Welten ohne Grund - Werner Vogd - E-Book

Welten ohne Grund E-Book

Werner Vogd

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Beschreibung

Konstruktivistische Ideen und buddhistische Lehre haben mehr gemeinsam als allgemein gedacht. Werner Vogd zeigt jene Gemeinsamkeiten auf, die sich von anderen philosophischen oder religiösen Anschauungen radikal unterscheiden. Er macht dies an drei Leitgedanken fest: 1. Der Versuch, sich selbst zu finden, führt in die Irre. In uns ist letztlich nichts anderes zu finden als Projektionen, die verschleiern, dass es das Selbst als isolierbaren Wesenskern nicht gibt. 2. Konstruktivismus und Buddhismus weisen den Anspruch zurück, aus unseren Erfahrungen eine absolute Wahrheit oder eine explizite Sinngebung abzuleiten. Maturana und Varela sprechen von der Zwecklosigkeit aller biologischen Formen, die buddhistische Lehre betont immer wieder die Essenz- und Substanzlosigkeit all unseres sinnlichen Erlebens. 3. In der rational nicht greifbaren Basis unseres Seins zeigt sich jedoch eine unerwartete Tiefendimension. Jenseits äußerlicher Vorschriften und Regeln offenbart sich im menschlichen Sein eine implizite Ordnung: Mitgefühl und Liebe. In diesem Sinne kann der Dialog zwischen Buddhismus und Konstruktivismus für alle Partner ein Nachhausekommen bedeuten. Wir lernen, in einer Welt ohne Grund heimisch zu werden, und beginnen, unser Leben als Praxis oder als Übung zu begreifen. Diese Übung ist die Übung schlechthin: Es geht um die Kunst des Lebens als Kultivierung der Fähigkeit, das Geschenk der Vergänglichkeit annehmen zu können und auf einer tiefen Ebene glücklich zu sein.

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Systemische Horizonte – Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.«

Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Cewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode- mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Cewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaftan der Universität Tübingen

Werner Vogd

Welten ohne Grund

Buddhismus, Sinn und Konstruktion

Zweite Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe: »Systemische Horizonte«

hrsg. von Bernhard Pörksen

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Zweite Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0036-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8284-9 (ePub)

© 2014, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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In Liebe zu meinem Vater

Inhalt

Danksagung

Vorwort

Einstimmung

Erkenne dich Selbst – westliche Perspektiven

Der Baum der Erkenntnis: Der Apfel ist vergiftet

Lösungsversuche des Subjekt-Objekt-Problems

»Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun«

Den Beobachter erklären

Sich selbst steuernde Maschinen – Selbstreferenz und Unbestimmtheit

Autopoiesis – die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst organisieren

Embodiment – das (Er-)Finden der Wirklichkeit

Die Psyche – kohärente Wirklichkeiten als Selffulfilling Prophecy

Soziale Selbstorganisation – Sprechen und die unentrinnbaren Folgen

Selbst-bewusst-Sein – Spaltungen und der Versuch, sie zu reparieren

Ich-Bewusstsein: das Erleben einer konsistenten Welt

Zeitliche Kohärenz – die Konstruktion der subjektiven Zeit

Bewusstsein und Tod

Das Geheimnis der Koproduktion

Kein Selbst – buddhistische Perspektiven

Die Natur des Selbst erkennen

Die fünf Aggregate des Geistes (khandha)

Das Gesetz der bedingten Entstehung (paṭicca samuppāda)

Die drei Daseinsmerkmale (tilakkhaṇa

Die vier edlen Wahrheiten (ariya-sacca)

Den Geist schulen

Methoden zur Kultivierung von Sammlung(samādhi)

Stadien der Vertiefung (jhāna)

Sammlung als Mittel zu Einsicht und Selbsterkenntnis (vipassanā

Heilsam handeln

Erkennen und Handeln zusammenbringen

Der edle achtfache Pfad (magga)

Vom Sein zum Werden – westliche und buddhistische Perspektiven im Dialog

Die Natur des geistigen Prozesses

Nur Taten und kein Täter

Nachhausekommen im Sein ohne Sinn

Fühlen und Erinnern

Todloses

Relative Wahrheit, absolute Wirklichkeit

Die Mitwelt – interbeing is peace

Kommunikation

Epilog

Anmerkungen

Abkürzungen der Pāli-Quellen

Personenregister

Literatur

Über den Autor

Danksagung

Ein Buch entsteht nicht alleine. Hier insbesondere der Dank an Ina Rösing, die mich bei der Erarbeitung des Projekts unterstützt hat, an Juliane Slotta, die das Manuskript mit ihrem guten Sprachgefühl gegengelesen hat, und an den Carl-Auer Verlag, der die Veröffentlichung ermöglicht und durch sein Lektorat begleitet hat. Zudem möchte ich an dieser Stelle meine tiefe Dankbarkeit gegenüber S. N. Goenka, seinen Assistenzlehrern und der Vipassana-Vereinigung e. V. in Deutschland ausdrücken.

Werner Vogd

Vorwort

Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)

Ludwig Wittgenstein1

Zumindest liefert die Reise des Buddhismus in den Westen einige Ressourcen, die wir benötigen, um unsere eigenen kulturellen und wissenschaftlichen Prämissen bis an den Punkt weiterzuverfolgen, wo wir keine Grundlagen mehr brauchen und begehren und uns so der Aufgabe widmen können, Welten ohne Grund zu bauen und darin heimisch zu sein.

Francisco Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch2

Die Beziehungsgeflechte moderner, zeitgenössischer Verhältnisse sind komplex und verwirrend. Unsere Kultur ist in eine Vielheit rechtlicher, ökonomischer, religiöser, familiärer und moralischer Verhältnisse aufgefächert, die nicht mehr in einer Kosmovision zur Einheit gebracht werden können. Nur noch Fundamentalisten sprechen von der Wahrheit im Singular und allein schon der Blick auf die Praxis dogmatischer Menschen zeigt, dass auch sie zutiefst in den Agonien menschlicher Dramen verstrickt und keineswegs dem göttlichen Frieden nahe sind. Der Befehl Glaube! überzeugt schon längst nicht mehr.

Der moderne Mensch möchte heute selber denken, seine eigenen Erfahrungen machen und selbst herausfinden, was gut oder schlecht ist. Dabei steht er zunächst vor der Aufgabe, auf den Klaviaturen und mit den Registern zu spielen, die mit dem modernen Leben verbunden sind, ohne sich dabei allzu sehr mit den hiermit verbundenen Spielen zu identifizieren. Er hat die Komplexität zu leben, welche unsere heutige Gesellschaft auszeichnet, ohne jedoch in dieser Gesellschaft, die in ihren Anforderungen nur noch paradox und widersprüchlich erlebt werden kann, gefangen zu sein.

Was heißt aber unter diesen Voraussetzungen noch Glück? Vielen gelingt es sicherlich, irgendwie zu funktionieren, doch gerade bei Menschen, die nach gesellschaftlichen Maßstäben einiges erreicht haben, taucht oftmals ein Gefühl von Leere und Entfremdung auf. Dass wir – gerade auch in Zeiten, in denen es uns gut zu gehen scheint – unter einer gewissen Sinnleere leiden (Heidegger würde hier von Seinsvergessenheit und Seinsverlassenheit sprechen), ist kaum mehr von der Hand zu weisen.

Auf den Sinnmärkten – sei es in der Form von Ratgeberliteratur, Psychotherapie oder Esoterik – findet sich eine Fülle von Sinnangeboten. Doch eins sollte klar sein: Die Sinnfrage ist unter den heutigen Voraussetzungen vergiftet, denn sie ist eingewoben in die Kultur, welche die Spaltung erst erzeugt hat. Gerade in ihrem zentralen Bewährungsmythos verkörpert sie ein Ziel, das umso weniger erreicht werden kann, je mehr es angestrebt wird. Die Rede ist hier von der Suche nach dem Ich als dem vermeintlichen Zentrum unserer therapeutischen und spirituellen Ansprüche.

Der Versuch, sich selbst zu finden, muss jedoch in die Irre führen, weil in uns letztlich nichts anderes zu finden ist als jene Projektionen, welche den Befund verschleiern, dass es das Selbst als isolierten Wesenskern nicht gibt.

All dies ist nicht nur ein abstraktes, philosophisches Problem, sondern es wird gefühlt und erlitten. Die Spannungen und Dissonanzen in unseren Orientierungen, die Entfremdung von unserem Seinsgrund, sind Teil unserer leiblichen Erfahrung.

Hiermit einhergehend taucht erneut die Frage nach dem Sinn unseres Lebens auf. Der Bedeutungshof des Wortes Sinn zeigt allerdings schon an, dass es hier immer auch (und später wird sich zeigen: vor allem) um sinnliche Erfahrungen geht, um empfundenes Sein. Es geht um ein gefühltes Leben, das in seiner Expressivität und Reflexivität das hervorbringt, was es in seiner Praxis lebt – und zwar innerhalb des dynamischen Beziehungsgefüges, dessen es sich verdankt.

