Weltwärts - Ina Boesch - E-Book

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Ina Boesch

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Beschreibung

Die koloniale Verwicklung der Schweiz gerät zunehmend ins Bewusstsein der schweizerischen Öffentlichkeit. Ina Boesch erzählt anhand der Zürcher Kaufmannsfamilie Kitt eine exemplarische Geschichte dazu. Ihre Spurensuche führte sie von der Karibikinsel St. Eustatius über Tennessee bis nach Kairo. Biografien einzelner Familienmitglieder zeigen die Verbindung der Kitts mit der Welt auf: Drei Kaufleute namens Sebastian begannen im 16. Jahrhundert mit Gewürzen zu handeln; Anna Margaretha Kitt schrieb rund hundert Jahre später ein Kochbuch mit Rezepten, die reich an Zimt und anderen exotischen Zutaten waren. Weiter wird von Salomon Kitt erzählt, der im 18. Jahrhundert in der Karibik mit Stoffen und Kolonialgütern handelte und damit vom Dreieckshandel profitierte. Zuletzt steht Armin Kitt im Fokus, der im 19. Jahrhundert in Kairo Kaufmann war und der Universität Zürich zwei Mumien schenkte. Die Autorin verwebt gekonnt Fakten, Imaginationen und Reflexionen und rekonstruiert die Geschichte dieser "Weltwärts" strebenden Familie über drei Jahrhunderte hinweg.

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Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:

Dr. Adolf Streuli-Stiftung Pro Helvetia Kairo

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild: Ausschnitt aus der Karte von Ceylon aus dem «Zee-Atlas» von Hendrick Doncker.

Lektorat: Stephanie Mohler, Hier und Jetzt

Gestaltung und Satz: Büro 146. Maike Hamacher, Valentin Hindermann, Madeleine Stahel, Zürich

Bildbearbeitung: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-528-2

ISBN E-Book 978-3-03919-974-7

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

© 2021 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Inhalt

Vorwort - Familiäre Verwicklungen, globale Verstrickungen

Spur I - Die drei Sebastians und ihre Geschäfte16. / 17. Jahrhundert

Spur II - Anna Margaretha und die Gewürze1652–1701

Spur III - Salomon, die Stoffe und das Land1744–1825

Spur IV - Armin und die Mumie1851–1891

Nachwort - Die Kitts und die Sklaverei

Anmerkungen

Bibliografie

Kurzbiografien

Dank

Bildnachweis

Autorin

Vorwort

FamiliäreVerwick-lungen,globaleVerstri-ckungen

Salomon war mein Stolperstein. Eines Tages strauchelte ich sozusagen über seinen Namen. Ein gewisser Salomon Kitt sei in der Karibik in koloniale Geschäfte verwickelt gewesen, las ich in einem Buch des Historikers Hans Conrad Peyer. Meine Zürcher Grossmutter hiess Kitt. So viel wusste ich. Ihre Familiengeschichte kannte ich so gut wie gar nicht. War einer meiner Vorfahren tatsächlich ein Kolonialherr gewesen? Möglicherweise ein Plantagenverwalter? Gar ein Sklavenhändler? Noch bevor der Gedanke Form annehmen konnte, wischte ich ihn zur Seite. Was kümmert mich die familiäre Vergangenheit, dachte ich und stürzte mich in die Aufarbeitung aktueller Themen. Doch die Vorstellung, dass meine Familie vor 250 Jahren in schmutzige Geschäfte verstrickt gewesen sein könnte, liess sich gleich einer lästigen Fliege nicht so einfach verscheuchen. Wenn etwas dran wäre? Womöglich profitierten Salomons Nachkommen, seine Kinder und Kindeskinder, Nichten und Neffen bis hin zu meiner Grossmutter und mir, von seinen kolonialen Machenschaften – und tun es noch heute. Die Idee beschämte mich.

Lange verband ich ausschliesslich die Familie meiner niederländischen Mutter mit dem Kolonialismus, nicht aber die Familie meines Schweizer Vaters. Bei meinen holländischen Verwandten erfuhr ich paradoxerweise als Erstes, dass die gewaltsame Expansionspolitik Kolonialherren im positiven Sinn verändern kann. So ist es von Vorteil, über den Tellerrand zu schauen. Ich erlebte, dass ihr Horizont weit ist – weiter, als es sogar die flache Landschaft im platten Land erlaubt. In ihren Häusern spürte ich auch zum ersten Mal das Aroma der Fremde auf der Zunge. Ich erinnere mich an die Geschmacksexplosion in meinem Mund, als ich hausgemachten Speculaas ass, das flache Gebäck aus viel Butter, ebenso viel Zucker und einer Unmenge an exotischen Gewürzen. Die Niederländer behaupten, es erfunden zu haben. Ich erfuhr jedoch auch von den weniger appetitlichen, den abscheulichen Seiten der niederländischen Kolonialherrschaft. Manchmal, selten, schnappte ich Erinnerungsfetzen auf. Vom Militärdienst in Indonesien. Von Kriegsgefangenschaft. Von der Flucht durch einen eiskalten Fluss. Mit gedämpfter Stimme sprachen die Männer auch von Erschiessungen.

Ich wäre nie auf den Gedanken verfallen, dass auch Schweizer Verwandte eine koloniale Vergangenheit haben könnten. Schliesslich besass die Schweiz keine Kolonien. Dabei standen im Haus meiner Zürcher Grossmutter Gegenstände, die von einer globalen Geschichte zeugten. Ich hätte sie nur zu lesen brauchen. Zum Beispiel eine Kopie der Büste der Nofretete. Ich wusste zwar, dass Hedwig Kitt ihre ersten Kindheitsjahre in Ägypten verbracht hatte, aber die schöne Pharaonin verführte mich nicht dazu, tiefer zu graben.

Doch eines Tages siegte die Neugier. Ich begann, an einem Faden zu ziehen, von dem ich annahm, dass er mich zu Salomon Kitts Vergangenheit führen könnte. Tatsächlich. Am Fadenende ein erstes Fundstück: ein Testament von 1785, das im Staatsarchiv von Maryland in Annapolis liegt. Es dauerte nicht lange, und ich hatte weitere Trophäen aufgestöbert: etwa Briefe, die Salomon als junger Mann an seinen Zürcher Busenfreund Johann Heinrich Füssli geschrieben hatte. Bald hatte mich das Jagdfieber fest im Griff. Ich flog ins Ungewisse und folgte Salomons Spur auf St. Eustatius, einer heute unbedeutenden Insel in der Karibik, damals das Zentrum der westlichen Welt. Auch in den Jagdgründen der südlichen USA nahm ich Fährte auf, mit einigem Erfolg: So fand ich beispielsweise in Baltimore in der Maryland Historical Society Dokumente, die Aufschluss gaben über einen Kaufmann von zweifelhaftem Ruf.

Mit der Zeit reichte mir der Beutezug in Salomons Gefolge nicht mehr. Allmählich begann ich, mein Revier auszuweiten und auch andere Mitglieder der Stadtzürcher Familie Kitt in den Blick zu nehmen, und nach und nach dehnte ich meine Zeitreise immer weiter aus. Mein Leitmotiv blieb die Frage nach einer Verbindung mit jener Welt, die ausserhalb der eidgenössischen Grenzen und Europas lag. So wurde aus dem Stolperstein Salomon der Stein, der meine weitreichenden Recherchen ins Rollen brachte, der Auslöser für meine persönlich und politisch motivierten Nachforschungen zu einem Thema, das zunehmend in den Fokus der schweizerischen Öffentlichkeit und der Geschichtswissenschaft gerät: die globale und koloniale Vergangenheit der Schweiz.

