Welten Akt 2 - Emanuel Siebert - E-Book

Welten Akt 2 E-Book

Emanuel Siebert

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Beschreibung

Der Nachhall eines einzigen Abends stellt mein Leben auf stumm: Titel aberkannt, Lizenz auf Eis, die Kommission prüft, die Öffentlichkeit urteilt schon. Bevor ein offizielles Urteil fällt, liegt ein Vertrag auf dem Tisch, der mich nicht zurück in den Käfig, sondern auf die Bühne zwingt – Auftritte, Kameras, PR. Dort, wo Nähe kalkuliert wird, rückt Aiko an meine Seite und ich lerne, dass Präsenz ein eigener Kampf ist. Zwischen Tour, Management und juristischen Grenzen ringe ich mit dem, was übrig bleibt, wenn Zuschlagen verboten ist und Gesehenwerden Pflicht wird. Die Kämpfe bleiben körperlich – Atem, Rhythmus, Distanz –, doch ihre Folgen reichen tiefer: Reputation, Loyalität, Selbstbild. Erzählt in der Ich-Perspektive, verbindet "Welten" reale Konflikte mit poetischer, dichten Action und steigert das Drama jenseits der Schlagkombinationen: ein Sport- und Liebesroman über Kontrolle und Loslassen, über das Risiko, auf der Bühne mehr von sich zu zeigen, als einem lieb ist.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Emanuel Siebert

Welten Akt 2

Konsequenzen

Author & Publisher Emanuel Siebert, Schulstrasse 28, 67360 Lingenfeld, Rhineland-Palatinate, Germany Contact (email): [email protected]
UUID: 1bef610c-8627-4309-9d37-d1687673fb4e
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Akt 2

