt, damit nichts ausläuft; Arbeit regelt, was Gefühle
ruinieren würden, und ich liebe sie dafür, nur leider zur falschen
Zeit. „Zwei Stunden und sechsundfünfzig Minuten“, sagt die Uhr, und
ich lache einmal, ohne dass ein Geräusch entsteht; ein trockenes
Echo, das nirgends ankommt.
Ich stehe auf und wandere den Flur, der Teppich nimmt mir für
fünfzehn Schritte die Schuld aus den Knien, als hätte er eigens
dafür eine Faser mehr. In der Lounge wühlt eine Zusammenfassung
ohne Ränder: mein Frame in Runde fünf, mein Knie, Kades Körper, der
wie eingeklappte Statik zu Boden geht; eine Stimme, die ich nie um
Sprache bat, sortiert Vokabeln: „grenzwertig“, „im Rahmen“,
„furchtbar effektiv“. Ich schaue nicht auf den Schnitt, ich schaue
nur auf seine Brust, als hätte ein unsichtbarer Stift dort noch
einmal eine Linie nachgezogen, die keiner löschen kann.
Ich flüchte in die Wäscherei. Heißluft, Dampf, Trommeln —
das monotone Grollen der Maschinen ist ehrlicher als jedes
Statement, weil es nichts behauptet, außer dass Arbeit passiert.
Ich setze mich auf einen leeren Wagen, stoße mich mit dem Fuß ein
paar Zentimeter vor und zurück, als ließen sich Knoten rollen wie
Wäsche; man kann in Waschküchen beten, ohne dass es jemand merkt.
Mein Gebet hat keine Worte: Er atmet. Lass ihn atmen. Lass mich
atmen, ohne ihn zu verlieren. Ein Kellner kommt, sieht mich, geht
wieder, weil ich sichtbar nicht dazugehöre; ich nehme ihm die
Arbeit ab und verschwinde besser, die Treppe hoch, zurück zum
Zimmer, die Klinke so leise, dass der Raum kurz zuckt wie ein Tier.
Boden. Rücken an Holz. Knie angezogen. Die dritte Stunde ist
da, aber sie kommt nicht an; sie liegt gefaltet im Raum wie Männer
zusammenklappen, wenn Luft plötzlich Theorie wird und niemand die
Praxis findet.
Nachricht von Hunter
. Kein Ton, kein Meme, kein Lachen aus einer alten
Halle, nur Text:
„Kläre das. Komm zurück zum Zirkus.
“ Ich starre auf die zwei Sätze, bis sie drei
sind, weil ich ein Bitte hineinhöre, das nicht da steht, und ein
Jetzt, das sich verkneift, und natürlich mich selbst, der immer
zwischen den Zeilen lauter wird; von allen, die heute sprechen
könnten, spricht ausgerechnet er, und es sind sieben Wörter, die
mehr Ordnung in die Luft schneiden als alle Schlagzeilen zusammen.
Kläre das.
Komm zurück zum Zirkus.
Der Fetzen an meinem Handgelenk wird warm, als hätte Text
Temperatur; ich halte ihn fest, nicht damit er bleibt, sondern
damit ich bleibe. Ich tippe keine Antwort, ich lasse das Display
dunkel werden und sitze weiter, Rücken an Holz, Knie dicht, während
der Teppich unter der Tür leise atmet, als sei er selbst nur ein
Tier, das gelernt hat, nichts zu wollen. Und irgendwo hinter dieser
Tür steht ein Pult mit Mikrofon und der Ablauf für eine Live-Runde
Fragen, ein weiteres Zimmer zählt Formalien für eine Anhörung, und
die Stadt verkauft beide Geschichten gleichzeitig — ich weiß, dass
man sich melden muss, wenn man in dieser Stadt aus der Reihe fällt,
ich weiß, dass Prozeduren ohne Geduld laufen, und ich weiß, dass
meine Stille nur mir selbst dient und keinem Verfahren, doch heute
kann ich sie nicht ablegen.
Die Stadt hält noch immer die Augen offen, obwohl sie müde
ist; die LED von gegenüber schlägt ihre Schleifen in die Scheibe,
und die Klimaanlage fräst eine feine, kalte Linie durch den
Teppich, als wollte sie den Raum in zwei Hälften schneiden. Ich
sitze auf der Fensterbank, Knie an die Brust, der Gurtkoffer steht
so, dass ich ihn nicht streife, und der kleine blaue Fetzen am
Handgelenk liegt ruhig, als wäre er die einzige Sache hier, die
nicht diskutiert werden kann. Unten murmelt irgendein Fernseher mit
Bild ohne Ton, die Schlagzeilen blinken weiter, aber hier oben ist
nur Glas, Luft, Staub, der sich setzt.
Die Klinke bewegt sich. Keine Höflichkeitsfrage, nur Druck.
