Wenn die Faust des Universums zuschlägt - Dr. med. Johannes Wimmer - E-Book + Hörbuch

Wenn die Faust des Universums zuschlägt Hörbuch

Dr. med. Johannes Wimmer

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Beschreibung

Sympathisch, kompetent, menschlich nah und humorvoll – so kennt man Dr. Johannes Wimmer aus Internet und TV. Ein schwerer Schicksalsschlag stellt das Leben des beliebten TV-Mediziners von einem Moment auf den anderen auf den Kopf. Nur wenige Monate nach der Geburt erkrankt seine kleine Tochter schwer. Die Familie verliert den Kampf um das Leben des Kindes. Hautnah und sehr persönlich teilt Dr. Wimmer nun, wie er und seine Familie es schaffen, sich von der Faust des Universums nicht erdrücken zu lassen, auch wenn ihnen im Schmerz manchmal die Luft zum Atmen fehlt. Wie ein Roman trifft dieses Buch mitten ins Herz und ist doch eine wahre Geschichte: zutiefst ergreifend und ein starkes Zeichen der Zuversicht.

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Zeit:4 Std. 35 min

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Impressum

© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Dieses Buch entstand unter Mitarbeit von Stephanie Ehrenschwendner.

Projektleitung: Christof Klocker

Bildredaktion: Nele Schneidewind

Covergestaltung: Sabine Krohberger, ki36, München

eBook-Herstellung: Christina Bodner

ISBN 978-3-8338-8111-4

1. Auflage 2021

Bildnachweis

Coverabbildung: Robert Grischek, Hamburg

Syndication: www.seasons.agency

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Für Maxi und Clara

»Alter! Echt jetzt?!«, tobt eine Stimme in meinem Kopf. Sie beschwert sich beim Universum, beim Schicksal oder wer auch immer die Sterne so ungünstig ausgerichtet hat, dass ich jetzt hier vor dem Fahrradständer stehe, und das Fahrrad ist weg. Was willst du mir damit sagen? Dass ich schon die ganzen letzten Runden nicht mehr der Chef im Ring bin, habe ich ja kapiert. Aber das mit dem Fahrrad ist einfach nur link. Soll ich jetzt etwa bei der Hitze zu Fuß einen Kilometer bis zum Auto laufen? Das geht doch alles von meiner Zeit ab. Außerdem brauche ich meine Kraft doch für Maxi. Ich verstumme innerlich und lausche. Da muss doch jetzt eine Antwort kommen. Eine Stimme aus dem Off. Aber nichts. Stille.

Normalerweise würde mich das geklaute Fahrrad aufregen. Aber für Wut habe ich gar keine Kraft mehr. Ich laufe eh schon auf dem Zahnfleisch. Ein komisches Bild, denke ich und muss fast schmunzeln. Wer auf dem Zahnfleisch läuft, hat zumindest keine Schmerzen von einem Loch im Zahn. Diese eine Runde geht an dich, liebes Universum, beende ich den Dialog mit meinem unsichtbaren Gegner. Dann drehe ich mich um und mache mich auf den Weg zum Auto. Vielleicht steht das zumindest noch da, wo ich es zuletzt geparkt habe.

Ein Wochenende in ParisJuli 2019

Von draußen fällt das warme, bernsteinfarbene Sommerlicht durch die offenen alten Holzfenster, die vom Boden bis zur Decke des Hotelzimmers ragen. Ein leichter Wind wölbt die Gardinen sanft in den Raum hinein vor. Von dem zwischen den Pariser Häuserzeilen versteckten Platz, der unterhalb unseres Zimmers liegt, sind ab und zu Stimmen vorbeiflanierender Paare zu hören, die sich leise unterhalten. Ein paar Minuten zuvor haben Clara und ich noch dort unten gestanden und die bunte Fassade der kleinen Oper bestaunt, die neben unserem Hotel liegt. Ein Pärchen fragte uns, ob wir ein Foto von ihnen machen könnten. Es ist ein Bilderbuchabend in Paris.

Nun sitzen wir an dem winzigen runden Tisch in unserem Hotelzimmer und sind unschlüssig, ob wir die Lampen am Bett und auf dem antiken Sekretär anmachen sollen, da dann das für Frankreich so typische Licht von draußen verschwinden würde. Dieses besondere Straßenlicht, an dem man immer erkennt, dass man in einem anderen Land ist, sei es bei einer nächtlichen Autofahrt, im Nachtzug oder eben im Hotel, wo es sich in den Gardinen, mit denen der Wind spielt, abzeichnet.

