Wenn alle schweigen - Cornelia Ertmer - E-Book

Wenn alle schweigen E-Book

Cornelia Ertmer

0,0

Beschreibung

Martha: Fünfzehn – vergewaltigt – verstoßen Schonungslos wird vor dem Hintergrund der Kaiserzeit und des I. und II. Weltkriegs die Geschichte dreier Frauen erzählt, die von Glück und Liebe und einem Recht auf Eigenständigkeit träumen. Drei Generationen, drei Schicksale: Erna, als Frau eines Heuerlings gefangen in den engen sozialen Gesetzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ihre Tochter Martha, die – aus der Sozialgemeinschaft ausgeschlossen – sich dagegen wehrt und entdeckt, dass sie mit ihrem Bestreben nach Eigenständigkeit Mitstreiterinnen hat. Letztendlich gelingt es aber erst Clara, der Enkelin Ernas, der Tochter Marthas, sich gegen die herrschenden Konventionen aus den Fesseln der traditionellen Geschlechterrolle zu befreien. Sie könnte ein glückliches Leben führen, wären da nicht die Schicksalsschläge, die ihr Mann und Tochter rauben und Jahre vorher die Mutter, die das Geheimnis um die Person ihres Vaters mit ins Grab nimmt. Erst nach dem zweiten Weltkrieg, als erfolgreiche Frau und Mutter, gelingt es ihr, die Spur des Vaters wieder aufzunehmen. Endlich scheint sie am Ziel ihrer lebenslangen Suche.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 463

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© 2022 OCM GmbH, Dortmund

Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und haben keinen Bezug auf lebende oder verstorbene Menschen.

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM Verlag, Dortmund

Verlag:OCM Verlag, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-949902-02-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cornelia Ertmer

Inhalt

Stammbaum der Familie Gausehus

Stammbaum der Familie Brockhoff

Prolog 1981

Teil 1

Kapitel 1 – Martha, 1895

Kapitel 2 – Joan, 1895

Kapitel 3 – Bernhard, 1895

Kapitel 4 – Martha, 1896

Kapitel 5 – Erna, 1896

Kapitel 6 – Martha, 1895

Kapitel 7 – Joan, 1897

Kapitel 8 – Martha, 1898

Kapitel 9 – Erna, Silvester 1899/1900

Kapitel 10 – Martha, 1902

Kapitel 11 – Erna, 1902

Kapitel 12 – Bernhard, 1904

Kapitel 13 – Erna, 1904

Kapitel 14 – Martha, 1905

Kapitel 15 – Joan, 1905

Kapitel 16 – Clara, 1906

Kapitel 17 – Martha, 1906

Kapitel 18 – Bernhard, 1906

Kapitel 19 – Clara, 1907

Kapitel 20 – Bernhard, 1907

Kapitel 21 – Clara, 1908

Kapitel 22 – Erna, 1880

Kapitel 23 – Martha, 1908

Kapitel 24 – Bernhard, 1910

Kapitel 25 – Martha, 1912

Kapitel 26 – Erna, 1885

Kapitel 27 – Bernhard, 1912

Kapitel 28 – Erna, 1906

Kapitel 29 – Martha, 1915

Kapitel 30 – Clara, 1915

Kapitel 31 – Bernhard, 1916

Kapitel 32 – Clara, 1917

Kapitel 33 – Joan, 1918

Teil 2

Kapitel 34 – Clara, 1918

Kapitel 35 – Joan, 1919

Kapitel 36 – Clara, 1919

Kapitel 37 – Joan, 1920

Kapitel 38 – Clara, 1924

Kapitel 39 – Joan, 1925

Kapitel 40 – Clara, 1928

Kapitel 41 – Joan, 1930

Kapitel 42 – Clara, 1932

Kapitel 43 – Joan, 1932

Kapitel 44 – Clara, 1936

Kapitel 45 – Clara, 1939

Kapitel 46 – Bernhard, 1939

Kapitel 47 – Bernhard, 1941

Teil 3

Kapitel 48 – Bernhard, 1949

Kapitel 49 – Bernhard, 1951

Kapitel 50 – Bernhard, 1954

Kapitel 51 – Clara, 1956

Kapitel 52 – Bernhard, 1956

Kapitel 53 – Clara, 1957

Epilog 1981

Anhang

Abkürzungen, Begriffe, Personen

Prolog 1981

„Ja, hallo?“, blafft Friedrich in den Hörer, ungehalten über das störende Gebimmel, das so gar nicht aufhören wollte. Am anderen Ende der Leitung ist nur ein Atmen zu hören. „Wer ist da?“ Als Friedrich gerade den Hörer auflegen will, hört er die Stimme. „Ja, ich … Bitte nicht auflegen. Ich, ich bin …“

Friedrich wird nun doch neugierig. „Also gut, wer sind Sie und was wollen Sie?“, sagt er kurz angebunden. Was stottert der Kerl so? Wovor hat er Angst? Nur weil er unfreundlich war?

Nach einer kurzen Pause beginnt der Unbekannte zu sprechen. „Nur, damit ich sicher bin: Spreche ich mit Friedrich Merschenkamp?“ „Ja.“ „Und stammt ihre Familie vom Hof Brockhoff bei Münster?“ „Ja. Was soll die Fragerei?“ Langsam wird Friedrich ungeduldig. „Moment, gleich. Wie gesagt, ich muss sicher sein, dass Sie der Richtige sind.“ Die Stimme klingt nun fest und bestimmt. „Wenn Sie also Friedrich Merschenkamp sind, der Sohn von Luise Brockhoff, dann sind wir miteinander verwandt. Mein Name ist Felix Pott und ich bin ihr Neffe zweiten Grades. Sie sind mein Onkel.“

„Wie, was … Unmöglich. Ich kenne alle meine Vettern und Kusinen und deren Kinder. Das wird mir jetzt zu dumm. Ich lege auf.“

„Halt! Bitte hören Sie mir zu. Es ist mir sehr wichtig. Ich möchte mehr über meine Herkunft herausfinden. Ich betreibe Ahnenforschung.“

Ahnenforschung? Auch Friedrich betreibt Ahnenforschung. Aber ein Felix Pott ist ihm noch nicht untergekommen. „Na gut“, brummt er schließlich, „schießen Sie los. Aber machen Sie’s kurz. Ich hab’ nicht ewig Zeit.“ Im Geiste hört er seine Frau schimpfen: Sei doch nicht immer so unfreundlich am Telefon. „Da bin ich aber gespannt, was Sie mir zu erzählen haben.“ „Danke.“ Die Stimme klingt erleichtert. „Wenn ich ein wenig ausholen darf. Es ist nicht ganz einfach. Ja, wir sind verwandt und es wundert mich nicht, dass meine Familie in Ihren Nachforschungen nicht aufgetaucht ist. Na ja, wie soll ich es sagen. Dass mein Großvater Bernhard, den ich nie kennengelernt habe, ein Bruder Ihrer Mutter ist, habe ich auch erst vor Kurzem herausgefunden. Im Nachlass meiner Mutter, die letztes Jahr gestorben ist, habe ich Notizbücher gefunden.“ „Wie, was? Wer ist ihr Großvater?“ Friedrich ist auf einmal hellwach. Bernhard Brockhoff. Der schweigsame, unnahbare Onkel, den er nur wenige Male gesehen hatte. Der war der Großvater dieses Felix Pott? „Der hatte ein Kind?“, entfährt es Friedrich. „Genau, meine Mutter Clara.“ „Aber – soviel ich weiß, war Onkel Bernhard nie verheiratet!“ Friedrich ist verwirrt. „Richtig. Und das ist das Problem. Wie soll ich es sagen? Ihr Onkel Bernhard, das heißt, mein Großvater Bernhard und meine Großmutter Martha hatten ein Kind. Er hat ihr ein Kind gemacht, verstehen Sie?“

Friedrich erinnert sich dumpf, Gerüchte über den Bruder der Mutter, eine Magd auf dem Hof – Tabu. Onkel Bernhard, ein Schwerenöter! Friedrich hat Mühe, ihn sich als jugendlichen Draufgänger vorzustellen. Obwohl! „Wie meinen Sie das genau? Heraus mit der Sprache.“ Wieder klingt seine Stimme unfreundlicher, als er es meint. „Sind Sie sicher, dass Sie das so genau wissen wollen?“ „Nun reden Sie schon und spannen Sie mich nicht auf die Folter.“ „Sie wollen es so. Also … Ihr Onkel Bernhard hat meiner Großmutter ein Kind gemacht, heißt, er hat sie … vergewaltigt. Sie war fünfzehn. So, jetzt sind Sie im Bilde.“

Friedrich sagt zunächst nichts. Erst als Felix Pott beunruhigt nachfragt, ob er noch dran sei, holt er tief Luft und macht dann einen Vorschlag. Sie werden sich treffen und Felix, der Neffe wird ihm die ganze Geschichte haarklein erzählen. Sie verabreden sich in Münster, da, wo alles angefangen hat, zu einem lockeren Mittagessen. Ganz in der Nähe des Hofes gibt es ein nettes kleines Restaurant.