Nora. Sie kommt herein, sieht mich, sieht zuerst die Dinge, die
ordnen lassen: offene Tasche, der Laptop zu, das Handtuch schief,
die Wasserflasche halb — und dann mich. Sie stellt nichts ab, sie
nimmt nichts hoch, sie bleibt stehen, nah genug, dass Papiergeruch
und ein sauberes Parfum den Dampf aus der Wäscherei ablösen.
„Wir müssen ein Statement abgeben“, sagt sie, ohne die
Stimme weicher zu machen, als würde sie mit dem Raum reden. „Ajarn
sagt, es war legal. Alte Wege aus Bangkok — nicht schön, aber
legal.“
Es ist, als zöge jemand langsam ein Blatt aus einem Hefter;
ich höre Metall. „Es sind erst drei Stunden“, sage ich, und ich
merke, wie wenig die Zahl hilft, „und sie jagen mich, als wären die
Fackeln gratis.“
„Ich weiß.“ Sie lässt das
ich weiß nicht wie Trost klingen, eher wie eine
Koordinate. „So ist das hier. Vegas.“ Ein kurzer Atem, dann der
Satz, der die Temperatur wechselt: „Hör zu, Junge: Kade ist auf der
Intensivstation. Maschinen. Wir können nicht sagen, ob es deine
Schuld ist. Lea ist schon dran.“
Intensivstation. Maschinen. In meinem Kopf hören die Worte
nicht auf, zu arbeiten. Ich starre an Nora vorbei auf die
Glasfassade, sehe nur die Reflexe der Schrift, die rotieren, und
darunter mein Spiegelbild, klein und schief.
„Wir nennen es Urlaub bis zur Anhörung“, sagt sie, „du bist
immer noch der Champ. Keine Verluste auf der Bilanz.“
„Fühlt sich nicht so an“, sage ich, und die Stimme ist
kleiner, als ich sie haben wollte, so wie Dinge, die im Licht
falsch liegen.
„Hunter hat geschrieben“, sage ich dann, weil es im Zimmer
hängen geblieben ist wie ein Geruch.
Noras Blick kippt eine Nuance Richtung hart. „Was will der
denn jetzt?“
„Ich soll zurück zum Zirkus kommen.“
Sie schüttelt kaum merklich den Kopf, als wäre der Muskel
trainiert. „Das kann er vergessen. Wir haben Besseres zu tun.“ Sie
zählt auf, und die Luft schaltet in Protokoll: „Jetzt schlaf. Iss.
Morgen früh — Lea. Kümmert sich um alles. Sponsor zwei pausiert,
drei bleibt, fünf wartet. Überlass das mir.“ Sie macht keine
Versprechen, sie schiebt nur die Zahlen wie Steine so hin, dass sie
eine Brücke werden.
Ich nicke nicht. Ich atme nur. Sie sieht es. „Es ist nicht
deine Schuld“, sagt Nora, und ich weiß, dass sie Sätze meidet, die
man ihr später vorhalten könnte; dieser hier bleibt, weil er mehr
über Linie sagt als über mich. Sie dreht sich, macht die Tür auf,
schließt sie ohne Geräusch.
Der Raum braucht einen Moment, um wieder ein Raum zu sein.
Ich sehe die Stelle, an der sie stand, das kleine mattschwarze
Rechteck, das eine Meldung vom Display geholt hat, und die
Wasserflasche, die von allein zurückspringt, als hätte sie einer
angestoßen.
„Drei Wochen Urlaub“ — ich spreche die Worte nicht laut aus,
ich lasse sie an den Rand vom Fensterbrett fallen, wo sie wie
Schrauben klingeln. Es fühlt sich falsch an, als hätte jemand eine
Bühne bestellt, die nie aufgebaut wird. Ich lehne den Kopf ans
Glas; draußen sind die Buchstaben wieder groß, innen ist alles
klein, und beides stimmt gleichzeitig. Ich zähle nicht. Ich lasse
die Luft an mir vorbeigehen, so lange, bis sie wieder mir gehört.
Vier Uhr morgens in einem Haus, das nicht schläft, sondern so
tut, als hätte Schlaf nie erfunden werden müssen. Der Flur liegt
ausgerollt wie eine Landebahn ohne Piloten; irgendwo atmet der
Fahrstuhl in unregelmäßigen Stößen, als würde er das Gebäude nach
und nach hochziehen, Stockwerk für Stockwerk. Die Klimaanlage sägt
dünn durch die Wände. Teppich, der jede Spur willig schluckt. Ein
Exit-Schild, das so grün leuchtet, als sei Flucht eine höfliche
Option. Vegas kann um vier genauso hell sein wie um vierzehn — nur
dass die Gesichter, die man um diese Stunde sieht, in eine andere
Geschichte gehören: Personal mit müden Händen, Profis der Nacht,
Menschen, die sich verlaufen haben und jetzt so tun, als sei der
Umweg die Pointe. Diese Stadt funktioniert wie eine Maschine, die
niemand ausschaltet, weil niemand den Knopf findet, und wenn doch,
ist er aus Glas und zeigt nur die eigene Hand. Dass der Betrieb
auch jetzt weiterläuft, ist keine Metapher, sondern Bauordnung,
Lizenz, Gewohnheit — ein Ort, an dem „offen“ die Grundeinstellung
ist und nicht ein Schild, das man abends wendet.
