Wem kannst du trauen? - Rachel Botsman - E-Book

Wem kannst du trauen? E-Book

Rachel Botsman

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Beschreibung

Wem kann man noch trauen? Der Regierung? Den Wirtschaftsunternehmen? Den Medien? Das Vertrauen in die Institutionen und ihre Führungskräfte ist auf einem historischen Tiefststand. Andererseits handeln wir mit digitalen Währungen, vertrauen Bots, unterhalten uns mit Smart Speakern. Die Vertrauensforscherin Rachel Botsman erklärt diesen von innovativen Technologien getriebenen Paradigmenwechsel. Sie beschreibt, wie sich die Welt in einem Zeitalter des "verteilten Vertrauens" neu ordnet. Worauf es jetzt ankommt? Untereinander, unseren Mitmenschen, Kunden und Firmenpartnern Vertrauensbrücken zu bauen, um die entstandenen Vertrauenslücken zu überwinden. Botsman erläutert, wie es geht. Vertrauen Sie ihr.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Who Can You Trust? How Technology Brought Us Together – and Why It Could Drive Us ApartISBN 978-0-241-29816-9

Copyright der Originalausgabe 2018:

Original English language edition first published by Penguin Books Ltd, London

Text copyright © Rachel Botsman 2018

The author has asserted their moral rights

All rights reserved

Copyright der deutschen Ausgabe 2020:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Egbert Neumüller

Gestaltung Cover, Satz und Herstellung: Daniela Freitag

Lektorat: Karla Seedorf

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-671-4

eISBN 978-3-86470-672-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenverlag

Im Gedenken an Pamela Hartigan,meine Freundin und Mentorin

Rachel Botsman

Wem kannst du trauen?

Die Antwort auf die vielleicht wichtigste Frage unserer Zeit

DIE ENTWICKLUNGDES VERTRAUENS

Inhalt

Einführung

1. VERTRAUENSSPRÜNGE

Von den Händlern des 11. Jahrhunderts bis Alibaba: Wie Vertrauen Schranken durchbricht, Ängste dämpft und die bestehenden Möglichkeiten revolutioniert

2. VERLORENES VERTRAUEN

Was hinter der verheerenden Vertrauenskrise der Institutionen steckt – und weshalb wir heutzutage eher „einen Bekannten anrufen“

3. SELTSAM VERTRAUT

Von Sushi bis selbstfahrende Autos – überraschende Lektionen, wie man Menschen dazu bringt, neuen Ideen zu trauen

4. WO LANDET DER SCHWARZE PETER?

Wenn in der „selbstverwalteten“ digitalen Welt das Vertrauen bröckelt, wer ist dann dafür verantwortlich?

5. ABER SIE SAH DOCH DANACH AUS!

Abschreckende Beispiele für täuschendes Äußeres und die Technologie, die Täuscher und Betrüger entlarven könnte

6. NICHTS GEHT ÜBER EINEN GUTEN RUF – AUCH NICHT IM „DUNKELN“

Was wir von Drogendealern im Darknet über hervorragende Kundenbetreuung lernen können

7. ZENSIERT: BEKÄME IHR LEBEN EINE GUTE VERTRAUENSNOTE?

Wenn dystopische Science-Fiction Wirklichkeit wird und alle Handlungen bis ins Kleinste beurteilt werden, wer gewinnt und wer verliert dann?

8. BOTVERTRAUEN

Sollten wir den Robotern wirklich trauen? Und wie baut man moralische Roboter?

9. BLOCKCHAIN TEIL I: DER DIGITALE GOLDRAUSCH

Von Fei bis Bitcoin – der lange Weg zur Befreiung des Geldes. Was heißt das für die City?

10. BLOCKCHAIN TEIL II: DIE WAHRHEITSMASCHINE

Die strahlenden Verheißungen der Blockchain: Übertrieben hochgespielt oder der vertrauenswürdige Schlüssel zu unserer digitalen Zukunft?

Fazit

Glossar der „Vertrauens“-Begriffe

Danksagungen

Anmerkungen

Weiterführende Lektüre

Was ist Vertrauen?Ein zuversichtliches Verhältnis zum Unbekannten.

Einführung

„Gib als Erstes die Waffen auf, dann das Essen. Aber hör niemals auf zu vertrauen. Ohne Vertrauen kommen Menschen nicht voran. Vertrauen ist wichtiger als das Leben.“

– Konfuzius zu seinem Schüler Duanmu Ci

Ich heiratete an dem Tag, an dem an der Wall Street das Fallbeil fiel. Das war am 14. September 2008. Ich hatte fast zehn Jahre lang in New York gelebt und meinen Verlobten Chris in einer Spelunke namens Eight Mile Creek in Downtown kennengelernt. Wir waren beide Stadtmenschen, wollten unsere Hochzeit jedoch in einer ländlichen, dörflichen Umgebung feiern. Am Ende entschieden wir uns für ein Lokal namens Gedney Farm mitten in dem Dörfchen New Marlborough im County Berkshire des Bundesstaates Massachusetts.

„Ihr wollt also in einem Pferdestall heiraten?“, fragte mein Vater, als ich ihm die Örtlichkeit zeigte – ein roter Stall im normannischen Stil, umgeben von saftigen Wiesen und üppigen Obstgärten. Als er sich darauf eingelassen hatte, beschloss er, dass wir dort in einer altmodischen Pferdekutsche hinfahren sollten. Ich spielte bei dieser Aschenputtel-Fantasie mit, stieg in eine offene weiße Kutsche samt Kutscher und Diener, die von einer grauen Mähre gezogen wurde. Das Pferd pfiff auf dem letzten Loch und war langsam. Es regnete. Ich kam zu spät.

Zu diesem Anlass waren 80 Gäste gekommen, unsere nächsten Verwandten und besten Freunde aus aller Welt. Die traditionelle Zeremonie war sehr schön und fand unter Kerzen- und Lichterkettenbeleuchtung statt. Die Rede des Trauzeugen war lustig, das Essen köstlich, obwohl ich in meinem Kopfsalat eine Heuschrecke, so groß wie mein kleiner Finger, fand.

Ich befand mich also im Mittelpunkt einer althergebrachten Institution – der Ehe –, die auf Vertrauen und lebenslanger Hingabe beruht, während eine andere – die Wall Street – implodierte. Inmitten des festlichen Getümmels bekam ich erst mit, dass die Außenwelt gerade einen Kollaps erlitt, als mir gegen 21:30 Uhr auffiel, dass überall im Raum das warme Glimmen der Lichterketten Konkurrenz vom aufdringlich blau-grellen Leuchten diverser iPhones und BlackBerrys bekam, weil die Gäste heimlich auf die Unglücksboten in ihren Händen schauten. Freunde und Verwandte, die im Bankwesen arbeiteten, versuchten, das Sperrfeuer der hereinströmenden Nachrichten zu begreifen. Konnte das Unmögliche wirklich passiert sein? Soeben hatte Lehman Brothers Insolvenz nach Chapter 11 beantragt. Bank of America und Barclays waren von einem Deal zurückgetreten, der die 158 Jahre alte Firma vielleicht hätte retten können. Merrill Lynch hatte als Versuch, eine Finanzkrise abzuwenden, zugestimmt, von Bank of America für circa 50 Milliarden US-Dollar aufgekauft zu werden. Washington Mutual, Wachovia und die britische HBOS standen haarscharf vor dem Kollaps. Das Schicksal eines anderen Giganten – AIG (American International Group), des Vorreiters am Markt für Kreditausfallversicherungen – wankte in der Schwebe.

Einige Freunde von uns, die gehobene Manager bei JPMorgan Chase und bei Goldman Sachs waren, entschuldigten sich, dass sie gehen mussten, weil sie zu Krisensitzungen „Alarmstufe rot“ gerufen worden waren. Es würde ein Wettlauf gegen die Zeit werden, die blinde Panik zu vermeiden, die bei Börseneröffnung mit Sicherheit ausbrechen würde. Mehrere andere Gäste tranken nervös und feierten, was das Zeug hielt, weil sie nicht wussten, ob sie am nächsten Tag ihre Habseligkeiten aus dem Büro tragen würden. Wir tanzten die Hora, ein traditionelles jüdisches Hochzeitsritual, das damit endete, dass ich auf einem Stuhl hochgehoben wurde und mein Mann mit einem großen weißen Tischtuch wild in die Luft geworfen wurde. Wieder ein Augenblick des Vertrauens. Die Gäste wirbelten um uns herum, klatschten und riefen „Oioioi!“. Gleichzeitig setzte außerhalb des Stalls die größte Finanzkrise aller Zeiten den Kessel unter Dampf.

Das war also der Beginn der nervenzerfetzenden Zeit, in der viele Unternehmen in den Abgrund stürzten und das weltweite Finanzsystem einem Zusammenbruch so nahe kam wie seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr. Wie wir heute wissen, schlugen die wirtschaftlichen Nachwirkungen der Kernschmelze noch viele Jahre lang über der Welt zusammen. Aber mein traditionsreicher Hochzeitstag markierte auch den Sturz von etwas, das tiefer reicht: das Vertrauen der Allgemeinheit in Institutionen.

Wer war an der Krise schuld? Was waren ihre wichtigsten Ursachen? Diese Fragen standen im Zentrum der Financial Crisis Inquiry Commission (FCIC), die ins Leben gerufen wurde, um den Kollaps des Bankwesens zu untersuchen – und die Antwort war vernichtend. „Die Krise war das Ergebnis menschlicher Handlungen und Unterlassungen, nicht von Mutter Natur oder verrückt gewordenen Computermodellen“, hieß es in dem 525 Seiten langen Bericht. „Um Shakespeare zu zitieren: Der Fehler liegt nicht bei den Sternen, sondern bei uns.“1 Anders gesagt war die Kernschmelze eine „vermeidbare“ menschliche Katastrophe.

Die Ermittlung der Bundesbehörde dokumentierte das peinliche Versagen von Regulierern, die der Bericht als „Wachen“ bezeichnete, „die nicht auf ihrem Posten waren“. Der Finger zeigte direkt auf die Federal Reserve, weil sie die um sich greifende Vergabe ungeheuerlicher Immobiliendarlehen, die überzogene Nutzung kurzfristiger Anleihen, die exzessive Umverpackung zwecks Weiterverkauf von Darlehen sowie viele andere Alarmzeichen nicht hinterfragt hatte. Die Hauptschuld trugen laut dem Bericht allerdings nicht die toxischen Finanzinstrumente, sondern menschliches Versagen war die treibende Kraft dahinter: das Eingehen waghalsiger Risiken, Gier, Inkompetenz, Dummheit sowie ein systemweiter Zusammenbruch von Verantwortlichkeit und Moral.

Die Finanzkrise war nicht der erste Nagel im Sarg des institutionellen Vertrauens und wird auch nicht der letzte sein, aber sie hinterließ tiefe Wunden.

Ein Vertrauensverlust bedeutet, dass es am Glauben an „das System“ und an Zutrauen zu ihm fehlt. Woran sollen wir glauben, wenn uns das System im Stich gelassen hat? Auf wen oder was kann man sich dann noch verlassen? Wir bekommen Angst davor, was sonst noch schiefgehen kann. Welche Unzulänglichkeiten, von denen wir noch nichts wissen, lauern vielleicht noch im System? Angst, Argwohn und Desillusionierung sind tödliche Viren, die sich schnell ausbreiten. Das ursprüngliche Epizentrum der Vertrauensexplosion lag verständlicherweise bei den Banken. Doch da blieb es nicht. Seit der Krise beschädigen im Zuge diverser Skandale und Enthüllungen Wellen des Misstrauens den Staat, die Medien, gemeinnützige Organisationen, Großunternehmen und sogar religiöse Organisationen.

Die Episoden unmoralischen Verhaltens überschlugen sich wie die Handlung einer überdrehten Seifenoper oder einer elisabethanischen Tragödie – vom Reißerischen oder gar Kriminellen bis hin zu schlichter Dummheit und traurigerweise auch zur Routine. All das nagt am Vertrauen der Allgemeinheit. Der Spesenskandal des britischen Parlaments, die Falschinformationen über Massenvernichtungswaffen, der Pferdefleischskandal bei Tesco, die Preistreiberei der Pharmakonzerne, BPs Deepwater-Horizon-Ölpest, die schimpflichen Schmiergelder der FIFA, VW-Dieselgate, bedeutende Datenpannen bei Facebook, Cambridge Analytica, Sony, Target und Equifax, die Panama Papers und die Paradise Papers samt verbreiteter Steuervermeidung, Wechselkursmanipulationen durch die größten Banken der Welt, der Petrobras-Ölskandal in Brasilien, das Fehlen einer wirkungsvollen Reaktion auf die Flüchtlingskrisen – und last not least schockierende Enthüllungen über weitverbreiteten Missbrauch durch katholische Priester, sonstige Geistliche und andere „Betreuungs“-Institutionen. Da ist es kein Wunder, dass Tausende Schlagzeilen beklagen, niemand vertraue mehr den Autoritäten. Korruption, Elitedenken, wirtschaftliche Ungleichheit – und die schwachen Reaktionen auf die oben genannten Vorgänge – versetzen dem traditionellen Vertrauen in die alten Institutionen Peitschenschläge wie ein heftiger Sturm alten Eichen.

Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen vom Tempo des Wandels und der schieren Masse des heute per Wischen oder Tastendruck verfügbaren Wissens derart erdrückt, dass sie sich in mediale Echokammern zurückziehen, in denen die Informationen verengt und bereits gehegte Überzeugungen verstärkt werden. Da wird es leicht, gegenteilige Ansichten zu ignorieren oder sie gar nicht erst zu sehen. Technologie bedeutet trotz aller Vorzüge auch Unwahrheiten, und sogenannte „Fake News“ können sich ungeprüft schnell sowie mit unaufhaltsamer Dynamik durch Netzwerke verbreiten. Fake News sind zu einem Spiel aus Vorwürfen und Gegenvorwürfen geworden. Anfangs war der Begriff eine nützliche Bezeichnung für Fehlinformationen, aber jetzt ist er ein wenig hilfreiches Allerweltswort, das gegen unbequeme Wahrheiten aller Art geschleudert wird, die beispielsweise einem Präsidenten möglicherweise nicht gefallen. Tatsächlich wurden Online-Fehlinformationen im großen Maßstab – und das Potenzial digitaler Flächenbrände – im Jahr 2016 auf dem Weltwirtschaftsforum in die Liste der größten Gefahren für unsere Gesellschaft aufgenommen.2 Was resultiert aus diesen Echokammern und Fehlinformationen? Unsere Ängste werden bestätigt, und dies häufig unbegründet. Unsere Wut wird verstärkt. Der Zyklus des Misstrauens wird ausgeweitet. Alles in allem wurde unser Glaube an viele Institutionen auf einen kritischen Umschlagpunkt herabgezogen.

Tatsächlich würden die neuesten düsteren Umfrageergebnisse jeden Politiker oder Unternehmenschef ins Schwitzen bringen. Seit 17 Jahren erhebt das Kommunikationsunternehmen Edelman ein jährliches „Vertrauensbarometer“, für das über 30.000 Menschen in 28 Ländern über das Maß ihres Vertrauens in mehrere Institutionen befragt werden. Die Überschrift des Berichts 2017 lautete bezeichnenderweise „Vertrauen in die Krise“. Das Vertrauen in alle vier großen Institutionen – den Staat, die Medien, die Wirtschaft und die Nichtregierungsorganisationen – steht auf einem Allzeittief.3 Die Medien mussten den schwersten Schlag hinnehmen, ihnen misstrauen nun 82 Prozent der Umfrageländer. Im Vereinigten Königreich fiel der Anteil der Menschen, die sagten, dass sie den Medien vertrauten, von 36 Prozent im Jahr 2016 auf 24 Prozent im Jahr 2017. „Die Menschen betrachten die Medien inzwischen als Teil der Elite“, so Richard Edelman, Präsident und Geschäftsführer der PR-Firma Edelman. „Das Ergebnis verrät eine Vorliebe für selbstbezogene Medien und dafür, dass man auf seinesgleichen zurückgreift.“4 Anders ausgedrückt: dass man danach strebt, das zu verstärken, was man bereits glaubt, und dies häufig durch Menschen, die man kennt.

Die Brexit-Abstimmung, die Europäische Union zu verlassen, und die Wahl von Donald Trump sind der erste Schub akuter Symptome, die aus einem der größten „Trust Shifts“ (etwa „Vertrauensverschiebungen“, „Vertrauenswandel“, „Vertrauensverlagerungen“) der Geschichte resultieren: vom Monolithischen zum Individualisierten. Vertrauen und Einfluss liegen jetzt mehr bei „den Menschen“ – Verwandten, Bekannten, anderen Nutzern, Kollegen und sogar bei Fremden – als bei den von oben nach unten wirkenden Eliten, Experten und Autoritäten. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Einzelpersonen mehr Macht haben können als traditionelle Institutionen und in dem Kunden nicht bloß Kunden sind, sondern auf die Gesellschaft wirkende „Influencer“, die Marken prägen.

Wenn man bohrende Fragen zu der fehlerhaften Struktur und Größe institutioneller Systeme stellt und danach fragt, wer sie leitet, gelangt man zu einer weiteren irritierenden Erkenntnis. Das institutionelle Vertrauen, das in den Händen einer privilegierten Minderheit lag, die hinter verschlossenen Türen operierte, war einfach nicht für das digitale Zeitalter gedacht.

Es war nicht für ein Zeitalter der radikalen Transparenz, von WikiLeaks und Cryptome, gedacht, in der Politiker und Vorstandsvorsitzende sich vorstellen müssen, dass sie hinter Glasscheiben arbeiten. Irgendetwas verbergen zu wollen – ganz egal, was – ist ein Glücksspiel mit hohem Einsatz. In einer Welt, in der marktschreierische PR-Arbeit schmutzige Geheimnisse oder Possen hinter verschlossenen Türen nicht mehr verdecken kann, funktioniert das nicht. Nehmen Sie nur ein paar jüngere Beispiele für „private“ Angelegenheiten, die über die ganze Welt ausgeschüttet wurden: die sensiblen Nutzerdaten der Dating-Website Ashley Madison, die internen E-Mails von Turing Pharmaceuticals über dessen ruinöse Preisgestaltung, geheime Scientology-Handbücher, Hillary Clintons E-Mails und sogar eine private Unterhaltung, die in einem privaten Schlossgarten zwischen der Königin von England und dem Chef der Londoner Polizei über die Grobheit chinesischer Politiker geführt wurde.5

Dieses Vertrauen war nicht für ein Zeitalter gedacht, in dem Menschen Geschäfte über Plattformen wie Airbnb, Etsy oder Alibaba direkt untereinander abschließen können. Es war nicht für eine Zeit gedacht, in der vorhergesagt wird, dass in zehn Jahren die Hälfte der Erwerbsbevölkerung aus „selbstständig Arbeitenden“ bestehen wird – Freiberuflern, Unternehmern und Zeitarbeitern. Es war nicht für eine Zeit gedacht, in der wir von Technologie-Maschinerien wie Facebook und Google abhängig geworden sind, die neue Formen von „Netzwerkmonopolen“ und des Plattformkapitalismus darstellen. Es war nicht für eine Kultur gedacht, in der wir alles – von unserem Bankkonto bis zu unseren Rendezvous – mit einem kurzen Klicken, Tippen oder Wischen im Griff haben wollen.

Sollten wir also um das verloren gegangene Vertrauen jammern? Ja und nein, denn jetzt kommt’s: Was immer auch die Schlagzeilen sagen, dies ist nicht das Zeitalter des Misstrauens – weit gefehlt. Das Vertrauen, also das Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält, ist nicht verschwunden. Es hat sich nur verschoben – und die Konsequenzen, die das für alles Mögliche hat, vom Engagieren eines Babysitters bis hin zur Leitung eines Unternehmens, sind massiv.

Seit zehn Jahren erforsche ich, wie radikal die Technologie unsere Einstellungen zum Vertrauen verändert. Im Jahr 2008 begann ich, mein erstes Buch mit dem Titel „What’s Mine is Yours“ über die sogenannte „Collaborative Economy“ oder „Sharing Economy“ zu schreiben. Ich war davon fasziniert, dass Technologien den Wert ungenutzter Vermögensgegenstände freisetzen könnten – Autos, Wohnungen, Bohrmaschinen, Fähigkeiten, Zeit. Was schließlich jedoch zu meiner Leidenschaft wurde, war der Aspekt des Vertrauens, dass uns Technologien zu Verhaltensweisen veranlassen könnten, die zuvor als etwas gruselig oder gar gefährlich gegolten hatten.

Damals erschien die Vorstellung noch lachhaft, man könnte ein Business darauf aufbauen, fremde Menschen in den Häusern anderer Menschen übernachten zu lassen. Doch heute ist Airbnb, ein Markt für Home-Sharing, mit 31 Milliarden Dollar bewertet und somit die zweitwertvollste Übernachtungsmarke der Welt.6 Im Jahr 2008 konnte man sich schwer vorstellen, dass detaillierte Online-profile den Menschen genug Vertrauen einflößen würden, mit fremden Menschen als Taxifahrer mitzufahren, die dafür ihre eigenen Autos verwenden. Uber ist heute 72 Milliarden Dollar wert und gehört zu den größten Unternehmen der Welt, größer als FedEx, Deutsche Bank oder Kraft Foods.7 Und dann ist da noch die Explosion von Online-Dating-Apps wie Tinder, bei denen die Zahl der täglichen Wischbewegungen über 1,4 Milliarden beträgt und täglich 26 Millionen Paare gebildet werden.8 Das ist nur eine Handvoll Beispiele dafür, wie Online-Tools uns in die Lage versetzen, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu interagieren und fremden Menschen unsere wertvollsten Besitztümer und Erfahrungen – sogar unser Leben – auf eine Weise anzuvertrauen, die zuvor unvorstellbar gewesen war.

Überlegen Sie sich einmal Folgendes: Warum sagen Menschen, dass sie Bankern oder Politikern nicht trauen, dennoch vertrauen sie Fremden so sehr, dass sie zu ihnen ins Auto steigen?

Eine gängige Erklärung besagt, dass die Menschen bei Umfragen nicht immer die Wahrheit sagen. Das mag stimmen, aber hinter diesem Vertrauensparadoxon musste noch mehr stecken. Ich hatte so eine Ahnung, dass da etwas tiefer Reichendes vor sich ging. Was wäre, wenn sich Vertrauen ebenso wie Energie nicht vernichten ließe und es vielmehr lediglich die Form wechseln würde?

„Wem kannst du trauen?“ schildert eine Theorie, die eine kühne Behauptung darstellt: Wir stehen am Beginn der dritten und größten Vertrauensrevolution in der Geschichte der Menschheit. Wenn man sich die Vergangenheit anschaut, sieht man, dass es in Bezug auf das Vertrauen deutlich voneinander abgrenzbare Perioden gibt. Die erste war lokal, als wir innerhalb der Grenzen kleiner Gemeinschaften lebten, in denen jeder jeden kannte. Die zweite war institutionell, gewissermaßen ein vermitteltes Vertrauen, das über eine Vielzahl von Verträgen, Gerichten und Unternehmensmarken lief; es befreite den Handel von den örtlichen Tauschgeschäften und legte das Fundament, das für eine durchorganisierte Industriegesellschaft nötig war. Und die dritte Periode, die noch in den Kinderschuhen steckt, ist verteilt.

Eine Verlagerung des Vertrauens muss nicht bedeuten, dass die früheren Formen vollständig abgelöst werden, sondern nur, dass die neue Form vorherrschender wird. Zum Beispiel kann eine kleine landwirtschaftlich geprägte Gemeinde weiterhin in manchen Angelegenheiten das jahrhundertealte lokale Vertrauen pflegen, sich aber im Umgang mit anderen Belangen öfter an das neue Amtsgericht wenden.

Vertrauen, das früher nach oben Schlichtern und Regulierern, Autoritäten und Experten, Überwachungsorganisationen und Aufsichtsbehörden entgegengebracht wurde, verläuft nun horizontal; in manchen Fällen vertrauen wir unseren Mitmenschen, in anderen Programmen und Bots. Das Vertrauen wird auf den Kopf gestellt. Die alten Quellen der Macht, des Sachverstands und der Autorität halten jetzt nicht mehr alle Trümpfe, nicht einmal mehr alle Karten in der Hand. Die daraus folgenden positiven wie negativen Konsequenzen darf man nicht unterschätzen.

Das explosionsartige Wachstum der Sharing Economy ist ein Bilderbuchbeispiel für die Wirkung von verteiltem Vertrauen. Aber diese Theorie ist auch eine Möglichkeit, die rasante Entwicklung von Plattformen wie dem Darknet zu verstehen, wo die Verbraucher alles Mögliche fröhlich benoten, von Marihuana bis hin zu Sturmgewehren von „unseriösen“ Händlern. Es mag scheinen, als hätten das Darknet und die digital gestützte App-Intimität wenig gemeinsam, aber ihnen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Menschen vertrauen anderen Menschen mittels Technologie.

Das verteilte Vertrauen hilft uns, zu verstehen, wieso digitale Kryptowährungen wie Bitcoin und Ether die Zukunft des Geldes sein könnten und dass die Blockchain (die Ledger-Technologie, die diesen Kryptowährungen zugrunde liegt) für alles Mögliche verwendet werden könnte, von der Nachverfolgung von Lebensmitteln oder Blutdiamanten bis hin zum Verkauf von Häusern ohne Hinzuziehung von Maklern.

Das verteilte Vertrauen hilft uns, zu begreifen, warum und wie wir dazu kommen, gut trainierten Bots zu vertrauen, wenn sie uns in Beziehungsdingen beraten, unsere Strafzettel bezahlen, unser Sushi bestellen oder uns sagen, ob wir Krebs haben.

Ich glaube in der Tat, dass die wahre Disruption, die gerade stattfindet, nicht die Technologie an sich ist, sondern die massive Vertrauensverschiebung, die sie bewirkt.

Das verteilte Vertrauen ist nicht bloß eine neue, idealistische Sorte des technologisch geprägten Freidenkertums. Dieses Buch enthält viele Geschichten, die zeigen, dass es nachteilige, düstere, sogar katastrophale Folgen haben kann – von Diskriminierung, Diebstahl bis hin zum Tod. Es stimmt, dass Technologie den Kreis des Vertrauens erweitert, Potenziale für Zusammenarbeit freisetzt und einen mit unbekannten Fremden in Kontakt bringt, aber sie errichtet und verhärtet auch Grenzen zwischen den Menschen. Die Benotungen und Rezensionen führen vielleicht dazu, dass wir verantwortungsbewusster und sogar ein bisschen netter zu unseren Mitmenschen sind, aber indem wir zunehmend auf sie zurückgreifen, hat das auch zur Folge, dass manche Menschen für immer befleckt sind und in eine Art digitales Fegefeuer verbannt werden. Und in unserem eiligen Drang, das Alte abzulehnen und das Neue begeistert zu übernehmen, setzen wir womöglich zu leichtfertig zu viel Vertrauen in die falschen Stellen. Eine der drängendsten Fragen unserer Zeit ist die, ob uns die Technologie wirklich hilft, besser oder schlechter zu entscheiden, wem oder was wir vertrauen.

Schon jetzt ist klar, dass die echten oder erfundenen Schandtaten von Institutionen viele Menschen in gefährlicher Weise empfänglich für Alternativen machen, sodass sie bereit sind, bedingungsloses Vertrauen in eine neue Sorte von Vertrauensrichtern zu setzen, die manche als höchst dubios bezeichnen würden. Verteiltes Vertrauen ist bei Weitem nicht narrensicher, und die Fragen, auf die es wirklich ankommt, sind ethischer und moralischer, nicht technologischer Natur.

Die ersten beiden Kapitel legen dar, weshalb Vertrauen so wichtig ist. Die nächsten drei Kapitel erforschen die drei Bedingungen, die verteiltes Vertrauen ermöglichen – Vertrauen in eine neue Idee, Vertrauen in Plattformen und schließlich in andere Menschen oder Bots. Dieser Abschnitt erläutert, wie man sich an den Aufbau von Vertrauen in dieser neuen Ära anpasst und was man tun muss, wenn es verloren gegangen ist. Und er stellt die entscheidende Frage, wer die Verantwortung übernimmt, wenn das Vertrauen nicht mehr zentralisiert, sondern verteilt ist.

An anderen Stellen reist das Buch in die Tiefen des Darknets, um zu verstehen, weshalb die Reputation selbst für Kokaindealer so wichtig ist. Es dringt in das an Orwell gemahnende Vertrauensscore-System ein, das in China entsteht und mehr oder weniger über alles entscheidet, etwa, ob ein Bürger eine Arbeitsstelle bekommt oder ob er in einen Zug oder in ein Flugzeug steigen darf.

Die letzten Kapitel betrachten unsere digitale Zukunft und legen dabei den Schwerpunkt auf unser schnell wachsendes Vertrauen in die Künstliche Intelligenz. Wenn wir es uns angewöhnen, intelligenten Maschinen zu trauen, wird es dann schwieriger, vertrauensvolle Beziehungen zu Menschen aufzubauen? Hier werden die glorreichen Verheißungen der Blockchain erforscht. Wird dieses digitale Hauptbuch wirklich zum „Internet des Wertes“, wie zahlreiche Enthusiasten behaupten? Werden die Großbanken diese Technologie übernehmen, die ursprünglich dafür gedacht war, Mittelsmänner auszuschalten?

Das durch neue Technologien ermöglichte digitale Vertrauen schreibt die Regeln zwischenmenschlicher Beziehungen neu. Es verändert die Art, wie wir die Welt und wie wir uns gegenseitig betrachten, und es führt uns in gewissem Sinne in das alte dörfliche Modell des Vertrauens zurück – nur dass die Gemeinschaft jetzt globale Ausmaße hat und dass manche ihrer unsichtbaren Zügel in den Händen von Internetgiganten liegen. Heute ist es wichtiger denn je, dass man die Konsequenzen dieser neuen Ära des Vertrauens versteht: wer davon profitieren wird, wer dadurch im Nachteil sein wird und welche Nachwirkungen das haben könnte.

Warum? Weil eine Gesellschaft ohne Vertrauen, die nicht versteht, wie Vertrauen aufgebaut, gehandhabt, verloren und wiederhergestellt wird, nicht überleben und ganz sicher nicht gedeihen kann. Vertrauen ist die Grundlage fast jeder Handlung, Beziehung und Transaktion. Die aufkommende Vertrauensverlagerung ist nicht bloß die Geschichte eines schwindelerregenden technischen Fortschritts oder der Entstehung neuer Geschäftsmodelle. Sie ist eine gesellschaftliche und kulturelle Revolution. Dabei geht es um uns. Und sie ist höchst bedeutsam.

KAPITEL 1

Vertrauenssprünge

Freitag, der 19. September 2014, war für die Wall Street ein historischer Tag. Ab dem Augenblick, als die Börsen um 9:30 Uhr New Yorker Zeit eröffneten, schoss vor allem der Ticker eines bestimmten Unternehmens wie eine Rakete in die Höhe. Es hieß Alibaba. Am Ende des Handelstags hatte der chinesische E-Commerce-Gigant eine Marktkapitalisierung von atemberaubenden 231 Milliarden Dollar.1 Das war die größte Erstemission, die es an der New York Stock Exchange (NYSE) je gegeben hatte. Sie stellte selbst den als Facebook bekannten Moloch und sogar Alibabas gigantischen Rivalen Amazon in den Schatten. Der 50-jährige chinesische Geschäftsmann Jack Ma, Gründer und damaliger Vorsitzender des Unternehmens, wurde ein sehr, sehr reicher Mann.

An jenem Tag drängte sich eine große Menschenmenge auf der Straße und im Saal der New Yorker Börse, um einen Blick auf den legendären Unternehmer zu erhaschen. Er wurde begrüßt wie ein Popstar. „Was wir heute beschafft haben, ist nicht Geld, sondern das Vertrauen von Menschen“, sagte Ma vor über tausend jubelnden Bewunderern.2

Allerdings hatte nicht der charismatische und dynamische Firmengründer die Eröffnungsglocke der Börse geläutet. Vielmehr hatte sich Ma dafür entschieden, dass acht Kunden von Alibaba – darunter fünf Frauen – auf dem Podium standen, um den Handel zu eröffnen. Er wollte zeigen, dass er zu seinem Wahlspruch „Zuerst kommen die Kunden, dann die Angestellten und an dritter Stelle die Aktionäre“ steht. Eine der Händlerinnen – eine von Millionen Kleinunternehmern und Kleinunternehmerinnen, die auf den Websites von Alibaba handeln – war Lao Lishi, eine ehemalige Wasserspringerin, die für China olympisches Gold gewonnen hatte und heute Armbänder aus Holzperlen verkauft. Ein anderer war Peter Verbrugge, ein amerikanischer Farmer, der im Moment den Rekord hält, die größte Menge an Kirschen auf Alibaba verkauft zu haben.3 Diese Kunden, die die Eröffnungsglocke läuteten, standen für etwas, das Ma sehr wichtig ist – dafür, dass Alibaba die Art und Weise verändert hat, wie chinesische Unternehmen aller Formen und Größen eine verwirrende Vielfalt an Waren kaufen und an Menschen auf der ganzen Welt verkaufen können: Kleider und Windeln, Milchziegen mit Stammbaum, gefrorene Hühnerfüße, aufblasbare Sexpuppen und sogar „Do-it-yourself-Abtreibungs-Sets“.

Aber Jack Mas Geschichte ist nicht nur ein faszinierendes Märchen darüber, wie unternehmerische Beharrlichkeit vom Tellerwäscher zum Millionär führt, sondern auch eine bemerkenswerte Leistung in der heiklen Angelegenheit, Vertrauen aufzubauen.

Es ist immer eine Herausforderung, einen erfolgreichen Online-Marktplatz aufzubauen, auf dem einander beide Seiten vertrauen müssen, aber das, was Mas Geschichte so außerordentlich macht, ist die Tatsache, dass ihm das in China gelungen ist. Traditionell basiert die chinesische Gesellschaft auf einem Konzept namens Guanxi, was man grob mit „Beziehungen“ übersetzen könnte. Zwischen Menschen, die zum gleichen Guanxi gehören – Verwandte, Bekannte und Bewohner des gleichen Dorfes –, herrscht sowohl geschäftliches als auch persönliches Vertrauen. Es handelt sich also um Menschen, die man im Laufe der Zeit gut kennenlernt, nicht um Fremde auf einem fernen Planeten namens Internet. Eigentlich ist es sogar üblich, Menschen außerhalb des eigenen persönlichen Netzwerks zu misstrauen. Dadurch kann ein kulturelles Hindernis und geschäftliches Hemmnis entstehen, weil die Menschen dazu neigen, keine neuen Beziehungen aufzubauen, wenn keine enge Verbindung besteht.

Als ich 25 Jahre alt war, reiste ich zum ersten Mal geschäftlich nach Shanghai. Ich war an einem Beratungsprojekt für eine bekannte Marke beteiligt, die nach Asien expandieren wollte. Im Laufe der ersten Woche aßen wir viele Male gemeinsam mit unseren chinesischen Geschäftskunden. Die Drehteller rotierten, wir aßen mittags und abends köstliche Speisen und stießen immer wieder mit unseren Biergläsern an. Diese Zusammenkünfte waren herzlich und angenehm, aber ab dem dritten Tag fragte ich mich, wann wir mit der „eigentlichen“ Arbeit beginnen würden. Ich war ziemlich unsensibel und begriff nicht, wie wichtig es für chinesische Geschäftsleute war, zu Beginn einer Beziehung sehr viel Zeit gesellig miteinander zu verbringen und sich kennenzulernen. „Im Westen behalten wir das von Herzen kommende Vertrauen (affektbasiertes Vertrauen) der Familie und Freunden vor, das vom Kopf her kommende Vertrauen (kognitionsbasiertes Vertrauen) hingegen Geschäftspartnern“, erklärt Professor Paul Ingram von der Columbia Business School, der sich mit sozialen Netzwerken befasst. „Aber in China sind das affekt- und das kognitionsbasierte Vertrauen auch im Geschäftsleben eng miteinander verflochten.“4 Insbesondere ist es in China so, dass die Menschen einem erst dann vertrauen, wenn man im Voraus viel Zeit investiert hat, um sich als vertrauenswürdig zu erweisen.

Gegen diese Gegebenheiten musste Jack Ma ankommen. Er schickte sich an, eine felsenfeste Konvention des Vertrauens zu zertrümmern.

Ma Yun, wie er ursprünglich hieß, wuchs in der Zeit von Maos Kulturrevolution in Hangzhou auf, circa 180 Kilometer südwestlich von Shanghai. Er war das zweite von drei Kindern, und seine Eltern traten im traditionellen Musiktheater auf. Ma hatte ihre Liebe zur Selbstdarstellung geerbt. Später war er dafür bekannt, dass er kunstvolle Perücken und Lederbekleidung trug und bei Firmenveranstaltungen gern Lieder aus „Der König der Löwen" röhrte.

Ma war kein besonders guter Schüler, aber er war schlau. Schon in jungen Jahren begriff er, wie wichtig es ist, Englisch zu können. Nachdem Präsident Nixon im Jahr 1972 Hangzhou besucht hatte, strömten Touristen in diese Gegend, um die schönen Seen, Tempel und Gärten zu sehen. Ma stellte sich den Wecker jeden Tag auf 5:00 Uhr und fuhr mit dem Fahrrad zum Hangzhou Hotel. Er sprach mit den Besuchern Englisch und bot sich als Führer an, der ihnen kostenlos die Stadt zeigte. Das machte er mehr als neun Jahre lang. Darüber hat er einmal gesagt: „Diese Touristen aus dem Westen öffneten meinen Geist, denn alles, was sie mir erzählten, war ganz anders als das, was ich in der Schule und von meinen Eltern lernte.“5

Im Laufe der Jahre schloss Ma mit vielen Touristen Freundschaft, unter anderem mit einer jungen Amerikanerin, die ihm vorschlug, einen englischen Namen anzunehmen. Ihr Ehemann und ihr Vater hießen Jack. Und so wurde er zu Jack.

Jack Ma wurde im Jahr 2014 zum reichsten Mann Chinas mit einem Vermögen von mehr als 19,5 Milliarden Dollar. In diese luftige Position hievte er sich mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit, wenn etwas misslang, einer ordentlichen Dosis ungezügelten Ehrgeizes und einer anderen unentbehrlichen Art von Vertrauen – Selbstvertrauen.6 Er bewarb sich zehnmal in Harvard und wurde zehnmal abgelehnt. (Wer bewirbt sich schon zehnmal?) Er fiel zweimal bei der Aufnahmeprüfung für eine staatliche chinesische Universität durch. Als er 1988 endlich einen Abschluss in Anglistik hatte, wurde er Lehrer.7 Um sein bescheidenes Wochengehalt von umgerechnet drei Dollar aufzubessern, kaufte und verkaufte er in den Straßen von Hangzhou Synthetikteppiche. Im Grunde seines Herzens war er Geschäftsmann.

Als Chinas Wirtschaft zunehmend anzog, beschloss Ma Anfang der 1990er-Jahre, den Lehrerberuf an den Nagel zu hängen. Er bewarb sich auf mehr als 30 Stellen, scheiterte jedoch bei allen. Als er sich als Polizist bewarb, wurde ihm schlicht gesagt: „Sie taugen nichts.“ „Ich ging sogar zu Kentucky Fried Chicken, als die nach China kamen“, sagte Ma vor Publikum auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. „24 Leute bewarben sich auf den Job. 23 wurden genommen. Ich war der Einzige, der nicht genommen wurde.“8

Erst 1995, als er zum ersten Mal die Vereinigten Staaten besuchte, nahm sein Leben eine glückliche Wendung. Ein Jahr zuvor hatte Ma die Hangzhou Hope Translation Agency gegründet und flog nun nach Amerika, um einer chinesischen Firma bei der Beilegung einer finanziellen Streitigkeit zu helfen, die sie mit einem US-amerikanischen Geschäftspartner hatte. Daraus wurde ein Horrortrip – der Amerikaner, den er treffen sollte, war ein Trickbetrüger, der ihn mit einer Schusswaffe bedrohte. Er reiste nach Seattle, um bei einem Bekannten namens Stuart Trusty zu wohnen, der zufälligerweise einen der ersten Internetprovider Amerikas leitete, VBN.9 Ma fiel ein mysteriöser grauer Kasten mit einem Bildschirm auf dem Schreibtisch seines Freundes auf. Er fragte sich, was das wohl sein mochte. „Jack, das ist keine Bombe“, versicherte ihm Trusty. „Das ist ein Computer. Du kannst damit nach allem suchen, was du willst.“

Langsam tippte Ma das Wort „beer“ ein. Er weiß nicht mehr, warum, vielleicht weil es so einfach zu tippen ist. Es erschien eine Liste von Bieren aus Deutschland, Amerika und Japan, aber ihm fiel auf, dass keine chinesischen dabei waren. Dann tippte er „beer“ und „China“ ein. Keine Treffer. Bedenken Sie, dass das im Jahr 1995 war. Netscape war gerade erst gegründet worden und Yahoo steckte noch in den Kinderschuhen. Google startete erst drei Jahre später. Außerdem war das noch die Zeit der quälend langsamen Einwahlverbindungen. Trotzdem spürte Ma, dass da ein Riesending in den Startlöchern stand.

Als er wieder daheim war, gründete er China Pages, eine Art Gelbe Seiten für chinesische Unternehmen. „An dem Tag, als wir mit dem World Wide Web verbunden wurden, lud ich Freunde und Fernsehleute in mein Haus ein … wir warteten dreieinhalb Stunden und erhielten eine halbe Seite“, erzählt Ma. „Während wir warteten, tranken wir, sahen fern und spielten Karten. Aber ich war sehr stolz darauf. Ich hatte [meinen Besuchern] bewiesen, dass das Internet existierte.“10 Später verkaufte Ma das Branchenbuch-Unternehmen für eine Million Yuan (circa 148.000 Dollar) – damals sehr viel Geld – an die staatliche Hangzhou Telecom. Dann ging er nach Peking, um das Ministerium für Außenhandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit bei der Einführung des „elektronischen Handels“ zu beraten.11 „Mein Chef wollte das Internet nutzen, um kleine Unternehmen zu stärken“, so Ma.12 Unternehmen gründen und aufbauen – das war das, was Ma wirklich wollte.

Ma hatte die revolutionäre Vision, zu einer Transformation der gesamten chinesischen Exportwirtschaft beizutragen, indem er kleine und mittelständische chinesische Unternehmen mit Kunden aus dem Westen sowie Unternehmen aus dem Westen mit unzähligen chinesischen Fabriken verknüpfte. In den Vereinigten Staaten waren Amazon und Ebay an den Start gegangen, aber in China existierte noch nichts dergleichen.

Heute laufen über 80 Prozent aller Waren, die in China online gekauft und verkauft werden, über diverse Online-Marktplätze von Alibaba.13 Das spinnennetzartig gestaltete Firmengelände mit seinen Gärten und offenen Arbeitsbereichen breitet sich in Mas Heimatstadt Hangzhou über mehr als 150.000 Quadratmeter aus. Es beherbergt Zehntausende Mitarbeiter sowie weitere Unternehmen, die Ma inzwischen gegründet hat. Dort hat das 2003 gegründete Unternehmen Taobao (das bedeutet „Schatz ausgraben“) seinen Sitz. Ähnlich wie bei Ebay können die Menschen einander dort so gut wie alles verkaufen, aber es hat mehr Ähnlichkeiten mit einem örtlichen Flohmarkt, auf dem man womöglich auf ein Schnäppchen oder etwas so Bizarres wie lebende Skorpione oder auf Seife stößt, die die Verkäuferin aus ihrer Muttermilch hergestellt hat. Hunderte von Taobao-Dörfern sind über ganz China verstreut, wo ein großer Teil der Wirtschaft darauf basiert, dass Menschen über diese Plattform vor Ort produzierte Waren verkaufen.

Dann kam im Jahr 2008 Tmall dazu, das Online-Pendant zu einem gigantischen, hochglanzpolierten Einkaufszentrum, in dem weltbekannte Marken von Disney bis Burberry direkt an die chinesischen Verbraucher verkauft werden. Die Alibaba Group verzeichnet jährlich 454 Millionen aktive Käufer, und jeder dritte Chinese hat schon einmal etwas auf seinen Marktplätzen gekauft.14

Am Tag des Börsengangs von Alibaba im September 2014 sprach der dynamische Ma überschwänglich über den historischen Meilenstein, den sein Unternehmen erreicht hatte. In den Interviews, die er gab, stach immer ein Wort heraus: „Haben Sie Vertrauen. Vertrauen Sie uns, vertrauen Sie dem Markt und vertrauen Sie den jungen Menschen“, sagte Ma. „Vertrauen ist die neue Technologie. Die Welt wird immer transparenter. Um alles, worum Sie sich sorgen, sorge ich mich schon seit 15 Jahren“, fuhr Ma ohne Pause fort. „Natürlich muss man sich Vertrauen erst verdienen. Denn wenn man Vertrauen hat, ist alles ganz einfach. Wenn man kein Vertrauen hat, wird alles kompliziert.“15 Innerhalb einer Minute sprach er das Wort „trust“ (im Deutschen „vertrauen“, „Vertrauen“ oder „trauen“) achtmal aus.

Ma wusste von Anfang an, wie wichtig es insbesondere in einer Kultur wie der chinesischen ist, Vertrauen aufzubauen – deshalb wirft er mit diesem Wort so freigiebig um sich. Wir werden noch darauf zurückkommen, wie er das anstellte. Es lohnt sich jedoch, zunächst das Konzept des Vertrauens an sich genauer zu untersuchen. Wie uns allen würde es Ma wahrscheinlich schwerfallen, es zu definieren – was genau meint man damit, wenn man von „Vertrauen“ spricht? Und welche Türen öffnet es?

Vertrauen ist keine Nettigkeit, kein optionales Extra des Lebens. Wir alle sind bei vielen unserer täglichen Aktivitäten darauf angewiesen. Wie könnten wir essen, Auto fahren, einkaufen, in ein Flugzeug steigen, zum Arzt gehen oder Geheimnisse erzählen, wenn wir nicht anderen Menschen vertrauen würden? Der Politikwissenschaftler Eric Uslaner sagt: „Vertrauen ist die Hühnersuppe des Soziallebens.“16

Wenn ich mir zum Beispiel Sushi liefern lasse, muss ich darauf vertrauen, dass das Restaurant frische Zutaten verwendet, dass die Küche sauber ist, dass es meine Kreditkartendaten nicht missbraucht und dass der Lieferant nicht mit meinem Abendessen durchbrennt. Vertrauen ermöglicht kleine und große Handlungen der Kooperation, die zusammengenommen zu höherer ökonomischer Effizienz führen. „So gut wie jede geschäftliche Transaktion beinhaltet ein Element des Vertrauens, auf jeden Fall jede Transaktion, die über einen gewissen Zeitraum durchgeführt wird“, merkt der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow dazu an. „Man kann plausibel argumentieren, dass sich ein Großteil der wirtschaftlichen Rückständigkeit auf der Welt durch das Fehlen gegenseitigen Vertrauens erklären lässt.“17

Dank Vertrauen fühlen wir uns zuversichtlich genug, um Risiken einzugehen und uns so weit zu öffnen, dass wir verwundbar werden. Es führt dazu, dass wir uns in die Obhut anderer Menschen begeben, ohne zu wissen, wie genau das ausgehen wird oder wie genau die andere Person sich verhalten wird. Das gilt für Kleinigkeiten wie eine Sushi-Bestellung ebenso wie für Dinge, die das Leben verändern, zum Beispiel eine Heirat. Wenn wir, bevor wir irgendetwas kaufen oder tun, denken würden, dass wir betrogen oder abgezockt werden, würde nur sehr wenig passieren.

Soziologen, Psychologen, Ökonomen und andere betrachten Vertrauen als nahezu magisches Elixier für die Wirtschaft, als das Bindemittel, der die Gesellschaft zusammenhält und die Wirtschaft rundlaufen lässt. So weit herrscht Einigkeit. Über die Definition von Vertrauen wird hingegen seit vielen Jahren gestritten. Tatsächlich gibt es darüber mehr wissenschaftliche Artikel als zu irgendeinem anderen soziologischen Begriff.

Es ist merkwürdig, dass wir davon sprechen, dass Vertrauen aufgebaut oder zerstört wird, wo es doch weder eine Struktur noch ein physischer Gegenstand ist (außer vielleicht in Form eines Handschlags oder eines Vertrages auf Papier). Es ist wie „Glück“ oder „Liebe“ eines jener Wörter, die häufig für universelle Ideen gehalten werden. Und Vertrauen hat ebenso wie Liebe viele Gesichter. Es ist keine berechenbare Maschine, zu der es eine Anleitung gibt und die nur auf eine ganz bestimmte Weise funktioniert. Vertrauen fällt von Situation zu Situation und von Beziehung zu Beziehung anders aus. Einfach ausgedrückt ist Vertrauen hochgradig kontextabhängig.