Nachhall

Zirkus

Rampenlicht

Insomnia

Rahmen

Straßen

Anmerkungen

Akt 2

Konsequenzen

Nachhall

und ein Urteil ohne Richter

Samstag. Zwei Stunden nach der Glocke. Vegas tut so, als wäre nichts geschehen; die Stadt hält den Atem nicht an, sie verkauft ihn, Neon für Neon, als liefe die Nacht auf Kredit und der Morgen hätte kein Mandat. Die Klimaanlage sägt unter dem Teppich eine unsichtbare Kerbe, der Spiegel im Zimmer zieht eine kalte Linie durch mein Gesicht, bis aus dem Rest nur noch Zählung übrig bleibt, eine Zahlenschiene, die von der Stirn bis in die Brust fährt und dort leise klickt. Vier rein. Vier raus. Was nicht zählt, lärmt wie Staub im Hals. An meinem Handgelenk liegt der Fetzen, ihr Blau, nicht als Talisman und nicht als Schuld, eher wie ein Pflaster auf einer Stelle, die nie geblutet hat; wenn der Daumen darübergeht, antwortet nichts, und dennoch bleibt er, ein absichtlich ungelöster Knoten, der nicht drückt und doch die Haut neu ordnet. Ich drehe das Handy nicht um, das Bauch an Holz vibriert — einmal, wieder einmal, dann ein drittes Mal, kurz genug für Dringlichkeit und lang genug, um die Luft zu stören: Nora, Ajarn, Ziffern, die stechen wie kalte Nadeln. Nicht, weil ich nicht könnte, lasse ich es liegen, sondern weil niemand Zugriff auf die Luft bekommt, die ich gerade zählen muss; nicht einmal sie. Der Fernseher schreit stumm in den schwarzen Rahmen hinein, unten in der Lobby spiegeln sich Werbetafeln wie eine falsche Sternkarte im Glas der Tische, und als ich ans Fenster trete, liegt die Wärme draußen auf der Scheibe, während innen die Kälte in die Finger läuft. Gegenüber wechselt eine LED-Wand durch ihr Programm, fünf Motive, dann bleibt sie stehen, als wäre die Stadt kurz im Takt gestolpert: Aiko. Blau-silber, klarer Hintergrund, das Gesicht in einer Linie, die nichts erbittet und doch alles hält. Darunter steht nicht „Live tonight“, sondern die Zeit, die bereits vergangen ist — FRIDAY // 20:00 — ein Restschriftzug, der die Nacht nicht mitbekommen hat; von „keine TV-Zeit“ zu einem Gesicht, das die Kamera von selbst erkennt, ohne dass jemand es ausruft. Es passiert nebenan und liegt gleichzeitig hinter allem, wie ein Ton, der im Raum bleibt, obwohl der Lautsprecher längst stumm ist. Die Uhr auf dem Nachttisch behauptet standhaft die zwei Stunden, während die Vaseline an der Naht über meinem rechten Auge noch matt glänzt; beim Blinzeln knirscht etwas, als hätte jemand Sand zwischen Haut und Abend geblasen. Ich trinke Wasser in Vierteln, nicht wegen Durst, sondern weil jede Viertelstrecke eine kleine Entscheidung ist, die keine Erlaubnis einholt. Mein Name steht im Netz in Großbuchstaben, obwohl ich ihn seit Jahren klein schreibe: MIRAN — SUSPENDED — COMMISSION REVIEW — KADE INDUZIERTES KOMA — STATEMENT AUSSTEHEND. Schlagzeilen wie Türen in einem Haus, in dem niemand wohnt. Ein Feed schiebt einen Screenshot der Mail der Kommission ins Karussell: vorläufige Suspendierung bis zur Klärung, Anhörung angesetzt, keine Auftritte, keine Lizenz, keine Gage. Dieses „bis zur Klärung“ ist die längste Gasse der Stadt; man tritt hinein, und das Ende rückt nicht näher. Einmal lesen. Das Bad ist nicht für Hygiene, sondern für Stille; die Fliesen werfen das Licht zurück, als wären sie in einer Debatte und wollten nicht nachgeben. Ich lasse die Dusche kalt, lehne die Stirn gegen Stein, Fingerspitzen an den Rand des Beckens, bis die Knöchel hell werden, und spüre, wie der Fetzen Feuchtigkeit aus der Luft trinkt, ohne schwerer zu werden. Vier rein. Vier raus. Zwischen die beiden Takte schiebt sich ihr Dreier wie ein fremder Befehl über meinen, nicht Musik, eher ein Marsch, den niemand angesagt hat und dem ich doch gehorche, weil er unter der Haut entlangläuft. Wieder Vibration, Nora im Kreis, Nachrichten, die sich selbst verfolgen; unten in der Schleife zieht eine rote Bauchbinde durch das Bild — „Miran unreachable. “ Das ist kein Humor, nur eine Feststellung, die genauer ist, als sie aussehen darf. Heute bin ich Atem, nicht mehr; alles andere ist Dekoration und muss warten, bis die Luft wieder Platz macht. Als der Flur leer klingt, gehe ich hinaus; Teppich frisst Schrittgeräusche, an der Ecke hängt ein stummer Feed aus einer anderen Halle, und dort liegt Aikos Gesicht unter Lichtern, die nie ganz ausgehen. Unten ist das Casino eine Kirche, in der man Ziffern betet, und vor der Tür spült eine Tafel Clips an die Oberfläche, die wichtig tun und doch nichts sagen; für einen Moment rutscht ihr Preview hinein — FRIDAY — dann die Karte, dann wieder hinaus in den Loop. Ich sehe nicht die Moves, ich sehe Haltung, und die ist neu und alt zugleich. Zurück ins Zimmer. Ich halte die Stirn ans Holz der Tür, nur um etwas zu fühlen, das nicht sendet. Zwei Stunden und neunundzwanzig Minuten. Die Kommission hat mich vom Brett gehoben und sagt, sie legt mich bald woanders wieder hin. In meinem Postfach wartet ihre Karte wie ein Parkticket. Hearing. Ich klappe den Laptop auf, nur um das Wort groß zu sehen. Ich klappe ihn zu. Die Welt ist lauter als die Mail, und ich bin klein genug, um in jede Zeile zu passen, die mich ordnet, ohne mich zu kennen. Ein neuer Ton. Kein Anruf. Eine Nachricht, die aufploppt, obwohl ich alles ausgestellt habe, was ploppen darf: Aiko. Zwei kurze Zeilen, die die Luft verdichten: „War Publikum; wollte rüber — Nora sagt: heute keine Extra-Presse.“ // „Bleib Vegas mit WWE; nicht deine Schuld. “ Ich atme, als hätte der Raum plötzlich weniger davon. Ich tippe: „Iss.“ Lösche. „Pass auf.“ Lösche. „Ich sehe dich.