Ich gehe, weil „liegen“ heute nur ein anderes Wort für
„nachdenken müssen“ ist. Die Uhr am Gang sagt 04:01, die an der
Lobby 03:58; beide sind bestimmt, beide haben recht, beide sind
nutzlos. Der Automat steht dort, wo alle Automaten stehen: zwischen
Eismaschine und einem kleinen, kühlen Quadrat Licht, das so wirkt,
als wäre hier ein eigener Wetterbericht zuständig. Hinter Plexiglas
liegen Reihen in militärischer Ordnung; Dosen und Flaschen
nebeneinander wie farbige Verkabelung, die man nur anschließen
müsste, damit der Körper enge Kreise schlägt und sich für einen
Augenblick wieder erinnert, wie Routine schmeckt. „Cola“, denke
ich, ausnahmsweise, und noch während der Finger auf „B3“ fällt,
weiß ich, dass „ausnahmsweise“ ein anderes Wort für „sehnen“ ist.
Die Flasche fällt in den Schacht, ein kalter Stoß an die
Handfläche, die Kappe dreht sich mit dem vertrauten kleinen Schrei
auf, Kohlensäure läuft hoch — ich trinke, und es ist wie beim
letzten Mal: falsch. Ich trinke, weil Müdigkeit gern so tut, als
sei sie Durst, und weil Kälte in der Hand besser ist als Kälte im
Kopf.
Jemand steht plötzlich neben mir. Kein Geräusch, nur
Präsenz; vielleicht mein Alter, vielleicht älter, man kann das um
vier nicht sagen, weil Gesichter dann mehr aus Schatten bestehen
als aus Alter. Hoodie, der keine Farbe braucht. Hände, die in den
Ärmeln wohnen, als hätten sie den Mietvertrag eigentlich gekündigt.
Der Blick ist leer, aber nicht hohl — eher der Blick einer, die
Platz machen will für das, was gleich kommt. Sie stellt sich nicht
vor. Das ist konsequent. Namen wären in dieser Stunde nur
Dekoration.
„Kein Statement?“ Keine Stimme, ein Ton, der sich an den
Flur anpasst, als wäre der Gang selbst der Verstärker. Es ist nicht
Anklage, nicht Spott. Es ist schlicht eine Frage, aber sie trägt
das Gewicht von allem, was im Netz bereits in Großbuchstaben liegt.
Ich sehe sie an und sehe zuerst das Naheliegende: wie das
Neon uns beide gleich macht, wie die Linse der Plexiglasscheibe
sich das Licht leiht, um es zurückzugeben, wie die Eismaschine
links daneben anläuft und eine Handvoll Würfel speit, die in den
Trichter fallen wie knappe Zustimmung. „Tut mir leid“, sage ich,
und das „leid“ ist kein Schutzschild, eher ein Eintrittspreis. „Es
wird bald eins geben. Von meiner Anwältin. Sie klärt gerade alles.“
Ich spüre, wie das Wort „Anwältin“ die Luft strukturiert; es ist
ein Wort mit Kanten, kein falsches, aber eins, an dem sich Menschen
schneiden, die Blut sehen wollen statt Papier.
„Anwältin?“ Sie zuckt nicht mit einem Muskel, und trotzdem
ist da die Bewegung: ein Hauch in den Mundwinkeln, eine kleine
Verschiebung. „Klingt nach
Feigling. Respekt und Ehre klingen anders.“
Ich halte die Flasche, als könnte sie kippen, und blicke an
ihr vorbei auf die Reihe identischer Geschwister, die mich mit
Etiketten anschauen, die „immer“ behaupten. „Ehre befleckt heute
den Boden“, sage ich, nicht groß, nicht als Pose; ich meine damit
nicht Pathos, sondern die Art Schmutz, die entsteht, wenn die Dinge
zu schnell hintereinander passieren und niemand da ist, der den
Besen rechtzeitig fasst.
„Besser als ohne zu leben…“ sagt sie, fast wie aus Routine,
als würde sie einen Satz in der Reihenfolge abarbeiten, in der er
zu ihr gekommen ist. Sie dreht sich, und in dieser Drehung liegt
kein Abschied, nur ein Ende der Notwendigkeit. Der Hoodie fließt
kurz wie Wasser, dann ist sie zwei Schritte weiter und wird mehr
Gang als Mensch.