Ich wusste nicht, wohin mich meine Neugier führen würde. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir ausgemalt, einst auf einer einsamen Insel zu landen. Ich hatte auch nicht geahnt, welch grosse Welt sich in einem Kochbuch verbirgt. Und nie wäre mir in den Sinn gekommen, mich an die Fersen von Mumien zu heften. Es lohnte sich, der Wissbegier zu folgen, denn die Verlockungen des Unbekannten ermöglichten mir ebenso die Auseinandersetzung mit konkreten Themen der Vergangenheit (etwa dem Wesen eines Kaufmanns im 18. Jahrhundert) wie mit brennenden Fragen der Gegenwart (etwa der Rückgabe von Kulturgütern).

Auf meinem Weg in die 500-jährige Vergangenheit der Kitts begegnete ich vielen Krämern, Händlern, Kaufleuten – Männern, deren Geschäfte meist nicht an der Stadtmauer endeten: Einige pflegten wirtschaftliche Beziehungen zu Nachbarregionen, andere bis in die Zentren der damaligen Weltimperien, dritte bis nach Übersee. Ich stiess auch auf Söldner, die im Dienst global aktiver Auftraggeber, also von Berufs wegen Grenzgänger waren. Und ich traf auf lokal tätige Ärzte und Pfarrer, Goldschmiede und Gerber, Buchbinder und Apotheker, Fabrikanten und Makler, Lehrer und Staatsangestellte und in der Zürcher Landschaft auf Weber und Landwirte. Politiker fand ich keine. Auch keine herausragenden Persönlichkeiten, wie es sie in den Sippen Escher, Werdmüller, Bodmer, Gessner oder anderen sogenannten guten Zürcher Familien gab. Die Kitts schienen eine durchschnittliche Oberschichtsfamilie gewesen zu sein. Gerade weil sie keinen Sonderfall darstellt, wurde meine Neugier, ob und wie globale Beziehungen im Leben ihrer Mitglieder eine Rolle gespielt hatten, besonders geweckt.

Wenig erstaunlich setzte sich das Personal, das im Lauf meiner Nachforschungen meinen Computer bevölkerte, fast ausschliesslich aus Männern zusammen. Sie waren es und unter ihnen vorwiegend Mitglieder der Oberschicht, die Spuren hinterliessen. Aus nachvollziehbaren Gründen: So konnten sie etwa im 17. Jahrhundert im Gegensatz zu Frauen höhere Schulen besuchen; sie hatten in den Zünften das Sagen; sie stellten die Politiker; sie lenkten die Kirchen; sie verwalteten den Besitz der Frauen; sie dominierten das öffentliche Leben; sie allein waren per Gesetz handlungsfähig. Am männlichen Machtanspruch und seiner Durchsetzung veränderte sich im 18. und 19. Jahrhundert wenig.

Um diese Männerdominanz zu untergraben, richte ich den Scheinwerfer unter anderem auf eine Frau. Anna Margaretha Kitt lebte im 17. Jahrhundert und war in ihrem Zürcher Alltag als Haushaltsvorsteherin mit der weiten Welt verbunden. Ausser ihr stelle ich Salomon Kitt ins Licht, der im 18. Jahrhundert als Trittbrettfahrer bei der kolonialen Expansion mitmachte. Zudem hole ich Armin Kitt, der sich im 19. Jahrhundert in Kairo im Schatten der Kolonialmächte aufhielt, aus dem Dunkel. Auf meiner Reise durch die Vergangenheit – unterbrochen von Abstechern in die Gegenwart – gelange ich bis ins 16. Jahrhundert, als der erste Kitt nach Zürich zog. Von hier bewegten sich seine Nachkommen allmählich weltwärts.

16. / 17. Jahrhundert

Die dreiSebastiansund ihreGeschäfte

Von den Anfängen der Kitts wusste ich lange nichts

Ich wusste, dass es ein Familienarchiv gab. Wo es lag, wusste ich hingegen nicht. Der Historiker Hans Conrad Peyer erwähnt es in seinem Klassiker «Von Handel und Bank im alten Zürich», gleichzeitig geizt er mit nützlichen Informationen: Zwar offenbart er den Namen des Schatzhüters, doch dessen aktuellen Wohnort nennt er nicht. Allerdings legt er eine feine Spur. Er schreibt, dass der Privatarchivar eigentlich ein Generaldirektor sei. Mag sein, dass dem Wissenschaftler die Bezeichnung wichtig war, kann sein, dass der Generaldirektor selbst darauf bestand. Heute mutet der Begriff antiquiert an, als das Buch erschien, stand er für eine bestimmte Schicht. Ich wusste, ich hatte meine Fahndung auf die oberen Zehntausend zu konzentrieren.

Trotz der Eingrenzung des Reviers musste ich lange in jenen Gefilden suchen. Auf meiner Odyssee begegnete ich vielen Archivaren, die verneinend den Kopf schüttelten. Familienforschern, die mir bereitwillig Fingerzeige gaben und mich unfreiwillig in die Irre führten. Zwischendurch gönnte ich mir Pausen, in denen ich mir verzaubernde Schätze ausmalte. Sah mich Briefe entziffern, in Briefwechseln schwelgen und in Tagebüchern versinken.

Ich wusste, dass das Archiv von den ersten Generationen der Familie Kitt in Zürich erzählte. Von den Dokumenten erhoffte ich mir erhellende Details über jene Zeit, als die ersten Kitts ihre Fühler in die Welt auszustrecken begannen. Zu den Anfängen wollte ich gelangen, über Umwege erreichte ich schliesslich das Ziel.

Die Truhe

Die Hüterin des Archivs hat mir den Weg wahrscheinlich so beschrieben, wie sie ihn seit Jahrzehnten im Kopf hat. Sie kann ihn bestimmt blind gehen, braucht weder die Namen der Strassen noch die Bezeichnung charakteristischer Stellen. Gehen Sie links hoch, dann rechts, dann gerade aus, dann wieder links, hat sie am Telefon erklärt. Selbstverständlich laufe ich in die falsche Richtung, und wenig überraschend finde ich niemanden, der mir den Weg weisen kann. Als ich sie von unterwegs anrufe, gibt sie mir erneut dieselben Anweisungen: links, rechts, geradeaus, dann wieder links. Aber dann schenkt sie mir noch einen weiteren Hinweis und ergänzt, kurz vor der Abzweigung nach links gebe es einen Laden voll unnötiger Dinge. Ich ahne, was in den Augen einer Frau aus der Zürcher Oberschicht entbehrlich ist: sogenannter Tand. Tatsächlich komme ich an einem Laden voller Nippes vorbei und weiss, es ist nicht mehr weit.

Von aussen sind die Ausmasse des Anwesens nicht zu erfassen. Erst wenn man drin ist, spürt man seine Dimension, entdeckt ein Nebengebäude hinter dem anderen und gewahrt die Aussicht auf die Berge und den See. Um die Beine der Hausherrin streicht eine schwarze Katze mit weissen Pfoten. Der Kater sei fast zwanzig Jahre alt, sagt sie und warnt mich, er würde ab und an plötzlich urtümliche Geräusche von sich geben. Effektiv ist es mehr ein Grollen als ein Miauen. Sie geleitet mich die Treppe hoch, die von einer geräumigen Halle aus in den oberen Stock führt, an den Wänden hängen Ahnenporträts; man vergewissert sich seiner Herkunft und seines Standes. Auf einem Spannteppich mit hohem Flor schweben wir einen langen Gang hinunter zu einem Zimmerchen, in dem drei Truhen stehen: zwei schwarze mit Beschlägen, wie sie für Überseekoffer üblich sind, und eine etwas kleinere aus braunem Holz. Auf dem runden Deckel eine Messingplakette mit der Prägung des Kitt’schen Wappens und der Inschrift «Archiv Kitt». Endlich.