“ Lösche. Ich tippe nichts. Sie ist nicht hier für meine Sätze. Sie ist hier, um zu arbeiten. Und ich bin hier, um die Konsequenzen zu tragen. Dazu gehört Schweigen; dazu gehört auch, dass ich mir selbst beim Wichtigtun zusehe, während draußen das Protokoll ohne mich weiterläuft. Ich halte den Bildschirm nah an den Mund, als könnte er warm werden, wenn ich nahe genug bin. Der Fetzen am Handgelenk wird schwer, obwohl Stoff kein Gewicht hat. Ich drehe mich, setze mich auf den Boden, Rücken an die Tür, Knie angezogen. Das Holz im Rücken macht keine Versprechen. Gut. Ich brauche keines. Ich brauche Haltung, und Haltung fühlt sich heute an wie stillstehen, während niemand hinsieht und die Kamera trotzdem alles sieht, was ich falsch halte. Im Zimmer darüber übt jemand Reden. Man hört nur die Leerstellen zwischen den Sätzen. Das ist der einzige Ton, der mir heute noch etwas sagt. Vier rein. Vier raus. Zwischendrin eine Zahl, die ich nicht zählen will: Monitore. Schläuche. Kade . Ich stelle ihn mir vor, wie er arbeitet, ohne Körper, ohne Bühne, nur mit Maschinen. Ich hoffe, dass Hoffen kein dummer Muskel ist. Ich hoffe, dass ich genug davon habe. Ich hoffe überhaupt zu viel, und nichts davon hilft. Das Handy fährt eine Welle an mich heran. Direktnachrichten überschlagen sich, als wäre eine Schleuse aufgesprungen. „Monster.“ „Meisterwerk.“ „Bann ihn.“ „Halt durch.“ „Du hast ihn am Hals erwischt.“ „Schlüsselbein. Lest die Regeln.“ „Killer-Knie.“ „Sauberer Body-Shot.“ Zwischen den Steinen liegt eine Perle, die nicht glänzt: Yumi . Kein Foto, kein Emote. „Ich bin bei ihr. Privat. Punkt.“ Ich sehe keine Szene dazu. Ich sehe nur Zuverlässigkeit in Schrift. Und daneben mich, klein geschrieben von mir, groß geschrieben vom Netz — beides falsch, beides unbequem. Die dritte Stunde kommt nicht angelaufen, sie kriecht. In dieser Geschwindigkeit lebt nur Wahrheit. Ich koche Wasser in einem Pappbecher, obwohl es nach nichts schmeckt. Ich trinke, weil Kauen Regeln kennt und Trinken Herkunft hat. Ich stelle den Gürtelkoffer um, damit ich nicht aus Versehen über ihn stolpere. Er mag unschuldig sein. Er sieht es nicht aus. Ich vielleicht auch nicht; ich halte das Licht schlecht und gebe danach der Lampe die Schuld. Die Kommission hat inzwischen eine Pressewand gefunden. Irgendein Mann in einem Anzug mit Gesicht sagt Standard-Prozedur, sagt Sicherheit, sagt anhaltende Untersuchung, sagt vorläufig. Er sagt nicht „Atem“. Er sagt nicht, dass Zahlen auch Tiere sein können, die man nicht zähmen kann. Es klopft; einmal, dann eine kurze Pause, dann noch einmal — Noras Art, die Arbeit anzukündigen, ohne den Ton zu verschönern, eine Signatur aus zwei Schlägen, die keine Nähe behauptet und trotzdem Ordnung bringt. Ich bleibe still, die Klinke rührt sich nicht, Schritte ziehen ab, und später kommt ihre Nachricht wie ein sauber gefaltetes Protokoll: „Presse will live. Ich sage nein. Kommission will, dass du dich meldest. Ich sage: später. Sponsor XY setzt Zahl auf hold. Melde dich.“ Ich lese den Takt in ihren Zeilen, sehe die Klammern, die sie um den Tag legt, damit nichts ausläuft; Arbeit regelt, was Gefühle ruinieren würden, und ich liebe sie dafür, nur leider zur falschen Zeit. „Zwei Stunden und sechsundfünfzig Minuten“, sagt die Uhr, und ich lache einmal, ohne dass ein Geräusch entsteht; ein trockenes Echo, das nirgends ankommt. Ich stehe auf und wandere den Flur, der Teppich nimmt mir für fünfzehn Schritte die Schuld aus den Knien, als hätte er eigens dafür eine Faser mehr. In der Lounge wühlt eine Zusammenfassung ohne Ränder: mein Frame in Runde fünf, mein Knie, Kades Körper, der wie eingeklappte Statik zu Boden geht; eine Stimme, die ich nie um Sprache bat, sortiert Vokabeln: „grenzwertig“, „im Rahmen“, „furchtbar effektiv“. Ich schaue nicht auf den Schnitt, ich schaue nur auf seine Brust, als hätte ein unsichtbarer Stift dort noch einmal eine Linie nachgezogen, die keiner löschen kann. Ich flüchte in die Wäscherei. Heißluft, Dampf, Trommeln — das monotone Grollen der Maschinen ist ehrlicher als jedes Statement, weil es nichts behauptet, außer dass Arbeit passiert. Ich setze mich auf einen leeren Wagen, stoße mich mit dem Fuß ein paar Zentimeter vor und zurück, als ließen sich Knoten rollen wie Wäsche; man kann in Waschküchen beten, ohne dass es jemand merkt. Mein Gebet hat keine Worte: Er atmet. Lass ihn atmen. Lass mich atmen, ohne ihn zu verlieren. Ein Kellner kommt, sieht mich, geht wieder, weil ich sichtbar nicht dazugehöre; ich nehme ihm die Arbeit ab und verschwinde besser, die Treppe hoch, zurück zum Zimmer, die Klinke so leise, dass der Raum kurz zuckt wie ein Tier. Boden. Rücken an Holz. Knie angezogen. Die dritte Stunde ist da, aber sie kommt nicht an; sie liegt gefaltet im Raum wie Männer zusammenklappen, wenn Luft plötzlich Theorie wird und niemand die Praxis findet. Nachricht von Hunter . Kein Ton, kein Meme, kein Lachen aus einer alten Halle, nur Text: „Kläre das. Komm zurück zum Zirkus. “ Ich starre auf die zwei Sätze, bis sie drei sind, weil ich ein Bitte hineinhöre, das nicht da steht, und ein Jetzt, das sich verkneift, und natürlich mich selbst, der immer zwischen den Zeilen lauter wird; von allen, die heute sprechen könnten, spricht ausgerechnet er, und es sind sieben Wörter, die mehr Ordnung in die Luft schneiden als alle Schlagzeilen zusammen. Kläre das. Komm zurück zum Zirkus. Der Fetzen an meinem Handgelenk wird warm, als hätte Text Temperatur; ich halte ihn fest, nicht damit er bleibt, sondern damit ich bleibe. Ich tippe keine Antwort, ich lasse das Display dunkel werden und sitze weiter, Rücken an Holz, Knie dicht, während der Teppich unter der Tür leise