„
Ich bin kein Feigling“, sage ich, und es ist
lauter, als ich es geplant hatte; der Ton springt an die
Metallkante des Automaten, prallt von der Eismaschine zurück,
klingelt einmal kurz im leeren Treppenhaus, als wäre er zu leicht
für die Etage.
Sie bleibt stehen, ohne sich zu drehen; ein Dreieck zwischen
Schultern, Kapuze, Gang. „
Warum rennst du dann davon?“ Kein Hohn, kein
Triumph, nur eine sehr kalte Uhr, die nicht an der Wand hängt. Sie
geht weiter, und die Neonkante holt sie sich, wie Wasser eine
Uferbiegung holt.
Ich stehe da, als hätte mich jemand abgestellt. Die Flasche
schwitzt. Das Etikett wird dunkel an den Rändern. In der Reflexion
der Plexiglasscheibe steht meine Schulter neben ihrem Rücken und
sieht aus wie ein schlechtes Doppelbelichtungsfoto, in dem die
zweite Person immer eine Sekunde zu spät war. Der Automat surrt,
als würde er dessen, was wir gesagt haben, eine technische Version
geben, die niemand transkribieren will.
Der Weg zurück zum Zimmer ist derselbe. Ich stelle die
Flasche auf den Tisch, sie kippt fast, fängt sich, eine kleine
Komödie, die ich nicht lache. Ich lasse mich an der Wand neben der
Tür herunter, so wie vorhin, als ich noch glaubte, dass Sitzen eine
Entscheidung sei, und nicht einfach das, was der Körper macht, wenn
die anderen Optionen zu laut sind. Die Worte im Flur fangen an, an
mir zu arbeiten:
Kein Statement?Anwältin?Feigling.Respekt.Ehre.Besser als ohne.Warum rennst du dann davon? Ich habe große Hände
und kann nichts davon halten.
Ich höre sie, die „anderen“, die an dieser Nacht ziehen: die
Leute mit dem Berufsoptimismus, die früh schon reden, weil man nach
Ereignissen reden muss; der unsichtbare Stimmenchor der Kommentare,
die die Welt sortieren, indem sie sie benennen; das Schaben der
Meinungen, die sich aneinander bekämpfen, bis eine liegenbleibt und
die andere behauptet, sie habe gewonnen. Früher habe ich gedacht,
dass Gewalt Geräusch braucht; heute lerne ich, dass die leisesten
Sätze die längsten Zähne haben. Ein Mädchen, das mir nicht ihren
Namen sagt, kann mich mehr aufschließen als jeder
Journalistenblock, der auf die nächste Schlagzeile wartet.
„Ich bin kein Feigling“, habe ich gesagt. Ich denke es
wieder, diesmal leiser, und das macht es nicht wahrer. Warum renne
ich dann davon? Man kann in einem Zimmer bleiben und trotzdem
rennen; man kann schreiben ohne zu antworten; man kann atmen und
sich dabei wie ein Schrank fühlen, in dem nichts hängt, das einem
gehört. Ich will einen Satz, der hält, aber Sätze halten nur, wenn
man die eigene Hand nicht im Bild hat. Ich will ein Statement, das
„wir“ sagt, aber „wir“ ist heute ein juristisches Wort und kein
menschliches. Lea wird schreiben, präzise, sauber, ohne das, was
mich in der Nacht groß macht und am Morgen bereuen lässt.
Vielleicht ist das die richtige Größe: eine, die man nicht selbst
wählt.
04:30. Die Ziffern stehen da, als wären sie geschnitzt. Ich
könnte mich jetzt hinlegen und so tun, als sei das das Richtige;
ich könnte auch wachen und so tun, als sei das schwerer. Ich sitze.
Wenn der Rücken die Wand findet, glaubt der Kopf, dass etwas hält.
Die Hand sucht den Fetzen. Das Blau ist da, ein kleines Feld mit
eigenem Wetter. Er verrutscht nicht. Ich schon, in Gedanken, in
Sätzen, in der Art, wie ich meine Rolle aufpoliere, wenn keiner
zusieht.
Die Worte des Mädchens zersetzen sich nicht; sie vermehren
sich, wie kleine Tiere, die genau wissen, wie man durch Ritzen
kommt. Ich höre aus der Ferne eine Putzmaschine einen Korridor
entlang singen, das geschlossene Lied der Notwendigkeit. Eine Tür
irgendwo dreht sich in ihr Schloss wie ein priesterlicher
Handgriff. Die Stadt macht die Nacht nicht aus, sie ersetzt sie
bloß rechtzeitig durch eine andere Schicht. Und obwohl ich das
weiß, überrascht mich immer wieder, wie sehr die Dinge bleiben, die
niemand angemeldet hat.
Ich lege die Stirn gegen die Tür, so sanft ich kann, als
müsste ich ihr beweisen, dass ich nicht wieder gegen sie laufe.