„Und was bedeutet das Wort ‚Vertrauen‘ für Sie/dich?“

Diese Frage habe ich in den letzten fünf Jahren Hunderten von Menschen gestellt – Unternehmern, Politikern, Chefs von Großunternehmen, Wissenschaftlern, Volkswirten, Bankern, Designern, Hochschullehrern, Studenten, Schülern und sogar fünfjährigen Kindern. Ihre Antworten sind faszinierend und bemerkenswert unterschiedlich. Normalerweise ruft diese Frage eine Pause und ein Gemurmel in Richtung „Hm, da muss ich nachdenken“ hervor. „Schwer zu erklären, oder?“, heißt es dann oft. Ja, das ist schwer. Vertrauen bedeutet für verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge. Die ehrlichste Antwort, die ich je bekommen habe und die ein bisschen ironisch gemeint war, bekam ich von einem Versicherungsmakler: „Wenn ich meiner Frau mein Handy gebe, ohne die Chronik zu löschen! Das ist Vertrauen.“

Für viele Menschen bedeutet es, sich zuversichtlich auf eine andere Person zu verlassen. Ein Beispiel: „Vertrauen heißt, dass ich mich auf meinen Mann, meinen Arzt oder meine Freunde verlassen kann.“ In diesem Fall wird Vertrauen als Merkmal beschrieben, das in einer bestimmten Person enthalten ist, normalerweise in jemandem, der uns bekannt ist. Je mehr wir im Laufe der Zeit mit einer Person interagieren, umso zuversichtlicher werden wir bezüglich ihres künftigen Verhaltens – dass sie vertrauenswürdig ist. Diese Art von Vertrauen heißt personenbezogenes Vertrauen.18

Allgemeines Vertrauen ist das Vertrauen, das man in eine Gruppe oder in eine Sache setzt, die identifizierbar, aber nicht identifiziert ist. Einer meiner MBA-Studenten an der Saïd Business School der University of Oxford drückte das einmal so aus: „Vertrauen ist wie ein Vertrag, der einen Ausgang garantiert.“ Zum Beispiel vertraue ich darauf, dass die Post meine Briefe zustellt. Häufig werden die beiden erwähnten Formen des Vertrauens auch vermischt. Es kann zum Beispiel sein, dass ich meinem Bankberater persönlich vertraue, der Bank als Finanzinstitut hingegen nicht.

Eine meiner Lieblingsdefinitionen von Vertrauen kam von einem Freund meines Sohnes. Er war damals fünf Jahre alt und war zum Spielen zu uns nach Hause gekommen. Mein Sohn Jack sagte ihm bei einer Tasse Tee, dass ich gerade ein Buch schrieb. Sie waren enttäuscht, dass es sich nicht um „Krieg der Sterne“ oder „Harry Potter“ handelte, stellten aber trotzdem faszinierende Fragen. Ich fragte sie, was für sie Vertrauen bedeute. „Vertrauen ist, wenn der Eismann sagt, dass er einem ein Eis geben wird, wenn er es einem gibt, weil er das will, und wenn ich keine Angst habe, er könnte mir das Eis nicht geben“, antwortete der Freund meines Sohnes, ohne Luft zu holen. Wow, das aus dem Mund eines kleinen Kindes! Das kommt in der Tat der Definition recht nahe, die der überragende deutsche Soziologe Niklas Luhmann gab: Vertrauen als „Zutrauen zu eigenen Erwartungen.“19

Ich gehöre dem Verwaltungsrat der National Roads and Motorists’ Association (NRMA) an, einer der Marken, die in Australien das größte Vertrauen genießen. Das ist so etwas wie die AAA in den Vereinigten Staaten, der RAC in Großbritannien oder der ADAC in Deutschland, also im Grunde die Leute, die herkommen und einem das Auto reparieren, wenn man eine Panne hat, egal, wo das passiert ist. Kürzlich rief eine Frau im Callcenter der NRMA an. Sie klang sehr verzweifelt. Sie atmete schwer und weinte eindeutig. Es stellte sich heraus, dass sie bei einer Fahrt auf der Autobahn gemerkt hatte, dass sie genau an der Stelle vorbeigefahren war, an der ihr Sohn vor ein paar Jahren einen tragischen tödlichen Autounfall gehabt hatte. Sie war links rangefahren und hatte eine Panikattacke bekommen. Die erste Nummer, die sie anrief, war die der NRMA. Nach wenigen Minuten war ein Pannenhelfer bei ihr. Er saß zwei Stunden bei ihr im Auto. Sie hörten zusammen Radio und sprachen über ihren verstorbenen Sohn. Er fuhr erst weg, als sie sich wieder in der Lage sah, zu fahren. Mich rührte diese Geschichte sehr, aber mich interessierte auch die Frage, weshalb sie gerade die NRMA angerufen hatte. Es war ja nicht so, dass etwas mit ihrem Auto nicht in Ordnung gewesen wäre. Warum nicht die Polizei, den Rettungsdienst, ihren Mann oder eine Kollegin? Ihre Antwort: „Ich wusste, dass Sie kommen würden.“ Das ist Vertrauen.

Von den Hunderten Vertrauensdefinitionen, mit denen ich mich befasst habe, lassen sich die meisten auf einen einfachen Gedanken zurückführen: Vertrauen ist eine Beurteilung von Ausgängen, eine Beurteilung der Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass sich die Dinge richtig entwickeln werden. Anders ausgedrückt wird Vertrauen genährt, wenn die Wahrscheinlichkeit eines unerwünschten Ausgangs gering ist. Der fünfjährige Junge hatte gewissermaßen recht. Fünfjährige sind von Natur aus vertrauensvoller als Erwachsene, weil sie viel seltener die Erfahrung gemacht haben, im Stich gelassen worden zu sein oder sich Sorgen um Ausgänge in ferner Zukunft machen zu müssen. Bei Erwachsenen wird Vertrauen komplizierter, und es arbeitet sowohl im Herzen als auch im Kopf. Wie es Morton Deutsch so schön ausgedrückt hat, ist Vertrauen das „Zutrauen, dass [man] eher das finden wird, was [von einem anderen] gewünscht wird, als das, was befürchtet wird“. Vertrauen ist eine Mischung aus unseren größten Hoffnungen und unseren schlimmsten Befürchtungen.20

Wenn man nach Bildern zum Thema Vertrauen sucht, erhält man allerlei grafische Darstellungen, in denen häufig irgendeine Art von Gefahr lauert, zum Beispiel Trapezkünstler oder zwei Hände, die zueinanderstreben, es aber nicht ganz schaffen, sich zu berühren. Eine im Fallen begriffene Person, die sich darauf verlässt, dass eine andere – meist mit ausgestreckten Armen – sie auffangen wird. Ein schlafender Löwe und eine Maus, die ein paar Zentimeter vor seiner Nase herumturnt. Das gemeinsame Element all dieser Abbildungen ist eine Lücke, eine Grauzone, in der etwas noch Unbekanntes passiert. Diese Bilder vermitteln die machtvollen Bestandteile von Vertrauen: Verwundbarkeit und Erwartung.

Stellen Sie sich vor, es besteht eine Lücke zwischen Ihnen und etwas Unbekanntem. Ein Fremder, auf den Sie sich verlassen müssen, ein Restaurant, in dem Sie noch nie waren, oder Ihre erste Fahrt in einem selbstfahrenden Auto. Der Raum zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten ist das, was man als Risiko bezeichnet. Tatsächlich kann man Risiko als den Umgang mit Ungewissheit definieren, die von Belang ist. Es gibt auch Ungewissheiten, die einfach belanglos sind. Wenn ich beispielsweise eine Bäuerin in England bin, dann ist die Möglichkeit von Starkregen eine Ungewissheit, die für meinen Lebensunterhalt von Belang ist. Leite ich hingegen eine Textilfabrik in China, dann ist die Ungewissheit des Wetters in England irrelevant. Wenn es keine Unbekannten gibt und wenn wir einen Ausgang garantieren können, besteht kein Risiko. Wir wissen beispielsweise, dass morgen früh mit Sicherheit die Sonne aufgehen wird.

Vertrauen und Risiko sind wie Bruder und Schwester. Vertrauen ist die bemerkenswerte Kraft, die einen durch die Lücke zwischen Gewissheit und Ungewissheit zieht. Ein Slogan von Nike lautet „Just do it." – „Tu es einfach“. Das ist buchstäblich die Brücke zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Und deshalb ist meine Definition ganz einfach:

Vertrauen ist ein zuversichtliches Verhältniszum Unbekannten.

VERTRAUEN ALS SPRUNG

Betrachtet man Vertrauen durch diese Brille, wird auch klar, wieso es uns in die Lage versetzt, mit Verwundbarkeit zurechtzukommen, Fremden zu trauen oder einfach weiterzumachen. Es zeigt, warum ein gerade ausreichendes Maß an Vertrauen eine unentbehrliche Zutat für Innovationen und unternehmerischen Erfolg wie den von Jack Ma ist. Unternehmen wie Apple, Amazon und Netflix stellen Annahmen infrage, gehen kluge Risiken ein und erlauben ihren Mitarbeitern, in unbekannte Gewässer zu springen und neue Ideen zu entwickeln. Sie wissen aber auch, wie man Kunden dazu bringt, neuen Angeboten zu vertrauen, sodass das anfängliche Risiko, etwas Neues auszuprobieren, schnell irrelevant wird.

Jack Ma begriff, dass das Internet eine Chance darstellte, den Unternehmergeist von der Leine zu lassen, der in China existierte, aber in der Zeit des Kommunismus unterdrückt worden war. Er erkannte frühzeitig, dass Technologie Vertrauen befördern kann – indem es bei Menschen den Eindruck erweckt, unbekannte Verkäufer seien ihnen bekannt. Aber wie sollte er in einem von Guanxi geprägten Land eine neue Art von Vertrauen aufbauen?

Abgesehen von der Wirkung dieser alten Traditionen hatte weniger als ein Prozent der Bevölkerung des Landes einen Internetanschluss, als Alibaba zum ersten Mal online ging. Und noch weniger als dieses eine Prozent würden es überhaupt in Erwägung ziehen, etwas auf einer Website zu kaufen. Die Menschen waren mit dem Konzept des Internets nicht vertraut, erst recht nicht mit E-Commerce. Tatsächlich hatte E-Commerce keine Vorgeschichte, es gab kein System für Online-Bezahlungen und nicht einmal eine Möglichkeit, Waren schnell und sicher zu versenden. Wie also knackte Alibaba den Vertrauenscode?

Wenn über das Internet Waren gehandelt werden, kennt normalerweise keine Partei die andere. Man befürchtet Betrügereien und dass die Produkte nicht so sind wie versprochen. Wenn ich beispielsweise bei einem Ebay-Verkäufer ein Fitbit kaufen will, ist es dann wirklich nagelneu oder überholt, gefälscht oder gar gestohlen? Da kann vieles schiefgehen. Es besteht immer die Möglichkeit eines unerwünschten Ausgangs oder ein Risiko. Ma begriff, dass er, um Vertrauen zwischen Online-Käufern und Online-Verkäufern zu schaffen, die Technologie einsetzen musste, um die Unsicherheiten zu dämpfen und das Risiko so weit zu senken, dass die Transaktionen ihren Gang gehen konnten.

Außerdem erkannte er, dass die Businesschance mit der Größe des Vertrauensproblems wuchs. Ma war ein bisschen wie Steve Jobs. Er wusste, dass es enorme Vorteile hatte, die Lösung für ein Hindernis zu finden, das einem Markt im Weg stand, anstatt darauf zu warten, dass jemand anders das Problem löst. Nehmen wir die Zahlungen. Woher weiß ich, dass Sie bezahlen werden? Woher weiß ich, dass Sie das schicken werden, was ich bezahlt habe? Das ist ein klassisches Vertrauensproblem nach dem Motto Henne oder Ei.

„Drei Jahre lang war Alibaba nur ein E-Marktplatz für Informationen. Was hast du? Was habe ich? Wir reden lange, machen aber keine Geschäfte, weil es keine Bezahlung gibt“, so Ma. „Ich redete mit den Banken. Keine Bank wollte das machen. Die Banken sagten: ‚Oh nein, das wird nie funktionieren.‘ Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.“ Ma wusste nur zu gut, dass er gegen die strengen chinesischen Finanzgesetze verstoßen würde, wenn er ein Bezahlungssystem ohne die dafür erforderliche Zulassung starten würde. Dafür hätte er ins Gefängnis kommen können. Aber er beschloss, es trotzdem zu tun. Warum? „Weil es für China und die Welt so wichtig ist, dass man dem System trauen kann.“21

Im Jahr 2004 führte das Unternehmen ein Online-Bezahlsystem namens Alipay („Bezahlungsschatz“) ein. Statt einer direkten Bezahlung wie bei Paypal nimmt Alipay das Geld von den Käufern entgegen und verwahrt es auf einem Treuhandkonto. Dann versendet der Verkäufer das Produkt, und die Mittel werden erst dann freigegeben, wenn der Käufer die Ware geprüft und bestätigt hat, dass er zufrieden ist. Das ist ein einfaches Beispiel für die Verminderung von Unsicherheiten, in diesem Fall bezüglich der Bezahlung. „Viele Menschen, mit denen ich damals über Alipay sprach, sagten: ‚Das ist die dümmste Idee, die Sie je hatten‘“, erinnert sich Ma. Damit trat er dem stark regulierten Bankensektor Chinas regelrecht auf die Füße. Aber Ma war es egal, dass jemand die Idee für riskant oder gar dumm hielt, „solange die Menschen es benutzen“. Und das taten sie. Heute nutzen über 450 Millionen Menschen Alipay, um Waren zu bezahlen.22 Sein Wert als eigenständiges Unternehmen wird auf 74,5 Milliarden Dollar geschätzt.23 Im Jahr 2017 tätigten die Nutzer Zahlungen in Höhe von 1,7 Billionen durch Alipay.24 Ma hatte schon immer große Träume.

Abgesehen vom Bezahlen – woher wussten die Menschen, dass sie den unbekannten Menschen und Einzelpersonen trauen konnten, die Ma online bringen wollte? Nehmen wir den 38-jährigen Wang Zhiqiang, einen der Verkäufer, die am Tag des Börsengangs die Glocke läuteten. Früher war er Wanderarbeiter in der Landwirtschaft gewesen und strampelte sich ab, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er hatte sein Glück als Gemüseverkäufer auf der Straße, als Bauarbeiter und als Essenslieferant versucht. Trotz seiner geringen Bildung hatte sich Zhiqiang schon immer für Computer und das Internet interessiert. Er zog in das Pekinger Viertel Zhongguancun, das als Chinas Silicon Valley bekannt ist, und nahm dort über sechs Jahre lang zahlreiche körperlich anstrengende Jobs an. Bis 2006 hatte er genug Geld zusammengespart, um sich einen Computer zu kaufen, den er mit in seine Heimat nahm, ein kleines Bauerndorf in der nordchinesischen Provinz Shanxi. Nachdem er die Herausforderung bewältigt hatte, in seinem Haus einen Internetanschluss zu bekommen, eröffnete er einen Onlineshop, in dem er Erzeugnisse aus der Gegend wie Reis und Sojabohnen verkaufte. Seine Freunde und Verwandten fragten sich, was in aller Welt er da machte. Im Jahr 2008, als die Olympischen Spiele in Peking voll im Gange waren, fand Zhiqiang die Lücke, nach der er gesucht hatte. Er eröffnete „Farmville“ – nicht das populäre Spiel, sondern einen Onlineshop, in dem er alle möglichen Frischerzeugnisse verkaufte, die die Dorfbewohner angebaut hatten. Bald stieg sein Absatz auf 200 Artikel am Tag. Heute beläuft sich sein monatlicher Reingewinn auf mehr als 80.000 Yuan (circa 13.000 Dollar) und er ist online als Wang Xiaobang berühmt – in diesem Kontext ist „bang“ ein warmherziger Mensch, der anderen Menschen helfen möchte.25 Aber wie kam es dazu, dass so viele Menschen einem unbekannten Verkäufer aus einer entlegenen Gegend vertrauen?

Die Antwort liegt zumindest teilweise in einem Dienst namens TrustPass, den Alibaba im Jahr 2001 startete. Damit ein Verkäufer die TrustPass-Zertifizierung bekam, musste er eine Identitäts- und Kontenprüfung durch eine Drittpartei durchlaufen. Außerdem half Alibaba Verkäufern beim Aufbau ihrer eigenen offiziell aussehenden Marken und ihrer virtuellen Läden. Dafür verwendete Zhiqiang zum Beispiel farbenfrohe Fotos vom Landleben und Großaufnahmen der von ihm verkauften Produkte auf dem Feld oder bei der Ernte. Er wollte, dass sein Laden „regional“ und den Lieferanten verbunden wirkte. TrustPass bescherte Alibaba nicht nur hinsichtlich des Vertrauens einen Durchbruch, sondern auch, was das Geld angeht.

Im Durchschnitt gingen bei zertifizierten TrustPass-Verkäufern bis zu sechsmal so viele echte Anfragen ein wie bei nicht registrierten Verkäufern. Dies verschaffte Alibaba die perfekte Ausrede, um anzufangen, von Kleinunternehmen Gebühren zu verlangen (bis dahin waren die meisten Dienste kostenlos gewesen). „Das machte Kunden, die für ihren Status bezahlten, vertrauenswürdiger“, erklärt Porter Erisman, ein guter Freund und langjähriger Mitarbeiter von Ma. „Dadurch erschienen diejenigen Mitglieder, die an ihren kostenlosen Accounts festhielten, weniger vertrauenswürdig. Denn wenn sie so ein gutes Unternehmen hatten, warum waren sie dann nicht bereit, ein bisschen mehr zu bezahlen, um es zu beweisen?“26

Alibabas flüssiges Gold war nicht der Online-Einkauf, sondern das Vertrauen. Und deshalb wurde Ma fuchsteufelswild, als er entdeckte, dass es auf üble Weise beschädigt worden war. Im Februar 2011 wurde bekannt, dass circa hundert Mitglieder von Alibabas 5.000-köpfiger Vertriebsmannschaft Schmiergeld genommen und es im Austausch zugelassen hatten, dass betrügerische Verkäufer das Prüfungsverfahren übersprangen und Accounts einrichteten. Dieser Betrug ging bereits seit über zwei Jahren. Der Effekt? 2.326 umsatzstarke Verkäufer, die minderwertige oder sogar gefälschte Produkte verkauften, waren als „Gold“-Anbieter bestätigt worden.27

Ma wusste, dass er nun ein großes Vertrauensproblem hatte. Er musste schnell handeln. Um den Ruf seines Unternehmens zu schützen, musste er eine lautstarke und klare Botschaft aussenden. Also wurden alle Vertriebsleute, die wissentlich solche Accounts eingerichtet hatten, und diejenigen, die weggeschaut hatten, entlassen. Das war ein gut organisierter Vertrauensbruch, und auch der COO David Wei und der COO Elvis Lee traten zurück, obwohl sie mit dem Betrug nichts zu tun hatten. Beide stürzten sich in ihre Schwerter, um Verantwortung zu übernehmen. „Einer unserer wichtigsten Werte ist Integrität. Das meint die Integrität unserer Mitarbeiter und die Integrität unserer Online-Marktplätze als vertrauenswürdige und sicherer Orte für unsere Kleinunternehmer-Kunden“, so Ma. „Wir müssen ein deutliches Signal setzen, dass es inakzeptabel ist, unsere Kultur und unsere Werte aufs Spiel zu setzen.“28 Seine Taten zahlten sich aus. Im Jahr 2016 überholte die Alibaba Group Walmart als größten Einzelhändler der Welt.

Ma hat den Chinesen (und dem Rest der Welt) mehr als bewiesen, dass keine vorherige oder enge Bindung nötig ist, damit Handel funktioniert. Und Fremde werden einen selbstverständlich nicht betrügen.

Die Geschichte von Alibaba führt uns anschaulich vor Augen, wie Technologie Millionen Menschen auf der ganzen Welt in die Lage versetzt, einen Vertrauenssprung zu wagen. Ein solcher Sprung findet statt, wenn man ein Risiko eingeht und etwas Neues tut oder etwas auf eine grundlegend andere Art tut.

Vertrauenssprünge schaffen neue Möglichkeiten: Sie versetzen uns in die Lage, Ideen und Meme auf unerwartete Art zu vermischen und wie im Beispiel Alibaba neue Märkte, neue Netzwerke und neue Allianzen zu erschließen, die früher undenkbar gewesen wären. Vertrauenssprünge tragen uns über den Abgrund der Angst, über die Kluft zwischen uns und dem Unbekannten.

VERTRAUENSSPRÜNGE

Stellen Sie sich vor, wie Menschen zum ersten Mal vom Tauschen realer Waren zur Verwendung von Papiergeld übergingen. Der Tauschhandel leuchtet unmittelbar ein – ich gebe dir eine Henne im Austausch gegen eine Metallschüssel. Geld bedeutete, dass die Menschen darauf vertrauen mussten, dass diese fadenscheinigen bedruckten Papierstücke einen echten Wert hatten und ihn auch behalten würden. Sie mussten darauf vertrauen, dass die Institutionen, die das Geld ausgaben – normalerweise Banken und Regierungen – den richtigen Wert festlegen würden. Das war ein Vertrauenssprung.

Erinnern Sie sich noch, wie Sie zum ersten Mal Ihre Kreditkartenangaben auf einer Internetseite eingetragen haben? Das ist auch ein Vertrauenssprung.

Ich erinnere mich an eine hitzige Diskussion mit meinem Vater, als ich 18 war. Ich hatte auf Ebay einen marineblauen Peugeot entdeckt, der gut aussah. Der Preis lag in dem Bereich, den meine Eltern für den Kauf meines ersten Autos festgelegt hatten. Auf den Fotos sah es aus, als wäre er in einem guten Zustand. Mein Vater, der damals Wirtschaftsprüfer war, fragte mich, ob ich wisse, was „ein Markt für Montagsautos“ ist. Das wusste ich damals nicht. Beim Mittagessen folgte ein kleiner Vortrag über George Akerlofs Wirtschaftstheorie zu Problemen der Unsicherheit bezüglich der Qualität von Gütern.29 Einfach ausgedrückt argumentierte Akerlof, dass es auf einem Gebrauchtwagenmarkt gute und mängelbehaftete Gebrauchtwagen gibt. Dad behauptete, das passiere auf Ebay massenhaft, weil man das Auto weder Probe fahren noch überprüfen könne. Er wies außerdem darauf hin, dass das Pseudonym des Verkäufers – „Invisible Wizard“, also „unsichtbarer Zauberer“ – nicht gerade Vertrauen einflöße. Anstatt bei Ebay zu kaufen, gingen wir also zum Autohändler in unserer Nähe, bei dem mein Vater zuvor auch das Auto meines Bruders und drei andere Autos gekauft hatte. Ebay war für meinen Vater eine irrationale Art, Güter zu kaufen. Zu diesem Vertrauenssprung war er 1999 nicht bereit.

Wenn man zum ersten Mal springt, fühlt sich das ein bisschen merkwürdig und sogar riskant an, aber wir kommen bald an einen Punkt, an dem uns die Idee normal erscheint. Unsere Verhaltensweisen ändern sich, und das oft relativ schnell. Und wenn andere sehen, dass genug Menschen den Sprung überlebt und davon profitiert haben, werden es ihnen Millionen Menschen nachtun. Inzwischen ist mein Vater so etwas wie ein Ebay-Süchtiger. Heute käme es für ihn wahrscheinlich infrage, ein Auto über Ebay zu kaufen (aber vielleicht auch nicht).

Vertrauen ist die Leitung, durch die neue Ideen fließen. Vertrauen treibt Veränderungen voran.

Die Menschen haben im Laufe der Geschichte eine bemerkenswerte Neigung bewiesen, die Art und Weise zu ändern, wie sie Dinge tun – wie sie Bankgeschäfte tätigen, Handel treiben, reisen, konsumieren, lernen und Partner kennenlernen. Um zu verstehen, wie gut wir darin sind, Vertrauenssprünge zu wagen, müssen wir weit in die Vergangenheit zurückgehen, in die Zeit, als es noch kein Internet und noch nicht einmal die Druckerpresse gab.

An einem Tag im Jahr 1005 überquerte ein handschriftlicher Brief das Mittelmeer. Er enthielt die besorgten Worte von Sumhun ben Da’ud, eines bedeutenden Händlers aus Sizilien. Er war wütend auf seinen Geschäftspartner Joseph ben ’Awkal, der Sumhuns wiederholtes Ersuchen ignoriert hatte, ägyptischen Gläubigern mehrere Hundert Dinar zu bezahlen, die ihnen zustanden. Da die monatlichen Kosten einer Mittelschichtfamilie in Ägypten nur drei Dinar betrugen, waren das beträchtliche Summen. Unter den anderen Händlern der Region sprach sich herum, man könne keinem der Geschäftspartner trauen. „Mein Ruf ist ruiniert“, klagte Sumhun.

Sumhun und Joseph gehörten einer eng verbundenen Gruppe an, die als „maghrebinische Händler“ bezeichnet wurde. Das waren Juden, die in den politischen Wirren des 10. Jahrhunderts Bagdad verlassen und sich im Maghreb an der nordafrikanischen Küste niedergelassen hatten. Vor circa 150 Jahren wurden im Lagerraum einer alten Synagoge im ägyptischen Fustat mehr als tausend fast vollständig erhaltene private Briefe dieser Gruppe gefunden.30 Diese Briefe bieten einen faszinierenden Einblick in das Leben dieser Kaufleute und die Rolle, die sie beim Wandel des Fernhandels spielten.

Nehmen wir an, ein Kaufmann aus Kairo wollte seine Stoffe und Gewürze in Palermo auf Sizilien verkaufen. Mit Schiffen und Booten konnte man zwar große Strecken überwinden, aber Seereisen waren tückisch und zeitraubend. Er hätte, anstatt selbst zu reisen, auch Vertreter vor Ort einsetzen können, die alles im Namen des Kaufmanns abwickelten – das Entladen der Schiffe, den Verkauf der Waren auf den Märkten und das eine oder andere Schmiergeld.

Heute klingt das nach einer relativ einfachen Idee, aber damals erforderte es einen riesigen Vertrauenssprung. Die Wahrscheinlichkeit von Betrug und Korruption war hoch. Der Vertreter konnte falsche Preise angeben, Geld abschöpfen oder einfach die komplette Ware stehlen. Und wenn etwas Schlimmes passierte, konnte es Monate dauern, bis die Händler es merkten. Formelle Handelsvorschriften und rechtliche Verträge, wie wir sie kennen, gab es nicht. Die maghrebinischen Kaufleute hatten ein Problem: Sie konnten nicht wissen, was die von ihnen beauftragten Vertreter auf der anderen Seite des Mittelmeers im Schilde führten.31

Wenn eine Partei weniger Informationen als die andere hat, sprechen Volkswirte von asymmetrischer Information. Der Ökonom Kenneth Arrow beschrieb dieses Konzept erstmals 1963 im Kontext des Gesundheitswesens. Ärzte wissen im Allgemeinen mehr über den Wert und die Wirksamkeit einer bestimmten medizinischen Behandlung als Patienten. Sie sind in einer starken Expertenposition, und die Patienten befolgen ihre Empfehlungen meistens. Arrow merkte an, dass der Arzt diese Asymmetrie manchmal zu seinem Vorteil manipulieren kann, zum Beispiel, indem er teure Medikamente oder eine unnötige Operation verordnet.

Asymmetrische Information umgibt uns überall, denn es ist selten, dass zwei Menschen bei irgendeinem Austausch perfekte und gleichwertige Informationen haben. Der Versicherungsmakler, der weiß, was Klausel 221 einer komplizierten Police wirklich bedeutet; der Alibaba-Verkäufer Rakjuk Kft, der weiß, ob die Angoraziegen in Spitzenqualität, die er verkauft, wirklich wie angepriesen Champions „aus guter Zucht“, „frei von Parasiten“ und „richtig heißblütig“ sind; der Gebrauchtwagenhändler, der die wahre Vorgeschichte eines süßen kleinen Fiat 500 kennt; der Airbnb-Gastgeber in Kapstadt, der weiß, ob die Wohnung wirklich zwei Schlafzimmer hat (oder ob das so eine Art Pseudo-Loft in der Küche ist, in das man nur über eine wacklige Leiter gelangt) und ob sie wirklich den abgebildeten freien Blick auf den Ozean hat (oder ob man nur ein Stück Blau von der Größe einer Briefmarke sieht, wenn man sich über die rechte Ecke des Balkons beugt und durch ein Fernglas schaut); und die Vertreter im Ausland, die wissen, ob sie den Weihrauch oder das Olivenöl des Kaufmanns zu angemessenen oder fragwürdigen Preisen verkaufen. Asymmetrische Information erzeugt künftige Unbekannte und den dringenden Bedarf an Vertrauen.

Wie also brachten die maghrebinischen Händler die Vertreter in fernen Ländern dazu, nicht zu lügen, zu betrügen oder zu stehlen, da ja keine unmittelbare Aufsicht stattfand? Das System, das sie erfanden, war so genial, dass es das moderne Zeitalter des Fernhandels zwischen Fremden einläutete.