Vor diesem Hintergrund erscheint es an der Zeit, sich die Voraussetzungen unseres Erkennens und Erlebens genauer anzuschauen. Gäbe es hierzu geeignetere Dialogpartner als den Buddhismus mit der Lehre der bedingten Entstehung, als den neurobiologischen Konstruktivismus und als die allgemeine Theorie der Sinnsysteme, welche aus der soziologischen Systemtheorie hervorgegangen ist? Denn: Wo sonst werden so radikal und wider allen Common Sense unsere eigenen Erkenntnisgrundlagen infrage gestellt?

Ein Dialog erzeugt neue Perspektiven, welche dann auf die Beteiligten rückwirken können. Die alten buddhistischen Lehren können unter dem Blickwinkel der wissenschaftlichen Untersuchung unserer eigenen Erkenntnisvoraussetzungen in einem neuen Glanz erscheinen. Sie beginnen sich einerseits von jenen hochgeistigen scholastischen Sphären abzulösen, wie sie in vielen indologischen Instituten anzutreffen sind. Andererseits können sie jetzt auch nicht mehr in einem naiven Praxisverständnis aufgehen, das sich auf die Aufforderung Meditiere! beschränkt. Vielmehr werden die Subtilität und auch die Kraft der buddhistischen Lehren erst deutlich, wenn man sich ihnen mit einer Denkweise nähert, die in unseren eigenen kulturell verankerten Konzepten gegründet ist.

Die moderne Kultur – ob sie es mag oder nicht – ist eine naturwissenschaftlich formatierte. Gerade deswegen ist der neurobiologische Konstruktivismus so anschlussfähig, da er einerseits in Begriffen wie Gehirn, Kognition, Psyche, Selbst, Materieflüsse etc. gründet, andererseits aber die gewohnte Begriffsverwendung transzendiert. Neurowissenschaften zu betreiben, um aufzeigen, dass das Ich nicht im Gehirn sitzt, sondern eine übergreifende Reflexionsperspektive darstellt, ist alles andere als trivial – und da dieser Befund so stark von unseren kulturellen Selbstgewissheiten abweicht, lohnt sich der Blick auf eine alte Lehre, die schon immer etwas mit diesem Befund anfangen konnte.

Umgekehrt kann der Buddhismus durch die Auseinandersetzung mit den modernen wissenschaftlichen Konzepten seine eigenen unhinterfragten kulturellen Voraussetzungen beleuchten. Vor allem lässt sich nun begreifen lernen, dass seine Lehren vor allem auf Kommunikation gegründet sind. Die buddhistischen Weisheiten erscheinen damit noch unmittelbarer und die auch hier anzutreffenden Versuche, einen Sinn hinter dem Sinn oder eine Spiritualität hinter der Spiritualität zu finden, erscheinen jetzt deutlicher als Derivat einer Verklärung der Lehren des Siddhartha Gautama, des Buddhas, zu einem magischen oder religiösen Glaubenssystem.

In diesem Sinne kann der Dialog für alle Partner ein Nachhausekommen bedeuten. Wir lernen, in einer Welt ohne Grund heimisch zu werden, und beginnen, unser Leben als Praxis zu begreifen oder – indem das vorläufige Moment betont wird – als Übung.3 Diese Übung ist jedoch nicht irgendeine Übung, sondern es ist die Übung, denn es geht um die Kunst des Lebens, um die Kultivierung der Fähigkeit, auf einer tiefen Ebene glücklich zu sein. All dies ist unentrinnbar damit verbunden, das Geschenk des Todes4 annehmen zu können.

All dies ist gemeint, wenn Praktizierende der buddhistischen Lehren sagen: Mögen alle Wesen glücklich sein!

Einstimmung

Nach der Begegnung mit dem Absurden ist alles erschüttert. Diese Vorstellung ›ich bin‹, meine Art zu handeln, als hätte alles einen Sinn (selbst wenn ich gelegentlich sage, dass nichts Sinn habe), all das wird durch die Absurdität eines möglichen Todes auf eine schwindelerregende Weise Lügen gestraft.

Albert Camus5

Um 600 vor Christi Geburt hatte sich die Gesellschaft im Norden Indiens längst zu einer Hochkultur entwickelt. Der Handel blühte. Große Städte entstanden. Kultur, Philosophie und Religion gediehen unter diesen fruchtbaren Bedingungen. Den Menschen erschien der vedische Opferkult überholt und sie suchten nach anderen Wegen, ihr Leben und ihre Welt zu erklären. Viele Menschen zogen in die Hauslosigkeit, um die Wahrheit über die Natur des eigenen Geistes zu erforschen. Das Wandermönchswesen entwickelte sich zu einer kraftvollen Bewegung. In der Suche nach spirituellen Antworten entstand eine Vielzahl von religiösen und philosophischen Systemen. Materialistische, religiöse und mystische Systeme entwickelten sich parallel nebeneinander. So gab es zum Beispiel die Lokāyata, in Pāli6 wörtlich »die der wahrnehmbaren Welt Zugewandten«, die als Materialisten alle Vorstellungen an eine jenseitige Welt spöttisch ablehnten. Als Erneuerungsbewegung entstand die, auf innere Selbstverwirklichung ausgerichtete Upanishadenlehre. Die Anhänger dieser Geheimlehre versuchten Zugang zu Atman, der Urseele, zu finden, in der alle individuellen Seelen eins seien. Daneben entwickelte sich die Praxis des Asketentums. Mittels strengster Disziplin und Selbstkasteiung versuchten die Anhänger dieser Lehre, ihre physische Bedingtheit zu überwinden.

Auf der fruchtbaren Basis dieses philosophischen und religiösen Pluralismus entwickelte sich die Lehre von Siddhartha Gautama, dem Buddha.7 Er integrierte die schöpferischen Ansätze verschiedener Richtungen zu einem neuen Erkenntnissystem, in dem anstelle der Suche nach der Seele der Prozess des Werdens im Vordergrund steht. Alle Erscheinungen unseres Erlebens entstehen hier aus einem immerwährenden Fluss der Gestaltungen. In diesem Fluss gibt es nichts Festes, keine Seele, keine absolute Wahrheit. Die buddhistische Lehre ist ein Prozesssystem, sie ist die »alte Philosophie der Selbstorganisation«, um mit Jantsch zu sprechen.8 Sie zeigt auf, wie Geist und Bewusstsein im aktiven Prozess des Werdens zu dem erschaffen werden, was sie sind, und wie sich der Geist in einer heilsamen Weise selbst gestalten kann. Die buddhistische Lehre, insbesondere das frühbuddhistische System des Theravāda-Buddhismus9, offenbart sich dabei als ein selbstreferenzielles Erkenntnissystem. Der Erkennende erschafft sich in seinem Erkennen selbst die Bedingungen seines Erkennens. Im Gegensatz zu den meisten Erkenntnissystemen der abendländischen Tradition, in denen immer die Suche nach etwas Festem, sei es eine unsterbliche Seele, eine universelle Naturkonstante oder eine absolute Wahrheit, im Vordergrund stand, wird hier die Wirklichkeit zu etwas Dynamischem, das sich im Prozess beständigen Entstehens und Vergehens geistiger und körperlicher Flüsse organisiert. Wirklichkeit, Erkennen und Geist werden in einem schöpferischen Prozess kontinuierlicher Verkörperung (embodiment) und Veränderung entfaltet.

Die Erforschung der Selbstorganisation dynamischer Systeme in den 60er und 70er Jahren führte zu einigen neueren wissenschaftlichen Paradigmen, die der buddhistischen Prozesslehre in vieler Hinsicht ähneln. Mit dem neurobiologischen Konstruktivismus entstand durch Humberto Maturana und Francisco Varela eine vollständige biologische Theorie des Erkennens unter dem Paradigma der Selbstorganisation.10 Kognition, Geist, Wahrheit und Bewusstsein sind hier nicht mehr als etwas Absolutes oder etwas Dinghaftes anzusehen, sondern emergieren im Prozess eines beständigen Flusses von Materie und Energie.

Auch hier ist Kognition als ein verkörperter (embodied) Prozess zu verstehen, der darauf beruht, dass Organismen durch ihr Handeln und Wahrnehmen mit ihrer Umwelt verschränkt sind. Jeder individuelle Organismus bringt in seinem Erkennen aktiv seine eigene Wirklichkeit hervor. Es gibt so viele Wirklichkeiten, wie es verschiedene Organismen gibt.11 Die Praxis eines Organismus bestimmt, was der Organismus erkennt. Das Erkennen prägt die Kognition, sie wird in die neuronale und körperliche Struktur des Lebewesens eingeschrieben. Die kognitive Struktur wiederum bestimmt das Handeln. Ein selbstreferenzieller Zirkel von Erkennen und Handeln gestaltet die Wirklichkeit im Sinne einer Selffulfilling Prophecy.