Clara ist im vierten Monat schwanger und wir sind nach Paris gekommen, um noch einmal innezuhalten, bevor das Abenteuer Familie ins nächste Kapitel geht. So ein Tag ohne Verabredungen und Termine ist für mich der größte Luxus. Nichts machen, bloß treiben lassen.

Einfach nur genießen fällt mir allerdings nicht besonders leicht. Ich denke dann oft, das stünde mir nicht zu. Clara dagegen ist ein tiefenentspannter Mensch. Das liebe ich an ihr, sie nimmt das Leben, wie es ist, und macht immer das Beste daraus. Selbst wenn ich denke, dass es doch schon das Beste ist, macht sie es noch ein bisschen mehr besonders. Das ist ihre große Stärke. Genuss wird bei ihr großgeschrieben.

Das Erstaunlichste aber ist, dass ich ein unerschütterliches Vertrauen zu ihr habe. Ihr scheint es genauso zu gehen. Irgendwie sind wir, egal was passiert, füreinander da. In unserer Beziehung läuft alles rund. Es fühlt sich an wie beim Flippern, wenn ich als Teenager die Kugel hinter der Glasscheibe im Automaten immer wieder hochschoss, sie perfekt übers Spielfeld rollte und klingelnd ihre Punkte machte. Wäre ich nicht schon mit dieser Frau zusammen, ich würde alles tun, um sie für mich zu gewinnen.

Wir haben also beschlossen, uns während des Wochenendes in Paris einfach nur treiben zu lassen. Morgens kauften wir uns ein paar englischsprachige Zeitungen an einem kleinen Kiosk neben dem Louvre, in dem ein älterer Mann mit einer unvergleichlichen Ruhe saß, während in dem kleinen Radio neben ihm Jazz spielte. Danach gingen wir zu einem kleinen Bistro, das Clara von ihren früheren Parisaufenthalten kennt, um dort in aller Ruhe zu frühstücken. Wir setzten uns an einen der vielen kleinen Tische, die sich auf dem Bürgersteig reihen, blätterten ein wenig in den Zeitungen und schauten den Passanten und dem Treiben auf der Straße zu. Wie sehr ich diese Momente mit Clara genieße, ohne Worte können wir die Welt auf uns wirken lassen. Meine Gedanken fangen an, freier zu werden und sich von all den Dingen, die mir sonst im Alltag auch mal Kopfzerbrechen bescheren, zu lösen.

»Wie die kleine Maus wohl aussehen wird?«, sagte Clara.

Ich blickte zu ihr rüber. Auf ihrem Teller waren nur noch ein paar Krümel von dem köstlichen Croissant übrig. In der einen Hand hielt sie ihre große Schale Café au Lait, die andere lag ruhig auf ihrem noch kaum sichtbaren Babybauch. Die Vorfreude auf unseren Nachwuchs strahlte mir aus ihrem Gesicht entgegen. Ein entzückender Anblick. Ich bin genauso euphorisch wie Clara, ein Kind zu bekommen. Aber eben auch ein skeptischer Mediziner, der sich ungern zu früh freut. Am liebsten würde ich erst im 8. Monat Familie und Freunden von der Schwangerschaft erzählen, während Clara sich kaum bändigen kann, die gute Nachricht nicht zu früh zu teilen.

»Hoffentlich kommt sie nach der Mutter …«, antwortete ich. »Aber bevor es so weit ist, habe ich noch eine Überraschung für dich.«

Ich hatte mir vorgenommen, die Reise nach Paris mit der Suche nach einem Verlobungsring zu verbinden. Zu Hause in Hamburg war das nicht möglich. Clara und ich finden zwar immer schöne Momente zusammen, aber meist erst abends. Außerdem wollte ich einen entsprechend schönen Rahmen schaffen, den wir genießen konnten, räumlich und zeitlich.

»Du hast ja immer genaue Vorstellungen davon, was dir gefällt und was nicht. Und bei einer Sache will ich nun wirklich nicht danebenliegen. Jetzt sind wir in der Stadt der Liebe«, ich betonte Liebe etwas übertrieben albern, »das ist doch der perfekte Ort, um nach einem Verlobungsring Ausschau zu halten.«

Clara griff nach meiner Hand, drückte sie fest und nickte.

