Der Geschmack von Lebertran - Cornelia Ertmer - E-Book

Der Geschmack von Lebertran E-Book

Cornelia Ertmer

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Beschreibung

Das Kind wird in den 50ern geboren: Die Schrecken des Krieges verblassen, das Wirtschaftswunder blüht. Paradiesische Jahre, um groß zu werden. Doch es ist nicht nur die Zeit von Sonntagsgroschen, Fleißkärtchen und Häschenschule, sondern auch von Prüderie und Heuchelei. Der Schein der Wirtschaftswundergesellschaft wird mit allen Mitteln bewahrt. Und so stößt das Kind immer wieder auf Verbote und Tabus. Es gerät mit Nonnen aneinander und muss demütigende Erziehungsmaßnahmen über sich ergehen lassen. Eine Kindheit, die nicht nur nach Karamellbonbons und Salmiakpastillen schmeckt.

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Cornelia Ertmer

1. Auflage November 2018

©2018 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-64-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Contents

Litanei

Das Kind im Brunnen

Nach Hause

Sammeltassen

Der Schneider mit der Scher

Pax Christi

Der Klapperstorch

Die Heimsauna

Teilen

Grüne Tante

Helau

Taufe mit Eierlikör

Fleißkärtchen und ­Heiligenbildchen

Lieblingsessen

Mussessen

Brechessen

Statussymbol Essen

Blutwurst

Rita

Der Spielplatz

Die Struwwelliese

Der Klecks

Rotbäckchen mit Lebertran

Knoten

Kaffeeklatsch und Kinder

Veilchenpastillen

Spruchreif

Ein Tag im Mai

Kastanienmännchen

Schweigen

Heidenkinder kaufen

Das hässliche Entlein

Süßigkeiten

Der Sonntagsgroschen

Das Fahrrad

Waschtag

Süße Makronen

Immer wieder sonntags

Kaleidoskop

3-geteilt ? – niemals !

Spruchreif

Der Russlandonkel

Der Rabe

Fingerübungen 1

Fingerübungen 2

Wolkenschaukel

Das Kinderheim

Kaleidoskop

Einladungen

Spruchreif

Ehre sei Gott in der Höhe

Geheimnisse

Über die Autorin

Über den Verlag

Landmarks

Table of Contents

.

Litanei 1

Sei ein liebes Kind.

Hör auf zu quengeln.

Sei ruhig.

Sitz still.

Geh spielen.

Litanei 2

Widersprich nicht.

Renn nicht.

Benimm dich anständig.

Sei brav.

Nimm ein Taschentuch.

Popel nicht in der Nase.

Spuck nicht.

Rotz nicht.

Das gehört sich nicht.

Das macht ein Mädchen nicht.

Räum deine Sachen auf.

Lass das.

Litanei 3

Wasch dir die Hände vor dem Essen.

Iss deinen Teller leer.

Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.

Schmatz nicht.

Halt die Hände auf dem Tisch.

Führ den Löffel zum Mund.

Mit vollem Mund spricht man nicht.

Sitz gerade.

Litanei 4

Pass auf, wo du deine Füße hinsetzt.

Halt den Mund.

Fass das nicht an.

Nimm doch Rücksicht.

Frag nicht.

Litanei 5

Ärger deine Schwester nicht.

Sei nicht eifersüchtig.

Geh in dein Zimmer.

Sei gehorsam.

Schreib dir das hinter die Ohren.

Sei fleißig.

Litanei 6

Sei nicht so baselig.

Sei vorsichtig.

Stell dich nicht so an.

Reiß dich zusammen.

Keine Litanei 7

Steh auf.

Beeil dich.

Putz die Zähne.

Pack die Schultasche.

Vergiss nichts.

Lies nicht so viel.

Mach deine Schulaufgaben.

Mach das Licht aus und schlaf.

Das Kind im Brunnen

Es ist ein Tag im späten Frühling, feucht, nicht kalt, nicht warm, der Himmel bedeckt. Die Mutter hat schon einen ziemlich dicken Bauch. Seit die Mutter einen dicken Bauch hat, ist sie oft müde, schlecht gelaunt. Das Kind soll leise spielen, sagt die Mutter. Sie hat Kopfschmerzen. Das Kind spielt leise, holt die Töpfe aus dem Regal in der Kammer neben der Küche, spielt Topfschlagen. Die Mutter schreit, hör auf, nennst du das leise? Das Kind versteht nicht. Es ist zwei Jahre alt. Es kann schon sprechen, begreift viele Wörter, begreift aber die Mutter nicht. Das Kind weint.