atmet, als sei er selbst nur ein Tier, das gelernt hat, nichts zu wollen. Und irgendwo hinter dieser Tür steht ein Pult mit Mikrofon und der Ablauf für eine Live-Runde Fragen, ein weiteres Zimmer zählt Formalien für eine Anhörung, und die Stadt verkauft beide Geschichten gleichzeitig — ich weiß, dass man sich melden muss, wenn man in dieser Stadt aus der Reihe fällt, ich weiß, dass Prozeduren ohne Geduld laufen, und ich weiß, dass meine Stille nur mir selbst dient und keinem Verfahren, doch heute kann ich sie nicht ablegen. Die Stadt hält noch immer die Augen offen, obwohl sie müde ist; die LED von gegenüber schlägt ihre Schleifen in die Scheibe, und die Klimaanlage fräst eine feine, kalte Linie durch den Teppich, als wollte sie den Raum in zwei Hälften schneiden. Ich sitze auf der Fensterbank, Knie an die Brust, der Gurtkoffer steht so, dass ich ihn nicht streife, und der kleine blaue Fetzen am Handgelenk liegt ruhig, als wäre er die einzige Sache hier, die nicht diskutiert werden kann. Unten murmelt irgendein Fernseher mit Bild ohne Ton, die Schlagzeilen blinken weiter, aber hier oben ist nur Glas, Luft, Staub, der sich setzt. Die Klinke bewegt sich. Keine Höflichkeitsfrage, nur Druck. Nora. Sie kommt herein, sieht mich, sieht zuerst die Dinge, die ordnen lassen: offene Tasche, der Laptop zu, das Handtuch schief, die Wasserflasche halb — und dann mich. Sie stellt nichts ab, sie nimmt nichts hoch, sie bleibt stehen, nah genug, dass Papiergeruch und ein sauberes Parfum den Dampf aus der Wäscherei ablösen. „Wir müssen ein Statement abgeben“, sagt sie, ohne die Stimme weicher zu machen, als würde sie mit dem Raum reden. „Ajarn sagt, es war legal. Alte Wege aus Bangkok — nicht schön, aber legal.“ Es ist, als zöge jemand langsam ein Blatt aus einem Hefter; ich höre Metall. „Es sind erst drei Stunden“, sage ich, und ich merke, wie wenig die Zahl hilft, „und sie jagen mich, als wären die Fackeln gratis.“ „Ich weiß.“ Sie lässt das ich weiß nicht wie Trost klingen, eher wie eine Koordinate. „So ist das hier. Vegas.“ Ein kurzer Atem, dann der Satz, der die Temperatur wechselt: „Hör zu, Junge: Kade ist auf der Intensivstation. Maschinen. Wir können nicht sagen, ob es deine Schuld ist. Lea ist schon dran.“ Intensivstation. Maschinen. In meinem Kopf hören die Worte nicht auf, zu arbeiten. Ich starre an Nora vorbei auf die Glasfassade, sehe nur die Reflexe der Schrift, die rotieren, und darunter mein Spiegelbild, klein und schief. „Wir nennen es Urlaub bis zur Anhörung“, sagt sie, „du bist immer noch der Champ. Keine Verluste auf der Bilanz.“ „Fühlt sich nicht so an“, sage ich, und die Stimme ist kleiner, als ich sie haben wollte, so wie Dinge, die im Licht falsch liegen. „Hunter hat geschrieben“, sage ich dann, weil es im Zimmer hängen geblieben ist wie ein Geruch. Noras Blick kippt eine Nuance Richtung hart. „Was will der denn jetzt?“ „Ich soll zurück zum Zirkus kommen.“ Sie schüttelt kaum merklich den Kopf, als wäre der Muskel trainiert. „Das kann er vergessen. Wir haben Besseres zu tun.“ Sie zählt auf, und die Luft schaltet in Protokoll: „Jetzt schlaf. Iss. Morgen früh — Lea. Kümmert sich um alles. Sponsor zwei pausiert, drei bleibt, fünf wartet. Überlass das mir.“ Sie macht keine Versprechen, sie schiebt nur die Zahlen wie Steine so hin, dass sie eine Brücke werden. Ich nicke nicht. Ich atme nur. Sie sieht es. „Es ist nicht deine Schuld“, sagt Nora, und ich weiß, dass sie Sätze meidet, die man ihr später vorhalten könnte; dieser hier bleibt, weil er mehr über Linie sagt als über mich. Sie dreht sich, macht die Tür auf, schließt sie ohne Geräusch. Der Raum braucht einen Moment, um wieder ein Raum zu sein. Ich sehe die Stelle, an der sie stand, das kleine mattschwarze Rechteck, das eine Meldung vom Display geholt hat, und die Wasserflasche, die von allein zurückspringt, als hätte sie einer angestoßen. „Drei Wochen Urlaub“ — ich spreche die Worte nicht laut aus, ich lasse sie an den Rand vom Fensterbrett fallen, wo sie wie Schrauben klingeln. Es fühlt sich falsch an, als hätte jemand eine Bühne bestellt, die nie aufgebaut wird. Ich lehne den Kopf ans Glas; draußen sind die Buchstaben wieder groß, innen ist alles klein, und beides stimmt gleichzeitig. Ich zähle nicht. Ich lasse die Luft an mir vorbeigehen, so lange, bis sie wieder mir gehört. Vier Uhr morgens in einem Haus, das nicht schläft, sondern so tut, als hätte Schlaf nie erfunden werden müssen. Der Flur liegt ausgerollt wie eine Landebahn ohne Piloten; irgendwo atmet der Fahrstuhl in unregelmäßigen Stößen, als würde er das Gebäude nach und nach hochziehen, Stockwerk für Stockwerk. Die Klimaanlage sägt dünn durch die Wände. Teppich, der jede Spur willig schluckt. Ein Exit-Schild, das so grün leuchtet, als sei Flucht eine höfliche Option. Vegas kann um vier genauso hell sein wie um vierzehn — nur dass die Gesichter, die man um diese Stunde sieht, in eine andere Geschichte gehören: Personal mit müden Händen, Profis der Nacht, Menschen, die sich verlaufen haben und jetzt so tun, als sei der Umweg die Pointe. Diese Stadt funktioniert wie eine Maschine, die niemand ausschaltet, weil niemand den Knopf findet, und wenn doch, ist er aus Glas und zeigt nur die eigene Hand. Dass der Betrieb auch jetzt weiterläuft, ist keine Metapher, sondern Bauordnung, Lizenz, Gewohnheit — ein Ort, an dem „offen“ die Grundeinstellung ist und nicht ein Schild, das man abends wendet. Ich gehe, weil „liegen“ heute nur ein anderes Wort für „nachdenken müssen“ ist. Die Uhr am Gang sagt 04:01, die an der Lobby 03:58; beide sind bestimmt, beide haben recht, beide sind