Holz kann nichts verzeihen und tut es trotzdem, indem es nur Holz
bleibt. Das Auge findet den Spalt unten, durch den der Teppich
atmet. Ich zähle nicht. Ich gebe mir die Erlaubnis, genau jetzt gar
nichts zu können. Ich gebe mir die Erlaubnis, zu warten, bis jemand
anderes entscheidet, welchen Namen der nächste Schritt bekommt.
Dann: Drei Klopfer, zart, mit dem kleinen Abstand, der nicht
fordert, sondern fragt, ob man noch da ist. Ich bin längst wach;
der Raum hat sich in der Nacht an meine Kanten gewöhnt, das Glas
trägt eine kalte Stirnspur, der neue Stoff liegt in der Schachtel
wie eine stille Anweisung an das Licht. Ich lege die Hand auf die
Klinke, halte einen Atem, diesen alten, trotzigen Satz noch einmal
fest—ich bin kein Feigling—und öffne.
Aiko steht im Türrahmen, als hätte der Gang ihr eine Form
geliehen: Kapuze tief, Hoodie, der die Schultern schmaler macht,
Jeans, in denen man laufen kann, Schuhe, die nicht sprechen. Und
doch verrät sie sich wie immer über etwas, das sie nicht abrüsten
kann: ihr Haar—wasserhell in der Dimmung, als hätte jemand eine
Welle in den Flur gestellt. In der linken Hand eine kleine Box mit
Schleife, schwarz wie die Nacht ohne Lampen. Sie sagt „Hi“, so
knapp, dass das Wort eher Temperatur ist als Sprache, streift an
mir vorbei, als könnte sie den Tag rückgängig machen, indem sie die
Wege neu zeichnet, und stellt die Schachtel auf den Tisch, richtet
die Schleife mit einem Finger, der weiß, wie man Dinge beruhigt.
„Kopf voll?“ Ein weiches Lächeln, das keine Aufforderung
braucht, um Platz zu bekommen; es fasst mir an die Stirn, bevor
ihre Hand es tut. In meinem Inneren stolpert ein Zahnrad, der Takt
rutscht um eine Kerbe, nichts, was man hört, alles, was man merkt.
„Bisschen“, sage ich. Das Wort ist kleiner als ihr Blick.
Sie hebt zwei Finger, tippt mir sanft gegen die Stirn, als
teste sie einen Schalter, der nie ganz kaputtgeht. „Hab dich
angefeiert.“ Das „ei“ bleibt stehen, wie immer; nicht als Trick,
sondern als Weg, den sie jeden Tag so geht. Ich spüre, wie der Satz
etwas anheftet, das seit Stunden lose war.
Die Kapuze bleibt unten, ihr Profil rechtwinklig zur Lampe.
„Morgen andere Stadt. Zirkus weiter.“ Es sind kurze Sätze, aber sie
sind nicht geizig, nur pünktlich. „Hab Geschenk. Du aufmachen, ja?“
Ich löse das Band, das mehr kann als hübsch sein, hebe den
Deckel, Folie flüstert, der Raum hält still; Schwarz liegt
darunter, ein matter Schatten, der Licht nicht duldet und deswegen
Arbeit verspricht. Kein Glanz. Keine Pose. Ein Stoff, der Bühnen
kennt, nicht Laufstege, der die Reflexe der Tischlampe verschluckt,
als hätte er sich darauf vorbereitet, mir zu dienen. Ich streiche
einmal mit dem Handrücken darüber; er ist weich und stumpf, genau
so, wie Dinge sein müssen, die Hintergrund tragen—kein
Schmuckstück, ein Werkzeug.
„Hab den alten kaputt gemacht“, sagt sie. Kein
Entschuldigungston, nur Fakt. „
Gomen. Neuer besser. Für nächstes Mal Zirkus.“
Ich nicke, langsam, als wäre die Bewegung geliehen. Meine
Zunge sucht einen Satz, der größer ist als Danke und kleiner als
Schwur, findet aber nur Luft, und heute ist Luft nichts, was man
teilen sollte.
„Muss los.“ Es klingt nicht hart, nur entschieden. Sie zieht
die Kapuze einen Zentimeter tiefer, als wolle sie dem Licht Grenzen
malen; der Karton bleibt wo er steht, der Raum wird wieder Hotel,
bereit, alles zu vergessen, was gerade nicht in die Inventarliste
passt.
Die Tür ist schon halb zu, als sie wieder ansetzt. Kein
Wort. Zwei Schritte und dann ist sie nah, so nah, dass mein
Brustbein einen Moment lang vergisst, Rippen zu sein. Ihre Arme
kommen fest und sicher, unter meinen Schulterblättern
ineinandergelegt, als kennten sie den Ort, an dem ich knicke. Keine
Pose. Kein Foto. Nur ein Gewicht, das bündelt, was seit Stunden
flackert. Ich hebe die Hände nicht; ich bin spät in diesem Körper,
spät in dieser Nacht, spät in der richtigen Geste. Zeit macht
weniger Geräusch. Irgendwo schiebt eine Maschine den Teppich vor
sich her und fegt die Stunden zusammen, damit sie nicht
herumliegen.