Von dem neurobiologischen Konstruktivismus lässt sich leicht der Bogen zu einem sozialen Konstruktivismus spannen. Mit dem Thomas-Theoremgilt: »Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.«12 Menschen leben hiernach in selbst gesponnenen Bedeutungsgeweben, die wir uns aneignen, indem wir in eine Kultur hineinwachsen, deren Gesetzlichkeiten uns – vermittelt durch die Institution der Sprache – real erscheinen. Wie schon im neurobiologischen Konstruktivismus erscheint Wirklichkeit konstruiert. Es verschiebt sich jedoch der Schwerpunkt der Betrachtung: Man kann seine Welt nicht alleine konstruieren, sondern braucht hierzu den anderen und vor allem eine Gemeinschaft, welche die Kultur und Sprache trägt, mit der sich Wirklichkeiten bauen lassen.13 Mithilfe der soziologischen Systemtheorie lässt sich dann aufzeigen, wie individuelles Bewusstsein – ja überhaupt erst Individualität – in gemeinsamer Koproduktion von den körperlich formatierten psychischen Prozessen und den kommunikativ gestalteten sozialen Systemen entsteht, ohne dass einzelne Schritte in trivialer Weise aufeinander zurückgeführt werden können.

Mit diesem Hintergrund gelangen wir zu Peter Fuchs’ Allgemeiner Theorie der Sinnsysteme14, die als anspruchsvolle Prozesstheorie beschreibt, wie sich Körper, Psyche und Kommunikation miteinander verschränken und einander wechselseitig Bedingungen für ihr Gelingen und Misslingen zur Verfügung stellen.15

Die buddhistische Lehre, der neurobiologische Konstruktivismus und die Allgemeine Theorie der Sinnsysteme sind selbstreferenzielle Erkenntnissysteme. Der Prozess des Erkennens erschafft in seinem Erkennen selbst sein Erkennen. Viele der hier angesprochenen Gedanken werden unter dem Begriff radikaler Konstruktivismus rezipiert. Dieses Label erscheint jedoch gerade im Kontext dieser Arbeit nicht glücklich, da die mitgeführte Unterscheidung zwischen Konstruktion und Realismus dem solipsistischen Missverständnis Nahrung gibt, dass man es selbst sei, der seine Wirklichkeit erschaffe. Genau dieses Selbst – oder innere Seelenwesen – muss aber hochgradig fragwürdig erscheinen, wenn man sich intensiver mit dem buddhistischen Denken, aber auch mit der Allgemeinen Theorie der Sinnsysteme beschäftigt. Das Selbst erscheint in diesem Zusammenhang nicht mehr als eine Entität oder ein Zentrum des Handelns, sondern bestenfalls als ein System. Systeme sind aber, wie Peter Fuchs zeigt, weder Objekt noch Subjekt. Sie erscheinen als informationsgeleitete Prozesse, die Differenzen generieren, dabei jedoch keineswegs jemanden darstellen, der irgendeine Autorschaft übernehmen könnte.16

Zudem ergeben sich aus den Erkenntnistheorien der buddhistischen Lehre, des neurobiologischen Konstruktivismus und der Allgemeinen Theorie der Sinnsysteme zwei Schlussfolgerungen, mit denen sich die Theorien radikal von den meisten anderen philosophischen oder religiösen Anschauungen unterscheiden:

1. In beiden Denksystemen gibt es weder eine ausformulierbare absolute Wahrheit noch eine explizite Sinngebung in unseren Erfahrungen. Jeder Versuch, eine absolut gültige Sinngebung zu bestimmen, wird von diesen Systemen als Illusion zurückgewiesen: Maturana und Varela sprechen von der Zwecklosigkeit aller biologischen Formen17 und die buddhistische Lehre betont immer wieder die Essenz- und Substanzlosigkeit all unseres sinnlichen Erlebens. An der grundlegenden Disposition, biologische Formen als zweckfreie Systeme zu betrachten, ändert sich auch dann nichts, wenn die Evolution etwa im Sinne von Dawkins durch eine Evolutionstheorie geistiger Informationseinheiten (der Meme) erweitert würde.18 Im Sinne eines strukturalistischen Erklärungsansatzes wäre die Evolution biologischer Formen durch eine nichtteleologische Zeichentheorie etwa im Sinne der saussureschen Semiotik zu ergänzen, in der dann, wie Glanville rekapituliert, »Signifikanten und Signifikate Formen (oder genauer Protoformen) ohne jeden Inhalt darstellen« würden.19 Hier wird davon ausgegangen, dass Worte und Zeichen nicht deshalb entwickelt wurden, um etwas zu erreichen oder eine bestimmte Bedeutung zu realisieren. Sie entstehen und entwickeln sich vielmehr ziellos, sozusagen indem Geplapper an Geplapper anschließt.

Inhalt, Sinn und Bedeutung kommen erst dann zustande, »wenn der Beobachter die beiden zusammenbringt; und dieser Inhalt ist arbiträr (das heißt, es gibt keinen Grund zu glauben, der Inhalt könne unabhängig vom Beobachter verstanden werden)«.20

Das Spiel der Evolution hat keinen Sinn, es sei denn, ein Beobachter sieht ihn. Auf operativer Ebene ergibt Sinn jedoch keinen Sinn, sondern ist leer an Bedeutung. Hier geschieht einfach nur das, was geschieht.

2. In der Bodenlosigkeit als der nichtrationalen Basis unseres Seins zeigt sich eine unerwartete Tiefendimension: Jenseits äußerer Vorschriften und Regeln offenbart sich im menschlichen Sein eine implizite Ordnung. In der Biologie der Menschwerdung offenbart sich im menschlichen Sein eine implizite Ordnung, die darauf beruht, dass wir Menschen in unserem Fühlen und Erleben miteinander kommunikativ verbunden sind. Maturana geht so weit, hierfür den Begriff Liebe als biologische conditio humana einzuführen. In der buddhistischen Lehre verwirklicht sich in mettā, der mitfühlenden Liebe, die spirituelle Dimension des menschlichen Seins.

Für den Leser, der mit konstruktivistischem oder buddhistischem Denken nur am Rande vertraut ist, sind die eben genannten Folgerungen zunächst unverständlich, wenn nicht gar befremdlich. Um sie in ihrer Tiefe zu begreifen, ist es notwendig, die erkenntnistheoretischen Konzeptionen dieser beiden Denk- und Erkenntnisschulen, insbesondere die Bestimmung von Sinn und damit auch von (Selbst-) Bewusstsein, als sich selbst erzeugende dynamische Prozesse verstehen zu lernen. Hierzu soll mit diesem Buch in einer vergleichenden Zusammenschau ein Beitrag geleistet werden. Die Vision liegt dabei darin, im Vergleich der Beschreibungen eine gemeinsame Tiefenstruktur in der Dynamik von Prozessen aufzuzeigen, die landläufig als geistig bezeichnet werden kann.21

Diese Studie stellt nicht den ersten Versuch dar, einen Dialog zwischen dem Buddhismus und einer modernen, durch kybernetisches Denken inspirierten wissenschaftlichen Perspektive zu gestalten. Schon in den 80er Jahren begann eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern um Eleanor Rosch, Evan Thomson und Francisco J. Varela auszuloten, inwieweit sich Parallelen zum Buddhismus zeigen in Hinblick auf Erkenntnistheorie und Ethik des neurobiologischen Konstruktivismus sowie auf die Konzeption der verkörperten Erkenntnis.22

Aus der Begegnung des neurobiologischen Konstruktivismus mit der buddhistischen Erkenntnispraxis hat sich unter dem Stichwort Neurophenomenology ein äußerst fruchtbarer Forschungszusammenhang entwickelt, der die Erste-Person-Perspektive23 innerhalb neurowissenschaftlicher Studien ernst zu nehmen lernte. In der Neurophänomenologie gelingt es, kontrollierte Selbstbeobachtungen von Bewusstseinsprozessen mit den raumzeitlichen Mustern neuronaler Dynamiken produktiv in Beziehung zu setzen.24 Husserls Phänomenologie kann auf diese Weise auch als eine Prozessphilosophie verstanden werden, entsprechend der Bewusstsein und Sinn nicht mehr als Essenz oder Entität angesehen zu werden brauchen, sondern vielmehr als ein Prozess mit einer komplexen Zeitstruktur gesehen werden können, in der sich im intentionalen Akt im Hier und Jetzt die Konstruktion von Zukunft (Protention) und der Aufbau einer Vergangenheit (Retention) rekursiv miteinander verschachteln.25

Eine Besonderheit der vorliegenden Studie besteht darin, den Dialog über die kognitionswissenschaftliche Perspektive hinausgehend in den Bereich der Kommunikation, also der Koproduktion von Bewusstsein und Gesellschaft auszuweiten. Dies erlaubt es, buddhistisches Denken in einer zunächst ungewohnten Perspektive zu betrachten: nämlich als eine soziale Tatsache.

Wie über Buddhismus sprechen?