nutzlos. Der Automat steht dort, wo alle Automaten stehen: zwischen Eismaschine und einem kleinen, kühlen Quadrat Licht, das so wirkt, als wäre hier ein eigener Wetterbericht zuständig. Hinter Plexiglas liegen Reihen in militärischer Ordnung; Dosen und Flaschen nebeneinander wie farbige Verkabelung, die man nur anschließen müsste, damit der Körper enge Kreise schlägt und sich für einen Augenblick wieder erinnert, wie Routine schmeckt. „Cola“, denke ich, ausnahmsweise, und noch während der Finger auf „B3“ fällt, weiß ich, dass „ausnahmsweise“ ein anderes Wort für „sehnen“ ist. Die Flasche fällt in den Schacht, ein kalter Stoß an die Handfläche, die Kappe dreht sich mit dem vertrauten kleinen Schrei auf, Kohlensäure läuft hoch — ich trinke, und es ist wie beim letzten Mal: falsch. Ich trinke, weil Müdigkeit gern so tut, als sei sie Durst, und weil Kälte in der Hand besser ist als Kälte im Kopf. Jemand steht plötzlich neben mir. Kein Geräusch, nur Präsenz; vielleicht mein Alter, vielleicht älter, man kann das um vier nicht sagen, weil Gesichter dann mehr aus Schatten bestehen als aus Alter. Hoodie, der keine Farbe braucht. Hände, die in den Ärmeln wohnen, als hätten sie den Mietvertrag eigentlich gekündigt. Der Blick ist leer, aber nicht hohl — eher der Blick einer, die Platz machen will für das, was gleich kommt. Sie stellt sich nicht vor. Das ist konsequent. Namen wären in dieser Stunde nur Dekoration. „Kein Statement?“ Keine Stimme, ein Ton, der sich an den Flur anpasst, als wäre der Gang selbst der Verstärker. Es ist nicht Anklage, nicht Spott. Es ist schlicht eine Frage, aber sie trägt das Gewicht von allem, was im Netz bereits in Großbuchstaben liegt. Ich sehe sie an und sehe zuerst das Naheliegende: wie das Neon uns beide gleich macht, wie die Linse der Plexiglasscheibe sich das Licht leiht, um es zurückzugeben, wie die Eismaschine links daneben anläuft und eine Handvoll Würfel speit, die in den Trichter fallen wie knappe Zustimmung. „Tut mir leid“, sage ich, und das „leid“ ist kein Schutzschild, eher ein Eintrittspreis. „Es wird bald eins geben. Von meiner Anwältin. Sie klärt gerade alles.“ Ich spüre, wie das Wort „Anwältin“ die Luft strukturiert; es ist ein Wort mit Kanten, kein falsches, aber eins, an dem sich Menschen schneiden, die Blut sehen wollen statt Papier. „Anwältin?“ Sie zuckt nicht mit einem Muskel, und trotzdem ist da die Bewegung: ein Hauch in den Mundwinkeln, eine kleine Verschiebung. „Klingt nach Feigling. Respekt und Ehre klingen anders.“ Ich halte die Flasche, als könnte sie kippen, und blicke an ihr vorbei auf die Reihe identischer Geschwister, die mich mit Etiketten anschauen, die „immer“ behaupten. „Ehre befleckt heute den Boden“, sage ich, nicht groß, nicht als Pose; ich meine damit nicht Pathos, sondern die Art Schmutz, die entsteht, wenn die Dinge zu schnell hintereinander passieren und niemand da ist, der den Besen rechtzeitig fasst. „Besser als ohne zu leben…“ sagt sie, fast wie aus Routine, als würde sie einen Satz in der Reihenfolge abarbeiten, in der er zu ihr gekommen ist. Sie dreht sich, und in dieser Drehung liegt kein Abschied, nur ein Ende der Notwendigkeit. Der Hoodie fließt kurz wie Wasser, dann ist sie zwei Schritte weiter und wird mehr Gang als Mensch. „ Ich bin kein Feigling“, sage ich, und es ist lauter, als ich es geplant hatte; der Ton springt an die Metallkante des Automaten, prallt von der Eismaschine zurück, klingelt einmal kurz im leeren Treppenhaus, als wäre er zu leicht für die Etage. Sie bleibt stehen, ohne sich zu drehen; ein Dreieck zwischen Schultern, Kapuze, Gang. „ Warum rennst du dann davon?“ Kein Hohn, kein Triumph, nur eine sehr kalte Uhr, die nicht an der Wand hängt. Sie geht weiter, und die Neonkante holt sie sich, wie Wasser eine Uferbiegung holt. Ich stehe da, als hätte mich jemand abgestellt. Die Flasche schwitzt. Das Etikett wird dunkel an den Rändern. In der Reflexion der Plexiglasscheibe steht meine Schulter neben ihrem Rücken und sieht aus wie ein schlechtes Doppelbelichtungsfoto, in dem die zweite Person immer eine Sekunde zu spät war. Der Automat surrt, als würde er dessen, was wir gesagt haben, eine technische Version geben, die niemand transkribieren will. Der Weg zurück zum Zimmer ist derselbe. Ich stelle die Flasche auf den Tisch, sie kippt fast, fängt sich, eine kleine Komödie, die ich nicht lache. Ich lasse mich an der Wand neben der Tür herunter, so wie vorhin, als ich noch glaubte, dass Sitzen eine Entscheidung sei, und nicht einfach das, was der Körper macht, wenn die anderen Optionen zu laut sind. Die Worte im Flur fangen an, an mir zu arbeiten: Kein Statement?Anwältin?Feigling.Respekt.Ehre.Besser als ohne.Warum rennst du dann davon? Ich habe große Hände und kann nichts davon halten. Ich höre sie, die „anderen“, die an dieser Nacht ziehen: die Leute mit dem Berufsoptimismus, die früh schon reden, weil man nach Ereignissen reden muss; der unsichtbare Stimmenchor der Kommentare, die die Welt sortieren, indem sie sie benennen; das Schaben der Meinungen, die sich aneinander bekämpfen, bis eine liegenbleibt und die andere behauptet, sie habe gewonnen. Früher habe ich gedacht, dass Gewalt Geräusch braucht; heute lerne ich, dass die leisesten Sätze die längsten Zähne haben. Ein Mädchen, das mir nicht ihren Namen sagt, kann mich mehr aufschließen als jeder Journalistenblock, der auf die nächste Schlagzeile wartet. „Ich bin kein Feigling“, habe ich gesagt. Ich denke es wieder, diesmal leiser, und das macht es nicht wahrer. Warum renne ich dann davon? Man kann in einem Zimmer bleiben und trotzdem rennen; man kann schreiben ohne zu antworten; man kann atmen und sich dabei wie ein Schrank fühlen, in dem nichts hängt, das einem gehört. Ich will einen Satz, der hält, aber Sätze halten nur, wenn man die eigene Hand nicht im Bild hat. Ich will ein Statement, das „wir“ sagt, aber „wir“ ist heute ein juristisches Wort und kein menschliches. Lea wird schreiben, präzise, sauber, ohne das, was mich in der Nacht groß macht und am Morgen bereuen lässt. Vielleicht ist das die richtige Größe: eine, die man nicht selbst wählt. 