Der Onkel hatte ein Kind. Das also war das Geheimnis, über das die ganze Familie jahrzehntelang beharrlich geschwiegen hatte. Friedrich starrt noch eine Weile auf den Hörer, den er sanft auf der Gabel abgelegt hat, bis die Stimme seiner Frau ihn aus seinen Gedanken holt. „Und? Wer war dran? Du hast ja ungewöhnlich lange telefoniert! Das kenne ich ja gar nicht an dir! Worum ging es denn?“ Natürlich ist Paula neugierig. Friedrich seufzt. „Ich versteh ja, dass du neugierig bist, aber noch weiß ich nicht viel. In zwei Wochen treffe ich mich mit diesem Felix Pott. Das ist der, mit dem ich gerade telefoniert habe. Der ist mein Neffe. Seit heute. Dahinter steckt eine unglaubliche Geschichte. Aber ich muss erst noch mehr erfahren. So lange musst du dich noch gedulden.“ Paulas enttäuschtes Gesicht übersieht er geflissentlich.

Teil 1

Kapitel 1 – Martha, 1895

Dunkelheit, Wärme, leises Schnauben der Kühe, Milchkühe mit ihren Kälbern, schwarz-bunt. Geruch von Stroh und Heu. Durch ein Loch im Stalldach funkelt ein einzelner Stern. Ein Hauch von Holunder und Jasmin weht durch das geöffnete Stallfenster.

Sie räkelt sich im Heu, wartet. Träumt von Joan, von ihrem letzten Beisammensein. So schön, ach, und dann …

Hände hier und da und überall. Raue Schwielen streicheln sanft. Nackte Haut. Hals, Brüste, Schenkel. Heiß und kalt und Zittern und Wollust und Keuchen, Drängen und Härte und ,NEIN‘. Sie war nicht vorbereitet gewesen.

Schnauben, eine Kuh oder Er? Ohne ein Wort hatte er sie weggestoßen, sich von ihr abgewandt, war aufgesprungen und aus dem Stall gerannt. Den ganzen nächsten Tag waren sie umeinander herumgeschlichen.

Jetzt ist alles wieder gut. Wo er nur bleibt? Sie sehnt sich nach ihm, meint seinen sehnigen und schlanken Körper zu spüren, mit den Händen unter der festen, glatten Haut seine kleinen harten Muskeln zu fühlen. Dieses Kribbeln in ihrem Bauch, in ihrem Rücken, überall. So schön, so drängend, so – wollüstig? Dieses Wort. Der Pfarrer hat’s in der letzten Beichte wie drohend gesagt. Hüte dich vor der Wollust, mein Kind, hatte er gewarnt und dann nach Einzelheiten gefragt. Wo genau er sie berührt habe? An den Armen, an den Brüsten, gar zwischen den Schenkeln? Was sie dabei empfunden habe. Sie hatte sich geschämt und war aus dem Beichtstuhl geflohen. Weg, nur weg. Das Ego te absolvo und die Buße wollte sie nicht mehr hören. Alles in ihr hatte sich gewehrt. Nein. Das war nicht Sünde. Oder doch?

Sie sehnt sich und ist doch auf dem Sprung.

Will gehen und bleibt. Nie war jemand zärtlich zu ihr.

Nicht der Vater, nicht die Mutter. Manchmal streichelt sie verstohlen den kleinen Jupp. Die Mutter darf es nicht sehen.

Du verzärtelst das Kind. Wie soll es später seinen Mann stehen?

Aber er! Meine kleine Stute, flüstert er immer, wenn er sie streichelt. Manchmal, wenn er ihr über den Kopf strich, ziepte es, wenn sich einzelne Haare in der rauen Haut seiner Hände verhakten.

Wenn er nur ihre Hand fasst und in seine schwielige legt, wird sie innerlich ganz weich, drängt es sie, in ihn hineinzukriechen, sich einzurollen in der dunklen Höhle seiner Zärtlichkeit.

Sie seufzt, wartet. Sie ist sicher, er kommt.

Er liebt sie, hat er gesagt. Sie vertraut ihm. Zu jung? Der Pfarrer predigt’s und die Mutter sagt’s. Zu jung für die Liebe? Jungfräulichkeit und Ehre und Anstand. Höchstes Gut der Frau. Der Mann? Männer sind Männer. Das ist was anderes. Darüber redet man nicht.

Lange kann sie nicht mehr warten. Sie hat keine Ausrede für die Küchenmagd, mit der sie eine Kammer teilt. Vielleicht aber schläft sie schon, wenn sie zurückkommt?

Noch ein Weilchen, überredet sie sich.

Wärme. Die Geräusche der Tiere im Stall. Verschlafene Piepser der Schwalben, die im Schutz des Stalldaches ihre Nester gebaut haben.

Bilder von spielenden Kindern im Garten, dampfenden Kartoffelschüsseln auf dem Tisch. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt. Amen. Das Gesicht eines Mannes. Ihres Mannes. Joan? Am Kopfende des Tisches, die gefalteten Hände im Schoß.

Die Kinder warten geduldig und ruhig, bis der Vater zum Löffel greift. Erst dann dürfen sie auch. Mann, Frau, Kinder. Eine Familie. Die Bilder verschwimmen. Sie lächelt, schläft fast ein.

Ein Geräusch lässt sie hochfahren.

Die kleine Stalltür quietscht leise, schurrt über den unebenen Boden. Schritte nähern sich. Das wird er sein. Sie richtet sich halb auf, späht ins Dämmerdunkel, erwartungsfroh und ängstlich zugleich. Die Silhouette einer Gestalt, groß, kräftig, breitschultrig. … Das ist nicht er!

Da wirft sich die Gestalt schon auf sie, drückt sie ins Heu. Grob reißen Hände ihre Bluse auf, streifen die Träger des Hemdes über ihre Schultern, schieben den Rock hoch. Sie schreit. Eine Hand über Mund und Nase. Atemnot, Wellen von Panik. Sie zittert.

„Ruhig“, zischt die Stimme des Mannes.

Ein schwerer Körper drängt sich zwischen ihre Beine. Sie strampelt und tritt. Vergebens. Der Kraft dieses Mannes ist sie nicht gewachsen. Sie ringt nach Luft. Er keucht. Sie windet sich. Er zwingt sie in den Schraubstock seiner Hände und Arme. Dann dringt etwas in sie ein.

Der plötzliche scharfe Schmerz durchfährt ihren ganzen Körper, raubt ihr den Atem. Ihre Glieder erstarren, ihr Kopf fällt ins Leere.

Kurze, heftige, brutale Stöße. Es keucht. Es stöhnt. Rhythmisch. Schneller und schneller.

Ein langgezogenes Jaulen. Ein Heulen wie bei einem verletzten Hund. Dann ist es vorbei. Ein schwerer, erschlaffter Körper auf ihrem.

Sie liegt da, kraftlos, gelähmt, spürt den anderen. Sein Körper lastet. Zwischen beiden Leibern ein weicher, süßlicher Geruch. Für einen Moment streift sie ein unbekanntes Gefühl, verflüchtigt sich sofort wieder. Zwischen ihren Schenkeln ist es feucht. Ekel würgt sie plötzlich und Wut. Die Wut gibt ihr Kraft. Sie windet sich unter dem Mann hervor, der, unerwartet, keinen Widerstand leistet. Aufspringen, zum Stalltor. Hindurch und weg von dem schwarzen Loch.

Sie rennt, quer über den Hof, sie rennt, blindlings, gehetzt. Sie rennt, mit nackten, hüpfenden Brüsten, den Rock gerafft. Sie rennt, mit nackten Füßen und offenem Haar, in denen sich, hell, Strohhalme verfangen haben. Weiß nicht wie. Hört nichts, sieht nichts.

Hastig huscht sie durch die Tennentür, bleibt einen Moment stehen, ringt nach Luft und Fassung. Die Wärme der Pferde in den Boxen. Die Ackergäule des Bauern. Joans ganzer Stolz. Joan! Warum ist er nicht gekommen?

Das leise Rascheln des Strohs, die Atemgeräusche der Tiere beruhigen sie ein wenig. Sie bleibt stehen. Sie atmet tief und kontrolliert. Horcht. Alles ruhig. Die Kammertüren der Knechte über dem Pferdestall sind geschlossen.

Sie schlüpft durch die Küchentür, wäre in ihrer Hast beinahe über einen Küchenschemel gestolpert, den sie im Fastdunkel der Herdglut übersehen hat. Mit den plötzlichen Schmerzen im Unterleib setzt ihr Verstand wieder ein, während sie ihren geschundenen Körper die Stufen zur Kammer hoch schleppt. Ihr Verstand.

Schon der Lehrer in der Schule hatte ihr so manches Mal wohlwollend über das gescheitelte und zu Zöpfen geflochtene Haar gestrichen und gemurmelt: „Schade, so ein kluges Mädchen. “

Der Lehrer war nicht so einer, der nur schlug und strafte. Er hatte auch Verständnis für die Nöte seiner Schüler.

Er wusste, dass ihr Vater Heuerling war, kannte das Elend in ihrem Elternhaus, wusste, dass sie mit anpacken musste, wusste, wie schwer es ihr fiel, nicht zum Unterricht zu kommen. Der Mutter im Haushalt helfen. Der kleine Garten wollte bestellt sein, Gemüse, Kartoffeln, Obst. Nach der letzten Geburt erholte sich die Mutter nur langsam. Ihr Körper wollte nicht mehr. Zu viele Geburten, zu viel Arbeit, zu viele Sorgen. Zu wenig Freude.

Einatmen, ausatmen. Kontrolle zurückgewinnen. Marthas Herzschlag beruhigt sich. Sie öffnet leise die Tür, lauscht. Hört die tiefen ruhigen Atemzüge der Küchenmagd und schlüpft in die Kammer. Sie entledigt sich der Kleidung, stopft die zerrissene Bluse unter die Matratze und zieht die Decke über den Kopf.

Sie fühlt sich ohnmächtig, ausgeliefert, beschmutzt. In ihr brodeln Wut, Scham und Empörung und wieder dieses unbekannte Gefühl, das die stechenden Schmerzen im Unterleib gleich wieder auslöschen. Sie rollt sich zusammen.

Nutze deinen Verstand. Verstand, nicht Gefühl. Die Worte des Lehrers hämmern gegen die Schädeldecke. Den Weinkrampf erstickt sie im Kopfkissen.

Wirre Träume.

Eine Tür, offen. In der Ecke ein Spinnennetz. Zart, durchscheinend. Fest. Es bewegt sich im Luftzug. Hält allen Berührungen stand. Eine Hand wischt es weg. Einzelne Fäden bleiben im Türkreuz hängen, baumeln haltlos, fangen Staub. Die Tür schließt sich lautlos.

Eine klaffende Wunde an der Schulter. Ein Knochen schimmert weiß durch das rote Fleisch. Ein Biss in die Schulter. Es knirscht, als der Knochen splittert.

Auf einer Straße mit Bäumen. Flirrendes Staublicht. Die Sonne blendet. Ein roter Schal flattert um ihren Hals. Ein Fuhrwerk überholt sie. Der Wagen rempelt sie fast an. Aus dem Weg, schreit der Kutscher und knallt mit der Peitsche.

Orgelspiel. Gesang. Gebet. Plötzlich wenden sich alle Gesichter ihr zu mit Zeichen des Abscheus. Jemand fasst sie an. Sie schreit auf.

„Huch, ich wollte dich nur wecken. Der Bauer hat schon zum zweiten Mal an die Tür gebollert.“ Die Küchenmagd ist beleidigt.

„Schon gut. Ich komm gleich. Geh schon mal runter.“ Mit Mühe gelingt Martha ein beiläufiger Ton. Traumfetzen benebeln noch ihr Bewusstsein.

Martha wartet, bis die Magd die Kammer verlassen hat und setzt sich auf, jede Bewegung tut weh. Ein Gedanke plagt sie. Wie soll sie der Bäuerin in die Augen schauen? Was sie in ihrer Panik gestern nicht wahrhaben wollte, heute ist es ihr klar. Das war Bernhard. Woher wusste er? … Weiter wagt sie nicht zu denken.

Sie schaut durch das winzige Kammerfenster. Draußen bereitet sich ein strahlender Frühlingstag vor. Sie holt eine saubere Bluse aus der Kommode und zieht sich an.

Kapitel 2 – Joan, 1895

Joan hatte sich verspätet. Er musste die Pferde noch striegeln. Der Bauer will am nächsten Morgen mit der Kutsche zum Hochamt fahren. Joan liebt seine Arbeit. Der warme Leib der Pferde, das gleichmäßige Auf und Ab der Bürste, das zufriedene Schnauben der Tiere erfüllen ihn jedes Mal aufs Neue mit einer tiefen, inneren Ruhe. Mári. Was für ein schöner Name. Gleich, als er sie am ersten Tag auf dem Hof sah, war sie ihm aufgefallen. Sie hatte so etwas Keckes und Fröhliches und Unbeschwertes an sich. Lange hatte er gebraucht, bis er sich traute, sie anzusprechen. Mit der Zeit hatte es sich ergeben, dass sie sich zulächelten, wenn sie einander begegneten, bei den Mahlzeiten, abends, nach getaner Arbeit auf dem Hof. Dann hatte er es gewagt, sich neben sie zu setzen. So waren sie sich allmählich näher gekommen. Mári.

Der erste Kuss, hinterm Stall. Dann die heimlichen Treffen. Mal hinter der Scheune, mal am Fluss. Wie es sich ergab. So oft wie möglich versuchte er in Máris Nähe zu sein. Eines Tages war ihm aufgefallen: Du bist nicht der Einzige, der ein Auge auf das Mädchen geworfen hat. Dieser Bauernsohn, dieser Bernhard, scharwenzelte um Mári herum. Immer fand er einen Grund. In der Milchkammer, in der Küche, abends nach Feierabend vor der Tenne. Sonst hatte er nie mit den Mägden und Knechten zusammengesessen. Und sie? Hat sie den Bauernsohn kürzlich nicht auch angelächelt, besonders hell in seiner Gegenwart gelacht? Seitdem ist Joan auf der Hut, misstrauisch, eifersüchtig.

Mári. Er fühlt sich wohl mit ihr. Meist reden sie wenig. Dann war es ihm herausgerutscht, vor ein paar Tagen. Hab dich lieb, hatte er genuschelt, ohne sie anzuschauen. Sie hatte leise gelacht und ihn hinter sich her gezogen. Durch die Tür der Scheune waren sie geschlüpft und gemeinsam ins Heu gefallen.

Er weiß nicht mehr, wie es gekommen war. Plötzlich lag er auf ihr und sie schrie NEIN. Verletzt und beleidigt hatte er sie von sich gestoßen, war aufgesprungen und davongerannt. Im Laufen hatte er seine Hose hochgezogen. Am nächsten Tag hatte er ihre Nähe gemieden, sie aber stets aus der Ferne beobachtet und gelitten. Reden war nicht seine Sache. Wie sollten sie wieder zueinander finden?

Mári erlöste ihn. Nach Feierabend war sie auf ihn zugekommen, hatte seine Hand gefasst, ihn zaghaft angelächelt. Nicht böse sein, bitte. Dann hatten sie sich verabredet, heute Abend, in der Scheune.

Und nun hat er sich verspätet. Er ist auf dem Weg zur Scheune. Der fast volle Mond taucht den Hof in ein unwirkliches Licht. Da sieht er sie plötzlich über den Hof rennen. Die Kleidung aufgelöst, die Haare wirr. Joan drückt sich tiefer in den Schatten des Gebäudes. Sie bemerkt ihn nicht, obwohl sie dicht an ihm vorbeistürmt. Dann tritt eine Gestalt aus der Scheunentür. Er erkennt den anderen an seiner großen, kräftigen Statur. Der Sohn des Bauern. Bernhard. Also doch.

Unbändiger Zorn erfasst ihn. Mit so einer will er nichts mehr zu tun haben. Schlampe. Hure. Joan spuckt aus. Wie festgenagelt steht er auf seinem Platz an der Scheunenwand. Nichts hat er gesehen. Alles malt er sich aus.

Haarklein. Wie die Hände des Bauernsohns über ihre festen Brüste wandern, wie er ihr die Bluse öffnet, wie er ihre nackten Brüste betastet, schmeckt, wie er den Rock hochschiebt, wie er ihren Körper vollständig bedeckt. Wie sie ihm entgegenkommt. Bernhard, nicht ihm. Er keucht bei der Vorstellung, vor widerwilliger Lust und vor Zorn. Ihn hatte sie abgewiesen. Schlampe. Plötzlich sind da nur noch Wollust und Wut. Weiß nicht, wohin damit, wohin mit sich. Er erstickt an den Schreien, die er nicht schreien darf, kotzt sich die Wut aus dem Leib, zusammengekrümmt, elend. Herr und Knecht. Er hat keine Chance. Nicht jetzt.

Kapitel 3 – Bernhard, 1895

Über die Nächte hat er keine Gewalt. Oft wacht er auf, mit hämmerndem Herzen, nass geschwitzt, gepeinigt von Scham und Schuldgefühlen. Wieder und wieder träumt er denselben Traum. Er liegt auf ihr, sein Samen strömt in sie hinein. Sein Körper schreit Triumph, bäumt sich auf, entlädt alle Anspannung und Lust in diesen weichen Leib. Aus zwei wird eins. Welche Wonne. Welche Befriedigung. Er schaut auf sie herab. Aus einer verzerrten Fratze funkeln ihn Augen böse an, aus schmalen Lippen zischt es: „Nicht nur an mir hast du dich versündigt, sondern auch an unserem Kind.“

Bernhard sitzt im Hörsaal. Der Professor doziert über einen Aphorismus von Horaz. Denn wer begehrt, der fürchtet auch. Und wer in Furcht lebt, der ist nicht frei. Frei fühlt er sich weiß Gott nicht. Wie wahr. Fürchten tut er sich. Vor den nächtlichen Träumen, vor den Erinnerungen an Mári, an den Duft ihres Körpers, an ihr zur Fratze verzerrtes schönes Gesicht. Ihn plagt die Nichtachtung des Vaters, seit dieser ihn vom Hof gewiesen hat. Noch immer zittert er innerlich, wenn er an die Auseinandersetzung mit ihm denkt. Erst wenige Wochen ist es her.

Nestbeschmutzer, Lustmolch, Vieh. Die Familienehre habe er in den Dreck gezogen, hatte der Vater getobt.

Dessen Jähzorn hatte er schon als Kind oft zu spüren bekommen. In Worten und Taten. Aber so außer sich hatte er ihn noch nie erlebt. Das Gesicht war puterrot, Speichel flog ihm aus dem Mund, die Stirnader war geschwollen, zwischen den Nasenwurzeln drohte eine tiefe Falte. Der Vater konnte gar nicht aufhören, ihn zu beschimpfen, bis er schließlich erschöpft auf einen Stuhl sank.

„Geh mir aus den Augen“, hatte er schließlich mehr geröchelt als geschrien. „Aber ich …“. setzte Bernhard zu einem letzten Versuch an. Doch der Vater schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab. „Verschwinde. Lass dich hier nicht mehr blicken.“

Vor der Tür hatte die Mutter gewartet. Sie sah ihn mitfühlend an und zuckte mit den Schultern. „Er hat seine Gründe. Später, später wirst du verstehen. Und nun geh. Irgendwann wird alles wieder gut“, hatte sie geflüstert. Er müsse Geduld haben. Irgendwann werde sich der Vater wieder beruhigen. Und um das Mädchen werde sie sich kümmern. Wie wäre es ihm ohne die Hilfe der Mutter ergangen?

Nach seinem Rauswurf hatte die Mutter lange mit dem Vater gesprochen. Am Abend hatte sie ihm die Entscheidung mitgeteilt. Der Vater werde ihm ein Studium finanzieren, egal welches. Hauptsache, er lasse sich auf dem Hof nicht mehr blicken. Bernhard hatte 24 Stunden, seine Sachen zu packen. Wo er wohnen sollte, regelte die Mutter. Sie sprach mit der Tante in der Stadt. Bis auf Weiteres konnte er bei ihr wohnen.

Da das Semester bald begann, hatte Bernhard nur wenig Zeit, um sich zu entscheiden. Auf seinen langen Streifzügen durch die Stadt überlegte er. Theologie kam nicht infrage. Jura schien ihm zu trocken. Ratlos saß er nach langen Tagen ohne Entscheidung im Wohnzimmer der Tante. Ihr Mann hatte eine Professur für Altphilologie gehabt. Bernhards Blick fiel auf die unscheinbaren, braunen Reclamhefte in den Regalen.

Horaz, Vergil, Ovid, Platon, Sophokles. Das war’s. Er würde Latein und Griechisch studieren. Sollte doch Otto Priester werden. Schließlich war es einerlei, wer die Familientradition aufrecht erhielt. Er war sowieso verstoßen und zählte nicht mehr.

Klassische Philologie. Griechisch und Latein. Unbezweifelbar, unanfechtbar. Wissen und Gewissheiten für die Ewigkeit. Das schien die Rettung. Gymnasiallehrer wollte er werden. Gleich am nächsten Tag war er zum Domplatz marschiert und hatte sich immatrikuliert. Gerade noch rechtzeitig vor Semesterbeginn.

Seit er in der Stadt sein eigenes Leben lebt, fällt ihm auf, dass niemand ihn nach seinen Gefühlen, seinen Vorstellungen gefragt hat, auch die Mutter nicht. Keine Ahnung haben die Eltern. Sie behandeln ihn wie einen Verbrecher und entscheiden über seinen Kopf hinweg. Es geht gar nicht um ihn, das ist ihm allmählich klar geworden. Aber worum geht es dann?

Jeden Tag aufs Neue bereut er seine Unbeherrschtheit, seinem Trieb, seiner Lust nachgegeben zu haben. Er wollte Martha nicht weh tun, schon gar nicht schaden. Er hatte sich doch in sie verliebt. Ihr Lachen, ihre klare, feste Stimme klingen noch in seinem Ohr. Mári. Das alles hat er nun zerstört. Sie ist fort, in Diensten im Rheinland, schwanger mit seinem Kind. Wo genau Mári ist, hat die Mutter nicht verraten. Wie es ihr dort wohl ergeht? Er hofft so sehr, dass sie verständnisvolle Menschen gefunden hat, die ihr wohlgesonnen sind und ihr helfen, mit der Geburt, mit dem Kind. Das Kind. Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Sein Kind. Wird es ihm ähnlich sein? Bernhard wischt sich über das Gesicht. Was spintisierte er da herum! Ohnehin ist es längst zu spät. Wie aus weiter Ferne dringt die Stimme des Professors an sein Ohr, nur einzelne Wörter und Satzfetzen gelangen in sein Bewusstsein. Mos maiorum, labor, iustitia … archaische Vorbilder, Ilias, Odyssee. Maecenas galt als Förderer von Horaz …, einfacher Landmann, Landgut. Bernhard hört den Ausführungen des Professors über Leben und Werk des Dichters nicht zu, versinkt wieder ins Nachdenken.

Martha. Mit ihr hätte er sich ein gemeinsames Leben als Bauer auf dem Hof vorstellen können. Er, nicht seine Eltern. Dieser verdammte Standesdünkel. Niemals hätten die Eltern einer Heirat zugestimmt. Die het nix an de föss. Land kommt zu Land. So ist das seit jeher, ob’s einem passt oder nicht. Hubertus hätte sich gefreut. Der hätte seinen Status als Hoferbe gern an den jüngeren Bruder Bernhard abgetreten. Da ist er sich sicher.

Klopfen auf Holz, Füßegetrappel. Die Vorlesung ist zu Ende. Der Lärm schreckt Bernhard aus seinem Sinnieren. Die wenigen Studenten verlassen den kleinen Hörsaal. Bernhard folgt ihnen. Ein Klaps auf die Schulter. „Was ist? Kommst du mit in die Mensa? Es soll heute Fisch geben. Und dann ab ins Wochenende.“ Der Kommilitone schaut Bernhard erwartungsvoll an. Bernhard zuckt mit den Schultern. „Mensch, was ist denn los mit dir? Hat dir jemand die Petersilie verhagelt?“ Der andere lässt nicht locker. „Komm schon. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft und Gesellschaft werden dir gut tun, du alter Stubenhocker.“ Bernhard wimmelt den Fragenden ab, nuschelt etwas von, keine Zeit, der Tante versprochen, viel zu tun und sucht das Weite. Gerade jetzt ist ihm gar nicht nach oberflächlichem Quatschen in einer lustigen Gesellschaft zumute. Frische Luft. Die braucht er. Da hat der Kommilitone recht. Die halbe Stunde Fußmarsch vom Domplatz zur Wohnung der Tante beruhigt ihn tatsächlich. Die kühle Luft tut gut. Statt gleich in die Wohnung im zweiten Stock zu steigen, setzt er sich auf eine Bank im Park gegenüber. Nur vereinzelt noch hängen Blätter an den Bäumen. Überrascht stellt Bernhard fest, dass die Strahlen der Novembersonne ihn ein wenig wärmen.

Das Studium ist ihm Rettungsanker und Schutzschild zugleich vor den Gefahren des alltäglichen Lebens geworden. Schutz vor sich selbst, vor seinen Gefühlen. Syntax und Semantik, Übersetzung und Auslegung beschäftigen seinen Geist und lenken ihn von sich ab, beruhigen sein überhitztes Gemüt und seine sexuelle Begierde.

Horaz, Vergil, Plautus, Cicero und Caesar, bei denen akademisch ernsthaft über die Aussprache debattiert wird. Zäsar oder Käsar? So ein Zirkus. Ernsthaft hingegen das Studium der Schriften von Plautus’ Komödien und Horaz’ Satiren. Darüber lässt sich trefflich streiten. Über Zeus’ Liebeslisten inmitten der geklöppelten Deckchen auf Tischchen, Sesselchen und Sofa der Tante zu sinnieren, hat einen besonderen Reiz.

Die Tante, das Tantchen. Klein, hutzelig, mit ihren altmodischen Schläfenlöckchen, ihren listigen Äuglein im runden Gesicht, wie sie immer geschäftig zwischen ihren sperrigen, ausladenden Möbeln herumwuselt, immer in Bewegung, dabei kaum einmal das Haus verlässt und auch sonst recht menschenscheu zu sein scheint. Aus der Welt gefallen, weltfremd. Die Zugehfrau kommt dreimal die Woche und macht auch die Einkäufe. Wie die Mutter es wohl geschafft hat, die Tante zu überreden, ausgerechnet ihn, einen jungen Mann, in ihre Wohnung aufzunehmen?

Sie passen zueinander, findet Bernhard. In der mit Möbeln voll gestellten Wohnung fühlt er sich wohl. Es ist ruhig. Aus seinem Kammerfenster blickt er auf den kleinen Park.

Bernhard schaut zum Haus hinüber. Die Sonne spiegelt sich gerade in den Scheiben seines Fensters. Der Wind spielt mit den abgeworfenen Blättern der mächtigen Linden. Die meisten Bäume sind über hundert Jahre alt. Bernhard stellt sich vor, wie er im Sommer in ihrem Schatten spazieren geht.

Bekanntschaften hat er noch keine gemacht. Die Burschenschaften, die gleich zu Semesterbeginn über ihn herfielen, die Saxonia, die Germania, sind ihm zu laut, zu aufdringlich. Mit den schlagenden Verbindungen kann er erst recht nichts anfangen. Franconia, Rhenania. Niemals. Er hält nichts von Selbstverstümmelung.

Die aufdringliche Fröhlichkeit der Kommilitonen ist ihm zuwider. Also bleibt er für sich, leistet ab und zu der Tante Gesellschaft und stürzt sich in das Studium, überrascht, wie sehr ihm die Schriften der alten Griechen und Römer gefallen, ihre lebensfrohen, aber auch grausamen Götter. In ihrem Himmel herrschte wenigstens Klarheit.

Kapitel 4 – Martha, 1896

Leises Wimmern aus der Wiege. Das Kind ist aufgewacht und wird gleich Hunger haben. Sie holt das kleine Mädchen aus dem Bettchen heraus und betrachtet es. Es war Liebe auf den ersten Blick. So klein, so zart, der dichte schwarze Haarschopf. Die winzigen Hände und Füße. Ein Mädchen. Gesund und quicklebendig. Clara. Woher hat sie diesen Namen? Sie weiß es nicht. Beim ersten Blick auf das Kind war er da gewesen. Einfach so. Clara. Ein schöner Name, sanft wie das Plätschern des Baches, der an ihrem früheren Zuhause vorbeifloss.

Dabei hatte sie so sehr auf einen Jungen gehofft, schon als ihr beim Ausbleiben der Regelblutung klar wurde, dass sie schwanger war. Den Erzählungen der Mägde abends im Winter beim Nähen und Spinnen hatte sie aufmerksam gelauscht.

Eine leichte Geburt, eine Bilderbuchgeburt, wie der Professor den Studenten erklärte, die ihr beim Pressen zusahen. Dass sie öffentlich gebären sollte, hatte ihr keiner gesagt. Dann begriff sie. Das war der Preis für das Paradies, in dem sie ein halbes Jahr verbringen durfte.

Anfangs hatte sie sich geschämt, dann war es ihr egal gewesen. Noch immer amüsiert sie die Erinnerung daran, dass einer der Studenten während des Geburtsvorgangs in Ohnmacht gefallen war. Richtig gerumst hatte das und die Aufmerksamkeit der anderen kurzfristig von ihr abgelenkt, während sie sich auf das Pressen konzentrierte, atmen und pressen und atmen und pressen, wie die Hebamme es ihr beigebracht hatte. Dann war das Kind da. Ihr Kind. Ein Bastard. So hatte die Bäuerin gesagt. Ein Hurenkind, der Vater.

Monatelang hatten sie Schuldgefühle geplagt. War ich zu keck, hab ich ihn herausfordernd angeschaut? Hab ich es gar selbst heimlich gewollt? Habe ich gesündigt schon in Gedanken? Das hatte der Pfarrer ihr vorgehalten. Die Frau, die Eva, sei schuld am Sündenfall des Mannes. Der sei lediglich das Opfer der Verführungskünste der liederlichen Frauen. Nicht einmal die Absolution hatte er ihr erteilt.

„Tue Buße, meine Tochter und führe fortan ein gottesfürchtiges Leben“, hatte er getönt. Hatte sie Bernhard wirklich verführen wollen? Seine kleinen Aufmerksamkeiten hatten ihr geschmeichelt, sie hatte sich schön und begehrenswert gefühlt. Joan und Bernhard. Bernhard und Joan. Es war doch nur ein Spiel. Sie war noch jung und unerfahren. Niemals hätte sie ernsthaft …

Alles in ihr schrie und wehrte sich. Nein, es war nicht ihre Schuld.

Deine Schuld. Das hatte ihr die Bäuerin vorgeworfen, als ihr Zustand offensichtlich wurde. Da war sie im 4. Monat. Die Bäuerin hatte ein gutes Auge und sie zur Rede gestellt. Sie hatte Joan in Verdacht. Joan, der aber schon längst den Hof verlassen hatte, von heute auf morgen verschwunden war. Keiner wusste, warum. Nur sie hatte es geahnt. Es hatte ihr das Herz zerrissen. Was hätte sie tun sollen? Nach dieser Nacht war er ihr aus dem Weg gegangen und dann, plötzlich, war er weg.

Zunächst hatte die Bäuerin ungläubig geguckt, die Aussage der Magd laut und heftig angezweifelt.

„Mein Sohn ist nicht so einer. Das hast du ja fein angestellt, wolltest dir wohl einen Sohn des Bauern angeln. Aber daraus wird nichts.“ Dann hatte sie eingelenkt. „Passiert ist passiert. Ich mag dich. Du bist anstellig und flink. Du lernst rasch und siehst hübsch aus. Es wäre schade um dich und das Kind. Vielleicht kann ich dir helfen. Ich werde nachdenken. Auf dem Hof bleiben kannst du auf keinen Fall. Der Bauer wird das nicht dulden.“ Dabei hatte sie Martha mit ihren dunklen Augen streng angeschaut. Schwang nicht doch ein wenig Bedauern und Mitgefühl in der Stimme mit? Zumindest hätte Martha es sich gewünscht. Von Anfang an hatte sie sich gut mit der Bäuerin verstanden. Schon kurz nach ihrer Anstellung hatte sie bemerkt, dass diese ihr besonderes Wohlwollen entgegenbrachte, sie oft lobte. „Aber behalte alles für dich“, hatte die Bäuerin noch gesagt. „Nur deinen Eltern musst du von der Schwangerschaft erzählen.“ Martha hatte genickt und mit gesenktem Kopf in die ausgestreckte Hand der Bäuerin eingeschlagen. „Schau mich an“, hatte diese gefordert. „Ich will sehen, dass du es ehrlich meinst.“

Die Augen in ihrem schmalen Gesicht mit der geraden Nase und der hohen Stirn blickten dunkel und ernst. Martha fand, dass die Bäuerin mit ihrer zierlichen Gestalt eher aussah wie eine feine Dame aus der Stadt und nicht wie eine vom Land. Wenn sie im Sonntagsstaat mit ihrem Mann in der Kutsche zur Kirche fuhr, sah sie richtig vornehm aus. Ihr Auftreten war leise, aber bestimmt. Oft steckte sie hinter den Befehlen des Bauern. Das wussten alle. Aber niemand machte eine abschätzige Bemerkung.

Die Bäuerin entließ Martha mit einem Empfehlungsschreiben an eine Familie im Rheinland. So hast du erst mal ein Dach über dem Kopf und später, … Wir werden sehen.

Den Eltern ihren Zustand zu beichten, fiel Martha schwer, zumal diese bei ihren sonntäglichen Besuchen offensichtlich noch nichts bemerkt hatten. Sie hatten ihre eigenen Sorgen.

Die Mutter jammerte gleich los. „So ein Unglück, so ein Unglück“, bis sie vom Vater mit einer Ohrfeige zum Schweigen gebracht wurde.

„Du bist nicht mehr meine Tochter“, hatte er Martha angeschrien, „komm mir nie wieder unter die Augen. Nie wieder. Keinem von uns. Ich dulde keine Hure in diesem Haus und schon gar kein Hurenkind.“ Dann war er davongestapft.

Schwanger nach einer Vergewaltigung. So hatte man es ihr im Entbindungsheim erklärt. Ich habe keine Schuld, keine Schuld, hatte sie sich immer wieder vorgesagt. Aber der Zweifel blieb. Nur: Eine Hure war sie nicht. Das hätte sie dem Vater gern erklärt. Ihr kommt ein Gedanke.

Sie schaut auf das kleine wimmernde Wesen und streicht sacht über seine Wange. Ein Kind, ein Mensch. Milch hat sie genug, dank der erholsamen letzten Wochen im Entbindungshaus vor der Geburt und dank der regelmäßigen reichhaltigen Mahlzeiten.

Gleich nach der Geburt wurde das Kind getauft, wie es im Heim Brauch war, mit Pfarrer und Ritual und Taufbescheinigung. Alles, wie es sich gehörte. Die Patenschaft hatte der Priester selbst übernommen. Wir sind doch alle Gottes Kinder. „Clara“, flüstert sie. „Clara.“ Sie horcht dem Klang des Namens nach.

Sie ist den Ärzten und Schwestern dankbar, dass sie hier wohnen darf, in diesem schönen Haus mit den freundlichen Menschen. Noch nie hat sie so fein gewohnt, in einem hellen, luftigen Zimmer mit hohen Decken und einem großen Fenster, das selbst bei Regen noch genügend Licht hereinlässt. Kein Vergleich zu der niedrigen, dunklen, kleinen Kammer beim Bauern oder gar zu dem fensterlosen Verschlag hinter der Küche, in dem sie bei ihrer Herrschaft schlafen musste. Dazu ein eisernes Bettgestell mit Matratze, ein Kopfkissen und ein Federbett. Der Spind ist viel zu groß für ihre wenigen Habseligkeiten. Aber sie braucht Platz für die Kindersachen. Mit der jungen Frau im Nachbarbett hat sie sich angefreundet. Irene. Sie lachen und singen oft zusammen. Kinderlieder, Schlaflieder, Volkslieder. Irene kennt viele Lieder und hat eine hübsche Stimme. Gemeinsam singen sie ihre Säuglinge in den Schlaf. Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht, … Es tut Martha gut, nicht allein zu sein. Sie hat so viele Fragen. Wie muss ich wickeln? Woher weiß ich, dass Clara genug trinkt? Warum schreit sie? Woher weiß ich, was sie will? Irene kennt sich aus. Der kleine Junge in der Wiege ist ihr drittes Kind. Jedes Kind hat sie von einem anderen Mann. Die beiden anderen gab sie als Säuglinge weg. „Ich musste, Martha“, versichert sie immer wieder und wischt sich unwillig mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Ich musste. Ich hatte keine Arbeit, keinen Mann und kein Geld. Die Kinder wären verhungert. Im Kinderhaus haben sie es besser. Aber diesmal, Martha“, hatte sie gesagt und dabei sehr entschlossen ausgesehen, „ich schwöre es dir, diesmal werde ich alles tun, um es behalten zu können. Jetzt habe ich einen Vater, der bleibt. Hoffentlich“, fügte sie ganz leise hinzu.

Die Adresse des Kinderhauses hatte sie Martha aufgedrängt. Man wusste ja nie.

Noch vier Wochen darf Martha bleiben. Dann ist die Zeit um. Dann muss sie das Entbindungshaus verlassen. Wohin dann? Was wird mit ihr, was mit dem Kind? Ins Armenhaus will sie auf keinen Fall. Zurück zur Herrschaft kann sie nicht. Eine neue Herrschaft? Aber wer nimmt eine ledige Mutter mit Kind in Stellung? Martha ist zum Heulen zumute. Sie reißt sich zusammen. Sie hat noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Das Kind liegt gut versorgt und leise schmatzend friedlich in dem Bettchen. Martha wirft noch einen zärtlichen Blick auf Clara. Dann holt sie Schreibzeug aus ihrem Schrank, setzt sich aufs Bett und schreibt:

Lieber Vater, liebe Mutter,

verzeiht, dass ich euch so viel Kummer bereitet habe.

Ihr müsst mir glauben, dass ich nichts Böses getan habe. Vater, ich bin keine Hure und meine süße Clara ist kein Hurenkind. Bitte! Ihr müsst mir glauben, dass ich nichts dafür kann. Was hätte ich gegen Bernhard ausrichten können? Mir und dem Kind geht es gut. Ich würde euch so gern alle wiedersehen, den Fritz, die Anna und Mimi. Was macht der Jupp? Kann er sich überhaupt noch an seine große Schwester erinnern?

Ich liebe euch alle. Ich habe so schreckliches Heimweh. Bitte, bitte, verzeiht mir. Lasst mich nach Hause kommen.

Eure Martha, Mári

Einzelne Tränen laufen Martha beim Schreiben über die Wange, eine tropft auf das Blatt Papier. Zum Glück hat sie mit Bleistift geschrieben. Martha wischt über die feuchte Stelle, liest den Brief noch einmal durch. Dann faltet sie das Blatt doppelt und schiebt es in den Briefumschlag. Ob sie wohl antworten? Ob sie ihre Tochter wieder aufnehmen? Martha bangt und hofft. Gleich morgen wird sie den Brief zur Post bringen.

Kapitel 5 – Erna, 1896

Der Brief. Noch nie hat der Postbote einen Brief gebracht. Wer sollte auch schreiben? Seit Mári weg ist, redet der Mann nur noch das Nötigste, hat sich in das Schneckenhaus seiner Verbitterung zurückgezogen. Mimi sitzt am Ofen und schweigt. Nur Anna ist wie immer. Burschikos und zupackend kümmert sie sich um alles, was nötig ist. Hilft im Garten, macht die Wäsche, packt an, ohne zu fragen. Erna ist froh, dass Anna da ist. Dennoch.

Mári fehlt, überall. Ihr Lachen, ihre Unbekümmertheit. Jeden Sonntag. Fritz kommt immer öfter mit blauen Flecken und Schrammen aus der Schule. Er ist jähzornig und prügelt sich gern, hatte der Lehrer den Eltern bei einem Besuch erzählt. Aber bei der kleinsten Vorhaltung hält der Junge sich die Ohren zu und läuft davon.

Jupp, ihr Nesthäkchen, schaut nur mit seinen blauen Augen. Mit seinen vier Jahren ist er ungewöhnlich verständig, findet Erna. Manchmal berührt er wie aus Versehen ihre Hand oder ihren Arm. Was nur mit diesem Jungen ist. Er spürt sofort, wenn es ihr nicht gut geht. Aber Zärtlichkeit ist nichts für den rauen Alltag.

Da liegt nun dieser Brief. Den Namen kann sie entziffern. Gausehus. Der Umschlag ist weiß, die gut lesbare Adresse mit blauer Tinte geschrieben. Das G ist ein wenig verwischt. Es hat geregnet, als der Postbote den Brief am Morgen aus seiner Tasche kramte. Auf der Rückseite des Umschlags steht anscheinend eine Adresse. Sie erkennt nur den Namen, Martha Gausehus und irgendwas mit ‚Haus‘. Ihre Hand zittert. Mári. Das Kind, die Tochter. Sie hat geschrieben. Sie dreht und wendet den Brief in der Hand, wagt ihn nicht zu öffnen, legt ihn auf den Küchentisch. Wenn gleich der Franz vom Bauern zurückkommt, wird er ihn sehen. Sie rückt den Brief neben den Teller, direkt neben die Gabel.

„Nein“, flüstert sie mehr als sie schreit. „Nein, nicht.“ Mit einer einzigen Bewegung hat der Mann den Brief genommen, die Ofenklappe geöffnet und den Brief hineingeworfen. Ein kurzes Aufflammen, bevor er die Klappe wieder schließt. Erna weint mit weit aufgerissenem Mund, ohne einen Laut von sich zu geben. Das lückenhafte Gebiss lässt ihr Gesicht wie eine Fratze erscheinen. Pro Kind ein Zahn, die verlorenen mitgerechnet. „Mári. Der Brief war von Mári“, keucht sie endlich. Der Mann funkelt sie an und hebt drohend die Hand. „Kenn ich nicht.“ Er springt auf und stößt den Stuhl heftig nach hinten. Der Stuhl fällt um. Beinahe stolpert er über ihn, als er aus der Küche stürmt.

In dieser Nacht wartet Erna vergeblich auf die Rückkehr des Mannes, wälzt sich schlaflos im Bett, gequält von Erinnerungen.

Die Hochzeit, ohne Kranz, ohne Schleier, nur mit den Eltern als Trauzeugen. Der Pfarrer, der ihr ungeniert auf den Bauch schaute, als sie das Eheversprechen gaben. Das Kind, das viel zu früh kam, Mári, ein Kind der Liebe. Fünf Monate waren sie verheiratet, als sie geboren wurde. Wie stolz Franz die kleine Tochter nach ihrer Geburt im Arm gehalten hatte. Eine richtige kleine Familie waren sie gewesen. Dann kamen die Fehlgeburten. „Ich habe es gleich gesagt. Das ist die Strafe für eure Schamlosigkeit“, hatte die Mutter gezetert. Franz war immer schweigsamer geworden. Ihr anfängliches Glück war bald verflogen, hatte Sorge und Scham Platz gemacht. Als schließlich Mimi geboren wurde, schien der Fluch gebannt. Aber Mimi war ein schwächliches Kind, weinerlich, ängstlich, schüchtern. Ganz anders als Mári. Die war damals mit ihren drei Jahren schon eine echte Hilfe in der Küche und passte auf die kleine Schwester auf.

Als Kind hatte Erna selbst kaum Liebe erfahren. Kinder darf man nicht verzärteln, war der Spruch der Mutter. Deshalb fühlte sich Erna immer schuldig, wenn sie Mári mal in den Arm oder auf den Schoß nahm. Mári war ein unbekümmertes, fröhliches Kind. Ihr Sonnenschein.

Mári, Mári. Wie hatte nur alles so kommen können? Seit sie fort ist, sind da nur noch Sorge, Pflicht und Arbeit, eine unendliche Müdigkeit und die ehelichen Pflichten. Einmal die Woche. Verbissen, freudlos, ohne ein Wort. Mit dem Mann war nicht zu reden. Warum nur hatte sie den Brief nicht geöffnet. Warum hatte sie ihn nicht vor dem Mann versteckt? Sie wusste doch, wie verbittert er über Máris Schande war. Warum hatte sie nicht damals, statt zu jammern, ein gutes Wort für die Tochter eingelegt. „Unsere Tochter ist eine Hure“, hatte er geschrien, „und eine Hure kann ich nicht unter meinem Dach dulden. Wir sind arm. Aber wir haben auch unsere Ehre. Was sollen die Leute denn von uns denken? Glaubst du, ich will angestarrt werden? Die Häme der Leute. Ich könnte sie nicht ertragen, wenn wir sonntags in der Kirchenbank sitzen.“ Dann hatte er die Tür hinter sich zugeknallt und war davongerannt. Er hatte wohl recht. Wäre Mári geblieben, wären die alten Geschichten wieder hoch gekommen. Erna starrt mit offenen Augen in die Dunkelheit der kleinen Kammer. Vor dem Fenster ist der Himmel fast schwarz. Dicke Wolken hüllen Mond und Sterne ein.

Kapitel 6 – Martha, 1895

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern jetzt und in Ewigkeit. Amen. Ein VaterUnser. Noch eins und noch eins. VaterUnser, VaterUnser. Die Worte hallen im Kopf, stoßen gegen die Schädeldecke, sinken in die Brust, machen das Herz schwer. VaterUnser. VaterUnser.

Martha kniet in einer der hinteren Bänke der kleinen Kirche, die sie nach einigem Suchen gefunden hat. Heute ist ihr erster freier Sonntagnachmittag.

Das Glockengeläut dieser Kirche weckt sie jeden Morgen um 6 Uhr. Ein Stück Heimat.

Sie hat sich ein Herz genommen und ist dem Nachmittagsgeläut nachgegangen. So lange, bis sie tatsächlich vor der Kirche stand. Gar nicht weit von der Straße, in der ihre Herrschaft wohnt. Vielleicht zehn Minuten, wenn sie die Zeit der Suche abrechnet.

VaterUnser. Das Halbdunkel und die kühle Luft der Kirche tun ihr gut. Vor dem Seitenaltar flackern gespendete Kerzen. So gern würde sie auch eine Kerze anzünden, aber sie hat ja noch kein Geld. Das gibt’s erst in zwei Monaten, am Jahresende.

VaterUnser. Sie vermisst ihre Familie, die Geschwister, die Mutter, sogar den schweigsamen strengen Vater, der sie verstoßen hat. Sie vermisst die Arbeit auf dem Hof, die abendlichen Gespräche mit den Mägden. Sie vermisst sogar die nächtlichen Atemzüge und das leise Schnarchen der Küchenmagd, mit der sie die Kammer teilte. In der Stadt ist sie ganz allein.

Zwei Wochen nach der Aussprache mit der Bäuerin hatte der Großknecht des Bauern sie mit dem Erntewagen zum Bahnhof der Stadt gebracht und ihr den Korb bis an den Zug getragen. Sogar alles Gute hatte er ihr gewünscht. Die Fahrkarte hatte die Bäuerin gekauft und gesagt, das sei ihr Beitrag und sie solle auf Gott vertrauen und beten. Dann werde schon alles gut. Die Herrschaft in der Stadt seien nette und umgängliche Leute.

Wie hatte Martha gestaunt, als sie mit dem Zug über die Rheinbrücke fuhr und der Kölner Dom sich vor ihr erhob. Kein Vergleich zu dem Paulusdom in Münster. Einmal hatte sie ihn gesehen. Auf ihrer einzigen Reise nach Münster mit dem Vater. Da war Jupp noch nicht geboren. Elf oder zwölf Jahre alt muss sie gewesen sein. Und doch eine Ewigkeit her, scheint es Martha. Damals war ihr diese Fahrt in die Provinzstadt wie eine Weltreise vorgekommen. Was war sie noch ein Kind gewesen, das nichts von der Welt wusste.

Der Dom. So ein großes Bauwerk hatte sie noch nie gesehen. Als sie aus dem Zug kletterte, hatte sie bei aller bangen Erwartung doch so etwas wie Vorfreude gespürt. Aber der Dienstmann, der sie abholte, ließ ihr keine Zeit, die prächtige Kathedrale mit ihren hohen, Spitzen verzierten Türmen zu bestaunen.

Er mahnte zur Eile, war ihr immer einen Schritt voraus. Sie hatte Mühe zu folgen. Den Korb und das Bündel mit ihren Sachen musste sie selbst tragen. Gottlob war es nicht viel. Eine Straßenecke und noch eine. Geradeaus und rechts und links. Der Weg nahm kein Ende. Der Korb wog, der Bauch wurde hart. Schweiß lief ihr in den Nacken, obwohl es herbstlich kühl war. Als sie endlich da waren, klingelte der Dienstmann an der Tür eines hohen Hauses. Er drückte auf den obersten Klingelknopf. Als der Türsummer ertönte, stemmte er die Tür auf, hielt sie fest, bis sie hindurchgeschlüpft war und verschwand dann ohne Gruß. Die Tür schlug hinter Martha zu. Sie schaute sich um. Und staunte. So viele Stockwerke. Die Stufen aus Stein, das Geländer aus Holz. Der Handlauf war schon ganz blank vom vielen Anfassen. Sie begann mit dem Aufstieg. Eine Treppe nach der anderen. Zwischendrin musste sie immer wieder auf einem Absatz verschnaufen. Das Atmen wurde mühseliger, die Beine schwerer. Martha zählte mit. Drittes Stockwerk und immer noch keine offene Tür, in der die Hausherrin sie willkommen hieß.

Das fünfte Stockwerk, das letzte. Da. Endlich. Eine offene Tür. Sie kontrollierte den Namen an der Tür, schaute zur Vorsicht noch einmal auf den Zettel, den sie aus der Rocktasche fischte. Genau. Gutermann. Ein Spalt. Niemand zu sehen, niemand zu hören. Martha klopfte. Noch einmal, dann etwas lauter. „Komm rein.“ Eine herrische, hohe Stimme. Martha zuckte zusammen, betrat aber gehorsam den Flur, der voll gestellt war mit Garderobe und Truhe und Kommode. Am Ende des dunklen Ganges war links eine offene Tür, durch die Licht in den Flur fiel. Martha blieb auf der Türschwelle stehen. Mehr neugierig als ängstlich schaute sie sich um. Der Raum war groß und ebenfalls voller Möbel aus dunklem Holz. Ringsum an den Wänden standen eine Kommode, ein Vertiko und ein Vitrinenschrank. Das Oberteil ruhte auf merkwürdig gedrehten Säulen. In der Mitte des Raumes befand sich ein ovaler Tisch, der mit seinen Holzfüßen zum Vitrinenschrank passte. Auf dem Tisch lag eine Spitzendecke, mittig darauf eine Silbervase mit Herbstastern. Um den Tisch herum gruppierten sich, exakt im gleichen Abstand, vier grün gepolsterte Stühle. Die Hausherrin saß auf dem ebenfalls grün bezogenen Sofa, das unter dem Fenster stand. Sie sah jung aus, hatte die Haare zu einem lockeren Knoten gebunden und war sehr schlank, ganz anders, als Martha sich ihre Herrschaft vorgestellt hatte. „Was ist? Stell deine Sachen ab“, sagte die Frau und winkte sie zu sich. Die junge Frau musterte Martha von Kopf bis Fuß, verweilte einen Wimpernschlag länger auf ihrem Bauch. Martha fühlte sich unter den abschätzigen Blicken ihrer neuen Herrin unwohl.

„Gut, nun bist du da und kannst gleich anfangen. Es ist viel zu tun. Bring deine Sachen in die Kammer hinter der Küche.“

So hatte das Elend begonnen. Nun ist sie Dienstmagd, Mädchen für alles. Waschen, bügeln, Silber putzen, Fenster putzen, Staub wischen, Teppiche klopfen, Betten beziehen wöchentlich; Fußböden schrubben, Mahlzeiten zubereiten, Herd schmirgeln, Essen kochen, spülen, nähen, stopfen täglich. Zehn Stunden und mehr am Tag. Immer findet die Gnädige eine neue Arbeit für sie, damit sie nur ja nicht müßig herumsitzt. Schwanger sein sei keine Krankheit, findet die Hausherrin. Noch nie musste Martha so viel arbeiten. Noch nie hat ihr die Arbeit so wenig Freude gemacht. Arbeit ist nun alles, was ihr Leben bestimmt. In ihrem fensterlosen Verschlag hinter der Küche fällt sie nachts in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie am nächsten Morgen wie gerädert erwacht. Oft hat sie das Gefühl zu ersticken. Es ist ihr aber verboten, die kleine Tür zur Küche offen zu lassen.

Martha schaut auf ihre gefalteten Hände, die mager aus dem wollenen Umhang hervorsehen. In ihrem Magen grummelt es. Sie hat schon wieder Hunger. Das Kind!

VaterUnser. Wenn das Beten doch nützte!

„Kann ich dir helfen? Wie heißt du?“

Plötzlich ist eine junge Frau neben Martha in die Bank gerutscht, schaut sie aufmerksam und mitfühlend an.

Ihre Fragen lösen einen wahren Sturzbach an Worten aus. Zwischen Weinen und Schluchzen schüttet Martha der Fremden ihr Herz aus. Sie erzählt von der nörgelnden und oft misstrauischen Hausfrau. „Nichts kann ich ihr recht machen und immer zählt sie nach dem Putzen das Silber nach“, klagt Martha der Fremden ihr Leid. Dann erzählt sie von der anstrengenden Arbeit, von der Sorge um das Kind, das sich nur noch selten bewegt. „Vielleicht krieg ich es auch nicht mit, so erschöpft, wie ich immer bin.“

Sie erzählt von dem schlechten Essen, der mageren Milchsuppe, der dünnen Brotsuppe. Sie erzählt, wie sehr sie sich nach frischem Gemüse sehnt und nach einem Stück Speck oder gar dem guten Westfälischen Schinken, der immer beim Bauern in der Küche von der Decke baumelte und von dem sich jeder absäbeln konnte, wann und so viel er wollte.

Sie erzählt, wie sehr sie die Gespräche abends mit den Mägden vermisst, die derben Scherze der Knechte. Im Sommer vor dem Haus, im Winter am Herdfeuer. Sie erzählt, wie dieses Eingesperrtsein im Haus sie ganz kraftlos macht. Sie erzählt, dass sie sich von der Bäuerin hereingelegt fühlt, die ihr versprochen hatte, sie zu netten Menschen in Köln zu schicken, die sie unterstützen würden, wovon aber gar keine Rede sein konnte. Die Herrschaften reden nur das Nötigste mit ihr. „Für das Ehepaar scheine ich Luft zu sein. Sie streiten sich sogar in meiner Gegenwart. Alles andere als fein.“ Martha macht nur Andeutungen, traut sich gegenüber der Fremden nicht, die ungehörigen Worte zu wiederholen, die sie in den Gesprächen gehört hat. Schlappschwanz – Zimtzicke – Hurenbock – läufige Hündin. Jede Auseinandersetzung endet mit gegenseitigen Beschimpfungen. Viele Ausdrücke kannte Martha gar nicht. Dabei findet sie den Mann ganz nett. Ihr gegenüber war er immer höflich. Nur wie er sie manchmal anschaute. „Ach, ich weiß selbst nicht, was ich davon halten soll.“ Die Worte stürzen nur so aus Marthas Mund.

Schließlich verebbt der Wortestrom. Martha wird still. Die junge Frau neben ihr sagt ebenfalls nichts. Die Kerzen vor dem Altar der Mutter Gottes flackern im Luftzug. In der Kirche ist es dunkler geworden. Martha schreckt hoch.

„Ich muss gehen. Die Gnädige erwartet mich. Ich bin schon viel zu lange weg.“

Sie drückt sich aus der Bank, ohne Abschiedsgruß, mit ge­rafften Röcken eilt sie davon. Was die fremde junge Frau ihr nachruft, hört sie nicht mehr. In der Wohnung empfängt die Hausherrin sie mit einem harschen: „Das wurde aber auch Zeit. Zwei Stunden sind mehr als genug.“ Erst jetzt wird Martha bewusst, dass sie der Fremden gar nicht ihren Namen gesagt hat und auch nicht weiß, wie die junge Frau heißt.

Kapitel 7 – Joan, 1897

Verdammt. Schon wieder. Alle guten Vorsätze zum Teufel. Und das Geld auch weg. Versoffen, verloren, verspielt. So genau weiß er es gar nicht mehr. Seine letzte Erinnerung ist, dass er dem Kohlenhändler die Schippe vor die Füße geschleudert hatte. Ausbeuten ließe er sich nicht. Dann war er in die nächste Kneipe gegangen. Mit den Kumpeln hatte er einen gehoben, seinen Frust in Schnaps und Bier ertränkt. Sie hatten ihn in seiner Wut bestärkt. Er gehöre zu ihnen, zur Arbeiterklasse. Jawohl. Und die ließ sich nicht länger ausbeuten. Dafür gebe es sogar eine Partei, die sich darum kümmere. SPD hieß die. Sozialistische Partei Deutschland. Oder so ähnlich. Und der Gewerkschaft sollte er beitreten. Die Kumpel hatten auf ihn eingeredet.

Er kramt in seiner Hosentasche. Irgendwo muss er ihn doch haben, diesen Wisch. … Nee, muss er wohl verloren haben.

Was soll er tun? Seit er drei Tage nach jener Nacht vom Hof weggerannt war, hatte er sich erst als Tagelöhner auf verschiedenen Höfen und als Handlanger durchgeschlagen. Nirgendwo hielt es ihn. Schließlich war er, eher zufällig, immer weiter nach Süden geraten, über Ahlen, Lünen, Kamen. Bis er in Dortmund hängen blieb. Dortmund. Laut, dreckig, geschäftig, schön. Lebendig. Noch nie hat er so unterschiedliche Menschen erlebt. Erst hatten ihn die vielen Menschen erschreckt. Doch mittlerweile sieht er die Vorteile des Großstadtlebens. Er ist sein eigener Herr, niemand kennt ihn, wenn er nicht will. Unbekannt bleiben und trotzdem in Gesellschaft sein. Das gefällt ihm. Manchmal. Gar nicht gefällt ihm das Drecksloch, in dem er wohnt, kalt, feucht, dunkel. Das Klo ein stinkender Verschlag hinten im Hof. Oft ist der Himmel auch nachts rot, die Luft von stickigem Nebel erfüllt. Manchmal sehnt er sich nach der frischen guten Landluft, nach dem Heuduft, dem Geruch und der Wärme der Pferde, nach der Gemeinschaft der Knechte und Mägde. Nur das Foto erinnert ihn noch an diese glückliche Zeit. Das Foto, auf dem auch Mári zu sehen ist. Er weiß selbst nicht, warum er es bei seinem überstürzten Weggang eingesteckt hat. Manchmal holt er es hervor und betrachtet es.

Dann überkommt ihn mit der Sehnsucht die Verzweiflung. Die Erinnerung an Mári. Mári ist verschwunden, aus seinem Leben, nicht aus seinen Gedanken. Mit der Verzweiflung kommt die Wut. Die Wut schreit nach Rache. Er fühlt sich hintergangen. Er hatte ein Recht auf sie. Sie war sein Mädchen. Hatte er nicht sogar schon von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr geträumt? Auch wenn sie noch so jung war? Mári. Keine andere konnte er sich vorstellen. Wie hatte sie ihn so fallen lassen können. Und dann noch gleich schwanger werden von diesem bäurischen Bereiter. Das hatte später die Gerüchteküche gemunkelt, bevor Mári wegging. Da hatte er aber schon längst den Hof verlassen. Joan spuckt aus. Sie hatte sich wohl verrechnet, das Flittchen. Statt in den Schoß der Familie des Bauern aufgenommen zu werden, wurde sie weggejagt. Nicht einmal Marthas Familie wusste, wohin die Bäuerin sie geschickt hatte. Er hatte versucht, Fritz auszuhorchen. Aber der hatte nur geschrien: „Sie ist nicht meine Schwester. Der Vater hat’s gesagt.“

Mári ist verschwunden. Er wird sich für die erlittene Demütigung, für den Verlust, für alles rächen, an Bernhard, an der ganzen Familie. Früher oder später. Seine Zeit würde kommen.

Kapitel 8 – Martha, 1898