Nach einer 2500 Jahre andauernden Entwicklung und Differenzierung in vielfältige Schulen und Lehrsysteme ist es sicherlich schwer möglich, von dem Buddhismus zu sprechen. Die Lehrsysteme der unterschiedlichen Schulen unterscheiden sich im Detail erheblich.26 Ohne andere Quellen abwerten zu wollen, möchte ich mich in dieser Arbeit im Wesentlichen auf die Quellen des Theravāda-Buddhismus beschränken. Die Lehrreden des Pāli-Kanons27der Thervadins stellen gut erschlossene und die am vollständigsten in einer indischen Sprache niedergeschriebenen Quellen einer Gruppe des ursprünglichen Buddhismus dar. Sie wurden allerdings erst gut vierhundert Jahre nach Buddhas Tod niederschrieben und zuvor in mündlicher Form tradiert. Unabhängig von der kaum mehr zu beantworteten Frage, ob die hier dokumentierten Lehrreden, und wenn ja, welche Teile, überhaupt als authentisches Buddhawort angesehen werden können, so bezeugen sie doch jene Sinnformen, aufgrund derer sich heutzutage überhaupt erst buddhistisches Denken identifizieren lässt. Dass im Sinne der Hagiografie28 eine Verklärung der Person Buddhas stattgefunden haben mag und Überlieferungen immer auch eine kulturelle Praxis darstellen, in der die Bedeutungsschwerpunkte von Texten neu ausgerichtet werden, soll damit nicht abgestritten werden, sondern ist vielmehr als Ausdruck einer lebendigen Tradition hinzunehmen. Eine solche Lehrtradition kann letztlich nur Relevanz beanspruchen, wenn sie zugleich Elemente und Aspekte aus der Überlieferung aufgreift, sie dabei aber immer auch – und sei es nur durch subtile Verschiebungen der Gewichtung – an veränderte kulturelle Lagerungen anpasst. Dies ist an und für sich nichts Ungewöhnliches, sondern stellt im Hinblick auf geschichtliche Quellen den Regelfall dar und betrifft beispielsweise auch die antike Philosophie Griechenlands, die nur aufgrund der vorhandenen Texte rekonstruiert werden kann, was selbstverständlich bezüglich Textexegese und -interpretation Raum für Kontroversen offen lässt.

Allerdings ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Kernlehren des Theravāda-Systems – wie die vier edlen Wahrheiten, die Lehre vom Nicht-Selbst (anattā) und die Lehre von den Aggregaten des Geistes (khanda) – von den meisten anderen buddhistischen Schulen ebenfalls gelehrt werden, ebenso der soteriologische Anspruch, mittels der buddhistischen Lehren menschliches Leiden überwinden zu können (Pāli: nibbāna; Sanskrit: nirvāṇa).29 Darüber hinaus beziehen sich die großen Erneuerungen des Buddhismus, der Mahāyāna und der Vajrayāna, in ihrer Symbolik auf die wichtigen Schlüsselbegriffe der frühbuddhistischen Lehren.30

Für die gewählten Quellen spricht zudem die ursprüngliche Nüchternheit und Klarheit der Pāli-Texte. Die stellenweise schönen, aber sehr verschlungenen Mahāyāna-Texte sind für einen Außenstehenden oft nur schwer zu deuten und zu vermitteln. Ebenso sind die Bilder und Symbolwelten des tibetischen Buddhismus schon im Hinblick auf ihre kulturelle Herkunft fremd und erschließen sich nicht ohne Weiteres dem Blick eines textorientierten Vergleichs. Nicht zuletzt erlaubt die Referenz auf frühere, kanonisierte Texte eine Betrachtung, die nicht vorschnell in die Selbstbeschreibungen, Dogmen und Selbstidentifikationen der derzeit prominenten Schulen verfällt. Sie ermöglicht es stattdessen, die Strukturen und Besonderheiten (aber auch die Interpretationswürdigkeiten) buddhistischen Denkens etwas systematischer herauszuarbeiten, als wenn man vor allem der Interpretation einer konkreten Lehrpersönlichkeit folgen würde.

Neben der Frage nach der Tradition stellt sich das Problem der Auswahl von Übersetzungen und Kommentaren. Der Begriff Buddhismus wird in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen verwendet. Er bezeichnet einerseits eine Praxis der Selbsterkenntnis, andererseits ein philosophisches und religiöses System. Als solches ist er für die Religionswissenschaften von Interesse. Eine große Anzahl von Indologen und Buddhologen beschäftigte sich mit Fragen der Textanalyse und der historischen Rekonstruktion der überlieferten Quellen. Ihre Übersetzungen und Kommentierungen der Texte unterscheiden sich in Detailfragen von den späteren Übersetzungen durch praktizierende Buddhisten. Während zum Beispiel die Rezeption der ersten europäischen Buddhologen den Buddhismus als antiklerikales, aufklärerisches System mit oftmals nihilistischen Zügen verstand, sieht der praktizierende Buddhist in ihm weder eine philosophische Anschauung noch ein religiöses System, sondern vor allem eine Praxisanleitung zur Erforschung und Reinigung des eigenen Geistes.31

Im Sinne einer breiten Anschlussfähigkeit werde ich bei der Auswahl der Übersetzungen aus dem Pāli-Kanon versuchen, weitgehend auf die Arbeiten der beiden deutschen Mönche Nyanatiloka und Nyanaponika zurückzugreifen. Nyanatiloka, geb. Anton Gueth, erhielt als einer der ersten Europäer die Ordination zum Mönch in Birma. Später gründete er in Ceylon einen buddhistischen Orden für europäische Mönche. 1937 ordinierte dort der Deutsche Feniger zum Mönch und erhielt den Namen Nyanaponika. Ihre ausgezeichneten Übersetzungsarbeiten sind allgemein – auch in scholastischen Zusammenhängen – anerkannt. Daneben sind beide zugleich geschätzte Lehrer der buddhistischen Erkenntnispraxis.

In den Kommentaren zur Lehre werde ich ebenfalls überwiegend Autoren zu Wort kommen lassen, die sowohl im akademischen Diskurs als auch in buddhistischer Praxis zu Hause sind. Neben den beiden eben genannten Mönchen ist als deutschsprachiger Vertreter Lama Anagarika Govinda ein ausgezeichneter Kenner der frühbuddhistischen Lehre. Um den Vergleich mit der buddhistischen Literatur zu erleichtern, werde ich die Schlüsselbegriffe der buddhistischen Lehre immer auch in ihrer Pāli-Bezeichnung angeben.

Buddhismus im Westen

Mittlerweile gibt es einen recht umfangreichen Corpus an Literatur zum Import und zur Rezeption des Buddhismus im Westen.32 Allgemein wird dabei zwischen dem ethnischen Buddhismus von Migranten aus buddhistischen Ländern sowie Adepten und Konvertiten westlicher Herkunft (westlicher Buddhismus) differenziert, die sich in Hinblick auf die buddhistischen Gemeinschaften wie auch in den Formen der Praxis recht stark unterscheiden.33

Diese Differenzierung ist jedoch nicht synonym zu sehen mit der Unterscheidung zwischen dem traditionellen, eher auf der Befolgung von Riten und einer strengen Trennung von Laien und Mönchen beruhenden Buddhismus und einem modernen, die meditative Praxis stark pointierenden und hierin auch an Laien gerichteten Buddhismus. Letzterer entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in asiatischen Ländern wie Sri Lanka, Birma (heute: Myanmar) und Japan als eine buddhistische Modernisierungsbewegung. Diese war sowohl gegen die christlichen Kolonialherren als auch gegen die eigenen feudalen Traditionen gerichtet. Sie zielte auf ein gebildetes und nationalbewusstes asiatisches Laienpublikum, das an globale wissenschaftliche und spirituelle Weltdiskurse Anschluss suchte.34

Wesentliche Impulse der westlichen Rezeption schließen an diese Emanzipationsbewegungen an, weshalb sich mit Martin Baumann affirmierend eine an die Diskurse der Weltgesellschaft anschließende Bewegung eines globalen und recht stark an Meditation orientierten Buddhismus identifizieren lässt.35 Robert H. Sharf weist darauf hin, dass der erfahrungsorientierte moderne Buddhismus gewissermaßen eine spirituelle Neuerfindung (oder Wiederentdeckung, insofern man teilt, dass die ursprünglichen buddhistischen Lehren vor allem auf Praxis zielen) darstellt, die nur bedingt an die in den letzten Jahrhunderten gelebten buddhistischen Traditionen der asiatischen Länder anknüpft.36 In den traditionellen Lebensweisen der Mönche rückte die meditative Praxis und damit auch das Anstreben von Erleuchtung oftmals stark in den Hintergrund.37

Insgesamt macht es also wenig Sinn, generell und in einem ahistorischen Sinne von dem Buddhismus zu sprechen. Dafür spricht auch der Umstand, dass sich die drei hauptsächlich im Westen verbreiteten Traditionen (Zen, tibetischer Buddhismus und Theravāda-Buddhismus) und deren unterschiedliche Gruppen und Schulungswege in ihren Lehren und rituellen Formen, in der Bedeutung und Stellung des Lehrers sowie in den meditativen Praxen nochmals erheblich voneinander unterscheiden.38 Übergreifend zeichnet sich der westliche Buddhismus jedoch dadurch aus, dass er überwiegend eine Laienbewegung darstellt. Buddhistische Praxen sind hier in weltliche Lebensformen eingebettet zu denken und Adepten sind eher an Meditation und buddhistischer Philosophie interessiert, denn an den liturgischen und den durchaus vorhandenen abergläubischen Elementen buddhistischer Traditionen. Darüber hinaus werden einige Kernelemente der Weltanschauung schulenübergreifend geteilt, z. B. dass die Anhaftung an sinnliche Erfahrungen als die Ursache von Leiden zu sehen und die Erscheinungswelt als unbeständig zu erachten ist und darüber hinaus die Grenzerfahrung der Erleuchtung anzustreben ist.39

Wenngleich die frühen Begegnungen des Westens mit dem buddhistischen Denken stark von protestantischen Denkweisen40 und der späteren erfahrungsorientierten Rezeption – insbesondere durch die Gegenkulturen der 1960er Jahre – geprägt waren, zeigt sich heute deutlich, dass der westliche Buddhismus nicht einfach als eine Variante westlicher Kultur, etwa im Sinne der individualistischen New-Age-Spiritualität einer »unsichtbaren Religion«, verstanden werden kann.41

Vielmehr treffen wir heutzutage auf eine Institutionalisierung der Schulungswege mit einer starken Orientierung an kanonischen Schriften und an durch die Traditionslinie autorisierten Lehrerpersönlichkeiten. Das Laisser-faire der Anfangszeit erscheint überwunden. Auch im Westen werden heute in Hinblick auf die ethische Lebensführung strengere Maßstäbe an die Vertreter buddhistischer Lehren gestellt.42 Zudem treffen wir mittlerweile auf eine größere Gruppe ernsthafter Adepten, die sich in der Regel einem Schulungsweg bzw. einer Tradition verpflichtet fühlen und diesem bzw. dieser treu bleiben. Daraus resultierend ist in den westlichen Ländern eine größere Anzahl von Anhängern anzutreffen, die einem Schulungsweg mehr als 25 Jahre aktiv verbunden sind.43

All dies lässt es interessant erscheinen, in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Dialog zwischen Buddhismus und westlichen konstruktivistischen Denkansätzen zu suchen.

Erkenne dich Selbst – westliche Perspektiven

Der Baum der Erkenntnis: Der Apfel ist vergiftet

Was aber den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse betrifft, davon sollst du nicht essen, denn an dem Tag, an dem du davon isst, wirst du sterblich sein.

Mose 2.17

Die Problematik der Selbsterkenntnis besteht in der mit normalen logischen und philosophischen Mitteln nicht lösbaren Herausforderung, den Status des Beobachters zu klären. Daraus folgt die Frage, wie die in unserer alltäglichen Erfahrung zweigliedrig erscheinende Subjekt-Objekt-Relation zu bestimmen ist. Sobald wir jedoch diese Frage stellen, gelangen wir in einen zirkulären Prozess: Indem der Erkennende sich selber erkennt, wird das Subjekt der Erkenntnis zum Objekt der Erkenntnis, das Objekt der Erkenntnis ist wiederum das Subjekt selbst. Immer wenn sich ein Vorgang in einem kreisförmigen Prozess auf sich selbst bezieht, sprechen wir von Selbstreferenz oder Zirkularität. Zirkuläre Prozesse weisen hinsichtlich der Analyse ihrer logischen Kausalität einen Doppelcharakter auf: Sie bergen die Gefahr logischer Widersprüche. Unter geeigneten Bedingungen ermöglichen zirkuläre Systeme allerdings auch die Entwicklung stabiler Lösungen.44

Selbstreferenzielle Aussagen, also Sätze, die sich in der einen oder anderen Form auf sich selbst beziehen, können logische Paradoxien hervorrufen. Das bekannteste Paradoxon dieser Form ist die Aussage des Epidemes: »Alle Kreter lügen, sagt Epidemes der Kreter.«

Die logische Analyse dieses Satzes ergibt: Wenn der Satz richtig ist, dann ist er falsch. Wenn er falsch ist, dann ist er richtig. Das Paradoxon entsteht, da die höhere logische Ebene der Satzform zirkulär mit der tieferen Ebene des Satzinhaltes verbunden wird.45 In der klassischen Logik werden Aussagen dieser Form als Zirkelschlüsse abgelehnt, da Zirkelschlüsse die lineare Kausalität aushöhlen. Im rekursiven System, in der Selbstreferenz, wird die Wirkung einer Ursache ihre eigene Ursache.

Die Erforschung von Selbstorganisationsvorgängen und die Theorie kybernetischer Systeme konnten demgegenüber zeigen, dass rekursive Systeme stabile Lösungen ausbilden können. Diese Lösungen zeigen sich in der Selbstorganisationsdynamik des entsprechenden Systems, die sich dann nicht mehr in Form linearer Kausalitätsbeziehungen beschreiben lässt. Dennoch lassen sich diese Systeme untersuchen, da sie ein durch ihre Struktur determiniertes Eigenverhalten zeigen. Die anschließenden beiden Kapitel werden sich ausführlicher mit der (zunächst noch recht formalen) Beschreibung dieser Systeme beschäfti gen.

Im Versuch, unser Erkennen zu erkennen, haben wir es mit einem selbstreferenziellen Prozess zu tun. Daher begegnen wir auch hier der Problematik zirkulärer Prozesse. Die Versuche der traditionellen Erkenntnistheorien, die Rolle des Beobachters zu klären, führen nolens volens zum Paradoxon der Subjekt-Objekt-Problematik: Jeder Versuch des Subjekts, sich selber zum Objekt zu machen, muss scheitern, da das Objekt nun eben dieses Subjekt ist. Übrig bleibt letztendlich nur der Versuch des Subjekts, sich selber zu beweisen. Dazu müsste es aber aus sich selbst heraustreten können, eben einen objektiven Standpunkt einnehmen. Unsere Situation gleicht jemandem, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen will. Hierzu Ernst von Glasersfeld:

»Das Paradox besteht einfach darin, daß, wenn ich glaube, daß ich mir im Inneren ein Bild von der Welt mache und daß das Bild bewertet wird, je nachdem, wie genau es mit der Welt, die draußen liegt, übereinstimmt, dann kann ich die Bewertung nie ausführen. Denn was immer ich als Bewertung versuche, muß denselben Weg gehen, den das Bild gegangen ist, dieselbe Wahrnehmung, dieselbe Begriffswelt, dieselben Beziehungen, andere habe ich ja nicht. Und so kommt es zu einer Situation, die meiner Ansicht nach der irische Philosoph Berkeley am deutlichsten ausgedrückt hat, wenn er sagt, wir können immer nur Ideen mit Ideen vergleichen.«46

Selbstreferenzielle Erkenntnissysteme wie der neurobiologische Konstruktivismus und der Buddhis mus erkennen die rekursive Natur des Erkenntnisprozesses an und verlagern deshalb ihre epistemologische Fragestellung. Um mit Heinz von Foerster zu sprechen: »Wollen wir nun das Problem einer Theorie des Erkennens lösen, also eine Epistemologie erzeugen, dann muss sie von solcher Art sein, daß sie sich selbst erklärt, oder in Hilberts Sprache, daß sie eine Eigentheorie ist.«47

Eine Eigentheorie des Erkennens muss allerdings erklären können, wie Erkennen aus sich selbst heraus entsteht und schließlich Selbsterkenntnis ermöglicht.48 Die Frage heißt nun nicht mehr: Wasist der Beobachter?, sondern: Wie entsteht der Beobachter? Das Subjekt des Erlebens und das Objekt, der Gegenstand der Erkenntnis, können jetzt allerdings nicht mehr als etwas Festes bzw. Absolutes angesehen werden, sondern sie sind gegenseitig durch den Prozess des Entstehens einer Wirklichkeit bedingt und deshalb nicht mehr voneinander getrennt zu sehen. Eine vollständige Eigentheorie des Erkennens hat die Aufgabe, im Einklang mit unserer empirischen Erfahrung zu zeigen, wie der Prozess des Erkennens einer Wirklichkeit eine Wirklichkeit erschafft, in der Selbsterkenntnis möglich ist.

Lösungsversuche des Subjekt-Objekt-Problems

Ein zentrales Problem abendländischer Philosophie besteht in der Frage, wie die zweigliedrig erscheinende Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und dem zu erkennenden Objekt zu bestimmen ist. Schauen wir uns die relevanten Lösungsversuche des Subjekt-Objekt-Problems kurz im Vergleich an:

Materieller Objektivismus

Die objektive Welt existiert hier unabhängig vom Subjekt. Die Welt erscheint im Prinzip als eine riesige Maschine, ähnlich einem Uhrwerk. Ein wahrnehmendes Ich ist allenfalls Beobachter, findet jedoch im eigentlichen Sinne keinen Platz in dieser Welt. Der materielle Determinismus ist die Grundannahme der sogenannten objektiven Wissenschaften: Alle Prozesse sind hier durch die objektiven Naturgesetze bestimmt.49 Psychische Vorgänge, Gefühle und Verhalten werden als durch die Struktur unseres Gehirns determiniert gesehen. Unser Bewusstsein stellt damit bestenfalls ein Anhängsel einer an sich schon perfekten Maschine dar. Infolgedessen erscheint Marvin Minski50 – als Vertreter einer Vielzahl ähnlich denkender Kognitionsforscher – das Bewusstsein als ein mehr oder weniger überflüssiges Phänomen, welches durch die physischen Vorgänge des Gehirns determiniert wird. Viele Hirn- und Kognitionswissenschaftler ignorieren das Phänomen des Bewusstseins in ihren Untersuchungen. Einige jedoch, wie etwa der zur Neurophysiologie konvertierte Nobelpreisträger Francis Crick, machen sich auf die Suche nach den Bewusstseinsneuronen, um der Natur des Bewusstseins von der objektiven Seite her auf die Spur zu kommen,51 bislang jedoch ohne Erfolg.

Einiges spricht dafür, dass solche Bemühungen prinzipiell erfolglos bleiben müssen, denn die Klärung des Problems des Bewusstseins verschließt sich allein schon deshalb, weil der logische Denkapparat, mit dem man das Problem zu lösen versucht, in die Art und Weise, wie die Frage gestellt wird, selbst eingewoben ist. Dieses Denken operiert nämlich innerhalb einer zweiwertigen Logik, entsprechend der etwas entweder eindeutig ist oder nicht ist. Als Primat gilt hier das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten sowie die hieraus abgeleitete klassische Identitätslogik und entsprechende Ontologie.52 Dabei muss davon ausgegangen werden, dass ein Gegenstand mit sich selbst identisch ist (A=A), dass etwas Bestimmtes also entweder ist oder eindeutig nicht ist. Ein Drittes ist hier nicht gegeben. Die Aussage »A kann auch ≠A sein« (in unserem Fall »das Subjekt ist das Objekt«) erscheint aus dieser Perspektive widersprüchlich und ist entsprechend als unsinnig zurückzuweisen. Auf Basis der klassischen Logik lassen sich die Beobachtungsverhältnisse unserer Welt nur in einer Weise begreifen, welche die Subjekt-Objekt-Dichotomie reifiziert, vergegenständlicht, ohne sie jedoch als Form auflösen oder transzendieren zu können. Die Identitätslogik führt unweigerlich zu einem Wissenschaftsverständnis der kausalen Erklärungen, entsprechend dem das Sein die Reflexion determiniert. Insofern die Wirklichkeit richtig erkannt ist, fügt die Reflexion dem Sein nichts hinzu. Der Beobachter erscheint hier nur als Spiegel der Realität.53 Im strengen Sinne muss auch das Subjekt als Kausalfaktor verschwinden, denn es kann und darf der objektiven Wirklichkeit nichts hinzufügen. Tertium non datur.54 Wir begegnen hier dem merkwürdigen, unserer Lebenserfahrung widersprechenden Befund, dass, sobald man kognitive Prozesse objektivistisch zu beschreiben versucht, außerhalb des physikalischen und chemischen Universums nichts zu finden ist, was einer kausalen naturwissenschaftlichen Erklärung etwas hinzufügen könnte. Die elektrischen Aktivitäten der Nervenzellen, die beim Sprechen verursachten Schallwellen und die sensorische Reizung der Sinneszellen durch den Schall bilden ein vollständiges, kausal und logisch geschlossenes Universum der Erklärung. Bewusstsein könnte hier, um es nochmals zu betonen, bestenfalls als eine Spiegelung von Sein im Sinne eines kausal nutzlosen Epiphänomens in Erscheinung treten. Nina Ort zieht den Schluss folgendermaßen:

»Entweder wird Subjektivität als Thema ermöglicht – dann jedoch um den Preis der Subjektivität, nämlich als Objektivität –, oder Subjektivität bleibt aus dem Bereich der Objektivität vollkommen ausgeschlossen. Wie auch immer, thematisiert werden kann demnach nur ein völlig objektives, subjektfreies Universum des ›Seins‹. Insofern ergibt sich aus diesem Erkenntnismodell eine einwertige Ontologie.«55

Die Möglichkeit, dass entweder Bewusstsein oder Subjektivität einen zusätzlichen Unterschied macht, also der objektiv beschriebenen Welt etwas Drittes hinzufügt, ist innerhalb der zweiwertigen Logik nicht denkbar.56 »Unser fühlendes, wahrnehmendes und denkendes Ich tritt in unserem naturwissenschaftlichen Weltbild nirgends auf«, so Erwin Schrödinger.57

Eine Struktur, die objektiven Gesetzmäßigkeiten folgt – vielleicht mit ein wenig Zufall gepaart –, braucht uns als Erlebende für die Befolgung ihrer Gesetze ebenso wenig, wie ein Computer ein Bewusstsein für seine Berechnungen benötigt. Ethik, Verantwortung, Zukunftsoffenheit, Reflexivität und Freiheit kommen in der Position des materiellen Determinismus nicht vor, da sie durch die Notwendigkeit der objektiven Gesetze ersetzt werden.

Subjektiver Idealismus

In dieser erkenntnistheoretischen Position erzeugt das Subjekt die Gegenstände (Objekte) seines Erkennens. Der Solipsismus ist die extremste subjektivistische Position, in der nur das Ich allein existiert. Die komplette Außenwelt, einschließlich fremder Ichs als Träger von Bewusstsein, erscheint hier lediglich als meine Vorstellung und damit gewissermaßen als Traum meines Bewusstseins. Der Subjektive Idealismus spielt auch in seinen weniger extremen Formen in der westlichen Philosophie keine Rolle. In der wissenschaftskritischen Gegenkultur zeitgenössischer Esoterik findet er jedoch durchaus einige Vertreter. So gehen etwa Detlefsen und Dahlke in ihren Bestsellern58 davon aus, dass das Subjekt die Außenwelt erschaffe. Unser Geist bestimme, wann und wo Krankheiten, Unfälle, glückliche und unglückliche Lebensumstände auftreten. Die physischen Abläufe seien nur Manifestation der inneren Geisteshaltung. Der Geist bzw. die Seele forme den Körper, sei jedoch letztendlich unabhängig von ihm und überlebe auch den körperlichen Tod.

Auch die Position des Subjektiven Idealismus bringt erhebliche erkenntnistheoretische Probleme mit sich. Sie beschreibt mich zwar als den Erlebenden meiner Welt, sie ermöglicht jedoch nicht, die Bedingtheit meines Erlebens durch die Erscheinungswelt zu erklären. Ein subjektiver Idealist könnte zwar versuchen, die Wirkung der Erscheinungswelt auf sich zu leugnen und sich seine gewünschte Welt zu erträumen, früher oder später muss er jedoch aus diesem Traum erwachen und sich der Widerständigkeit einer bedingten Realität stellen, die nicht durch seinen Willen beeinflusst werden kann. Dementsprechend haben esoterische Positionen, welche dem Solipsismus nahestehen, chronisch mit dem Problem zu kämpfen, dass ihre Kausalannahmen zwar geglaubt werden können, dann aber in der Regel nicht mit der Einlösung der gemachten Versprechungen und Vorhersagen einhergehen (man denke hier etwa an die enttäuschte Hoffnung auf Heilung schwerer Erkrankung).

Dualismus

Eine Alternative zu dem hier aufgeworfenen erkenntnistheoretischen Dilemma scheint der Dualismus zu sein. Materie und Geist (naturphilosophischer Dualismus) bzw. Leib und Seele (anthropologischer Dualismus) erscheinen hier als zwei getrennte Prinzipien. Der Dualismus von Geist und Materie, wenngleich von verschiedenster Seite als überwunden erklärt, hatte mit dem Wissenschaftstheoretiker Karl Popper und dem Hirnforscher und Nobelpreisträger John Eccles zwei namhafte Vertreter gefunden. Ihre dualistische Hypothese folgt in etwa folgender Argumentation:59

Die subjektive Erfahrung des Bewusstseins, inklusive der Erfahrung von Entscheidungsfreiheit und freiem Willen, gehört einer anderen Ebene an als die physischen Prozesse. Das physische Gehirn kann jedoch dem selbstbewussten Geist aufgrund seiner Struktur eine Heimat bieten. Der selbstbewusste Geist kann dann seinerseits über bestimmte Areale der Großhirnrinde auf das Gehirn einwirken und beeinflusst damit die Entwicklung der menschlichen Kultur. Ein in diesem Sinne verstandenes Seelenwesen würde eine vom Körper unabhängige Instanz darstellen und könnte deshalb möglicherweise den Tod der empirischen Person überdauern.

Die Begründungen für die dualistische These zeigen stellenweise ein hohes Niveau. So haben etwa Eccles und Beck Berechnungen vorgelegt, die unter Einbeziehung quantenmechanischer Effekte aufzeigen, mit welchen Stellen des Großhirns der selbstbewusste Geist wechselwirken könne, ohne den Energieerhaltungssatz der Physik zu verletzen.60 Wir begegnen hier dem Dualismus von Descartes in mo derner Variante.

Auf den ersten Blick scheint das Subjekt-Objekt-Problem auf diesem Wege gelöst. Wir begegnen mit dem selbstbewussten Geist dem aus unserer intimen Erfahrung vertrauten Erlebenden und treffen zugleich auf die materiellen Vorgänge einer mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschreibbaren Erscheinungswelt. Möglicherweise ließe sich über quantenmechanische Berechnungen sogar eine Schnittstelle des Geistes mit dem physischen Gehirn bestimmen.61 Aber, wie bereits Wittgenstein zu bedenken gab: Die Annahme einer unabhängigen Seele leistet gar nicht das, was man mit ihr erreichen wollte.62

Mit der Postulierung eines unabhängigen selbstbewussten Geistes kommen nämlich zum Geheimnis des subjektiven Erlebens der Welt eine Reihe weiterer, prinzipiell unlösbarer Fragen auf, etwa der Art: Wodurch ist der selbstbewusste Geist bedingt? Ist dieser Geist sterblich oder unsterblich? Wie verläuft der Prozess der Interaktion zwischen Geist und Materie?

Selbstreferenzielle Erkenntnistheorien

Selbstreferenzielle Erkenntnistheorien erklären unser Erkennen als einen aktiven Prozess der Inszenierung einer Wirklichkeit. Während innerhalb der traditionellen Erkenntnistheorien die Erkenntnis als die Widerspiegelung einer Welt, die außerhalb des kognitiven Prozesses und unabhängig von ihm existiert, verstanden wird, verschwindet hier die Vorstellung einer objektiven Wirklichkeit: Erkennen wird zu einer Handlung, zum aktiven Prozess des Treffens einer Unterscheidung, die etwas setzt, um auf diese Weise etwas Bestimmtes anstelle von etwas anderem Möglichen geschehen zu lassen. Erkenntnis erscheint damit als verkörpertes Handeln. Maturana und Varela formulieren dies aus einer neurobiologischen Perspektive folgendermaßen:

»Unser Ausgangspunkt für die Erzeugung einer wissenschaftlich validierbaren Erklärung [des Erkennens] ist das Verständnis vom Erkennen als wirksame Handlung, das heißt als eine Handlung, die es einem Lebewesen in einem bestimmten Milieu erlaubt, seine Existenz darin fortzusetzen, indem es dort seine Welt hervorbringt. Nicht mehr und nicht weniger.«63

Erkenntnis erscheint hiermit als aktiver Prozess der Erschaffung einer Welt eines Organismus, der innerhalb seiner Lebensprozesse Welt eben so und nicht anders hervorbringt. Das Erscheinen der äußeren Welt entsteht als Produkt dieses ganzheitlich zu verstehenden Erkenntnisprozesses. Hiermit kommen wir zum zentralen epistemologischen Paradigma des neurobiologischen Konstruktivismus, das entsprechend lautet:

»Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun«64

Hier stellt sich (zunächst) nicht mehr die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Erfahrungen, da jede Erkenntnis als verkörperte Handlung per se real ist (sie wird gelebt). Die eigentlich interessante Frage heißt stattdessen: »Welche Erkenntnis erschafft welche Erscheinungswelt?« Im neurobiologischen Konstruktivismus sind wir Teil eines fortschreitenden Selbstorganisationsvorgangs: Die Erscheinungswelt erschafft unser Subjekt. Das handelnde Subjekt erschafft die Erscheinungswelt. Subjekt und Objekt sind untrennbar zu einer Einheit verbunden, bedingen und erschaffen sich in einem zirkulären Prozess des Werdens. Es gibt hier keine Wahrheit oder absolute Wirklichkeit mehr im Sinne von stabilen Subjekten oder Objekten der Erfahrung, sondern nur noch den einen dynamischen Prozess der Entfaltung einer Wirklichkeit.

Solche Prozesse sind nicht mehr mit den Mitteln einer zweiwertigen Logik beschreibbar. Die sie konstituierenden Lagerungen stellen sich nämlich nicht mehr nur so dar, dass ein Beobachter Objekte erkennt, die entweder sind oder nicht sind. Vielmehr »postuliert« der »konstruktivistische Ansatz«, so Esposito, »dass das, was man durch logische Operationen negieren kann, seinerseits konstruiert ist«. Die »Operation der Negation setzt eine grundsätzlichere Operation bereits voraus: nämlich die Zäsur, die dazu führt, dass ein Objekt als unterschieden von anderem bezeichnet wird.«65

Hiermit gelangen wir zu einer mehrwertigen, polykontexturalen Logik, wie sie insbesondere Gotthard Günther vorgeschlagen hat. Die grundlegende Überlegung ist dabei, dass in der klassischen zweiwertigen Logik mit der Operation der Negation ein Schritt angelegt ist, der über die Zweiwertigkeit selbst hinausreicht.66 Das, was ist oder nicht ist, erscheint damit seinerseits abhängig vom Beobachtungsprozess, der die Negation als konkrete Operation vollzieht. Dementsprechend können unterschiedliche Beobachter standortabhängig zu unterschiedlichen Schlüssen über die Existenz oder Nichtexistenz eines Sachverhalts kommen. Günther weist darauf hin, dass die Operation der Negation die Zweiwertigkeit nolens volens allein schon dadurch transzendiert, dass sie diese als Umtauschrelation der Werte sein oder nicht sein überhaupt erst konstituiert, wenngleich innerhalb der Axiomatik die hiermit verbundene Reflexionsbeziehung selbst nicht bestimmt wird. Die Unterscheidung von sein und nicht sein, wahr und falsch setzt also einen logischen Raum voraus, aus dem heraus solche Unterscheidungen erst Sinn ergeben. Beispielsweise setzt die Frage, ob eine Blume rot ist oder nicht, einen logischen Raum voraus, in dem es um die Unterscheidung dieser spezifischen Farbe geht. Aus einem anderen logischen Raum heraus könnte es etwa um die Frage gehen, ob die Rose dornig ist oder nicht oder ob sie etwa verwelkt ist oder nicht. Eine zweiwertige Seinslogik lässt zwar Antworten auf Fragen zu, ermöglicht jedoch nicht den Blick auf die Prozesse, welche die Entstehung der mit den Fragen verbundenen Unterscheidungen konditioniert. Die mit der Beobachtungsoperation getroffene Unterscheidung liegt also im blinden Fleck der Beobachtung. Der Beobachter kann nicht wahrnehmen, wie und auf welche Weise er selbst in die Produktion von Welt verwickelt ist.

Die Negation bildet für Günther den Ausgangspunkt für den Aufbau einer mehrwertigen Logik. Sie erscheint in dem Sinne als die Einheit, welche zunächst ein zweiwertiges Beobachtungsverhältnis – von Günther als Kontextur bezeichnet – aufspannt, dem entsprechend ein Beobachter aus seiner Perspektive logisch eindeutig erkennen kann, ob ein Objekt bzw. eine Eigenschaft ist oder nicht ist. Eine Blume ist hier entweder rot oder nicht rot. Diese Elementarkonstellation kann durch weitere Beobachterpositionen erweitert werden. Eine Blume wäre dann beispielsweise sowohl rot als auch dornig. Schließlich können diese Kontexturen in transjunktionalen Operationen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Gemeint sind hiermit logische Operationen, in denen unterschiedliche Elementarkonstellationen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Jetzt mag es beispielsweise bei der Betrachtung der Blume weder um Röte noch um Dornigkeit gehen, sondern um die Frage, ob sie verwelkt ist.

Beobachter, die somit nicht mehr als Entitäten, sondern als relationale Prozesse gefasst werden, relationieren und konfigurieren andere Beobachtungen. All dies findet in einer polyzentrischen Welt statt, wo verschiedenste Beobachtungsprozesse gleichzeitig auftreten und aufeinander Bezug nehmen und sich wechselseitig konditionieren können (aber nicht müssen).67 Wir begegnen hier einem System ineinander verschachtelter Beobachtungsprozesse, die jeweils lokal einer zweiwertigen Logik folgen (etwas wird eindeutig beobachtet bzw. wahrgenommen), die aber von einer anderen Perspektive aus negiert oder relativiert werden kann. Hierdurch entstehen unter Umständen komplexe logische Verhältnisse, in denen nicht mehr nur die logische Operation entweder oder erlaubt ist, sondern auch die verbindende Beziehung sowohl als auch sowie die transzendierende Transjunktion weder noch, mit der die Unterscheidung, welche die Ausgangsbeobachtung leitet, grundsätzlich zurückgewiesen wird. Die transjunktionale Operation ist in diesem Sinne der Hinweis auf die Relativität der jeweiligen Beobachterposition. Sie ermöglicht das Umschalten zwischen verschiedenen, einander auch widersprechenden Beobachtungsverhältnissen. Aus dieser Perspektive kann dann folglich gedacht werden, dass etwas nicht mit sich identisch ist, also (je nach logischem Standort) sowohl existiert wie auch nicht existiert.

Daraus resultierend wird ein neuer Umgang mit der Subjekt-Objekt-Problematik ermöglicht, denn mit den logischen Mitteln einer polykontexturalen Beschreibung sind Konzepte denkbar, in denen das Subjekt sowohl in einer objektivistischen Weltbeschreibung aufgeht als auch nicht mit dieser identisch zu sehen ist, Willensfreiheit zugleich ein Faktum wie auch eine Illusion darstellt, ein Selbst zugleich existiert wie auch nicht existiert, ein Mensch zugleich als autonom wie auch als fremdbestimmt zu sehen ist.68

Selbstreferenzielle Erkenntnistheorien münden also in polyzentrische Reflexionsverhältnisse, in denen Beobachtungen auf andere Beobachtungen verweisen und in denen ein Beobachter entsprechend seine Relativität, Standortabhängigkeit und Bedingtheit in den Erkenntnisprozess mit einzubeziehen lernt. In einer polykontexturalen Welt erscheinen Systeme in einer heterarchischen Beziehung zueinander.69 Das Gesamtsystem besteht aus Einzelsystemen, die jeweils für sich sowohl autonom als auch heteronom, sowohl als Funktion ihrer selbst als auch als Funktion ihrer Umwelt zu beschreiben sind. Jedes Einzelsystem kann die von einem anderen System vorgelegte Kontextur und die hiermit implizierten logischen Alternativen zurückweisen bzw. negieren (Rejektion)70: In mehrwertigen Logiken gibt es im Gegensatz zur zweiwertigen Logik mehr als nur eine Möglichkeit der Negation.71

Mithilfe der polykontexturalen Logik können heterarchisch verteilte Selbstorganisationsprozesse paradoxiefrei, das heißt ohne logische Widersprüche, beschrieben werden. »Was Operator an einem Ort, ist Operand an einem anderen Ort, und umgekehrt. Damit wird die Zirkularität der Selbstbezüglichkeit von Operator und Operand nach der Figur des Chiasmus über vier Orte verteilt. Die Zirkularität löst sich auf in einen chiastischen Mechanismus von Ordnungs- und Umtauschrelationen, in dem die zwei fundamentalen Zirkularitäten zwischen Operator und Operand im Spiel sind, ohne dabei die fundamentale Hierarchie zwischen Operator und Operand zu verletzen. […] Umtausch- und Ordnungsrelationen, Hierarchie und Heterarchie der Operativität und Relationalität, fundieren sich gegenseitig.«72 Für das Gesamtsystem lässt sich hiermit keine letzte Begründung mehr ausmachen: »Was Grund und was Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begründung. Der Wechsel des Standortes regelt den Umtausch von Grund und Begründetem. Jeder Ort der Begründung ist in diesem Fundierungsspiel Grund und Begründetes zugleich. Orte sind untereinander weder gleich noch verschieden; sie sind in ihrer Vielheit voneinander geschieden. Die Ortschaft der Orte ist bar jeglicher Bestimmbarkeit.«73

Wir begegnen hier einem komplexen logischen Beziehungsgeflecht, in dem letztlich alles mit allem verbunden ist. Dies ist aber nicht im Widerspruch zu dem Befund zu sehen, dass lokale Identitäten und Beobachter auftreten.

Den Beobachter erklären

Eine Wissenschaft unter einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie steht damit vor der Herausforderung, dass sie keinen absoluten Wahrheitsbegriff mehr beanspruchen kann, sondern dass die Frage nach Wahrheit jetzt selbst in den Beobachtungsprozess hineinzuverlagern ist. Wahrheit erscheint damit selbst als zweiwertige Kontextur, nämlich als eine kommunikativ hergestellte Sinnoperation des sozialen Bereichs, in der Wissen mit den Werten wahr oder falsch ausgezeichnet wird. Die Möglichkeit einer absoluten, endgültigen Wahrheit ist damit für den Bereich der Sprache bzw. des Sinnverstehens ausgeschlossen, da eine einmal postulierte Wahrheit von einer anderen Perspektive aus beobachtet werden kann und sich dann möglicherweise als falsch bzw. zumindest als relative Wahrheit erweisen kann.

Der neurobiologische Konstruktivismus hat sich darüber hinaus dem Problem der Zirkularität seiner Begründungsverhältnisse zu stellen, das mit der Einbeziehung des Beobachters virulent wird. Die Versuche der traditionellen Erkenntnistheorien, die Rolle des Beobachters zu klären, führten zum Paradoxon der Subjekt-Objekt-Problematik.

Wenngleich sich die hier vorgestellte Position als Wissenschaft begreift, kann wissenschaftliche Theoriearbeit unter einer konstruktivistischen Epistemologie nicht mehr auf einer allgemeingültigen »Logic of Scientific Discovery« (Karl R. Popper) begründet werden. Spätestens mit den grundlagentheoretischen Arbeiten des Mathematikers Gödel wurde zudem deutlich, dass der Versuch eines formallogischen Systems, sich selbst zu beweisen, grundsätzlich zu Widersprüchen führen muss.74 Da aber nun die Wissenschaft offensichtlich auch ohne den Nachweis einer logischen Konsistenz empirisch erfolgreich ist, muss sich damit die Frage ihrer Begründung umkehren: Wie schafft es Wissenschaft, ihre Gegenstände und Wahrheiten – sowie Antworten auf die Frage nach ihren eigenen Erkenntnismöglichkeiten – zu generieren, auch wenn diese nicht mehr transzendental und logisch begründbar sind? Die Antwort auf diese Frage offenbart sich durch die Instruktion »Beobachte den Beobachter« bzw. für das System der Wissenschaft gilt dann, dass »sich aufgrund der Beobachtung von Beobachtungen Systeme bilden«.75 Als wesentliche Neuerung gegenüber den klassischen Erkenntnistheorien werden damit zirkuläre Begründungsverhältnisse zugelassen.

Im Sinne einer »naturalized epistemology«76 wird erlaubt, dass sich Annahmen über die Erkenntnisvoraussetzungen durch die empirische Forschung beeinflussen lassen. Die Prinzipien und Voraussetzungen der Forschung lassen sich wiederum durch die soziale Praxis der Forschung konditionieren. Wir kommen hiermit also zu einer Eigentheorie des Erkennens, die zu erklären hat, wie Erkennen aus sich selbst heraus entsteht und schließlich Selbsterkenntnis ermöglicht. Folglich haben wir es mit einer Erkenntnistheorie zu tun, in der die traditionelle Subjekt-Objekt-Unterscheidung in den Hintergrund rückt und stattdessen der Prozess der Entstehung von Kognition und Erkenntnis in den Vordergrund tritt.

Eine vollständige Eigentheorie des Erkennens hat die Aufgabe, im Einklang mit unserer empirischen Erfahrung zu zeigen, wie der Prozess des Erkennens einer Wirklichkeit eine Wirklichkeit erschafft, in der Selbsterkenntnis möglich ist.

Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Erklärung

Wie bereits erwähnt, werden damit Wissenschaft und die hiermit verbunden Ansprüche einer wissenschaftlichen Erklärung zwar nicht suspendiert, sie ist aber nun im Sinne des konstruktivistischen Paradigmas als eine spezifische, recht spezielle Form der Praxis des Hervorbringens von Erkenntnis zu verstehen.

Die vier Voraussetzungen für ein wissenschaftliches Erklärungssystem sind mit Maturana und Varela:

»1.

Beschreibung von dem (den) zu erklärenden Phänomen(en) in einer für die Gemeinschaft der Beobachter annehmbaren Weise.

2.

Aufstellung eines Systems von Konzepten, das fähig ist, das zu erklärende Phänomen in einer für die Gemeinschaft der Beobachter annehmbaren Weise zu erzeugen (explikative Hypothese).

3.

Ausgehend von (2.) Ableitung von anderen in dieser Aufstellung nicht explizit berücksichtigten Phänomenen sowie Beschreibung der Beobachtungsbedingungen in der Gemeinschaft der Beobachter.

4.

Beobachtung dieser aus (2.) abgeleiteten Phänomene.«

77

Die Besonderheit einer wissenschaftlichen Erklärung aus dieser Perspektive besteht darin, dass sie gleichsam eine Gebrauchsanweisung für die Erzeugung des zu erklärenden Phänomens liefert. Somit ist die wissenschaftliche Erklärung weniger eine Erklärung als solche, denn eine Handlungsanweisung. Sie beschreibt, welche Handlungen ausgeführt werden müssen, um das beschriebene Phänomen zu erzeugen. Ob die epistemologischen Grundannahmen (Axiome) stimmen oder nicht, tangiert den Wissenschaftler solange nicht, wie die Handlungsrezepte erfolgreich sind.78