04:30. Die Ziffern stehen da, als wären sie geschnitzt. Ich könnte mich jetzt hinlegen und so tun, als sei das das Richtige; ich könnte auch wachen und so tun, als sei das schwerer. Ich sitze. Wenn der Rücken die Wand findet, glaubt der Kopf, dass etwas hält. Die Hand sucht den Fetzen. Das Blau ist da, ein kleines Feld mit eigenem Wetter. Er verrutscht nicht. Ich schon, in Gedanken, in Sätzen, in der Art, wie ich meine Rolle aufpoliere, wenn keiner zusieht. Die Worte des Mädchens zersetzen sich nicht; sie vermehren sich, wie kleine Tiere, die genau wissen, wie man durch Ritzen kommt. Ich höre aus der Ferne eine Putzmaschine einen Korridor entlang singen, das geschlossene Lied der Notwendigkeit. Eine Tür irgendwo dreht sich in ihr Schloss wie ein priesterlicher Handgriff. Die Stadt macht die Nacht nicht aus, sie ersetzt sie bloß rechtzeitig durch eine andere Schicht. Und obwohl ich das weiß, überrascht mich immer wieder, wie sehr die Dinge bleiben, die niemand angemeldet hat. Ich lege die Stirn gegen die Tür, so sanft ich kann, als müsste ich ihr beweisen, dass ich nicht wieder gegen sie laufe. Holz kann nichts verzeihen und tut es trotzdem, indem es nur Holz bleibt. Das Auge findet den Spalt unten, durch den der Teppich atmet. Ich zähle nicht. Ich gebe mir die Erlaubnis, genau jetzt gar nichts zu können. Ich gebe mir die Erlaubnis, zu warten, bis jemand anderes entscheidet, welchen Namen der nächste Schritt bekommt. Dann: Drei Klopfer, zart, mit dem kleinen Abstand, der nicht fordert, sondern fragt, ob man noch da ist. Ich bin längst wach; der Raum hat sich in der Nacht an meine Kanten gewöhnt, das Glas trägt eine kalte Stirnspur, der neue Stoff liegt in der Schachtel wie eine stille Anweisung an das Licht. Ich lege die Hand auf die Klinke, halte einen Atem, diesen alten, trotzigen Satz noch einmal fest—ich bin kein Feigling—und öffne. Aiko steht im Türrahmen, als hätte der Gang ihr eine Form geliehen: Kapuze tief, Hoodie, der die Schultern schmaler macht, Jeans, in denen man laufen kann, Schuhe, die nicht sprechen. Und doch verrät sie sich wie immer über etwas, das sie nicht abrüsten kann: ihr Haar—wasserhell in der Dimmung, als hätte jemand eine Welle in den Flur gestellt. In der linken Hand eine kleine Box mit Schleife, schwarz wie die Nacht ohne Lampen. Sie sagt „Hi“, so knapp, dass das Wort eher Temperatur ist als Sprache, streift an mir vorbei, als könnte sie den Tag rückgängig machen, indem sie die Wege neu zeichnet, und stellt die Schachtel auf den Tisch, richtet die Schleife mit einem Finger, der weiß, wie man Dinge beruhigt. „Kopf voll?“ Ein weiches Lächeln, das keine Aufforderung braucht, um Platz zu bekommen; es fasst mir an die Stirn, bevor ihre Hand es tut. In meinem Inneren stolpert ein Zahnrad, der Takt rutscht um eine Kerbe, nichts, was man hört, alles, was man merkt. „Bisschen“, sage ich. Das Wort ist kleiner als ihr Blick. Sie hebt zwei Finger, tippt mir sanft gegen die Stirn, als teste sie einen Schalter, der nie ganz kaputtgeht. „Hab dich angefeiert.“ Das „ei“ bleibt stehen, wie immer; nicht als Trick, sondern als Weg, den sie jeden Tag so geht. Ich spüre, wie der Satz etwas anheftet, das seit Stunden lose war. Die Kapuze bleibt unten, ihr Profil rechtwinklig zur Lampe. „Morgen andere Stadt. Zirkus weiter.“ Es sind kurze Sätze, aber sie sind nicht geizig, nur pünktlich. „Hab Geschenk. Du aufmachen, ja?“ Ich löse das Band, das mehr kann als hübsch sein, hebe den Deckel, Folie flüstert, der Raum hält still; Schwarz liegt darunter, ein matter Schatten, der Licht nicht duldet und deswegen Arbeit verspricht. Kein Glanz. Keine Pose. Ein Stoff, der Bühnen kennt, nicht Laufstege, der die Reflexe der Tischlampe verschluckt, als hätte er sich darauf vorbereitet, mir zu dienen. Ich streiche einmal mit dem Handrücken darüber; er ist weich und stumpf, genau so, wie Dinge sein müssen, die Hintergrund tragen—kein Schmuckstück, ein Werkzeug. „Hab den alten kaputt gemacht“, sagt sie. Kein Entschuldigungston, nur Fakt. „ Gomen. Neuer besser. Für nächstes Mal Zirkus.“ Ich nicke, langsam, als wäre die Bewegung geliehen. Meine Zunge sucht einen Satz, der größer ist als Danke und kleiner als Schwur, findet aber nur Luft, und heute ist Luft nichts, was man teilen sollte. „Muss los.“ Es klingt nicht hart, nur entschieden. Sie zieht die Kapuze einen Zentimeter tiefer, als wolle sie dem Licht Grenzen malen; der Karton bleibt wo er steht, der Raum wird wieder Hotel, bereit, alles zu vergessen, was gerade nicht in die Inventarliste passt. Die Tür ist schon halb zu, als sie wieder ansetzt. Kein Wort. Zwei Schritte und dann ist sie nah, so nah, dass mein Brustbein einen Moment lang vergisst, Rippen zu sein. Ihre Arme kommen fest und sicher, unter meinen Schulterblättern ineinandergelegt, als kennten sie den Ort, an dem ich knicke. Keine Pose. Kein Foto. Nur ein Gewicht, das bündelt, was seit Stunden flackert. Ich hebe die Hände nicht; ich bin spät in diesem Körper, spät in dieser Nacht, spät in der richtigen Geste. Zeit macht weniger Geräusch. Irgendwo schiebt eine Maschine den Teppich vor sich her und fegt die Stunden zusammen, damit sie nicht herumliegen. Sie löst sich, bleibt dicht. Hebt den Kopf. Sie muss; sie ist kleiner, und in ihren Augen liegt der klare Rand, an dem Entscheidungen nicht ausweichen dürfen. „Bald wieder Zirkus zusammen, ja? Viel Spaß?