Es hört, wie die Mutter aufsteht. Die Mutter sagt, sie wolle Marie holen, sie komme gleich wieder. Das Kind solle brav sein. Das Kind ist brav und wartet. Es hört, wie die Mutter die Wohnungstür aufmacht, die Treppe hinuntergeht, langsam, mit dem dicken Bauch. Dann klackt die Haustür. Kurze Zeit später hört das Kind die Haustür erneut klacken. Die Mutterschritte kommen die Treppe hoch, leichtere Schritte begleiten sie. Marie! Das Kind freut sich. Marie. Mit ihr darf es nach draußen, in den Garten der Nachbarn, laufen, rennen, springen, hüpfen.

Dann steht Marie in der Tür. Komm, lockt sie, wir gehen nach draußen, spielen. Das Kind schaut die Mutter an. Die Mutter nickt und holt die Jacke von der Garderobe. Die Mutter will dem Kind beim Anziehen der Jacke helfen. Kann schon alleine, wehrt es sich und zieht eine Schnute. Marie lacht, ich habe Zeit, mach du nur. Die Mutter legt sich wieder auf das Sofa.

Marie und das Kind hüpfen Hand in Hand die Treppe hinunter, Marie öffnet die Haustür, das Kind hilft dabei. Oh wie schwer ist die Tür, die Tür nach draußen.

Marie und das Kind überqueren die Straße vor dem Haus. Die Straße ist leer. Keine Menschen, keine Autos. Die Straße endet in den Feldern.

Das Haus, in dem Marie wohnt, ist groß und hat ganz viele Fenster. Manchmal spiegelt sich die Sonne in den Fenstern. Manchmal. Manchmal riecht die Luft komisch. Manchmal ist der Himmel rot, auch am Tag. Jetzt backen die Engel im Himmel Plätzchen, sagt die Mutter dann.

In dem Haus wohnen ganz viele Familien. Der Garten um das Haus herum ist durch einen breiten Schotterweg in zwei Hälften geteilt. Rechts und links sind mit grünen Büschen eingefasste Beete, dazwischen geharkte Wege, man kann noch die Spuren des Drahtbesens erkennen. Tapp, tapp, tapp, setzt das Kind seine kleinen Füße in das Muster und macht die schnurgeraden Rillen kaputt. Ein neues Muster. Tapp, tapp, tapp. Bald ist ein Weg mit vielen kleinen Füßen getrappelt.

Das Kind sieht sich um. Auf den Beeten stehen Rosen, die piken, das weiß es, deshalb nur vorsichtig anfassen. Die Rosen blühen noch nicht. Aber es gibt auch Pflanzen, die ganz unterschiedliche Gerüche ausströmen. Das sind Kräuter, sagt Marie, schnupper mal, wie das duftet.

Die Namen der Kräuter weiß Marie nicht, aber es riecht gut. Das Kind springt zum nächsten Beet. Da sind so schöne Blumen drauf, gelbe und blaue. Wie die Farben leuchten. Das Kind streicht vorsichtig mit den Fingerkuppen über die Blüten. Es hockt sich hin, um die Blumen von Nahem zu betrachten. Ein Käfer krabbelt in einer Blüte herum. Da, ein merkwürdiges Tier, lang und dünn. Es ringelt sich durch die Erde. Das ist ein Regenwurm, sagt Marie. Regenwurm, wiederholt das Kind. Es wird neugierig.

Was macht ein Regenwurm?

Was frisst ein Regenwurm?

Erde?

Das Kind will es nicht glauben. Es fährt mit den Fingern ins Beet und nimmt ein wenig Erde zwischen Daumen und Zeigefinger, steckt die Erde in den Mund. Es fühlt sich ein wenig sandig an, ein wenig wie Brei, und schmeckt merkwürdig, nicht besonders angenehm. Das Kind spuckt.

Na, sagt Marie, du bist doch kein Regenwurm, und wischt dem Kind den Mund mit einem Taschentuch ab. Das Kind spuckt die Erdkrümel hinein und wiederholt mehrfach das neue Wort, Regenwurm, wobei es das u und das m ganz lang zieht: Regenwuuuuuuemmmmmmm. Der Regenwurm kitzelt auf den Lippen und in der Nase. Das macht Spaß. Regenwuuuuuemmmm, Regenwuuuuuemmmm wiederholt das Kind und hüpft fröhlich den Weg entlang.

Komm, fang mich, ruft Marie und rennt von dem Kind weg. Das Kind läuft juchzend hinterher, die Ärmchen ausgestreckt. Doch immer, wenn es glaubt, Marie erwischt zu haben, ist diese wieder ein Stück voraus. Dem Kind wird warm vom Laufen. Dann dreht Marie sich plötzlich um: Wer kommt in meine Arme? Jubelnd stürzt sich das Kind dem Mädchen entgegen, wird aufgefangen, herumgeschleudert. Das macht Spaß.

Marie! Da ruft jemand. Marie sieht sich um und winkt. Am Eingang des Gartens steht ein Mädchen, so groß wie Marie. Warte hier, sagt Marie zu dem Kind, ich komme sofort zurück, und läuft zu dem Mädchen.

Das Kind wartet. Es sieht sich um. Eine niedrige Hecke umgibt den Garten. Im Garten gibt es ganz viele Beete. Zwischen den Beeten sind viele schmale sandige Wege. Einen Sandkasten und Spielgeräte gibt es nicht. Dem Kind wird langweilig. Es läuft hierhin und dorthin über die sandigen Wege.

Am Ende des Gartens steht ein Holzzaun. Neugierig geht das Kind um den Holzzaun herum. Da steht ein großer Behälter voller Gartenabfälle. Das Kind will von oben in den Abfallbehälter schauen. Aber er ist zu hoch. Neben dem Abfallbehälter liegen flache, rechteckige Steine. Das Kind holt sich einen Stein und noch einen Stein und noch einen, setzt alle aufeinander und stellt sich obendrauf. Nun kann es schauen. Was da alles liegt! Kleine Äste, Blätter von Blumen, Küchenabfälle, braun und matschig. Die findet das Kind ein wenig eklig. Nicht anfassen. Das Kind steigt von den Steinen herunter.

Wo ist Marie? Das Kind läuft um den Zaun herum zurück in den Garten. Keine Marie.

Marie, ruft es, Marie, bist du da?

Aber Marie hört nicht. Das Kind will weinen. Aber es weint nicht. Es geht zu den schönen Blumen und dem Regenwurm. Der Regenwurm ist weg. Die Blumen sind noch da.

Blumen müssen immer gegossen werden, erinnert sich das Kind. Schon oft hat es mit der Nachbarin die Blumen gegossen, mit einer Gießkanne. Eine Gießkanne findet das Kind nicht, aber einen kleinen Topf. Das Kind nimmt den Topf und marschiert zur Regentonne. Die Regentonne ist so hoch wie der Abfallbehälter. Das Kind kommt nicht heran. Die Steine liegen noch da.

Das Kind schleppt die Steine zur Regentonne und schichtet sie aufeinander, stellt sich auf die Steine. In den letzten Tagen hat es geregnet, die Regentonne ist aber nicht ganz voll. Das Kind muss sich weit vorbeugen, um den Topf ins Wasser zu tauchen. Es verliert das Gleichgewicht und fällt in die Regentonne. Das Wasser ist kalt. Das Kind hält vor Schreck den Atem an. Dann hört es ein Rauschen und ein Gluckern. Dann nichts mehr.

Viel später liest das Kind in einem Brief, den die Mutter am Abend dieses Tages an ihre ältere Schwester geschrieben hat: Kannst du dir vorstellen, welch einen Schreck ich ausgestanden habe, als es plötzlich an der Wohnungstür klingelte und mir die Nachbarin auf ausgestreckten Armen das tropfnasse, leblose Kind hinhielt? Nun liegt es gebadet und warm eingepackt in seinem Bettchen. Gottlob ist noch einmal alles gut gegangen.

Nach Hause

Da steht er. Der Mann. Der Vati. Er lächelt freundlich. Das Kind lächelt vorsichtig zurück. Der Mann hockt sich hin und breitet die Arme aus. Komm. Das Kind zögert, macht einen kleinen Schritt, bleibt stehen, sieht die Tante an.

Die nickt aufmunternd. Na los, der Vati ist da und will dich wieder mit nach Hause nehmen. Nach Hause zur Mutti und dem neuen Baby. Das hab ich dir doch erzählt. Du hast ein Schwesterchen bekommen.

Das Kind denkt nach. Aber alles ist so weit weg, so lange her. Nach Hause. Nach Hause? Das Kind beginnt zu weinen. Hier bleiben. Es klammert sich an die Küchenschürze der Tante, schaut den Vater an. Aus sicherem Abstand. Es ist schon so lange bei der Tante, dass es sich kaum noch erinnern kann. Außerdem war es lange krank. Es weiß noch, dass die Tante ihm nicht erlaubt hatte, aufzustehen. Immerzu musste es im Bett bleiben.

Der ganze Körper hatte gebrannt und gejuckt, der Kopf tat weh. Manchmal wusste es nicht einmal mehr, wo es war. Und nun steht dieser Mann da vor ihm. Der Vati.

Ob das Kind sich an seine Besuche erinnern kann? Vor zwei Wochen noch war er da. Das Kind überlegt angestrengt. Ja, da hatte jemand an seinem Bettchen gestanden. Das war also der Vati gewesen. Und wo ist die Mutti? Die Mutti, die einen dicken Bauch bekommen hatte und deshalb nicht mehr mit ihm spielen konnte.

Plötzlich erinnert sich das Kind wieder an die Wohnung, an den dunklen Flur, das kleine Zimmer mit der Dachluke, in dem sein Bettchen stand, an das Wohnzimmer mit dem Ofen und den vielen Möbeln, die kaum Platz zum Spielen ließen.

Na komm, sagt die Tante fröhlich. Gib dem Vati mal einen Kuss. Iiih, die Bartstoppeln kitzeln. Das Kind kichert. Der Vater strahlt es an und drückt es an sich.

Na dann pack ich schon mal die Sachen ins Auto, sagt die Tante resolut und greift nach der Tasche mit den Anziehsachen des Kindes.

Das Kind gerät in Panik. Nein, nein, ich will hier bleiben. Vati kann wiederkommen. Nein, hierbleiben. Das Kind schluchzt wieder. Der Vater seufzt.

Kleines, die Mutti und das neue Baby warten doch zu Hause auf dich. Du bist jetzt die Große. Du hast eine kleine Schwester. Wenn du willst, darfst du sie auch einmal auf den Arm nehmen. Und die Mutti hat doch auch Sehnsucht nach ihrer großen Tochter. So lange warst du weg. Wir konnten doch nicht ahnen, dass du nacheinander die Masern und eine Lungenentzündung bekommst. Für das Baby wäre das zu gefährlich gewesen. Aber jetzt bist du ja wieder gesund.

Der Vater redet und redet. Das Kind hört nicht richtig zu. Es möchte bei der Tante bleiben, bei Cousin und Cousine, im großen Garten verstecken spielen, auf der Schaukel schaukeln, im Sandkasten köstliche Sandkuchen backen.

Und die kleine Tante. Sie möchte so gern mit dir wieder alle Tiere im Tierpark besuchen. Und Marie hat auch schon nach dir gefragt. Der Vater spricht immer weiter.

Lasst uns einen Ausflug machen, sagt die Tante mitten in einen Schluchzer des Kindes hinein.

Ein Ausflug. Das Kind ist elektrisiert. Ausflüge liebt das Kind über alles. Egal, ob in die Stadt oder in den Wald, ob zu Fuß oder mit dem Fahrrad oder, zu Hause, mit der Straßenbahn. So viel gibt es immer zu sehen und zu erleben. Oh ja. Ein Ausflug.

Bereitwillig streckt das Kind die Ärmchen in die Ärmel der Jacke, die die Tante ihm hinhält. Der Vater zieht ihm die Schuhe an und knüpft eine Schleife.

An der Hand des Vaters hüpft das Kind fröhlich die Treppe hinunter. Die Tränen sind getrocknet.

Der Vater nestelt den Autoschlüssel aus der Manteltasche, schließt erst die Fahrertür auf, dann die Beifahrertür. Die Tante will dem Kind beim Einsteigen helfen. Kann selber. Dem Kind kann es nicht schnell genug gehen, Sitzlehne nach vorn klappen, reinkrabbeln, Sitzlehne zurückklappen, schön ordentlich hinsetzen.

Die Tante setzt sich neben den Vater auf den Beifahrersitz. Der Vater startet den Motor. Das findet das Kind spannend. Es ist erst einmal Auto gefahren, im Sommer, als die Eltern es zur Tante gebracht haben.

Der Motor brummt, der Vater fährt das Auto rückwärts aus der Einfahrt heraus auf die Straße. Er fährt langsam. Er fährt in die Stadt, durch das Stadttor. Das Kind schaut aus dem Fenster. Dann bremst der Vater, hält am Straßenrand vor einem Geschäft.

Ich muss nur kurz noch etwas besorgen, sagt die Tante, springt aus dem Wagen, schlägt die Beifahrertür zu. Der Vater gibt Gas.

Das Kind schreit, rüttelt an der Sitzlehne des Beifahrersitzes. Die Tante ist weg.

Das Kind heult Rotz und Wasser. Der Vater fährt und fährt. Irgendwann schläft das Kind ein, erschöpft vom Schreien, erschöpft vom Kummer.

Als der Vater den Motor ausstellt, wacht es auf. Wir sind zu Hause, sagt der Vater betont munter. Das Kind krabbelt aus dem Auto. Es fühlt sich schwach, will nicht laufen. Der Vater trägt das Kind die drei Treppen hoch zur Dachwohnung.

Zu Hause. Das ist die Dachwohnung mit dem neuen Baby, das die Mutter im Arm hält, als der Vater die Wohnungstür aufschließt. Das Kind dreht sich weg und umklammert den Hals des Vaters. Die Mutter hat ja jetzt das Baby.

Zu Hause. Das ist das große Bett, in dem das Kind von nun an schlafen muss. Das große Bett steht in der Abseite, einem schmalen Raum ohne Fenster, in dem gerade Platz genug ist für ein Bett. In dem Gitterbett, in dem das Kind vorher geschlafen hat, schläft das neue Baby.

Sammeltassen

Die kleine Tante kommt oft, fast täglich. Mit der kleinen Tante darf das Kind hinaus in die Felder, im Sommer Klatschmohn und Kornblumen pflücken, im Winter Engel in den Schnee malen.

Die kleine Tante heißt kleine Tante, weil sie ganz klein ist, viel kleiner als die Mutter und der Vater. Und die sind auch nicht so groß. Jedenfalls ist die Oma größer.

Die Tante ist klein und hat ganz krumme Beine. Von der vielen schweren Arbeit auf dem Bauernhof, sagt der Vater.

Die Tante ist nicht verheiratet und hat, als sie noch arbeiten konnte, als Magd gearbeitet. Sie musste das Vieh füttern und bei der Ernte helfen. Nun ist die Tante alt und arbeitet nicht mehr. Sie kommt nur noch zu Besuch.

Die Tante wohnt mitten in der großen Stadt in einer kleinen Wohnung unter dem Dach. Die Wohnung hat eine Wohnküche, dahinter ein kleines Schlafzimmer, ein winziges Wohnzimmer und sogar ein Bad mit einer richtigen Badewanne und einer Toilette.

Das ist Luxus, sagt die Tante immer und lächelt dabei.

Fast ihr ganzes Leben lang hat sie auf dem Bauernhof auf ein Plumpsklo hinter dem Stall gehen müssen. Wenigstens war es da nicht so kalt, weil die Tiere Wärme abgaben, hat sie dem Kind erklärt. Jetzt muss sie nur noch durch die Wohnküche und über den Flur laufen. Sogar im Winter kann sie nur in Schlappen und Nachthemd auf die Toilette.

Das Wohnzimmer der Tante ist ein besonderer Raum. Der wird nie benutzt, außer wenn die Mutter und das Kind zu Besuch kommen. Dann setzen sich die kleine Tante und die Mutter in die Plüschsessel, die um den kleinen runden Tisch mit dem Korbgeflecht und der Glasplatte stehen, und die Tante holt aus der Anrichte, die gerade so unter die Schräge passt, eine Flasche Eierlikör. Das Kind darf aus der Anrichte vorsichtig zwei kleine Kelchgläser nehmen und auf den Couchtisch stellen.

Dem Kind ist bei der Tante nie langweilig. Während Tante und Mutter an ihrem Eierlikör nippen, erkundet das Kind die Wohnung. So vieles ist anders als zu Hause. Zu Hause in der Küche steht kein Sofa zum Ausruhen. Zu Hause steht das Sofa im Wohnzimmer. In das Schlafzimmer der Tante passen nur ein schmales Bett und ein Kleiderschrank. Einen Nachttisch wie bei den Eltern oder einen großen Spiegel, in dem man sich ganz sehen kann, gibt es nicht.

Die Tante ist arm, sagen die Eltern. Arm sein bedeutet, wenig zu haben. Aber warum ist die Tante arm? Das Kind kann es nicht glauben. Denn die Tante verwahrt etwas Besonderes in ihrer Anrichte, die das Kind bei jedem Besuch neu bestaunt.

Durch das mit Messingfäden gegitterte Glas des Möbels kann das Kind die Kostbarkeiten der Tante sehen. Der Schrank steht voller Tassen. Jede Tasse hat ein anderes Muster, eine andere Form. Mal ist der Henkel geschwungen und golden bemalt, mal ist er einfach und weiß. Einige Tassen haben Blümchenmuster in den unterschiedlichsten Farben, manche Tassen haben einen breiten vergoldeten Rand. Das Kind kann sich nicht satt daran sehen.

Die Mutter hat ihm eingeschärft, dass es die Tassen auf keinen Fall aus der Anrichte nehmen dürfe. Das seien Sammeltassen, Tassen, die die Tante zu verschiedensten Gelegenheiten geschenkt bekommen hatte. Ihr Leben lang hat die Tante diese Tassen gesammelt. Sie sind ihr ganzer Stolz.

Zu jeder Tasse kann die Tante eine Geschichte erzählen. Jede Tasse hat ihre eigene Geschichte. Die Tassen sind gesammelte Geschichten.

Wer so viele Tassen mit so vielen Geschichten gesammelt hat, kann unmöglich arm sein. Das Kind versteht die Erwachsenen nicht.

Der Schneider mit der Scher

Der Daumenlutscher

Konrad!, sprach die Frau Mama,

Ich geh aus und du bleibst da.

Sei hübsch ordentlich und fromm,

Bis nach Haus ich wiederkomm.

Und vor allem, Konrad, hör,

Lutsche nicht am Daumen mehr.

Denn der Schneider mit der Scher,

Kommt sonst ganz geschwind daher.

Und die Daumen schneidet er

Ab, als ob Papier es wär.

„Der Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann

Das Kind kennt die Geschichte von dem Daumen lutschenden Konrad auswendig. Wie oft haben die Mutter und die kleine Tante sie ihm schon erzählt, mit erhobenem Zeigefinger.

Das Kind betrachtet immer wieder die Bilder zu der Geschichte, das schmerzverzerrte Gesicht Konrads, die weit vom Körper abgestreckten Hände, von denen das Blut tropft, da, wo vorher die Daumen gesessen haben. Das Kind gruselt sich, lutscht dabei hingebungsvoll und selbstvergessen am Daumen. Wie groß die Schere ist, wie böse und heimtückisch der Schneider den armen Konrad ansieht.

Alles haben Mutter und Tante versucht, dem Kind das Daumenlutschen abzugewöhnen. Aber nichts hilft. Nicht gutes Zureden, nicht Versprechungen von Zoobesuchen, nicht mit Senf beschmierte Pflaster auf den Daumen. Nichts. Das Kind lutscht weiterhin am Daumen, morgens, wenn es noch müde ist, abends vor dem Einschlafen, und tagsüber, weil es ein angenehmes und kuscheliges Gefühl macht.

Das Kind lutscht am Daumen, wenn es träumt und wenn es Trost braucht, wenn die Mutter geschimpft hat, weil es wieder mal den Teller nicht leer gegessen hat, weil es nicht still sitzen konnte, weil es nicht gehorcht hat, weil … ach …

Andere Kinder lutschen auch am Daumen, das hat das Kind genau gesehen. Du bist schon groß, versucht es die Mutter mit Schmeichelei, und nur Babys machen das, ergänzt die kleine Tante. Und du willst doch kein Baby mehr sein, oder?

Nein, ein Baby will das Kind nicht mehr sein. Kein Baby wie die kleine Schwester, die den ganzen Tag im Körbchen liegt und schläft oder gewickelt wird, wenn sie in die Windeln gemacht hat.

Nein, ein Baby will das Kind nicht mehr sein. Aber es braucht den Daumen, ganz besonders, wenn es schon groß und vernünftig und artig sein soll.

Manchmal gehen die Eltern aus, in die Stadt, zu Freunden. Dann bringen sie die Kinder zu den Nachbarn, die in der Wohnung eine Etage tiefer wohnen. Die Nachbarn sind schon älter und ihre Kinder erwachsen. Die Nachbarn sind nette Leute. Das Kind besucht sie ab und zu gerne. Es hüpft dann die Treppe hinunter, hält sich dabei nur locker am Geländer fest. Die letzten beiden Stufen nimmt es immer auf einmal, aber nur, wenn die Mutter es nicht sieht.

Die Nachbarn haben eine gemütliche Küche, in der das Kind auf einem Erwachsenenstuhl sitzen darf, mit zwei Kissen, damit es über die Tischkante sehen kann. Die Frau hat immer etwas Leckeres. Mal ein Bonbon, mal ein Stückchen Schokolade. Die Frau ist den ganzen Tag zu Hause und freut sich, wenn das Kind zu Besuch kommt.