Rasch sortiere ich die Dokumente aus, die mich nicht interessieren: maschinengeschriebene Vorträge aus jüngerer Zeit, gebundene Bücher und Fotos. Danach staple ich Papiere, von denen ich annehme, dass sie mir Aufschluss über die Anfänge der Familie Kitt in Zürich geben können. Und dann wähle ich mit Bedacht ein erstes Schriftstück, das älteste. Auf der Aussenseite eines mehrfach gefalteten Bogens hat jemand mit Bleistift das Jahr 1459 notiert. Mit spitzen Fingern versuche ich ihn zu öffnen, kämpfe mit der Faltung, die ihn in ein kleines Format zwängt, und ringe mit der über die Jahrhunderte eingerasteten Form. Die Entblätterung kommt mir wie ein gewaltsamer Akt vor. Schliesslich streiche ich ihn auseinander, platziere schwere Bücher auf allen vier Ecken und versuche, mich schlauzumachen, indem ich mich von einem grosszügig geschwungenen Buchstaben zum anderen hangle. Offensichtlich geht es um ein Fischereirecht in Greifensee. Ich nehme mir ein zweites Dokument vor, das auf 1512 datiert ist. Auch dieses handelt von einer Angelegenheit in Greifensee, es geht um ein Wegrecht, wie ich Wort für Wort entziffere. Der Name Kitt fehlt. Ich dechiffriere lediglich fremde Namen und entlegene Orte.

Zweifel an meinem Tun kriechen hoch. Was kümmert mich der alte Kram? Widerwillig klaube ich eine weitere Akte hervor und versuche, meinen Unmut zu ergründen. Bin ich frustriert, weil ich die alte Schrift kaum lesen kann? Weil niemand darauf wartet, etwas von der Familie Kitt, geschweige denn von ihrer globalen Verwicklung zu hören? Doch die Neugier überwiegt, und ich führe mein Vorhaben zu Ende, diesmal effizienter als zuvor. Indem ich die auseinandergezwängten Papiere kaum anschaue, sondern sie emotionslos glatt streiche und fotografiere, gelingt mir die Inspektion besser. Nur ab und an bleibt mein Blick an einem Dokument hängen. So animiert mich ein Buchstabe mit einem beeindruckenden Schweif zu lesen, dass «Caspar Kitt, Doctor der Artznei und Bürger der Stadt Zürich» 1667 sein Wohnhaus in der Trittligasse, das Haus zum Sitkust, verkauft habe.1

Ein über siebzigseitiges Büchlein von 1613 verspricht eine Fundgrube zu werden: Es beginnt mit den Worten «Im Namen Gottes Vaters Sohn und heiligen Geist Amen» und listet bis ins Jahr 1730 Mitglieder der Familie Kitt samt ihren Angetrauten, Kindern, Patenkindern, Patinnen und Paten auf. Und dann stosse ich auf ein kleines Heft, ein Büchlein so breit und so lang wie meine Hand. Braune Tinte auf gräulichem Papier. Auf dem ersten Blatt eine abstrakte Zeichnung. Ein ausladendes H, darauf ein kunstvolles K, am rechten Bein des H klebt ein bauchiges B. Wahrscheinlich ein Handelszeichen.

Der Satz oben auf der Seite ist eine Offenbarung: «Hier innen ist geschriben was sich mitt Hans Baschi Kitt und Rägulla Werdmüller, seini ee-gemahl, zuo dragen hatt in 1602.» Ich beginne zu blättern und entschlüssle einige Wörter. Laden, Täufer, Wien, Holland. Ein Fieber packt mich, schnell wende ich Blatt für Blatt. Eine Liste mit Namen und Daten. Ein Inventar eines Geschäfts. Und schliesslich das entscheidende Stichwort, das eine frühe globale Verwicklung verrät: Gewürze.

Bemächtigen

Vor mir liegt die Vergangenheit. Bereit, durchpflügt zu werden. Tag für Tag wälze ich Verborgenes an die Oberfläche und lese in den Schätzen, die ich geborgen habe. Schritt für Schritt eigne ich mir Krümel von anno dazumal an und be-mächtige mich der Geschichte längst verstorbener Menschen. Das Gefälle steckt im Wort.

Wem gehören die Toten?

Die Mitglieder der Familie Kitt, die ich nach und nach ans Licht der Gegenwart zerre, liegen längst unter der Erde. Und je länger sie tot sind, desto hemmungsloser mache ich mich über sie her. Die zeitliche und die persönliche Distanz lassen Skrupel offensichtlich dahinschmelzen. Während ich mich der Lebensgeschichte meines Urgrossvaters Armin möglichst respektvoll nähere, weil er erstens der Vater meiner mir bekannten Grossmutter war und zweitens sein Tod noch nicht allzu weit zurückliegt, beobachte ich, wie unbekümmert ich Vorfahren, die vor Jahrhunderten gelebt haben, aus der Vergessenheit reisse. Aber nicht die Freude an der Leichenfledderei treibt mich an, sondern die Frage nach ihrer globalen Verwicklung.

Der erste Kitt in Zürich soll ein Tischlersohn aus Feldkirch gewesen sein. So erzählt es einer seiner Nachkommen, der Pfarrer David Kitt.2 Dieser hatte bereits im 18. Jahrhundert eine kleine Familiengeschichte geschrieben – lange bevor im 20. Jahrhundert der Ehemann der jetzigen Archivhüterin die Papiere in der eigens dafür geschreinerten Truhe wegschloss, um sie für die Ewigkeit zu bewahren.

Wann Hans Sebastian Kitt nach Zürich kam, kann der Chronist nicht sagen, wohl aber, wann er Zürcher Bürger wurde. 1535, also vier Jahre nach Zwinglis Tod, schwor er vor dem Bürgermeister und dem Rat der Stadt Zürich, diesem zu gehorchen und sich dem Stadtrecht unterzuordnen. David hielt peinlich genau fest, dass Hans Sebastian zehn Tage nach Pfingsten die Stadtbürgerschaft erlangte, genauer: am Mittwoch nach dem Dreifaltigkeitssonntag. Als ob die genaue Datierung die Einbürgerung noch bedeutsamer machen würde. Tatsächlich hatte Hans Sebastian einige Hürden zu überwinden: Er musste beweisen, dass seine Eltern ein christliches Leben führten und seine Verwandten keine Leibeigenen waren. Zudem musste er zwanzig Gulden zahlen. Weiter wusste David zu berichten, dass Hans Sebastian in Zürich eine Witwe geheiratet und kurz darauf sein angestammtes Metier, die Seilerei, aufgegeben habe, um sich auf den Kleinhandel, das «Gremplen», zu verlegen. Nach dem Tod seiner Frau soll er das Haus seiner Stiefkinder sowie ein zweites gekauft haben. Mit seiner dritten Frau habe er zwei Kinder gehabt. Offenbar sei es ihm mit seiner «Gremplerey so wohl gegangen», dass er seinen Kindern ein ansehnliches Vermögen hinterlassen habe.3

Aus dem Rheintaler Einwanderer ist innert weniger Jahrzehnte ein gut situierter Zürcher Händler geworden. Ich bin versucht, Hans Sebastians Aufstieg in die oberen Gefilde der ständischen Gesellschaft als Erbschleicherei zu taxieren. Das Drehbuch lautet: Armer Schlucker heiratet bewusst reiche ältere Witwe, steigt in ihr Geschäft ein und baut sich nach ihrem Tod ein kleines Reich auf.