“ Das Fragezeichen liegt weich in „Spaß“, und gerade deshalb trägt es mehr Gewicht als jeder Zuspruch. Ich rechne damit, dass sie jetzt geht; mein Kopf baucht die Lücke schon, in die später Reue rutschen soll. Stattdessen zieht sie ihr Handy aus der Tasche, kippt sich halb ins Licht der Flurleiste, bleibt mit der Schulter an mir, und ehe ich weiß, wo ich hinsehe, hebt sie das Telefon hoch, die Frontkamera flackert, und wir sind ein Bild. „Unser erstes Selfie“, sagt sie, die Kapuze eine kleine Schattenfahne über der Stirn, „für lange Reise.“ Sie neigt den Kopf minimal, damit das Haar den Rahmen nicht sprengt, und fängt uns ein—ich nicht bereit, sie sehr. Ein Klick, lautlos, ein Wischen, zwei Taps, und mein Handy auf dem Tisch vibriert, als hätte es die Szene bestellt. „Ich schicke“, sagt sie, mehr zu sich als zu mir, und der Bildschirm beleuchtet ihre Finger, die Seitentaste kriegt einen kleinen Abdruck von ihrer Haut. Das Gerät auf dem Tisch rührt sich noch einmal; die Vorschau zeigt zwei Gesichter, die aus zwei Geschichten kommen und auf diesem Glas für einen Atem gemeinsam sind. Ich sehe mich an, bereutlos erwischt; Mund nicht in Form, Augen zu offen, der Umhang als schwarzer Block im Hintergrund, die Schleife wie ein Überbleibsel von Feier, die niemand angesetzt hat. Ihr Profil ist ruhig, die Kapuze wirft einen Schatten, der ihr gut steht; das „angefeiert“ von vorhin hängt noch als Restwärme im Raum. „Jetzt gehen“, sagt sie, fast flüsternd, und steckt das Telefon wieder ein, als wäre es nie draußen gewesen. „Morgen früh fliege.“ Der Satz ist so nüchtern, dass er tröstet, kein Urteil. Sie dreht sich; Klinke, der leiseste Klick dieser Nacht. Ich schaue zu, Schritt für Schritt, als könnte ich mir später daraus einen Weg zurück bauen. Als die Tür wieder in ihrer Zarge sitzt, bleibt der Raum einen Moment unentschieden—Hotel oder Beweis. Dann ist er wieder Hotel. Ich stehe, wo sie stand, der Karton in meinem Blick und das Glas in meinem Rücken, und ich weiß nicht, wohin mit diesem Bild auf meinem Tisch. Es gehört mir jetzt, sagt die Vorschau, aber so fühlt es sich nicht an; es fühlt sich an, als hätte mir jemand etwas in die Hand gelegt, das ich morgen anziehen muss, ohne es erklären zu dürfen. Ich nehme das Handy, entsperre, ohne auf die Finger zu schauen; das Foto füllt den Bildschirm—ihr Hoodie, meine Naht über dem Auge, die Kapuze, die ihren Schatten sauber setzt, das matte Schwarz im Hintergrund, das jede Reflexion frisst. Ich tippe auf Antworten und schließe das Feld wieder, tippe „Danke“ und lösche, tippe „Bleib“, lösche, tippe nichts. Der Cursor blinzelt, als hätte er Geduld gelernt. Der Ton aus dem Flur ist weg; irgendwo erwacht die Kaffeemaschine unter uns und hält ihren ersten Vortrag über Notwendigkeit. Die Nacht hat an diesem Ort keine Autorität, sie verhandelt bloß Schichten. Ich falte den Umhang, lege ihn zurück, nicht exakt, nur so, dass er sich nicht beleidigt fühlt. Der Stoff liegt schwerer als er ist; er weiß, dass er Dinge verschwinden lassen kann, die nicht da sein sollten—Licht, Blicke, all das, was Show zu viel macht. Er ist kein Schild und kein Trost. Er ist ein Werkzeug. Ich mag Werkzeuge; sie trösten, weil sie Aufgaben haben und keine Meinung. Ich stelle die Box näher an den Koffer, dort, wo die Reise beginnt, wenn man sie nicht ankündigt. Auf dem Foto schauen wir nicht in dasselbe Zentrum; sie in ihren Plan, ich in meinen Mangel. Ich kenne keine Bilder, auf denen ich richtig stehe; ich bin Rahmen, nicht Motiv. Und doch erwischt es mich, dieser flache Beweis aus Glas: dass Dinge, die kaum eine Minute im Raum sind, länger bleiben als alle Sätze, die ich heute angeboten habe und dann zurückgenommen. Unser erstes Selfie, hat sie gesagt. Für lange Reise. Ich weiß nicht, ob ich die Reise bin oder der Koffer. Ich weiß nur, dass das Wort „unser“ leiser war als alles andere und deshalb lauter nachklingt. Ich setze mich auf die Fensterbank; der Rand ist schmal, macht die Knochen aufmerksam. Draußen spult eine LED-Wand ihr Programm, als wäre sie dazu geboren, die Nacht zu beweisen; drinnen atmet der Teppich durch den Spalt unter der Tür, und die Klimaanlage sägt an der Stille, bis sie eine Form hat. Ich schaue auf den Bildschirm zurück, vergrößere ein Stück Haar, das an der Kapuze vorbei in den Rahmen fällt, vergrößere die Stelle an meiner Wange, die nie entspannt wirkt, vergrößere die Schleife auf dem Tisch, als könnte ich durch Pixel hindurch eine Absicht erkennen, die über uns beide hinausgeht. Es gibt Momente, in denen die Stadt nichts will, und es gibt welche, in denen sie dich zu einem Entscheidungspunkt begleitet und dann stehen lässt, weil ihr Vertrag mit dir hier endet. Die Nacht will Schluss machen, bevor ich den Schlaf überhaupt finde. Die Scheibe ist noch kühl von meiner Stirn, die kleine Lampe kämpft gegen den matten Stoff in der Schachtel und verliert gern, als würde der Umhang das Licht für später sparen. Schritte im Flur, eine Klinke, der Raum stemmt die Schultern — und Nora steht schon drin, mit einer Mappe, die an Ecken Geschichten hat, und Lea im Schlepptau, glatt wie ein Plan. Lea klappt die Mappe auf. Das Geräusch ist ein Taktmesser. „Vorläufige Sperre. ‘Pending review.’ Hearing kommt“, sagt sie, sachlich. „Wir bringen Kooperation, geordnete medizinische Unterlagen und kurze Sätze. Du sagst ‘Arbeit’. Du sagst ‘Verantwortung’. Du vermeidest alles, was nach Deutung riecht.