Wir winkten dem Kellner, um zu zahlen. Dann machten wir uns mit leichten Schritten in Richtung Geschäftsstraßen auf. Die Schaufenster in den wunderschönen Altbauten und Arkaden erschlugen uns fast mit all den prunkvollen Schmuckstücken. Wir gingen in einige Juwelierläden, duckten uns vorbei an breit gebauten Türstehern, von denen ich den Eindruck hatte, dass sie uns fast ein wenig widerwillig in die Geschäfte ließen, und wurden von eleganten, wohlduftenden Verkäuferinnen beraten. Doch so richtig fündig wurden wir nicht.

Claras Kommentar war entweder »Der ist doch viel zu teuer!« oder »Ich glaube, das bin ich nicht!«. Nach einer Weile hielten wir auf dem Gehweg zwischen Luxusboutiquen und Hotels an und überlegten, was wir jetzt machen wollten, als ich eher beiläufig in das Schaufenster schaute, vor dem wir stehen geblieben waren. Es gehörte zu einem der ältesten Juweliere Frankreichs und irgendwie machte sich in mir ein Gefühl breit, dass wir richtig waren.

Wir klingelten und wurden durch die alte Holztür mit eingefasstem Kristallglas eingelassen.

»Die sind alle wunderschön, ich kann gar nicht sagen, welcher mir am besten gefällt«, sagte Clara, nachdem uns die Verkäuferin eine Auswahl an Ringen gezeigt hatte. »Ich weiß nicht, vielleicht habe ich für heute genug Ringe angeschaut.«

»Wir müssen heute ja keinen kaufen«, sagte ich. Denn insgeheim formte sich in mir ein Plan. Ich wusste, mit welchem Ring ich Clara überraschen konnte, und würde noch einmal allein wiederkommen, um ihn zu kaufen.

In wohligem einvernehmlichem Schweigen verließen wir den Laden und schlenderten weiter durch Paris. Am Nachmittag kauften wir uns in den Galeries Lafayette alles, was wir für ein nächtliches Picknick im Hotelzimmer brauchten. Das ist uns lieber, als schick essen zu gehen. Allerdings mussten wir uns ein wenig bremsen, da es in Hotelzimmern ja typischerweise nur einen kleinen Kühlschrank gibt. Als wir zurückkamen, räumten wir die Fläschchen der Minibar in den Kleiderschrank und füllten »unseren Kühlschrank« mit Wein, französischem Käse, Aufschnitt, Butter und kleinen Gürkchen auf.

Jetzt erstrecken sich alle Köstlichkeiten auf dem Tisch in unserem Hotelzimmer: ein Glas Wein für mich und Wasser für Clara, Käse und Schinken verschiedenster Art auf dem Wachspapier, in das sie eingepackt gewesen waren, daneben das bereits angebrochene Baguette. Das Gurkengläschen findet kaum noch Platz auf der kleinen gedeckten Tafel.

Der Anblick des Käses bringt uns beide zum Schmunzeln, da er erst nach einer längeren Diskussion an der Theke in unseren Einkaufskorb fand. Scheinbar sehen die Franzosen es mit dem Rohmilchkäse in der Schwangerschaft weniger eng als wir Deutschen. Da ich nun mal gar kein Französisch spreche, versuchte Clara der Verkäuferin klarzumachen, dass es für uns schon wichtig wäre, ob der Käse nun pasteurisiert sei oder nicht. Die Dame lächelte uns an, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie beim besten Willen nicht verstand, was wir von ihr wollten. Erst als eine jüngere Kollegin zu Hilfe kam und ihr unser Anliegen erklärte, verstand sie und lachte auf. Dann verdrehte sie charmant die Augen, machte mit der Hand eine wegwischende Bewegung und übergab an die jüngere Kollegin. Diese sagte uns auf Englisch: »Na ja, die älteren Franzosen halten davon nicht so viel, da wurde in der Schwangerschaft zum Mittagessen auch mal ein Glas Wein getrunken.«

Dass es ohne Französischkenntnisse mit der Kommunikation selbst in einer weltgewandten Stadt wie Paris nicht so ganz leicht werden würde, hatte ich schon direkt bei unserer Ankunft im Hotel feststellen dürfen. Da Clara eine ausgesprochene Liebe zu Blumen, aber auch einen ausgewählten Geschmack hat, wollte ich sie mit einem Strauß überraschen. Ich mailte und telefonierte mit dem Hotel hin und her. Das war aber gar nicht so leicht, denn meine floristischen Kenntnisse sind etwa ähnlich gut wie mein Französisch. Nachdem der Ideenaustausch mit dem Concierge nirgendwo hingeführt hatte, schrieb ich »alles außer Rosen« in meine letzte Mail. Clara ist kein besonderer Fan von Rosen und ich bin nicht der Typ, der so ein Wochenende in der Stadt der Liebe mit den Blumen der Liebe überkitscht. »Magnifique« lautete die prompte Antwort des Concierge, man werde sich darum kümmern.

Als wir bei der Ankunft unser Zimmer betraten, leuchtete uns ein großer, wundervoller Strauß aus – ich musste zwei Mal hinsehen – Rosen entgegen. Clara reagierte mit ihrem herzergreifenden Lachen, während mir ein wenig die Luft wegblieb, so wie früher, wenn ich als Schüler bei etwas erwischt worden war, das ich nicht hätte machen dürfen.

»Ich habe gesagt, KEINE Rosen«, war das Einzige, was ich in dem Moment rausbrachte.

Zum Glück waren es sehr schöne wilde Rosen, nicht rot, sondern weiß und pink. Entweder mag Clara Rosen mittlerweile doch ein wenig oder sie genießt das Bouquet zumindest in Paris. Der Strauß wandert, so wie sie das bei uns zu Hause auch macht, stets mit ihr mit. Vom Sekretär zum Nachttisch, ins Bad und wieder zurück. Jetzt hat er sogar noch Platz auf dem kleinen Picknicktisch gefunden.

»Meinst du, so aus strenger ärztlicher Sicht, dass mir die kleine Maus das eine Mal Rohmilchkäse und Foie Gras verzeihen wird?«

Clara ist die Leidenschaft für kulinarische Köstlichkeiten in die Wiege gelegt worden. Deshalb ringt sie, seit wir wissen, dass sie schwanger ist, immer wieder mal mit sich, auf alles, was ihr so gut schmeckt, verzichten zu müssen.

Ich strecke die Arme in die Luft und gebe mich geschlagen.

»Übrigens bin ich von Johnny Junior nicht so begeistert«, wirft Clara auf einmal ein, während sie sich ein Stück vom Baguette abbricht. Anscheinend will sie die Gunst der Stunde nutzen. Bevor wir losgeflogen waren, hatten wir nämlich überlegt, welchen Namen wir dem Kind geben würden. Jeder listete fünf Mädchen- und fünf Jungennamen auf. Wir verteilten Punkte und machten ein Ranking. Falls das Kind ein Mädchen werden würde, sollte es Maximilia oder kurz Maxi heißen. Darin waren wir uns schnell einig.

»Wir können ja noch über Johnny Junior verhandeln«, antworte ich und schiebe ihr grinsend den Rohmilchkäse rüber.

Solotrip13. August 2019, tagsüber

Wieder in Paris. Ich sitze frühmorgens in der Metro neben Pendlern mit müden Augen. In meiner Sakkotasche ein kleiner Zettel mit einem Zeitplan. Denn ich habe nur bis abends Zeit, um den Verlobungsring zu besorgen und die besonders schönen Orte, an denen ich wenige Wochen zuvor mit Clara war, noch einmal aufzusuchen. So wie morgens oft das Parfüm von Clara noch in der Wohnung zu erahnen ist, auch wenn sie schon längst das Haus verlassen hat, spüre ich ihre Nähe, obwohl sie gar nicht mit dabei ist.

Mein Weg führt mich vorbei an dem kleinen Kiosk, wo der ältere Mann wieder Jazzmusik hört. Ich kaufe eine Zeitung und gehe zu unserem Bistro. Die Morgenluft ist noch kühl. Während ich an »unserem« Platz meine Zeitung aufschlage und den ersten Schluck des köstlichen Kaffees nehme, wandert die Sonne auch schon über die Häuserzargen zu den Tischen auf dem Gehweg.

Mit einem Blick auf die Uhr versichere ich mich, dass ich gut in der Zeit liege. Der Termin beim Juwelier ist für 10 Uhr ausgemacht. In Gedanken bin ich den Weg vom Bistro zu dem Laden so oft abgegangen, dass ich genau weiß, wann es Zeit zu zahlen ist.

Beim Juwelier erwartet man mich bereits. Die Verkäuferin überreicht mir den Ring, den ich ausgesucht habe, Gold mit einem großen Diamanten und vielen kleinen Steinen besetzt, in einer Box, eingepackt in Büttenpapier und mit einer Seidenschleife umschlungen. Eine große Papiertüte mit der Aufschrift des Juweliers steht auch schon bereit. Vielleicht trägt man in Paris ein solches Schmuckstück auf diese Weise nach Hause, die Vorfreude auf den Moment mit der Liebsten unverkennbar für alle Passanten. Ich frage jedoch nach einem kleinen Stoffbeutel, in dem ich den Ring sicher in der Innentasche meines Sakkos verschwinden lassen kann. Denn ich habe noch einen weiten Weg vor mir, wenn ich alles schaffen will, was ich mir für heute vorgenommen habe.

Kurz darauf verlasse ich das Geschäft, sause die letzten Stufen der nahe gelegenen Metrostation hinunter, um die Bahn gerade noch zu erwischen, bevor sich die Türen schließen. Online habe ich ein Ticket für eines der vielen wundervollen Museen der Stadt gebucht, um mir eine neue Ausstellung anzusehen. Danach statte ich der Notre-Dame einen Besuch ab, die vor gar nicht langer Zeit so sehr von dem wütenden Feuer in Mitleidenschaft genommen wurde. Mittags mache ich in einem kleinen Restaurant halt, das ganz versteckt in einem alten Innenhof liegt. Die kleinen Tische sind, wie kann es anders sein, um einen knorrigen Olivenbaum gruppiert. Aber anders als im Bistro versinkt man hier regelrecht in den Kissen der Sessel und Bänke. Ich bestelle mir etwas, das ich bei unserem gemeinsamen Besuch nicht geschafft hatte zu essen, und sauge die Gesprächskulisse der französischen Stimmen um mich herum auf.

Immer wieder mal schaue ich neben mich und sehe Clara vor mir, ihren wachen Blick, die funkelnden Augen und ihr Lächeln, als ich ihr vorschlug, einen Verlobungsring auszusuchen. Es ist schön, den Tag mit ihr zu genießen, auch wenn sie gar nicht live dabei ist. Ich war nicht so, bis ich Clara kennenlernte. Früher konnte ich Ruhe und Entspannung nur schwer aushalten. Vielleicht bin ich ja so gern ein Entertainer, weil ich schon als Kind gelernt habe, damit die stillen Momente zu überspielen, aus Angst davor, dass unangenehme oder traurige Themen hochkommen. Diese innere Verpflichtung, die Stimmung kontrollieren zu müssen, ist ziemlich anstrengend und kostet viel Energie. Seit Clara an meiner Seite ist, bin ich viel entspannter. Sie ist für mich wie eine Art Neuanfang. So einen spontanen Solotrip hätte ich früher nie gemacht. Auch wenn ich oft spürte, dass ich etwas in meinem Leben verändern wollte, gelingt es mir erst mit Clara, mich neu kennenzulernen und der echte Johannes zu sein.

Wie es ihr wohl gerade geht? Vermutlich gut, denn sie ist überglücklich, ein Kind zu bekommen, das auch mein Kind sein wird. Ich habe bereits zwei wunderbare Töchter aus erster Ehe. Damals war ich allerdings gerade mal Ende zwanzig und setzte mich unter großen Druck, um ein schönes Familienleben zu bauen. Jetzt mit Ende dreißig noch einmal Vater zu werden, ist wie das Sahnehäubchen auf einem köstlichen Erdbeerkuchen. Denn dieses Kind wird bereits in ein sicheres Familienleben geboren. Die Vorfreude fühlt sich leichter an, ich kann das alles mehr genießen. Das Geschenk, das mir das Leben gerade macht, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit.

Ein Morgen im März1988

Neun Wochen vor meinem fünften Geburtstag. Die Butter leuchtet durch die Marmelade auf meinem goldbraunen Brötchen, das mir meine Mutter gerade geschmiert hat. Ich kann das Gemisch aus dem Brot, der süßen Kirschmarmelade und der cremigen Butter schon auf der Zunge schmecken, als es einen Rumms macht und meine Mutter blitzartig vom Tisch aufspringt. Ohne uns anzusehen, rennt sie aus der Küche. Ich höre nur noch, wie sie die Treppe nach oben stürmt. Meine Geschwister und ich schauen uns verdutzt an. Noch bevor einer von uns fragen kann »Was stimmt denn nicht?«, hören wir unsere Mutter den Namen unseres Vaters schreien: »Wolfgang! Wolfgang!«

Wie versteinert bleiben wir am Tisch sitzen. Nach einer Weile stehe ich auf, gehe vorsichtig ein paar Schritte aus der Küche in den Flur. Dann setze ich leise einen Fuß vor den anderen und schleiche Stufe für Stufe nach oben in den ersten Stock. Ich höre meine Mutter, kann aber nicht verstehen, was sie sagt. Ich weiß auch nicht, woher ihre Stimme kommt, sie wirkt irgendwie so weit weg. So hat sie auch noch nie geklungen. Es muss etwas Schreckliches passiert sein. Mein Herz pocht bis zum Hals. Mit jeder Stufe nähere ich mich ihrer Stimme. Noch ein paar Schritte. Aus der Stimme ist ein Schluchzen geworden. Ich knote meinen Kinderbademantel, den ich über dem Schlafanzug trage, fest zu, als wäre er eine Ritterrüstung, die mich vor etwas Furchtbarem beschützen muss. Trotzdem möchte ich zu meiner Mutter und zu meinem Vater. Wieso höre ich Papa eigentlich nicht? Mama scheint im Elternbadezimmer zu sein. Gleich bin ich da, noch ein Treppenabsatz. Es fühlt sich an, als würden meine Füße im Fußboden versinken. Nur noch ein letzter Schritt. Wie ein Taucher, der ein paar Minuten unter Wasser bleiben will, hole ich tief Luft, bevor ich um die Ecke ins Badezimmer luge.

Meine Mutter kniet auf dem Boden und beugt sich über meinen Vater, der bäuchlings auf den Fliesen liegt. Er hat nichts an, liegt einfach da und bewegt sich nicht. Kein bisschen. Mama hat ihm ein Handtuch unter den Kopf gelegt, den sie mit beiden Händen festhält. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, es ist von mir weggedreht. Meine Mutter bemerkt mich nicht. Ich gebe keinen Laut von mir. Auf einmal sehe ich das Blut, eine unglaubliche Menge Blut. Es sieht aus, als würde Papa in einem Meer aus Blut liegen. Ich drehe mich um, stürze zur Balkontür und drücke mein Gesicht gegen die Scheibe, die Hände am Kopf, so als würde ich rausschauen wollen. Vor dem weißen Märzhimmel zeichnen sich die kahlen Äste der großen uralten Buche ab, die im Garten unserer Nachbarn steht.

»Das ist nicht passiert. Das ist nicht passiert«, flehe ich immer und immer wieder durch die Scheibe. Ich möchte irgendwas für meine Eltern tun. Irgendwas. Aber ich spüre, dass ich nichts tun kann. Nichts. Eine gewaltige unsichtbare Hand hält mich umschlossen und drückt immer fester zu. Ohne Unterlass, ohne Erbarmen. Jedes Mal, wenn ich ausatme, wird der Raum, den ich habe, um wieder einzuatmen, enger.

Meine Mutter hat mich immer noch nicht bemerkt. Wenn sie mich jetzt sieht, macht das alles bestimmt nur noch schlimmer. Also schnell weg. Genauso lautlos, wie ich gekommen bin, gehe ich die Treppe wieder runter. Mit völlig trockenem Mund schlucke ich die bittere Erkenntnis, dass ich völlig hilflos bin.

Ohne Handbremse13. August 2019, abends

Auf dem Weg zurück zum Flughafen rauscht die anbrechende Pariser Nacht vor dem Fenster der Metro an mir vorbei. Um mich herum erneut all die Pendler, die entweder wieder oder immer noch müde Augen haben. Während viele von ihnen einen Tag der Routine hinter sich gebracht haben, hocke ich auf dem harten Sitzplatz der U-Bahn, erfüllt von schönen Erinnerungen, neuen Eindrücken und der Vorfreude, dass ich Clara bald den Ring überreichen und sie fragen darf, ob sie meine Frau werden will.

In der Abfertigungshalle begegne ich zufällig dem Vater eines Schulfreundes. Als Junge habe ich immer zu diesem klugen und erfolgreichen Mann aufgeblickt. Wenn ich ihm damals von meinen Ängsten und Sorgen erzählte, sagte er oft ermutigend: »Ach, du bist doch noch so jung.« Auch später als Erwachsener hörte ich immer wieder von Menschen, ich sei doch noch so jung für das, was ich erreicht habe. Aber was soll das eigentlich heißen?

Ein Dialog aus einer Episode der Serie »The Young Pope«, der junge Papst, kommt mir in den Sinn. Jude Law spielt darin den ungewöhnlichen und sehr jungen Papst Pius XIII. Im Zwiegespräch sagt ein alter Kardinal zu ihm: »Ihr überrascht mich, Heiliger Vater. Ihr seid so jung und habt dennoch so alte Ideen.«

»Sie täuschen sich«, antwortet der junge Papst. »Ich bin ein Waise und wir Waisen sind niemals jung.«

In diesen Worten fand ich mich wieder. Denn meine Kindheit war an jenem Morgen im März 1988, als mein Vater unter der Dusche für einen Moment bewusstlos wurde und umfiel, mit dem Kopf an einer Kante aufschlug und auf dem Badezimmerboden in den Armen seiner Frau verblutete, von einem Moment auf den anderen vorbei. Mitten im Spiel wurde der Stecker gezogen.

Unter der Last der Verantwortung, die ich nach dem Tod meines Vaters für meine Familie tragen wollte, fühlte sich nichts mehr leicht und unbeschwert an, sondern eher so, als würde ich mit angezogener Handbremse durchs Leben fahren. Als Jugendlicher ging ich nur einmal pro Woche aus und blieb an den Abenden, an denen meine Geschwister unterwegs waren, zu Hause, damit meine Mutter nicht allzu oft allein zurückblieb.

Das Flugzeug, das mich nach Hamburg zurückbringt, kommt mir vor wie ein Raumschiff, das mich von einer alten in eine neue Welt befördert. Noch einmal spule ich die Zeit mit Clara zurück. Mit ihr habe ich es geschafft, diese Handbremse endlich zu lösen und meine kindliche Leichtigkeit wiederzuentdecken. Und dieser Moment im Flieger nach einem Tag allein in Paris ist wie eine Startrampe für alles, was noch vor uns liegt.

Bei diesem Gedanken regt sich für einen Sekundenhauch ein winziger Widerstand. Das Glück kann ja auch kaputtgehen. Und wenn man sich voll und ganz auf einen anderen Menschen einlässt, ist die Fallhöhe eben auch größer.

»Noch 30 Minuten bis zur Landung«, sagt der Kapitän durch. Ich schiebe den dunklen Gedanken beiseite, atme tief aus und fasse an mein Sakko, wo sich in der Innentasche der Verlobungsring befindet. Zufrieden lehne ich mich im Sessel zurück und schließe die Augen.

Tokolosh2004

Es ist dunkel, kalt und seit Tagen regnet es. In der Luft liegt ein Geruch aus angebranntem Essen und Lebensmittelresten, die in Mülleimern vor sich hin faulen. Der Matsch auf den Straßen ist samtig weich und klebrig, der Traum eines jeden Kindes, wenn es sich im Garten daran austoben darf. Uns macht er bei der Arbeit das Leben schwer. Er klebt an den Schuhen, von denen er nur mit Mühe abzubekommen ist, er klebt im Fußraum des Krankenwagens und manchmal bekommen wir die Seitentür fast nicht zu, nachdem wir einen Patienten mühsam eingeladen haben, weil der Matsch jede Ritze verstopft. Bloß nicht stecken bleiben, denke ich, während ich mich auf der Suche nach der Hausnummer, die uns über Funk mit der Information, dort habe eine junge Frau ihr Bewusstsein verloren, durchgegeben wurde, aus dem Seitenfenster des alten Mercedes-Krankenwagens lehne und mit der Taschenlampe die Wände der Wellblechhütten ableuchte. Die Sanitäterin am Steuer versucht, den Krankenwagen immer in Bewegung zu halten und die Untiefen der ungepflasterten Straße zu umfahren.

»Wenn wir jetzt stecken bleiben, kommen wir hier nie wieder weg«, sagt sie eher zu sich als zu mir und der anderen Rettungssanitäterin.

Ihre Kollegin, ebenfalls jung, aber in Dienstjahren noch deutlich hinter der Fahrerin, rollt mit den Augen und entgegnet: »Ach was, das sagst du jedes Mal und dann bekommst du den Blechhaufen doch immer wieder raus.«

»Letztes Mal mussten ja auch nur um die 20 Leute anschieben. Glaubst du, dass bei diesem Wetter irgendwer auch nur einen Schritt aus dem Haus macht?«

Die Nummern, wenn sie denn auf die Wand geschrieben sind, ergeben kein Muster und Straßennamen sind in diesem Teil des Townships auch nicht mehr zu finden. Wir befinden uns in der wohl ärmsten Gegend und der gefährlichsten. Den größten Teil der Strecke eskortierte uns ein kleiner Polizeiwagen, der aber vor wenigen Minuten beidrehte und uns der Dunkelheit überließ. In letzter Zeit häufen sich die Meldungen über Polizeiwagen, die in einen Hinterhalt geraten sind, nachdem sie die beleuchteten asphaltierten und wie mit einem Lineal gezogenen Straßen verlassen haben.

Das ist auch der Grund, warum man mich als deutscher Medizinstudent dem einzigen weiblichen Team der Rettungswache zugeteilt hat. Ich würde meine Kolleginnen schon irgendwie beschützen, so die zuversichtlichen Worte des Schichtführers. Davon bin ich ja weniger überzeugt, aber zu meiner Überraschung habe ich festgestellt, dass mein alter olivgrüner H&M-Parker, auf dessen linken Ärmel ich als Witz mein in der Vorschule erworbenes Seepferdchenabzeichen genäht habe, als militärische Uniform wahrgenommen wird.

»Bist du aus einer Spezialeinheit bei der Marine?«, fragte mich einmal ein angetrunkener Mann mittleren Alters, nachdem ich ihm in den Wagen geholfen hatte und wir uns auf dem Weg zum Krankenhaus gegenübersaßen. Wenn der wüsste, dachte ich mir und antwortete: »Ja, so was in der Art.«

Der Wagen rutscht plötzlich seitlich auf dem Weg in Richtung Graben, der parallel zur Straße verläuft.

»Sorry!«, kommt es von der Fahrerin, während sie ihn geschickt wieder einfängt.

An Bord des Krankenwagens haben wir etwas Verbandszeug, ein paar Gummihandschuhe und eine Flasche Sauerstoff. Medikamente, Geräte oder anderes medizinisches Material gibt es nicht mehr. Denn kaum ist ein Wagen in der Zentrale frisch bestückt, verschwindet auch schon alles wieder und wird als Hehlerware verhökert. Die Sauerstoffflasche ist deshalb im wahrsten Sinne des Wortes angeschlossen, mit einer Kette und einem Vorhängeschloss. Die Gummihandschuhe sind wohl uninteressant und das Verbandsmaterial ist gut versteckt. Aber an alles, was wie ein Gerät oder nach Medikamenten aussieht, brauchen wir uns hier in Südafrika gar nicht erst zu gewöhnen.

Endlich leuchtet die Hausnummer im Schein meiner Taschenlampe auf. Wir halten an einer Stelle, wo die Straße einigermaßen befestigt aussieht, schnappen uns die Trage und tauchen in das Labyrinth der Gänge zwischen den Wellblechhütten ein. Hinter der ersten Ecke erwischt mich beinahe ein niedrig hängender Draht. Es ist kaum möglich, einen sicheren Tritt zu finden. Ich spüre, wie das Wasser der tiefen Pfützen langsam in meine Schuhe läuft. Wenn der Matsch wenigstens das Wasser abhalten würde … Hinter der nächsten Ecke flackert eine Glühbirne über einer blechernen Tür. Wir klopfen.

»Metro Ambulanz«, ruft die ältere der beiden Sanitäterinnen, wartet aber gar nicht erst auf eine Antwort und öffnet die Tür.