Höre ich Hans Sebastian Einspruch rufen? Nein, er kann sich gegen meine Interpretation nicht wehren. Tote haben kein Vetorecht, sie haben überhaupt keine Rechte. Er muss mir die Deutungshoheit überlassen, auch wenn ihm das Bild des Erbschleichers missfällt – zumal solche Karrieren damals gang und gäbe waren. Nur Quellen könnten meiner Lesart widersprechen, doch Zeugnisse gibt es kaum. Es gibt keine Tagebücher und keine Briefe. Keine weiteren Papiere, denen ich Leben einhauchen könnte. Nichts, was Hans Sebastian lebendig machen könnte, ausser der Chronik seines Nachkommens. Anscheinend war er Mittelmass, weder Amtsträger noch Zunftmeister, weshalb er nicht aktenkundig wurde. Einer, der nicht auffiel. Und deshalb keine Spuren hinterliess. Dachte ich – bis im Staatsarchiv des Kantons Zürich erhellende Dokumente auftauchten.

Huren und Buben

Im Herbst 1563 wurde Hans Sebastian verhaftet und im «Wellenberg» in Untersuchungshaft gesetzt.4 Aus diesem Gefängnis konnte er nicht entrinnen. Der Turm stand mitten in der Limmat und war nur mit dem Boot zu erreichen – eine Art Alcatraz im Herzen von Zürich. Die Häftlinge mochten lange an den Türen aus Eichenholz rütteln, diese gaben nicht nach. Massive Schlösser und Schliesskolben verhinderten die Flucht, und versuchte ein Insasse dennoch zu fliehen, fesselte man ihn an die Pritsche. Es ist nicht überliefert, ob Hans Sebastian im obersten der drei Stockwerke in einer einigermassen komfortablen Zelle mit Bett, Licht und Heizung einsass oder zuunterst in einem kalten, niedrigen Verliess mit einem Liegeplatz aus Stroh.

Im Sommer war er, der «Stammvater» der Zürcher Familie Kitt, des «ärgerlichen Einzugs» angeklagt worden.5 Er besass im Seefeld, das ausserhalb der Stadtmauer lag, eine Liegenschaft: die Hölzin Kilch. Entgegen des klangvollen Namens ging es in der hölzernen Kirche gar nicht heilig zu und her. Nachbarn hatten vor dem Ehegericht ausgesagt, dass dort «allerhand Huren und Buben» ein- und ausgingen. Darauf ermahnte das Gericht Hans Sebastian, sich künftig um ehrbare Mieter zu bemühen.

Offensichtlich stiess die Schlichtungsbehörde auf taube Ohren, denn im Herbst liefen die Nachbarn erneut Sturm. Sie klagten, dass Hans Sebastian nach wie vor dasselbe «Hausgesindel» zur Miete habe. Die Hausbewohner würden von einer Mitternacht zur anderen ausgelassen lärmen und prassen und ein «schändliches Dasein» führen.

Am 6. Dezember 1563 begann das Ehegericht, die klagenden Nachbarn einzeln zu befragen. Als Erstes sagte Zimmermann, der Ältere, aus:

Im Haus wohne eine «Metze».6

Küng vom Berg gehe öfters zu ihr.

Gossauer sei mit ihr mehrmals in die Gemeinde Zurzach gegangen.

Auch Kitt sei mit ihr ausgeritten, danach habe er sie in seinem Haus aufgenommen.

Küng bringe jeweils viel Wein mit.

Auch Weber, Göldi und Stünzi verkehrten dort häufig.

Wenn die Obrigkeit nicht strikter gegen das «leichtfertige Volk» und gegen Kitt vorgehe, werde er sein Haus wegen dieses «Schwaben» verkaufen müssen.7

Zimmermann junior bestätigte im Wesentlichen die Aussagen seines Vaters:

Keller habe eine Tochter, die sich auf der Gasse herumtreibe.

Küng habe sie mehrmals nach Zurzach ausgeführt.

Auch Kitt sei mit ihr ausgeritten.

Dann trat Sutter vor die Untersuchungsrichter und bat sie inständig, ernsthaft gegen den «Schwaben» vorzugehen. Wegen der vielen Gerichtstermine verliere er jeweils seinen Taglohn, klagte er.

Auch Münch jammerte über Verluste:

Sein Geschäft leide unter dem Betrieb in der Hölzin Kilch. Es sei ein unerträgliches Kommen und Gehen. Und dann die Zecherei!

Der «Schwabe» nehme absichtlich solche Mieter auf. Aus ihnen könne er mehr Zins herauspressen als aus rechtschaffenen Leuten.

Er sage nun schon zum dritten Mal vor Gericht aus. Wer bezahle ihm die verlorene Zeit? Dürfe er auf Kitts Kosten im Wirtshaus essen gehen?

Schliesslich bezeugte eine ehemalige Bewohnerin der Hölzin Kilch die Aussage von Zimmermann, dem Älteren:

Küng, Weber und Göldi kämen häufig vorbei.

Sie wisse das, weil sie Kellers Tochter, die «kleine Kellerin», dort gepflegt habe. Als ihre Brüder jedoch von den Vorgängen im Haus hörten, hätten sie ihr verboten, dortzubleiben.

Das Ehegericht kam zum Schluss, dass Hans Sebastian sein Verhalten trotz freundlicher Ermahnung nicht geändert habe. Sein «Hurenvolk» belästige weiterhin die Nachbarn. Deshalb müssten er, aber auch Küng, der zugegeben habe, wiederholt bei der Metze gewesen zu sein, sowie die Metze selbst bestraft werden – so wie sie es verdient hätten. Mit dieser Empfehlung übergab die Schlichtungsbehörde den Fall dem Rat der Stadt Zürich.

Mitte Dezember nahm Hans Sebastian Stellung zu den Vorwürfen:

Er habe nicht gewusst, welch übel beleumdete Leute in seinem Haus wohnten.

Er habe auch nicht gewusst, was dort vor sich ging.

Zudem werde es sich als falsch herausstellen, dass er mit einer Metze Unrechtes getan habe.

Auch wolle er den Mann mit eigenen Augen sehen, der behaupte, er habe die Metze auf seinem Pferd von Zurzach in sein Haus geführt. Er kenne diese Frau nicht.

Nach der ersten Ermahnung durch das Ehegericht habe er seine bisherigen Mieter aus seinem Haus vertrieben und einen ande ren Bewohner aufgenommen. Er habe jedoch nicht gewusst, dass dieser ebenso berüchtigt sei wie die vorherigen Mieter.

Er bitte ergebenst, ihn aus dem Gefängnis zu entlassen.

Und er gelobe, sein Haus künftig nur noch an Leute zu vermieten, die weder den gnädigen Herren noch den Nachbarn Anlass zur Klage gäben.

Bei der erneuten Befragung verliess die Zeugen ihr Gedächtnis, und sie konnten nur noch vage antworten. Insbesondere Zimmermann, der Ältere, und Zimmermann junior bekundeten Mühe, sich an Details zu erinnern. Mag sein, dass sie weder an Amnesie litten noch es ihnen an Kooperationswille mangelte, sondern sie ihre Rollen ausgespielt hatten. Gut möglich, dass sie gegen ihren unliebsamen Nachbarn weniger aus moralischen denn aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen klagten. Vielleicht störte Hans Sebastian ihre Geschäfte, vielleicht wurde er ihnen zu mächtig.

Da befand der Rat, dass Hans Sebastian – was den Ausritt mit der Metze betraf – unschuldig sei. Gleichzeitig auferlegte er ihm eine Busse und ermahnte ihn, fortan nur noch ehrbare Mieter aufzunehmen.

Ein Jahr später starb Hans Sebastian. Seiner Frau Katharina Schüchler und ihren beiden gemeinsamen Kindern Baschi und Ursula hinterliess er ein ansehnliches Vermögen.8 Die Tochter erbte auf den Heller genau 6,093 Pfund, 7 Schilling und 4 Heller, ein astronomisch hohes Vermögen aus der Sicht eines Gesellen. Auch aus der Perspektive eines Landvogts ein nicht zu verachtender Betrag; er entsprach achtzehn Jahreseinkommen eines Territorialverwalters.9 Der Sohn bekam 1,200 Pfund sowie zwei Häuser – worunter sich die Hölzin Kilch befunden haben dürfte.

Offenbar hatte Hans Sebastians Ruf wegen des Prozesses um das «Hausgesindel» keinen Schaden genommen, und das Erbe war nicht zu verachten. Beide Kinder verbanden sich später mit Abkömmlingen aus der angesehensten Familie Zürichs.10 Ursula heiratete den Fabrikanten Heinrich Werdmüller – bald darauf der reichste Mann der Stadt. Baschi vermählte sich mit Regula Werdmüller, einer Grosscousine von Heinrich. Während Regulas Grossvater als Säckelmeister und Ratsherr zu den bedeutenden Zeitgenossen zählte, war ihr Vater lediglich ein «bescheidener» Händler.11 – Wie sein Vater und sein Schwiegervater begann Baschi, als Kaufmann zu arbeiten.

Freie Ware

Nach der Hochzeit wohnte Baschi mit Regula bei seiner Schwiegermutter – damals nicht unüblich für junge Männer. Die Frau des «bescheidenen» Händlers brauchte Hilfe im Haus, das in der sogenannt Kleinen Stadt am Münsterhof stand. Sie suchte aber auch Unterstützung im Laden, den sie nach dem Tod ihres Mannes weiterhin von der Stadt mietete und der auf der Rathausbrücke beim Richthaus lag. Dort durfte Baschi Ware verkaufen, die sie nicht selbst im Angebot hatte.12

Er hielt unter anderem Pelze feil, die er in Lyon bezog. Wie die meisten Kaufleute aus Zürich, St. Gallen oder Bern und wie seine Verwandten, die Werdmüllers, kaufte Baschi seine Ware vor allem in der französischen Handelsmetropole ein. Die Stadt, bei der Saône und Rhône zusammenfliessen, lag günstig zwischen dem Mittelmeerhafen Marseille und Paris, mit Verbindungen nach Spanien und in dessen Kolonien, mit einem starken Bezug zu Italien und dem Levantehandel und mit engen Beziehungen zu Genf und der Eidgenossenschaft. Ihre besondere Stellung verdankte sie einem exquisiten Faden: Zu Tausenden webten Heimarbeiter die seidenen Stoffe, die am französischen Hof in Paris ebenso begehrt waren wie in Marseille, Zürich und anderen Städten. Baschi reiste regelmässig dorthin – trotz des gefährlichen Wegs: Einmal überfielen ihn Reisläufer und raubten ihn aus.

Er hatte jedoch nicht nur mit Wegelagerern zu kämpfen, sondern auch mit Leuten aus den eigenen Reihen. Wegen seiner Ware kam Baschi, Mitglied der klassischen Krämerzunft, der Zunft zur Saffran, ab und an in Konflikt mit Mitgliedern anderer Zünfte.13 Als Berufsorganisationen wahrten die Zünfte die Interessen ihrer Mitglieder und funktionierten häufig wie Kartelle. Baschi verkaufte Ware, auf die andere Zünfte ein Vorrecht hatten – zumindest sahen einige Zunftmitglieder das so.14 Im Herbst 1597 berichteten die Glasermeister dem Rat von Zürich von folgendem Ereignis: Das Klirren des Glases in seinem Handwagen kündigte die Ankunft des Fremden an. Schnell schickte Baschi einen seiner Knaben los, den «Welschen» abzufangen und zu seinem Haus zu führen. Die Zünfter warfen Baschi vor, die Ware nicht – wie für alle Kaufleute vorgeschrieben – zuerst ins sogenannte Kaufhaus gebracht zu haben, um sie dort zu wägen und zu verzollen. Der «Grempler» habe ihr Monopol missachtet, klagten sie.

Er habe den Glasern nicht schaden wollen, entgegnete Baschi dem Rat. Die Ware habe er in Lyon bestellt und sie auch schon bezahlt. Einen Teil der Glasware brauche er in seinem grossen Haushalt, den Rest wolle er hier und anderswo verkaufen, führte er weiter aus. Man könne ihm dieses Geschäft nicht verbieten, da das Glas «ein frye kauffmanschatz» sei, eine Ware, die Kaufleute ohne Einschränkungen handeln dürften. Und er betonte: Andere Händler täten es ihm gleich. Der Rat entschied, dass Baschi Glas kaufen und verkaufen dürfe – unter der Bedingung, dass er das Glas wie alle Händler über das Kaufhaus einführe.

Immer wieder musste der Rat Streitigkeiten zwischen Zünften schlichten. Auch wenn die Standesorganisationen das wirtschaftliche Leben ihrer Mitglieder zu regeln hatten, war es die Obrigkeit, welche die Leitlinien vorgab. Im Ernstfall entschied sie für oder gegen den Markt, pro oder kontra Regulierung. Im Fall des Streits um das Glas hatte sie sich für den Wettbewerb ausgesprochen.

Nur einige Monate zuvor hatte der Rat ganz anders entschieden. Im Frühling 1597 hatten die Kürschnermeister geklagt, dass Baschi und weitere Händler Felle und Pelze verkauften. Sie schadeten damit der Zunft zur Schneidern, betonten sie und beschrieben die Ware: In ihren Häusern und Läden würden die Kaufleute Wolfsfelle versilbern, ebenso «auf romanische Art» gefärbte Felle, auch Schlaf- und Unterröcke aus Pelz.15 Der Rat verteidigte das Monopol der Kürschner und gab den Klägern recht. Er verbot Baschi und den anderen den Verkauf von Fellen und Pelzen. Gegen den Kauf für den Eigengebrauch hatte er jedoch nichts einzuwenden.

So schlug sich Baschi mit der Obrigkeit und den Zünften herum und bemühte sich zusammen mit seiner Frau Regula, durch den Verkauf ihrer Ware die materielle Grundlage ihres Haushalts zu sichern. Mit einem Darlehen des Thalwiler Junkers Max Vogel wollte er sich mehr Spielraum verschaffen.16 1400 Sonnenkronen hatte er aufgenommen, was 27 Jahreslöhnen eines Zimmermeisters entsprach. Als Pfand setzte er das am Münsterhof gelegene Haus zum Bärenberg samt Nebengebäuden ein.

Doch er schaffte es nicht, den Wucherzins zu bezahlen, geschweige denn das Darlehen zurückzuerstatten. Als ihm 1602 das Wasser bis zum Hals stand, floh er aus der Stadt. Nach seiner Flucht drohte die Schliessung des Ladens.

Gewürze verstecken

Schwer wog der Zucker. Davon hatte Vater Baschi am meisten an Lager. Insgesamt 45 Kilogramm, die 20 Kilo Kandelzucker mitgerechnet. Er hatte sich offensichtlich gute Absatzchancen ausgemalt. Auch schwarzen Pfeffer hatte er massenhaft eingekauft. Ingwer gab es ebenfalls mehr als genug. Wo sollte er die Ware nur verstecken?

Nachdem sich Baschi aus dem Staub gemacht und seine Frau mitsamt den Kindern ihrem Schicksal überlassen hatte, zögerte sein zweitältester Sohn nicht lange: Sebastian begann, heimlich im Laden und im Lager Ware zu «flöchnen», Verkaufsgüter auf die Seite zu schaffen.17 Er fürchtete, dass die Obrigkeit den Laden dichtmachen und die Ware beschlagnahmen würde. Dem wollte der 18-Jährige zuvorkommen, indem er einen Teil des Bestands an sich nahm. Er hatte sich für die Gewürze entschieden, denn die waren wertvoll. Und für die Textilien, denn die waren leicht. Darüber hinaus suchte er ein paar Luxusartikel aus, die er ebenfalls unauffällig verschwinden lassen wollte.

Er musste sich beim Verpacken der exquisiten Ware beeilen. Die Muskatnüsse schlugen sanft gegeneinander und machten ein ploppendes Geräusch, als er sie in ein Tuch einschlug. Die Zimtstangen rollte er in ein Papier, und den Safran verstaute er in Dosen. Die Zitronen warf er in einen Korb, das Gummiarabikum in eine Schale. Dann nahm er einen Sack und stopfte die Mercerieware hinein: Bändel und Bordüren, Schnüre und Stoffe, Hüte und Hauben, noch mehr Bändel und noch mehr Bordüren. Zu guter Letzt packte er die sperrigen Güter ein: Papier, Hefte und Schreibzeug. Auch Messer und Löffel. Farbe und Rötel. Die Goldware und die Anhängsel stopfte er in ein Täschchen, das Kölnischwasser verstaute er im Beutel mit den Textilien.

So oder ähnlich muss sich Sebastians Aktion abgespielt haben. Dann setzte er sich hin und schrieb in akkurater Schrift in sein kleines Handbuch: «Folgett hab ich gefflöchnet uß dem Laden und kram kamer an waren.» Stück für Stück listete er die Ware auf, die er «aus dem Laden und der Warenkammer weggeschafft» hatte, insgesamt 72 Posten. Er begann das Inventar mit der Auflistung von sieben gelben französischen Gürteln und anderem Zierrat. Dann folgen Anhängsel aus Mailand. An dritter Stelle schrieb er «Goldtafeln», daneben einen saftigen Preis. Darauf folgte ein «Bindseckli», ein Säckchen. Er notierte viel Seidenes: Seidenbändel, Seidenwesten, Seidenhauben, seidene Hosenbändel, seidene Hemdenfäden, seidene Haarschnüre. Seide aus Mailand, Seide aus Verona, Seide aus Venedig. Nicht nur Seide, auch Samt. Dann eine ganze Reihe von Kappen, Hüten und Hauben, Hutböden und Hutschnüren. Hosenbänder, ganz und gerissen. Dazu Fäden und Schnüre in verschiedenen Formen und Farben. Die Bestandesliste zeugt von der Wichtigkeit der Textilien in jener Zeit, das Angebot entsprach einem wirtschaftlichen Trend.

Neben jeder Ware notierte er die Menge und den Wert. Da gab es manche Kostbarkeit: etwa die Pariser Strümpfe. Selbstverständlich auch den Schmuck (den Zierrat, die Anhängsel, die «Lyoner Glöckchen», die «schwarzen Steine») und das Gold (Lyoner Gold und Goldtafeln). Ebenso «1 Stück des feinsten Kölnisch Wasser» à acht Gulden. Er protokollierte und addierte. Zählte er die Beträge der Textilien und anderer Güter zusammen, kam er auf rund 450 Gulden. Sebastian schrieb die Wörter ohne Fehler, nur ein paarmal korrigierte er die fortlaufenden Zahlen. Er war sich seiner Sache sicher. Für uns bleibt einiges offen. Bezeichnete er mit «Margin» das Maroquinleder, ein feines Ziegenleder, das ursprünglich aus Nordafrika kam? Verstand er unter dem «rauen Faden aus kamben» einen Faden aus Kamelhaar? Und waren die «Chrallestei» rote Korallen?

Schliesslich widmete er sich dem «Gwürtz». Er notierte 11 Kilogramm Pfeffer, rund 45 Kilogramm Zucker und Kandelzucker, 6 Kilogramm Safran, knapp 4 Kilogramm Gummi, 5 Kilogramm Nelken, 7 Kilogramm Muskat, 8 Kilogramm Ingwer, 2 Kilogramm Zimt. Dazu Zitronen und Gewürzgebäck. Schliesslich Produkte, die auf den ersten Blick nichts in der Liste zu suchen haben. Etwa Gummiarabikum, aber auch Mastix, das Harz der Pistazienbäume, auch Grünspan oder Wurmsamen. Doch gemäss der damals gängigen Humorallehre, der Krankheitslehre der Körpersäfte, trennte keine klare Grenze die Kulinarik von der Arznei. Neben die einzelnen Posten schrieb Sebastian den Wert. Dann zählte er die Zahlen zusammen. Mit rund 300 Gulden machten die Gewürze fast die Hälfte des gesamten Warenwerts aus.

Gewürze waren kostbar, denn die meisten Würzmittel kamen von weit her. Deshalb avancierten sie ab dem Mittelalter zu einem Statussymbol und bald zu einem globalen Produkt schlechthin – auch wenn sich die Bedeutung von «global» je nach Standpunkt verschiebt.18 Aus europäischer Sicht begann der Prozess, den wir heute «Globalisierung» nennen, mit dem Pfeffer und dem Muskat, mit den Nelken und dem Zimt. Aus der Perspektive Europas waren es die Gewürze, welche die Epoche der Entdeckungen mit auslösten. Europa wollte sich einen direkten Zugang zur wertvollen Ware verschaffen, die seit dem späten Mittelalter Reichtum und Macht bedeutete, und den von den Arabern dominierten Handel von Asien nach Europa an sich reissen. Deshalb machten sich die portugiesischen, spanischen und italienischen Seefahrer auf den Weg nach Osten – und landeten manchmal im Westen.

Aus nichteuropäischer Sicht war die Welt bereits vor den europäischen Entdeckungsreisen und Eroberungszügen globalisiert.19 So kauften asiatische Händler Gewürze wie Nelken oder Muskat direkt bei den lokalen Produzenten, verschifften sie in Häfen in Südostasien, Indien oder China und verkauften sie an arabische Kaufleute. Diese brachten sie auf dem Landweg in den Mittleren Osten und zum Mittelmeer, von wo sie europäische Zwischenhändler zu regionalen Märkten brachten. Dort kauften sie schliesslich lokale Krämer wie Baschi.

Dieser wird sich mit dem exquisiten Gut vor allem in Lyon eingedeckt haben, ab und an sicher in Begleitung seines Sohnes.20 Sebastian kannte die französische Handelsmetropole gut, denn als Jugendlicher hatte er dort fast zwei Jahre verbracht, um Französisch zu lernen, die Handelssprache von damals.21 Und um das ABC des Kaufmanns zu büffeln, vor allem alles Wissenswerte rund um die Seide. Sebastian hatte dort etwas von der grossen Welt geschnuppert und seinen Horizont über die Grenzen seiner Heimatstadt und des Marktfleckens Zurzach hinaus erweitert. Eine Ahnung von der Welt konnte er auch in Zürich gewinnen.

Manches Produkt aus der Neuen Welt fand bereits früh seinen Weg in die Limmat-Stadt. So berichtete man etwa Kurioses vom grossen Conrad Gessner, der zwanzig Jahre vor Sebastians Geburt starb. Der Universalgelehrte soll bei sich zu Hause in der Frankengasse «Liebesäpfel», wie er die Tomaten nannte, gezüchtet und Meerschweinchen, die wuselnden Nagetiere aus Peru, gehalten haben.22

Als Sebastian die Gewürze auflistete, die er «geflöchnet» hatte, wird ihm manches durch den Kopf gegangen sein. Die drei Buchstaben «Pip» – für Piper Negrum, schwarzen Pfeffer – lösten sicher eine Reihe von Assoziationen aus.23 Teure Körner. Eines der beliebtesten Gewürze. Auch in Zürich sehr gefragt. Dauernde Kriege zwischen den Niederländern und den Engländern, die beide den Handel aus Asien kontrollieren wollten. Noch war nichts entschieden. Der Pfeffer konnte über die übliche Landroute nach Lissabon oder Venedig und von dort nach Zürich gelangt sein. Er konnte aber geradeso gut von den Niederländern nach Amsterdam verschifft und von dort in Baschis Laden verfrachtet worden sein.

Während Sebastian das Wort «Safran» notierte, sah er womöglich die flinken Hände vor sich, welche die Narben aus den Blüten brachen.24 Eine aufwendige Arbeit, die den hohen Preis für das rote Gold rechtfertigte. 150 Gulden notierte er für die sechs Kilogramm, damit machte das Pulver die Hälfte des Gesamtwerts der Gewürze aus. Gut möglich, dass Baschi den Safran aus Italien bezogen hatte; er wurde aber auch in Frankreich oder Nordspanien angebaut. Man handelte ihn vor allem auf dem Markt in Nürnberg, bekam ihn aber auch in Lyon, wahrscheinlich auch in Zurzach.

Ich stelle mir vor, dass Sebastian bei den Wörtern «Nelken», «Muskat» und «Zimt» den Honiggeschmack des Züritirggels auf der Zunge hatte.25 Fast möchte ich wetten, dass er in Gedanken mit der Zunge das flache Gebäck gegen den Gaumen drückte, bis der harte Fladen weich war, als er in seiner Liste die fünf Kilogramm «Nägelli», die sieben Kilogramm «Musgatnussen» und die zwei Kilogramm «Zimet» festhielt. Die Produktion und den Handel mit diesen Gewürzen aus Asien teilten sich damals noch viele Akteure: Araber, Asiaten, Europäer. Deshalb konnten sie über viele Wege nach Europa gelangt sein – und schliesslich von den Häfen in Venedig, Sevilla, Amsterdam oder Lissabon nach Zürich.

Beim Begriff «Gumi» für Gummiarabikum wird er die verschiedenen Kunden vor Augen gehabt haben, welche die eigentümlichen Stücke kauften.26 Er sah die Textilproduzenten die glänzenden, fahlen und geruchlosen Klümpchen erstehen, um der Seide Glanz zu verleihen und sie zu glätten. Die Arzneikundigen, um Schmerzen zu stillen und Entzündungen zu heilen. Und dann die Handwerker, um Farben zu verdicken oder Leder zu polieren. Sie alle brauchten das Harz der Akazienbäume, die in der nördlichen und südwestlichen Sahara wuchsen, für ihre unterschiedlichen Zwecke.

Es gab zwar Reiseberichte über die Sahara – etwa von Herodot, den Griechen oder den Römern –, doch die wenigsten kannten sie. Ich behaupte, dass Sebastian nicht wusste, dass das Gummiarabikum damals vor allem von der Westküste Afrikas kam, dem heutigen Mauretanien. Dort ernteten es die Zawayas beziehungsweise deren Sklaven und verkauften es an europäische Händler. Diese erzielten mit dem Verkauf des Produkts in Europa ein Vielfaches des Einkaufspreises. Die Firma Werdmüller bezog das Gummi unter anderem aus Venedig, möglicherweise auch Baschi.27

Gummiarabikum aus Afrika. Ingwer aus der Karibik. Zucker vermutlich aus Brasilien. Nelken, Muskat und Zimt aus Asien. Seide aus Italien. Kölnischwasser aus Deutschland. Strümpfe aus Frankreich. Baschis Handelsbeziehungen gingen in alle Windrichtungen und reichten in fast alle Kontinente. In seinem Laden in der «minderen» Stadt von Zürich war fast der ganze Globus vertreten – einhundert Jahre nach der sogenannten Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und der Pionierfahrt Vasco da Gamas nach Indien. Noch war die globale Welt, die sich um 1600 in Baschis Handlung auf wenigen Quadratmetern zeigte, nicht von Europa dominiert. Noch mischten verschiedene Produzenten und Handelsmächte im lukrativen Geschäft mit den Gewürzen mit.

Mit seiner «Flöchnerei» hatte Sebastian die Welt aus Baschis Geschäft gerettet. Was er vor der Obrigkeit jedoch nicht verstecken konnte, waren die Immobilien. Das Haus am Münsterhof samt Nebengebäuden kam unter den Hammer. Um Baschis Schulden zu begleichen, liess die Behörde zudem den Laden schliessen und den Restbestand veräussern.28 Sebastian hatte dennoch ein gutes Geschäft gemacht. Die Ware, die er zur Seite geschafft hatte, machte zusammen mit dem Erbe seines Grossvaters und anderen kleinen Beiträgen einen Gesamtwert von 2200 Gulden aus.29 Um diese Summe zu erwirtschaften, hätte ein Zimmermeister zwanzig Jahre arbeiten müssen.30 Für Sebastian bildete das Vermögen den willkommenen Grundstock für einen Laden, den er 1602 zusammen mit seiner Mutter eröffnete, und für die Unterstützung seiner vielen Geschwister.

Ostende

Langsam scrolle ich durch die Fotos, verschiebe auf dem Bildschirm die Fundstücke aus dem Familienarchiv. Da und dort bleibe ich an einem Wort hängen, hangele mich von Buchstaben zu Buchstaben. Einmal mehr versuche ich, im Handbuch zu entziffern, «was sich mit Hans Baschi Kitt zuo tragen hatt in 1602».31

Hoch verschuldet war Baschi nach Mähren geflohen, wo er Zuflucht bei einer der unzähligen Täufer-Gemeinschaften gefunden hatte, reime ich mir zusammen. Nach ein paar Wochen zog er nach Wien, wo ihn sein zweitältester Sohn Sebastian bei einer Frau aus St. Gallen fand. Gemeinsam kehrten Vater und Sohn nach Zürich zurück. Da Baschi nicht in der Stadt bleiben durfte, machte er sich erneut auf. Diesmal setzte er sich mit seinem ältesten Sohn Hans Jacob in die Niederlande ab. So weit kann ich dem Verfasser des Berichts und seiner Beschreibung von Baschis Fluchtroute folgen. Dann macht er eine Bemerkung zum Geld, das die beiden aus der Haushaltskasse mitlaufen liessen, und nimmt den Faden wieder auf: Vater und Sohn gingen im September 1602 nach Ostindien. Ostindien? Ich zoome das Wort heran. Tatsächlich. So steht es schwarz auf weiss. Ich bin elektrisiert. Baschi und Hans Jacob hielten sich also in einer der europäischen Kolonien auf. Da sie zuerst in die Niederlande fuhren, standen sie wahrscheinlich im Sold der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC).