“ Sie legt drei kleine Karten auf den Tisch. Weiß, schwer genug, um nicht wegzurutschen. Auf der ersten steht: „Mein Fokus liegt auf Kades Genesung und der Zusammenarbeit mit der Kommission.“ Auf der zweiten: „Ich respektiere die Entscheidung und erscheine zum Hearing.“ Auf der dritten: „Zu Spekulationen äußere ich mich nicht.“ „Nicht auswendig lernen“, fügt Lea hinzu. „Triff die Mitte. Wenn’s wackelt, häng dich an diese drei Sprossen.“ Nora stupst die Tür mit dem Fuß zu, stellt die Tasche ab, lässt den Blick einmal durch den Raum, so, als könnte sie die Luft sortieren. „Presse will live“, sagt sie. „Ich habe nein gesagt. Die Kommission möchte ein Lebenszeichen, Lea sagt später mit Substanz. Sponsor zwei pausiert, drei bleibt, fünf wartet auf unsere Linie.“ Sie setzt sich nicht; sie stellt sich so, dass meine Unruhe weniger Platz hat. „Kein Social. Keine DMs. Kein ‘kurz was klarstellen’. Heute sind Worte Baumaterial. Erst die Statik, dann die Fassade.“ Die Tür öffnet sich noch einmal, kaum hörbar. Ajarn bleibt im Rahmen stehen wie ein Satz, der keine Nebensätze braucht. „Nächstes Mal kein Ego“, sagt er. Ich nicke. Er nickt zurück, ohne zu lächeln, und fügt leise hinzu: „Schuld ist gleichgültig.“ Dann schweigt er an der richtigen Stelle, was seine Art ist zu bleiben. Lea tippt mit dem Finger auf Karte eins. „Regeln unterscheiden Kopf und Körper“, sagt sie. „Knie zum Kopf eines ‘grounded’ Gegners ist verboten; dein Treffer war Körper. Wir dokumentieren das, reichen Definitionen ein, übergeben die medizinische Seite geordnet. Das Verfahren arbeitet, wenn wir es sauber füttern.“ Ich atme, nicke zu früh, nicke zu viel. Nora schaut auf mein Gesicht, schätzt die Lage, richtet die Mappe hoch und tippt mir mit der Kante sanft gegen die Stirn — ein leises tock, mehr Kalibrierung als Tadel. „Bleib oben an“, sagt sie mit einem halben Lächeln. „Ich brauche deinen Kopf in der Waagerechten, nicht in der App.“ Ich will „passt“ sagen, aber meine Augen sind schneller als meine Zustimmung. Das Telefon liegt neben der Schachtel, Display nach unten, als hätte es schon verstanden, was heute nicht dran ist. Finger drehen, Bild an. Und da ist es wieder, unverschämt ehrlich: Kapuze im Flurlicht, ihre Schulter, meine Naht, hinten die Box, der Umhang als schwarzes Quadrat, die Schleife wie ein Rest von Feier. Ein Selbstporträt, das kein Statement will. Nora ist schneller als meine Reue. Ihre Hand nimmt mir das Telefon ab, nicht streng, nur routiniert. „Was schaust du?“, fragt sie, noch neutral. Dann sieht sie es. Das Foto. Der Moment, in dem Information Humor trifft, ist kurz und deutlich: ihre Augen werden erst schmal, dann warm, dann wütend-belustigt. „Ihr zwei macht mich fertig“, sagt sie — jetzt. Der Satz landet, wo er hingehört. Ich hebe abwehrend die Hände. Lea atmet hörbar durch die Nase, was bei ihr Lachen heißt. Ajarn hebt eine Braue. Bei ihm ist das Applaus. Nora hält mir das Telefon hin, zieht es im selben Atemzug wieder zurück, tippt mir noch einmal mit der Mappe an die Stirn, diesmal schneller, wie ein Schlagzeug-Count-in. „Nein. Keine Tasten für dich. Heute nicht.“ Lea nutzt die Lücke, legt das Raster wieder über den Tisch. „Wir bestätigen Teilnahme am Hearing“, sagt sie. „Wir übergeben die medizinischen Nachweise. Wir reden nicht über Technik. Wenn eine Frage nach Gefühl kommt, sagst du ‘Genesung’ und ‘Verfahren’. Ende.“ „Und wir posten nichts“, ergänzt Nora. „Kein ‘Nur wir zwei’, kein ‘Ich erklär das mal kurz’, kein Emoji. Dein Herz ist hier gut aufgehoben.“ Sie tippt mit der Mappe auf die Innentasche ihres Blazers, in die das Telefon soeben verschwunden ist. „Handyverbot. Bis nach intern. Wer was will, geht über mich oder Lea.“ Ich setze an: „Nur…“ „Nein“, sagt Nora freundlich. „Wenn es in den Fingern kribbelt: Notizen-App auf Papier. Falten. Tasche. Wenn der Zettel zwei Stunden überlebt, ohne dass du ihn irgendwem zeigen musst, darf er vielleicht morgen raus.“ Ajarn räuspert sich, sein „weiter im Text“. „Essen“, sagt er. „Dann schlafen. Keine Heldentaten. Die räumen nur das Ego um.“ Ich nicke. Ich will fragen, ob ich wenigstens das Foto behalten darf, aber NORA ist PR, und PR hat Ohren für unausgesprochene Wünsche. „Das bleibt“, sagt sie, jetzt mild. „Nur: nicht anfassen. Nicht teilen. Nicht starren, bis du vergisst, wo dein Mund ist.“ Lea schiebt die drei Karten näher an mich heran, als wären es Wärmepflaster. „Sag sie klar, nicht schön“, sagt sie. „Schön sparen wir uns für Ergebnisse.“ „Noch etwas?“, frage ich. Es klingt, als würde mein Hals Sand schieben. „Ja“, sagt Lea. „Schlaf, wenn es geht. Wenn nicht, mach leise. Lass die Bilder arbeiten, nicht die Erklärungen.“ Nora bleibt noch einen Herzschlag länger an der Tür, legt zwei Finger an die Kante ihrer Jacke, wo jetzt mein Telefon wohnt. „Ich hab erst gelacht“, sagt sie halblaut, „dann gezählt. Ihr zwei…“ — und sie fängt sich, grinst — „…bringt mich trotzdem nicht um. Also bitte: mach mir heute keinen Marathon über Stolpersteine. Sprint reicht.“ „Versprochen“, sage ich, und es überrascht mich, dass es stimmt. Die Tür schließt weich. Der Raum erinnert sich an seine Neutralität. Die Karten liegen vor mir wie drei kurze Brücken. In der Schachtel schläft der Umhang, der das Licht am liebsten frisst. Ich gehe zum Fenster, lege die Stirn noch einmal an die Scheibe, die Stadt dreht unten die Reklame, als läge darin etwas Tröstliches: dass wenigstens die Anzeigen immer wissen, was sie wollen. Ich probiere die Sätze leise, nicht wie Gebet, mehr wie Gerätekontrolle: