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Das abgelegene Bündner Hochtal Avers ist Schauplatz der Geschichten, in denen Ina Boesch gekonnt Fakten und Imagination verwebt. Die Autorin erzählt von Blumen jagenden Naturforschern. Vom Hexenglauben. Von Avnerinnen und Avnern, die der Armut entflohen und in Übersee ihr Glück suchten. Von ambitionierten Tourismusunternehmern. Und vom Vorhaben, das Seitental Madris zur Energiegewinnung zu fluten. Entstanden ist ein virtuos geschriebenes Panorama einer Landschaft und ihrer Menschen.
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Seitenzahl: 166
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Ausblicke und Einblicke
Vorwort
Mit Botanisierbüchse und Pinsel
Wie Naturforscher und Künstler das Avers sahen (17.–20. Jh.)
Eine Bühne für die Richter
Wie das Gericht das Avers verhexte (17. Jh.)
Aus und ein
Wie Auswandernde das Avers flohen und Einwandernde es bezogen (18.–20. Jh.)
Aus dem Nichts der Bergeinsamkeit
Wie ein Genfer Unternehmen das Avers zubauen wollte (20. Jh.)
Unter Wasser
Wie das Val Madris um ein Haar geflutet worden wäre (20. Jh.)
Schauplätze
Der Ort, das Buch und das Projekt «hexperimente»
Anhang
In der Stube des Avner Hauses bin ich hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Ausblicken. Schaue ich durch das rechte Fenster, sehe ich den Wald. Blicke ich durch das mittlere, liegt dort ausser dem Wald eine Weide. Gucke ich aus dem linken, kommen die Berge in den Blick. Drei Variationen einer Landschaft. Drei Ausschnitte des Avers.
Die drei nah nebeneinanderliegenden Fenster sind typisch für die Walser Architektur und den klimatischen Bedingungen optimal angepasst. Durch die schmalen Scharten dringt kaum Kälte herein. Zudem lenken die Luken den Blick und bündeln mit ihrer engen Rahmung die Aufmerksamkeit auf weniges: den Wald, die Weide, die Berge. Das Zuviel in dieser Welt wird verringert. Das schmale Querholz im Fenster halbiert überdies den Ausschnitt und reduziert die Reize. Fokussiere ich etwa auf die obere Hälfte des linken Fensters, füllt der Himmel, und nur dieser, das Rechteck aus. So geniesse ich nicht nur drei, sondern sechs verschiedene Perspektiven auf das Tal, und je nach Position vor den Fenstern sind es noch viele mehr. Trete ich schliesslich ein paar Schritte zurück, ergänzen sich die Teilansichten und fügen sich zu einem einzigen Bild zusammen.
So wie aus dem Wohnzimmer werfe ich in diesem Buch verschiedene Blicke auf das Avers. Im Fokus stehen fünf Facetten einer Landschaft. Fünf Erzählungen über ein Hochtal, das wie in einer Nussschale fünf wichtige Themen der Alpengeschichte versammelt: die Eroberung durch die Naturwissenschaften, die Hexenverfolgung, die Migration, der Tourismus und die Energiegewinnung. Das Avers war Schauplatz für Naturforscher und Künstler, die das Tal mit Botanisierbüchse und Pinsel erkundeten; für Richter und Geschworene, denen das Avers eine Bühne für die Hexenverfolgung bot; für Auswandernde, die ihm den Rücken kehrten, und für Einwandernde, die die Arbeit der Ausgewanderten übernahmen; für Tourismusunternehmer, die das Hochtal mit einem Resort zubauen wollten, und für Wasserkraftbetreiber, die die Flutung eines Seitentals vorantrieben.
Sie alle und viele andere bekommen in diesem Buch eine Stimme: Mit ihren Erzählungen geben sie einen intimen Einblick in die Geschicke einer Landschaft – die sich trotz ihrer wechselhaften Geschichte seit Jahrhunderten kaum verändert hat.
Wie Naturforscher und Künstler das Avers sahen (17.–20. Jh.)
Seit Jahrhunderten unternahmen Künstler und Forscher regelrechte Eroberungszüge ins Avers. Der erste war der niederländische Maler Jan Hackaert, der Handelsrouten von der Nordsee bis zum Mittelmeer auszukundschaften hatte. Auf ihn folgten Gebirgsforscher wie Hans Conrad Escher von der Linth, der sein Augenmerk auf geologische Besonderheiten richtete, oder Biologen wie der ETH-Professor Carl Schröter, der seltene Blumen jagte. Sie und viele andere erlagen der Ausstrahlung des Tals, das, abgeschieden und hoch gelegen, ihre Neugier anstachelte und ihren Blick für Natur und Umwelt schärfte.
Nur noch ein paar Zentimeter. Sie streckt ihre Finger und versucht, nach dem Felsvorsprung zu greifen, streckt den Arm noch etwas und noch ein bisschen, es fehlt nicht mehr viel, und sie hat es geschafft. Offensichtlich hat es die Route in sich, denn noch immer liegt der Griff oben ausser Reichweite. Wenn sie diese letzte Hürde nicht überwindet, bleibt ihr nur der Sprung auf die Matte. Doch nun sucht sie, statt weiterhin ihre Finger lang zu machen, mit der rechten Hand den Beutel an ihrem Gesäss, greift hinein und taucht sie ins Magnesium, während sie sich wie ein Frosch an die Wand schmiegt, die angewinkelten Knie nach aussen drückt und den Schwerpunkt möglichst nah an den Fels zu bringen versucht. Noch einmal holt sie mit dem Greifarm aus. Und da, sie packt den Henkel, zieht ihren Körper mit dem rechten Arm hoch, während sie gleichzeitig mit dem linken Bein in Zugrichtung drückt, ihre Muskeln werden angespannt sein wie Drahtseile, sie drückt und zieht – und endlich kann sie sich auf die Felsplatte schwingen. Sie stösst einen Urschrei aus, während ihre Freunde ein paar Meter unter ihr winken und jaulend in den Triumphgesang einstimmen.
Seit den 1990er-Jahren pilgern Scharen von Anhängerinnen und Freunde des ungesicherten Kletterns in den «Magic Wood» zwischen Andeer und Ausserferrera. An gewissen Tagen lagern an diesem Ort in der Nähe einer ehemaligen Verhüttungsanlage (fast) mehr Touristen, als das Ferreratal inklusive das Averstal an Einheimischen zählt. Dicht an dicht stehen die Autos mit Nummernschildern aus Russland, Polen, Bulgarien, Frankreich, Deutschland oder den Niederlanden. Der «magische Wald» ist einer der coolsten Boulderplätze Europas, darüber sind sich Boulderer aus der ganzen Welt einig. Auch wenn der Spot sich in einer Steinschlagzone befindet und die Gefahr von fallenden Steinen mit auftauendem Permafrost wächst. – Vor mehr als 350 Jahren dürfte dies ein geringes Risiko gewesen sein.
Er wollte die Felsbrocken bei der Schmelzanlage auf dem Rückweg zeichnen, nun aber konzentrierte er sich auf den Pfad, der sich an die Felswand schmiegte; stetig ging er bergan, setzte Fuss vor Fuss auf dem Pfad, der sich hoch über den Fluss schwang, und versuchte mit seinem Begleiter Schritt zu halten, ach, sein Herz raste, und obwohl Pfarrer Agitti gleichmässig ging, war er atemlos, zudem wollte der Pfarrer keine Pause einlegen, denn noch heute sollten sie bis nach «Cresten» kommen, sodass er nicht einmal eine flüchtige Skizze anfertigen konnte. So nahmen sie Stufe um Stufe, balancierten über Wurzeln und Steine und gelangten endlich zu einer Ebene, wo der Fluss durch die Wiesen mäanderte und zur Rast an seinem Ufer einlud, doch es ging weiter durch den kleinen Weiler mit Häusern aus dunklem Holz auf gekalktem Sockel, die aussahen wie Schiffe auf weissen Wogen und ihn an seine Heimat erinnerten, auch wenn die Häuser in Amsterdam sich fast schon bescheiden gaben im Vergleich zu den Häusern hier mit ihren ausladenden Dächern. Insbesondere das Haus seines Vaters: «Der goldene Windhund» stand, schmal und zwei Stockwerke hoch, eingezwängt in einer Zeile von Häusern in der Keizersgracht, einer prächtigen Gracht, wo sich das pralle Leben abspielte, Kinder Reifen vor sich hertrieben, Frauen mit Sonnenschirmen wandelten, Kaufleute hoch zu Pferd vorbeiritten, wo es vor lauter Menschen wimmelte, die in vielen Sprachen parlierten, jeder und jede zweite kam von woanders her, um in Amsterdam, dem Nabel der Welt, teilzuhaben am Reichtum der Stadt und um Geschäfte zu tätigen bis in den hintersten Winkel der Erde, während er hier in diesem einsamen Tal kaum einem Menschen begegnete und ausser dem Krächzen eines Vogels, eines Tannenhähers, wie ihm der Pfarrer verriet, kaum einen Laut vernahm. Der Duft von Heu wärmte ihm das Herz und liess ihn abermals an seine Heimatstadt denken, wo nun die Lindenbäume blühten, die die Stadtregierung entlang der Grachten hatte pflanzen lassen, um die Luft zu versüssen und den Gestank aus den Grachtengräben zu vertreiben, was für eine geniale Idee! Auch in seiner Strasse stand Baum neben Baum, was damals so ungewöhnlich war, dass Besucher aus der Fremde Amsterdam mit einem «Lustgarten» verglichen, ja, die Stadt sei schöner als Venedig, ein «irdisches Paradies», das es besonders zu schützen galt, weshalb der Rat das Fällen der Bäume verbot, ebenso das Anbinden von Pferden und das wilde Pinkeln gegen den Stamm – so liess er seine Gedanken wandern, bis er sich wieder auf den Weg konzentrierte, den sein Begleiter nun zum Fluss hinunter einschlug. Von dort ging es steil hinauf zum kleinen Weiler mit der Kirche, in der der Pfarrer predigte, und als sie die enge Schlucht verlassen hatten, weitete sich das Tal und sein Blick, er sah Männer hoch oben im Steilhang breitbeinig mit der Sense ausholen und helle Bahnen in die Flanke zeichnen, während er und der Pfarrer über bereits gemähte Wiesen gingen, in denen ab und an eine Margerite oder ein Wiesensalbei dem Messer standgehalten hatte. Er bückte sich, um an den Blumen zu riechen, worauf vor seinem inneren Auge unweigerlich die Gärten hinter den prachtvollen Grachtenhäusern Amsterdams auftauchten, Gärten im Stil von Versailles mit symmetrischen Beeten, gestutzten Hecken, Statuen und Wasserspielen, Kleinode, die niemand sehen konnte ausser die Besitzer selbst, barocke Anlagen, auf die die Eigner stolz waren. Ihr besonderer Stolz waren jedoch seltene Blumen, vor allem Prachtexemplare von Tulpen, auf die seine Landsleute so närrisch versessen waren, dass sie bereit waren, für gewisse Zwiebeln bis zu 2 000 Gulden zu bezahlen – was für ein Kontrast zum Alltag hier in diesem Tal, wo eine Erdfrucht gedieh, wie ihm der Pfarrer sagte, die entfernt einer grossen Tulpenzwiebel glich, eine weisse Kugel, die die Menschen hier «Räbe» nannten und assen.
Am 12. Juli 1655 hielt der Amsterdamer Zeichner und Radierer Jan Hackaert in seinem Stammbuch, dem sogenannten «Liber Amicorum», fest, dass er bei Pfarrer Johannes Agitti in Cresta zu Gast war.
Als Hackaert im Sommer 1655 den Weg ins Avers nahm, war er vermutlich der erste Niederländer, der das abgeschiedene Tal besuchte, und wahrscheinlich auch der erste Niederländer, der sich in solch luftige Höhen traute. Seine Landsleute waren zwar dabei, in alle Windrichtungen zu segeln, um die letzten, noch unentdeckten Flecken der Welt zu erobern. Sie bewegten sich allerdings in der Horizontalen und nicht in der Vertikalen.
Im übrigen Europa indes war die Höhe unter den Forschern bereits im 16. Jahrhundert zu einem Thema geworden, und die gute Höhenluft haben Enzyklopädisten schon im 13. Jahrhundert gepriesen. Bis ins Mittelalter galt das Gebirge zwar als Ort des Schreckens, den man mied, wenn man nicht dort leben musste. Doch seit der Frühen Neuzeit erklommen Gelehrte das Gebirge und sammelten Pflanzen und Steine, dokumentierten die Beschaffenheit von Felsen und Erhebungen und schrieben in Chroniken und Handbüchern über das Faszinosum der Berge.
Einer der Pioniere in Sachen Höhenexpedition war der Zürcher Universalgelehrte Conrad Gessner: Hundert Jahre vor Hackaerts Reise ins Avers hatte er den Pilatus bei Luzern bestiegen. Ein Gipfelsieg sondergleichen und eine Leistung, die ihn geradezu euphorisch stimmte: «Wie gross sind die Genüsse für den ergriffenen Geist, gleich wie er ist, nicht wahr, die unermessliche Grösse der Berge zu bewundern und das Haupt gewissermassen zwischen die Wolken emporzuheben?»1 Andere Gelehrte begannen sogar Ranglisten der höchsten ihnen damals bekannten Berge zu erstellen: Die Anzahl Meter über Meer wurde zu einem bedeutenden Faktor ihres Interesses. Nicht von ungefähr erfand in jenem Zeitraum der italienische Physiker Evangelista Torricelli das Barometer.
Was Jan Hackaert über das Gebirge wusste und ob es ihn in Angst und Schrecken versetzte oder ganz im Gegenteil faszinierte, ob er eine Angstlust verspürte oder einen grossen Abscheu, ob er vom Höhenschwindel ergriffen wurde oder die Höhenluft genoss, ob ihm der Blick in die Tiefe den Schrecken in die Knochen jagte oder ihn zu Höhenflügen animierte, muss offenbleiben. Vom Avers hatte er vermutlich keinen Schimmer, und dass es auf rund 2 000 Metern über Meer lag, wusste er wahrscheinlich ebenso wenig. Es ist zwar vorstellbar, dass ihm Pfarrer Agitti auf ihrer gemeinsamen Wanderung nach Cresta dies und jenes erzählte, etwa, dass das Tal Anfang des 16. Jahrhunderts reformiert wurde und die Kirche romanisch war. Oder dass es ausser dem Saumpfad von der Rofla bis ins Hochtal noch andere Wege gab in das gar nicht so abgeschottete Tal: beispielsweise vom Septimerpass über die Forcellina oder von Bivio über den Stallerberg oder vom Bergell über den Madrisberg oder vom Splügenpass über den Pass Niemet. Nach solchen Hinweisen dürfte Hackaert besonders begierig gewesen sein, schliesslich sollte er für Kaufleute aus dem Umfeld der Niederländischen Ostindien-Kompanie Handelsrouten über die Alpen dokumentieren.
So wurden Hackaert Augen und Ohren geöffnet, und vermutlich las er die ihm unbekannte Landschaft mit all seinen Sinnen. Gut möglich, dass die Gegensätze zwischen dem vertrauten flachen Land und dem fremden Gebirge, der Kontrast zwischen der Weltstadt Amsterdam und dem Bergtal mit den rund 500 Einwohnern, die Diskrepanz zwischen Völlerei und Kargheit seinen Blick schärften und ihm beim Entziffern der Zeichen dieser unvertrauten Landschaft halfen.
Auf seinen Knien eine Unterlage, darauf der gelbgraue Bogen, balancierte er seinen Körper auf einem Stein – wie unbequem! – und liess den Stift über das Papier fliegen, bemüht, die Details möglichst genau festzuhalten: im Vordergrund der sich an den Hang schmiegende, der Topografie angepasste Weg; in der Mitte sanfte Wiesen, durchsetzt von ein paar Runsen; links ein, zwei Nadelbäume, die sich an den steil zur Schlucht abfallenden Felsen klammern; in der oberen rechten Ecke die Andeutung von zwei Häusern; im Hintergrund die Silhouette der Berge. Ja, so könnte es hinkommen, und mit Inbrunst widmete er sich der Darstellung der Natur, den Steinen, dem Gras, den Felsen, den Bäumen, den Bergen und einem Rinnsal, während er der Kultur, der Kirche, nur wenig Raum zugestand, dafür den besten Platz, denn den hohen und schlanken Kirchturm, auf dem wie eine Bischofsmütze das spitz zulaufende Dach thronte, positionierte er oben auf dem Blatt. Der Turm sollte der Blickfang sein, auf ihn richteten sich die Augen der Menschen – auf der Zeichnung wie im Leben. Daneben platzierte er die Kirche, ein ausladendes Gesäss, davor die Rundapsis, der Stift kratzte über das Papier, und schliesslich zeichnete er das Gebäude, das zwar von aussen nichts hermachte, das aber – anders als die Kirche – die weltliche Macht repräsentierte: das Ratsgebäude, wo auch das Gericht tagte. Zwischen Kirche und Ratsgebäude das Häuschen mit den beiden Glocken. Er hielt die Skizze mit ausgestrecktem Arm vor sich, verglich das Abbild mit der Realität und war zufrieden. Nur noch ein Anhaltspunkt für die Grössenverhältnisse fehlte, wofür er eine überzeugende Darstellung fand, indem er einen Menschen mit einem Rechen in der Hand vor den Glockenturm stellte. Fertig war die Zeichnung, die er abschliessend mit einer grauen durchsichtigen Lösung lavierte.
Die Kunst, Landschaften zu lesen, hatte Hackaert bei niederländischen Meistern gelernt. Nachdem die Landschaft für Maler bis um 1600 vor allem eine Bühne für die Darstellung von mythologischen oder historischen Szenen war, bekam sie danach in den Niederlanden einen neuen Stellenwert. Mit der Entstehung der Naturwissenschaften und der Eroberung fremder Landstriche rückten anderen Themen ins Blickfeld: der unspektakuläre Alltag und die bestehende Landschaft. Einer der ersten, der anstelle von künstlichen Landschaften echte malte, war Pieter Brueghel der Ältere. Seine Art der Landschaftsdarstellung prägte nachfolgende Künstlergenerationen.
Hackaert studierte möglicherweise bei Jan Both, der noch der zeitlosen Hirtenidylle verpflichtet war, einer Landschaftsdarstellung ohne realen Bezug. Auch Hackaert malte in diesem Stil. Daneben schuf er Ölgemälde, komponierte aus realen und imaginierten Landschaften südliche Idyllen und arbeitete als zeichnerischer Topograf. Haargenau hielt er Ausschnitte von Landschaften und Panoramen fest. Dieser topografische Blick kam auf seiner Schweizer Reise und seinem Abstecher ins Avers zum Zug. Gefragt waren Akribie und Zuverlässigkeit, um für seine Auftraggeber auf den Handelsrouten von Norden nach Süden gefährliche Stellen zu dokumentieren.
Die meiste Zeit in der Schweiz verbrachte Hackaert in Zürich beim Seidenhändler und Kunstsammler Hans Georg Werdmüller, den er vermutlich über den damals bekanntesten Zürcher Künstler Conrad Meyer kennengelernt hatte. Mit Meyer, der in Frankfurt die niederländischen Meister studiert und bei Merian dem Älteren gelernt hatte, durchstreifte er die Umgebung von Zürich und wanderte mit ihm und Werdmüllers Sohn bis nach Glarus.
Hackaert und Meyer arbeiteten in und nach der Natur, fingen «en plein air» mit Feder und Pinsel wirklichkeitsgetreue Landschaftsansichten ein. Mit ihren detailgetreuen Ansichten von Gebirgszügen revolutionierten sie die Darstellungen der Alpen, die bis dahin in der Schweizer Malerei lediglich eine dekorative Kulisse für historisierende Darstellungen waren. Sie malten die Alpen, weil sie da waren. Nicht, weil sie ein Bild davon hatten. Auch nicht, weil sie die Berge als Idylle oder aber als «Schröknis» imaginierten. Sie malten getreu der Natur.
Am 14. Juli nahm Hackaert den Saumpfad unter die Füsse, den er zwei Tage zuvor mit Pfarrer Agitti hochgegangen war. Bergab lief es sich leichter und schneller, sodass er in der Nähe der Verhüttungsanlage getrost eine Pause einlegen konnte, um die Felsbrocken und die Holzbrücke zu zeichnen, die er auf dem Hinweg gesehen hatte, den Übergang über dem Fluss festzuhalten, über den das hoch oben gewonnene Erz in die Schmelze getragen wurde. Er wollte nicht die Arbeiter, nicht das Silber, nicht die Gerätschaft, nicht den Ofen und auch nicht die kleine Siedlung, sondern die Situation beim Fluss abbilden, und so skizzierte er Felsen ohne Ecken und Kanten, Nadelbäume, schlank und hoch in den Himmel ragend, das Wasser sah er als eine glatte Fläche, und den Strom des Flusses erfuhr er als eine träge fliessende Masse.
Kunsthistoriker haben sich aufgemacht, den Schauplatz dieser eigenartig septischen und wenig sinnlichen Ansicht zu suchen, die Hackaert einmal von Süden und einmal von Norden gezeichnet hatte. Einige geben vor, ihn gefunden zu haben. Heute ist der Wald dichter als damals. Oder war er an dieser Stelle schon damals ein Dickicht, das der Niederländer schlicht unterschlagen hatte, weil ihn eigentlich der Fluss und sein Verlauf interessierten? Schliesslich handelt es sich um den Rhein, «de rjin» auf Niederländisch, «das Fliessende» auf Indogermanisch. Im Avers gibt es einige Bäche und Flüsse mit dem Namen Rhein: den Jufer, den Madriser und den Avner Rhein. Gut möglich, dass Hackaert seinen Auftraggebern das Quellgebiet des Rheins zeigen wollte, jenes Flusses, der von den Niederlanden in die Schweiz der schnellste und sicherste Handelsweg bedeutete.
Oder ging es um die Brücke? Hackaert sollte ja den Zustand der Strassen dokumentieren und exakte Landschaften zu Papier bringen. Insbesondere problematische Stellen hatte er mit einem topografischen Blick zu erfassen und zu «fotografieren» – wie etwa in der Viamala, jener engen Schlucht zwischen Schams und Thusis, die auf der Strecke zwischen Chur und Chiavenna das grösste Hindernis war. Dafür musste er sich auf die Holzstege wagen, die wie Schwalbennester hoch über dem Rhein am Felsen klebten, breit wie ein Saumpfad, aber zu eng für ein Fuhrwerk. Die grössten Gefahren fand er im ersten Abschnitt, und die besonders prekären Stellen auf einer Wegstrecke von 300 Metern dokumentierte er in sieben Zeichnungen.
In Amsterdam übergab Hackaert die exakten Wiedergaben der Viamala samt anderen detailgetreuen Darstellungen von Schweizer Orten und Regionen dem Juristen Laurens van der Hem. Dieser war – wie viele Niederländer jener Zeit – ein Liebhaber von Karten und Landschaftsbildern und integrierte die Schweizer Ansichten in seinen Atlas. Der Grundstock dieses Kartenwerks bildete der «Atlas Major» von keinem geringeren als Willem Blaeu – dem grössten Verleger und Drucker der Niederlande und zudem Chefkartograf der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Van der Hem ergänzte Blaeus elfbändigen Atlas nach und nach mit fünfzig weiteren Bänden. Unter den Trouvaillen befanden sich auch die drei Zeichnungen aus dem Avers. Auf die braune Federzeichnung, grau laviert, auf gelbgrauem Papier, schrieb van der Hem: «Avers in Rhetia/Joan Hackaert Fecit».2 Und auf den Zeichnungen der Brücken hielt er fest: «de wech nae Avers».3
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass die Niederländer durch ihren eigennützigen Auftrag, den schnellsten und sichersten Weg über die Alpen nach Oberitalien zu dokumentieren, nicht nur sich selbst, sondern auch der Schweiz einen Gefallen taten. Ihre Expansionsgelüste und ihr Ehrgeiz, nicht nur die letzten Winkel dieser Erde zu erobern und zu erforschen, sondern auch im Herzen von Europa unterwegs zu sein, bescherten der Schweiz die frühesten exakten Darstellungen gewisser Regionen und Orte.
Die Höhe machte ihm, dem Städter, nichts aus, im Gegenteil, seit Jahrzehnten zog es ihn in die Berge, mindestens einmal im Monat pilgerte er, ausgestattet mit Bleistift und Papier, in die Alpen, im Rucksack das Wissen eines Universalgelehrten, der in Göttingen Technologie, Statik und bei Georg Christoph Lichtenberg Philosophie studiert hatte, der darüber hinaus ein vom Geist der Aufklärung durchdrungener Politiker war; ein Mann nobler Herkunft; vor allem auch ein Künstler, der auszog, um mit seinem Stift die Silhouetten der Berge und die Topografie festzuhalten, sie mit ein paar Strichen zu skizzieren. Erst zu Hause aquarellierte er jeweils die Zeichnungen aufgrund seiner Notizen zum Gelände, zu den Farben und zum Bewuchs, um dann noch die Örtlichkeit, den exakten Standpunkt, den Zeitpunkt der Entstehung zu notieren, einen Titel zu setzen und das fertige Werk zu signieren.