Sie löst sich, bleibt dicht. Hebt den Kopf. Sie muss; sie
ist kleiner, und in ihren Augen liegt der klare Rand, an dem
Entscheidungen nicht ausweichen dürfen. „Bald wieder Zirkus
zusammen, ja? Viel Spaß?“ Das Fragezeichen liegt weich in „Spaß“,
und gerade deshalb trägt es mehr Gewicht als jeder Zuspruch.
Ich rechne damit, dass sie jetzt geht; mein Kopf baucht die
Lücke schon, in die später Reue rutschen soll. Stattdessen zieht
sie ihr Handy aus der Tasche, kippt sich halb ins Licht der
Flurleiste, bleibt mit der Schulter an mir, und ehe ich weiß, wo
ich hinsehe, hebt sie das Telefon hoch, die Frontkamera flackert,
und wir sind ein Bild. „Unser erstes Selfie“, sagt sie, die Kapuze
eine kleine Schattenfahne über der Stirn, „für lange Reise.“ Sie
neigt den Kopf minimal, damit das Haar den Rahmen nicht sprengt,
und fängt uns ein—ich nicht bereit, sie sehr. Ein
Klick, lautlos, ein Wischen, zwei Taps, und mein Handy auf
dem Tisch vibriert, als hätte es die Szene bestellt. „Ich schicke“,
sagt sie, mehr zu sich als zu mir, und der Bildschirm beleuchtet
ihre Finger, die Seitentaste kriegt einen kleinen Abdruck von ihrer
Haut.
Das Gerät auf dem Tisch rührt sich noch einmal; die Vorschau
zeigt zwei Gesichter, die aus zwei Geschichten kommen und auf
diesem Glas für einen Atem gemeinsam sind. Ich sehe mich an,
bereutlos erwischt; Mund nicht in Form, Augen zu offen, der Umhang
als schwarzer Block im Hintergrund, die Schleife wie ein
Überbleibsel von Feier, die niemand angesetzt hat. Ihr Profil ist
ruhig, die Kapuze wirft einen Schatten, der ihr gut steht; das
„angefeiert“ von vorhin hängt noch als Restwärme im Raum.
„Jetzt gehen“, sagt sie, fast flüsternd, und steckt das
Telefon wieder ein, als wäre es nie draußen gewesen. „Morgen früh
fliege.“ Der Satz ist so nüchtern, dass er tröstet, kein Urteil.
Sie dreht sich; Klinke, der leiseste Klick dieser Nacht. Ich
schaue zu, Schritt für Schritt, als könnte ich mir später daraus
einen Weg zurück bauen. Als die Tür wieder in ihrer Zarge sitzt,
bleibt der Raum einen Moment unentschieden—Hotel oder Beweis. Dann
ist er wieder Hotel. Ich stehe, wo sie stand, der Karton in meinem
Blick und das Glas in meinem Rücken, und ich weiß nicht, wohin mit
diesem Bild auf meinem Tisch. Es gehört mir jetzt, sagt die
Vorschau, aber so fühlt es sich nicht an; es fühlt sich an, als
hätte mir jemand etwas in die Hand gelegt, das ich morgen anziehen
muss, ohne es erklären zu dürfen.
Ich nehme das Handy, entsperre, ohne auf die Finger zu
schauen; das Foto füllt den Bildschirm—ihr Hoodie, meine Naht über
dem Auge, die Kapuze, die ihren Schatten sauber setzt, das matte
Schwarz im Hintergrund, das jede Reflexion frisst. Ich tippe auf
Antworten und schließe das Feld wieder, tippe „Danke“ und lösche,
tippe „Bleib“, lösche, tippe nichts. Der Cursor blinzelt, als hätte
er Geduld gelernt. Der Ton aus dem Flur ist weg; irgendwo erwacht
die Kaffeemaschine unter uns und hält ihren ersten Vortrag über
Notwendigkeit. Die Nacht hat an diesem Ort keine Autorität, sie
verhandelt bloß Schichten.
Ich falte den Umhang, lege ihn zurück, nicht exakt, nur so,
dass er sich nicht beleidigt fühlt. Der Stoff liegt schwerer als er
ist; er weiß, dass er Dinge verschwinden lassen kann, die nicht da
sein sollten—Licht, Blicke, all das, was Show zu viel macht. Er ist
kein Schild und kein Trost. Er ist ein Werkzeug. Ich mag Werkzeuge;
sie trösten, weil sie Aufgaben haben und keine Meinung. Ich stelle
die Box näher an den Koffer, dort, wo die Reise beginnt, wenn man
sie nicht ankündigt.
Auf dem Foto schauen wir nicht in dasselbe Zentrum; sie in
ihren Plan, ich in meinen Mangel. Ich kenne keine Bilder, auf denen
ich richtig stehe; ich bin Rahmen, nicht Motiv. Und doch erwischt
es mich, dieser flache Beweis aus Glas: dass Dinge, die kaum eine
Minute im Raum sind, länger bleiben als alle Sätze, die ich heute
angeboten habe und dann zurückgenommen.
Unser erstes Selfie, hat sie gesagt. Für lange Reise. Ich
weiß nicht, ob ich die Reise bin oder der Koffer. Ich weiß nur,
dass das Wort „unser“ leiser war als alles andere und deshalb
lauter nachklingt.
Ich setze mich auf die Fensterbank; der Rand ist schmal,
macht die Knochen aufmerksam. Draußen spult eine LED-Wand ihr
Programm, als wäre sie dazu geboren, die Nacht zu beweisen; drinnen
atmet der Teppich durch den Spalt unter der Tür, und die
Klimaanlage sägt an der Stille, bis sie eine Form hat. Ich schaue
auf den Bildschirm zurück, vergrößere ein Stück Haar, das an der
Kapuze vorbei in den Rahmen fällt, vergrößere die Stelle an meiner
Wange, die nie entspannt wirkt, vergrößere die Schleife auf dem
Tisch, als könnte ich durch Pixel hindurch eine Absicht erkennen,
die über uns beide hinausgeht. Es gibt Momente, in denen die Stadt
nichts will, und es gibt welche, in denen sie dich zu einem
Entscheidungspunkt begleitet und dann stehen lässt, weil ihr
Vertrag mit dir hier endet.
Die Nacht will Schluss machen, bevor ich den Schlaf überhaupt
finde. Die Scheibe ist noch kühl von meiner Stirn, die kleine Lampe
kämpft gegen den matten Stoff in der Schachtel und verliert gern,
als würde der Umhang das Licht für später sparen. Schritte im Flur,
eine Klinke, der Raum stemmt die Schultern — und Nora steht schon
drin, mit einer Mappe, die an Ecken Geschichten hat, und Lea im
Schlepptau, glatt wie ein Plan.
Lea klappt die Mappe auf. Das Geräusch ist ein Taktmesser.
„Vorläufige Sperre. ‘Pending review.’ Hearing kommt“, sagt
sie, sachlich. „Wir bringen Kooperation, geordnete medizinische
Unterlagen und kurze Sätze. Du sagst ‘Arbeit’. Du sagst
‘Verantwortung’. Du vermeidest alles, was nach Deutung riecht.“ Sie
legt drei kleine Karten auf den Tisch. Weiß, schwer genug, um nicht
wegzurutschen.
Auf der ersten steht: „Mein Fokus liegt auf Kades Genesung
und der Zusammenarbeit mit der Kommission.“
Auf der zweiten: „Ich respektiere die Entscheidung und
erscheine zum Hearing.“
Auf der dritten: „Zu Spekulationen äußere ich mich nicht.“
„Nicht auswendig lernen“, fügt Lea hinzu. „Triff die Mitte.
Wenn’s wackelt, häng dich an diese drei Sprossen.“
Nora stupst die Tür mit dem Fuß zu, stellt die Tasche ab,
lässt den Blick einmal durch den Raum, so, als könnte sie die Luft
sortieren.
„Presse will live“, sagt sie. „Ich habe nein gesagt. Die
Kommission möchte ein Lebenszeichen, Lea sagt später mit Substanz.
Sponsor zwei pausiert, drei bleibt, fünf wartet auf unsere Linie.“
Sie setzt sich nicht; sie stellt sich so, dass meine Unruhe
weniger Platz hat.
„Kein Social. Keine DMs. Kein ‘kurz was klarstellen’. Heute
sind Worte Baumaterial. Erst die Statik, dann die Fassade.“
Die Tür öffnet sich noch einmal, kaum hörbar. Ajarn bleibt
im Rahmen stehen wie ein Satz, der keine Nebensätze braucht.
„Nächstes Mal kein Ego“, sagt er.
Ich nicke. Er nickt zurück, ohne zu lächeln, und fügt leise
hinzu: „Schuld ist gleichgültig.“ Dann schweigt er an der richtigen
Stelle, was seine Art ist zu bleiben.