Endlich ein weiterer Hinweis, dass die Kitts selbstverständlich in die globale Geschichte eingebunden waren: Baschi bezog von den Niederländern nicht nur Gewürze, er stellte sich auch in ihren kolonialen Dienst. Fiebrig suche ich nach mehr Hinweisen und erfahre beim Überfliegen des Berichts, Baschi habe sein Geld verloren und eineinhalb Jahre unter Graf Moritz gedient, bis er 1604 auf einem Schiff gestorben sei. Ich lese nochmals die Geschichte von den Schulden und dem geschlossenen Laden und stosse schliesslich auf eine Liste mit Namen und Daten. Darin zählt der Berichterstatter die Kinder auf, die Baschi mit seiner Frau Regula gezeugt hatte. Als Ersten erwähnt er Baschis ältesten Sohn: «Hans Jacob starb 1603 in Ostindien erschossen, ward 21 Jahr alt.»32 Nun sind alle Zweifel ausgeräumt: Hans Jacob diente als Söldner, obwohl Zwingli das verboten hatte. Und er war im Einsatz in einer niederländischen Kolonie. Kurz nach der Gründung der VOC muss er einer der ersten Schweizer gewesen sein, die für die Niederländer und ihren Gewürzhandel starben.

Atemlos beginne ich, andere Dokumente zu durchforsten. Als Erstes nehme ich mir das «Memoriebüchlein» vor, die von verschiedenen Familienmitgliedern geführte Chronik der Kitts. Sebastian erzählt darin nochmals, aber in anderen Worten als im Handbuch, wie man den Laden dichtgemacht hat, berichtet von der Flucht des Vaters nach Mähren und von der Heimkehr aus Wien. Dann fährt er fort, im September 1602 sei der Vater «mit dem eltisten son nach dem Underland in Ostende zogen».33 Ostende? Ich vergrössere die Schrift. Kein Zweifel. Hier steht, dass die beiden ins Unterland, die Niederlande, gereist seien, genauer nach Ostende, in die flämische Stadt am Meer. Sollte meine Hoffnung auf eine koloniale Verwicklung mit einer anderen Endung, mit dem Wortteil -ende so schnöde zerstört werden? Es bleibt noch eine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Als ich die Familiengeschichte konsultiere, die David Kitt im 18. Jahrhundert geschrieben hat, dämmert mir, dass ich Abschied nehmen muss von der Vorstellung, die beiden Kitts seien in Ostindien gewesen. Ich lese, Baschi habe im April 1604 einen Brief aus Gorcum geschrieben und im September desselben Jahres aus Sluis.34 Beide Städte liegen im Süden der Niederlande.

Ich schlucke die Enttäuschung herunter und recherchiere zum Grafen Moritz, in dessen Dienst sich Baschi offenbar befand. Es muss sich um Moritz von Oranien handeln, der bei der Belagerung von Ostende eine wichtige Rolle spielte. Um die Jahrhundertwende lag das von den calvinistischen Niederländern dominierte Ostende als Exklave im von den katholischen Spaniern beherrschten Flandern. 1601 wollten die Spanier und ihre Verbündeten die Stadt zurückerobern und begannen, sie zu belagern. Während der dreijährigen Kämpfe kamen unzählige Soldaten ums Leben, auch Hans Jacob starb auf dem Schlachtfeld. Man habe ihm sein linkes Bein und seine linke Hand weggeschossen, entziffere ich, und zwei Stunden später war er «ein lich».35 Als sich die Versorgungslage in Ostende zuspitzte, ging Moritz von Oranien – und mit ihm Baschi – nach Sluis, um die Spanier zu einer Feldschlacht zu bewegen und zur Beendigung der Belagerung. Der Schachzug misslang, und Baschi fand den Tod. Er sei auf einem Schiff «elendiglich gestorben», heisst es.36

Verbandeln

Es war die Crème de la Crème der Zürcher Gesellschaft, die sich am 26. Juli 1613 im Grossmünster versammelte. Männer und Frauen aus den sogenannten guten Familien hatten dem – seit Jahrzehnten im Hochsommer üblichen – Winterwetter getrotzt und waren zu Sebastians Hochzeit gekommen: die Werdmüllers, die Holzhalbs oder die Grebels.37 Sebastian hatte nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders den Laden mit seiner Mutter offenbar so gut geführt und so gut gewirtschaftet, dass er für die noble Familie Grebel als Schwiegersohn infrage kam. Seine Braut Margarethe stammte aus dieser Junkerfamilie. Ihr Vater war der Stiftskämmerer Georg Grebel, ihre Mutter eine Holzhalb und Tochter des Landvogts Heinrich Holzhalb.

Da Margarethes Vater gestorben war, führte Sebastians Pate, Statthalter Hans Ulrich Wolff, die Braut in die Kirche. Und da auch Sebastians Vater tot war, in Holland «elendiglich» umgekommen, nahm der Onkel des Bräutigams, der Seidenfabrikant Heinrich Werdmüller, dessen Platz ein. Da sassen also – ausser den Gästen – die erst seit drei Generationen eingebürgerten Kaufleute Kitt neben der alteingesessenen Junkerfamilie Grebel und lauschten den Worten von Felix Wyss, der die beiden Hausstände mit Gottes Segen verband. Für beide Familien handelte es sich um ein profitables Geschäft: Mit der Verschwägerung bauten die Grebels ihre wirtschaftliche Macht aus, während die Kitts sich einen Aufstieg in distinguierte Kreise verschafften.

Nach der Vermählung lud Sebastian zu einem üppigen Gelage ein, das sich über ganze zwei Tage hinzog. Am ersten Mittagessen fanden sich 140 Gäste ein, abends wurde es intimer, da durften nur dreissig Personen essen und trinken. Am nächsten Tag sassen am Mittag achtzig Geladene am Tisch und abends nochmals dreissig. Sebastian musste für die unzähligen Köstlichkeiten und die vielen Mass Wein tief in die Tasche greifen: Siebzig Gulden inklusive Trinkgeld liess er sich das Fest kosten. Damit hätte er einen Handwerker 140 Tage lang beschäftigen können.38

Die Auslagen dürften angesichts der Mitgift zu verkraften gewesen sein. Sebastian bekam von der Brautmutter 400 Gulden. Ein Jahr nach der Hochzeit eröffnete er mit seinem Bruder Caspar ein eigenes Geschäft. Sie traten der Zunft zur Saffran bei und trieben wie bereits der Vater Handel mit Lyon.39

«Bar Gelt»

Sebastian lebte die Ideale der damaligen Kaufleute: Er war sparsam, asketisch und rational. Das lässt sich zumindest aus dem Grundsatz lesen, den er einst notierte:

Kauff um bar Glt in, wo mglich.

Gib so wenig Ding uss, als du kanst.

Züch fleissig die Schulden ein.

Wartt niemand über dz Zil.

Es ist alle Zeitt besser, du handlistmit deinem Glt,dan dz enthlenti Gltnit jedem gůt thůt.40

Nimm keine Kredite auf.

Gib so wenig aus, wie du kannst.

Treibe die Schulden fleissig ein.

Sei sparsam und schiesse nicht übers Ziel hinaus.

Investiere das Geld, das du verdient hast.

Mit diesen Leitsätzen orientierte sich Sebastian an einer Arbeitsethik, die sich aus dem Protestantismus speiste. 300 Jahre später wird der Soziologe Max Weber Sparsamkeit, Genügsamkeit, Disziplin und Fleiss als die geistigen Triebfedern des Kapitalismus definieren.