Weltgewitter - Andreas Wolf - E-Book

Weltgewitter E-Book

Andreas Wolf

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Beschreibung

Alltag. Romantik. Ereignisse. Dasein. Ich ging an einem späten Novembertag die Berliner Friesenstraße hinunter und auf die Kreuzberger Markthalle zu. Ein abschüssiger Weg. Ich passierte einen Blumenladen, der passend zur Jahreszeit auch Kränze in der Auslage anbot. Das gab mir zu denken, und das ohne dass ich zu denken dachte.

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Inhalt

Grundlos unter Azur

Weltgewitter

Formen

Duisburg

Die Amsel (nach Seneca)

für meine Mutter

Sergei Eisenstein, Alexander Newski

Nachtmeerfahrten

Am Schlachtensee

Ballard Power

Die Natur der Dinge

(nach Lukrez)

Rheinkilometer 555

Die große Müdigkeit

Von fernen Feuern

für Anton

Die Stunde der wahren Empfindung

Oranienburg

Sweet but Psycho

Im Lauf der Zeit

Erste Liebe

Letzte Liebe

Betrachtungen bei der Betrachtung eines Bechers

Welt und Ich

Schopenhauer und seine Geliebte machen eine Kahnpartie

Gala

Letzte Lockerung

Ein sehr kurzes Gedicht über die Liebe

Frühling (jung)

Prinzenstraße

Letzte Lockerung II

Ein sehr kurzes Gedicht über die Unmöglichkeit der Liebe

Die nette D.

für E.

An langen Sommerabenden

Gleisdreieck

Ein Märchen

Spätsommertage am Stadtrand

Post Festum

für Jürgen Ebert

Banale Mystik

Formen II

Das Paralleluniversum

Am Guadalquivir

Die Amsel II

Formen III

Die Seele Kants

Betrachtungen bei der Betrachtung eines Bechers II

Über die allmähliche Annäherung an Platon im Alltag

In einer Novembernacht

Masse und Energie

Die Stufen der Anschauung

Der todessüchtige Benn

An eine ferne Freundin

für Katharina

Blumen und Kränze

Nachwort

Grundlos unter Azur

Weltgewitter

Kaum, dass das Ich aus dem riesigen Affenarsch

der Evolution herausgekrochen ist,

wird es auch schon gemobbt, gebasht und gedisst.

Leider nimmt dieses Ich alles so persönlich,

wird paranoid wie Rousseau, sein Entdecker,

oder schießt sich, siehe Werther,

eine Kugel durch den gerade erst erleuchteten Kopf.

Ein christliches Begräbnis wird ihm – natürlich – verwehrt.

King Kong kann ziemlich nachtragend sein.

Das Ich, ein possierliches Personalpronomen,

der Nullpunkt, allerdings: des gesamten Bezugssystems;

kaum, dass es auf eigenen Füßen steht,

hat es einen schlechten Stand.

Es ist vorzugsweise unglücklich, leer, abstrakt, dummdreist,

betreibt das durchsichtige Scheinen in sich selbst (alles Hegel)

und kann noch nicht einmal dieses Scheinen,

sprich: sich selbst verstehen,

denn dazu bedarf es der Sprache,

und die ist nun einmal Allgemeingut (Wittgenstein).

Zweihundert Jahre Ich, zweihundert Jahre Einsamkeit,

Verbalgewucher, Highbrow, Mascara und Masturbation.

Das hat es nun davon, das liebe Ich,

dass es sich gerne an Strohfeuern wärmt:

Apart lässt es einen Kanarienvogel an seinen Lippen schnäbeln,

und der wiederum küsst mit dem so geküssten Schnabel

die Lippen der geliebten Frau. Man könnte heulen vor Glück!

Alle drei: bestimmt ganz wunderschöne Seelen

und doch so nah am Wassertod.

Tja, das Ich ist unrettbar und so gut wie hoffnungslos verloren.

Ihm muss keiner was erzählen. Es hat bodentiefe Spiegel im Bad.

Auch ist es nicht blind. Selbst Schaufensterscheiben können reden.

Doch nicht nur Schaufensterscheiben reden mit ihm,

Anmutungen gibt es überall, Codes und Kantilenen,

die Mystik eines Freibads, die Atemzüge eines Sommertages,

der Blitz im Wald, ansonsten nur lausige Föhren und Birken

und mitten darin dieses Ich, eine ontologische Vollabsurdität.

Es ist seinsmäßig bereits sozialauffällig geworden,

und dennoch schaut es den Dingen,

Dingen, die wesentlich größer sind,

kackfrech in ihr blödes Gesicht.

Nennen wir es einmal altdeutsch: Die Lichtung,

das Licht und die Dinge, sie kommen nur in ihm zusammen,

als Ton, als Bild, als Lied vielleicht, vielleicht auch als Dichtung,

wird nur in ihm das Licht die Dinge entflammen.

Dies Ich, so fadenscheinig, ein besserer Zwitter,

halb Biomasse und halb auch viel mehr,

steht ganz allein in diesem Weltgewitter,

ja: Es stellt das Weltgewitter überhaupt erst her.

Es ist der einzige Punkt inmitten des Alls und der Dinge,

der überhaupt irgendetwas sieht und hört,

der im Rausch der Besamung, im Tausch der Ringe,

der ruchlose Reigen, der Tod und Besamung stört.

Dies Ich, so oft schon belächelt, ja: offen verlacht,

ist Blitz, oder altdeutsch gesagt: Der Hüter des Seins,

ansonsten gäbe es nur Energie und Masse und Nacht

und eine Welt, die weltlos ist wie die Welt eines Steins.

Formen

Wo man Formen sieht,

da ist nur Ermattung,

ist äußerst erschöpfte Entelechie,

ein Wurf im Zenit

der dunklen Begattung,

doch Formen? Nie!

Ist das Haus gebaut,

so beginnt auch das Sterben,

die letzte Ernte steht auf dem Feld,

ein Wanken, ein Wünschen und Werben,

dass die Stunde – so schwertnah – noch hält.

Was als Haben erscheint, das ist nur ein Halten,

ein Hoffen, an dem es schon zieht,

ein Zaudern, ein Zögern im Zug der Gestalten,

so sichelschwer wissend,

dass es geschieht.

Duisburg

Ich denke gerne an Meiderich.

Ruhrgebiet, Borinage,

so sieht Manchester in schweren Träumen aus.

Abgeblätterte Häuser,

schwarz-weiße Reihenhaussiedlungen,

steingewordene Paranoia.

Doch die Menschen,

die ich nach dem Weg fragte,

und ich fragte oft

in diesem schwarz-weißen Albtraum

zwischen Rhein und Ruhr,

schmucklose, aber sehr präsente Existenzen.

Gerne denke ich an sie zurück:

den hageren Endfünfziger etwa,

ein frühpensionierter Hauer vielleicht,

wie er mit seiner hochtoupierten Frau

federleicht durch den Sommer-

und Lebensabend fährt.

Und der führt entlang des Rhein-Herne-Kanals,

mehr Kies- als ein Radweg,

eine grandiose Monotonie

zwischen Hafenanlagen und Schrottladeplätzen,

doch auch hier blüht, wie Unkraut, das Glück.

Ein Rentner mit sehr spitzen Fingern

pflückt die Brombeeren

von den staubigen Sträuchern

und platziert sie mit letzter Liebe

in seine viel zu große Tupperware-Dose.

Ein bulliger Türke

fährt mit einem Bike den Kies auf und ab,

während sein Kumpel

den bereits bronzenen Körper

von der späten Sonne vergolden lässt.

Geglückte Existenzen!

Mehr wird inmitten des Ruhrpotts

in diesen Jahrzehnten

einfach nicht zu holen gewesen sein.

Ruhrgebiet, Sehnsuchtsland, Kythera!

Dieser Mut des reinen Lebens!

Frühe Schafsmilch und gefiederte Abendluft.

Keinerlei Ferne lastet hier.

Nun hoffen alle,

dass es genau so bleibt,

dass das ganz kleine Glück

noch eine gute Weile fortspinnen mag,

inmitten dieses spätsommerfarbenen Traums.

So lange werden vom Kiesweg hinab

offenen Auges die Kanus bestaunt,

wie sie leichthin auf dem Kanal ihre Spur ziehen,

an den Frachtschiffen vorbei,

schwer beladen mit Kohle und Schrott.

Die Amsel (nach Seneca)

für meine Mutter

Leichthin stürzt die Amsel zur Erde,

es ist wie ein Windhauch mitten im Flug,

ein Ach und Aus, kein Stirb und Werde,

ihr ist der Hauch der Erde genug.

Einen solchen Sturz hatte sie nie gesehen.

Sie lebte, als würde sie immer leben.

Sie ließ keinen Augenblick vergehen,

ohne sich das ganze Glück zu geben.

Ihr Glück, das war der Dienst am Bauch,

war Balz, Begattung, ja: Vielweiberei,

war reiner Gesang, nicht mehr als ein Hauch,

im Hauch der Erde, dem großen Vorbei.

Sie hatte nie das Morgen gehegt

und dabei das Heute versetzt,

sie hat den Tag in die Thermik gelegt,

sie war immer das absolute Jetzt.

Über ihre Zeit waren die Schwingen

des himmlischen Friedens gebreitet.

Wem konnte jemals mehr gelingen,

als ihr, die so weit dem Schicksal entgleitet.

Auch dieser Sturz ist noch vielmehr ein Gleiten,

durch den jetzt vertikalen Raum,