Lea tippt mit dem Finger auf Karte eins. „Regeln
unterscheiden Kopf und Körper“, sagt sie. „Knie zum Kopf eines
‘grounded’ Gegners ist verboten; dein Treffer war Körper. Wir
dokumentieren das, reichen Definitionen ein, übergeben die
medizinische Seite geordnet. Das Verfahren arbeitet, wenn wir es
sauber füttern.“
Ich atme, nicke zu früh, nicke zu viel. Nora schaut auf mein
Gesicht, schätzt die Lage, richtet die Mappe hoch und tippt mir mit
der Kante sanft gegen die Stirn — ein leises tock, mehr
Kalibrierung als Tadel. „Bleib oben an“, sagt sie mit einem halben
Lächeln. „Ich brauche deinen Kopf in der Waagerechten, nicht in der
App.“
Ich will „passt“ sagen, aber meine Augen sind schneller als
meine Zustimmung. Das Telefon liegt neben der Schachtel, Display
nach unten, als hätte es schon verstanden, was heute nicht dran
ist. Finger drehen, Bild an. Und da ist es wieder, unverschämt
ehrlich: Kapuze im Flurlicht, ihre Schulter, meine Naht, hinten die
Box, der Umhang als schwarzes Quadrat, die Schleife wie ein Rest
von Feier. Ein Selbstporträt, das kein Statement will.
Nora ist schneller als meine Reue. Ihre Hand nimmt mir das
Telefon ab, nicht streng, nur routiniert.
„Was schaust du?“, fragt sie, noch neutral. Dann sieht sie
es. Das Foto. Der Moment, in dem Information Humor trifft, ist kurz
und deutlich: ihre Augen werden erst schmal, dann warm, dann
wütend-belustigt. „Ihr zwei macht mich fertig“, sagt sie — jetzt.
Der Satz landet, wo er hingehört.
Ich hebe abwehrend die Hände. Lea atmet hörbar durch die
Nase, was bei ihr Lachen heißt. Ajarn hebt eine Braue. Bei ihm ist
das Applaus.
Nora hält mir das Telefon hin, zieht es im selben Atemzug
wieder zurück, tippt mir noch einmal mit der Mappe an die Stirn,
diesmal schneller, wie ein Schlagzeug-Count-in.
„Nein. Keine Tasten für dich. Heute nicht.“ Lea nutzt die
Lücke, legt das Raster wieder über den Tisch.
„Wir bestätigen Teilnahme am Hearing“, sagt sie. „Wir
übergeben die medizinischen Nachweise. Wir reden nicht über
Technik. Wenn eine Frage nach Gefühl kommt, sagst du ‘Genesung’ und
‘Verfahren’. Ende.“
„Und wir posten nichts“, ergänzt Nora. „Kein ‘Nur wir zwei’,
kein ‘Ich erklär das mal kurz’, kein Emoji. Dein Herz ist hier gut
aufgehoben.“ Sie tippt mit der Mappe auf die Innentasche ihres
Blazers, in die das Telefon soeben verschwunden ist. „Handyverbot.
Bis nach intern. Wer was will, geht über mich oder Lea.“
Ich setze an: „Nur…“
„Nein“, sagt Nora freundlich. „Wenn es in den Fingern
kribbelt: Notizen-App auf Papier. Falten. Tasche. Wenn der Zettel
zwei Stunden überlebt, ohne dass du ihn irgendwem zeigen musst,
darf er vielleicht morgen raus.“ Ajarn räuspert sich, sein „weiter
im Text“.
„Essen“, sagt er. „Dann schlafen. Keine Heldentaten. Die
räumen nur das Ego um.“
Ich nicke. Ich will fragen, ob ich wenigstens das Foto
behalten darf, aber NORA ist PR, und PR hat Ohren für
unausgesprochene Wünsche.
„Das bleibt“, sagt sie, jetzt mild. „Nur: nicht anfassen.
Nicht teilen. Nicht starren, bis du vergisst, wo dein Mund ist.“
Lea schiebt die drei Karten näher an mich heran, als wären
es Wärmepflaster. „Sag sie klar, nicht schön“, sagt sie. „Schön
sparen wir uns für Ergebnisse.“
„Noch etwas?“, frage ich. Es klingt, als würde mein Hals
Sand schieben.
„Ja“, sagt Lea. „Schlaf, wenn es geht. Wenn nicht, mach
leise. Lass die Bilder arbeiten, nicht die Erklärungen.“
Nora bleibt noch einen Herzschlag länger an der Tür, legt
zwei Finger an die Kante ihrer Jacke, wo jetzt mein Telefon wohnt.
„Ich hab erst gelacht“, sagt sie halblaut, „dann gezählt.
Ihr zwei…“ — und sie fängt sich, grinst — „…bringt mich trotzdem
nicht um. Also bitte: mach mir heute keinen Marathon über
Stolpersteine. Sprint reicht.“ „Versprochen“, sage ich, und es
überrascht mich, dass es stimmt.
Die Tür schließt weich. Der Raum erinnert sich an seine
Neutralität. Die Karten liegen vor mir wie drei kurze Brücken. In
der Schachtel schläft der Umhang, der das Licht am liebsten frisst.
Ich gehe zum Fenster, lege die Stirn noch einmal an die Scheibe,
die Stadt dreht unten die Reklame, als läge darin etwas
Tröstliches: dass wenigstens die Anzeigen immer wissen, was sie
wollen.
Ich probiere die Sätze leise, nicht wie Gebet, mehr wie
Gerätekontrolle: