Winterliebe am Meer | Ein Küsten Liebesroman - Lotte R. Wöss - E-Book

Winterliebe am Meer | Ein Küsten Liebesroman E-Book

Lotte R. Wöss

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Beschreibung

Wenn Träume zerbrechen – und die Liebe an der verschneiten Nordsee neu erblüht …

Kurz vor ihrem internationalen Durchbruch trifft Frieda ein schwerer Schlag: Eine Krankheit raubt ihr die Stimme. Haltlos und verunsichert kehrt sie in ihr Heimatdorf an der Nordsee zurück, wo sie sich in den kalten Wintertagen hinter verschlossenen Türen vergräbt. Doch die Begegnung mit Malte, ihrem ehemaligen Jugendfreund, wirbelt alte Gefühle und schmerzliche Erinnerungen auf. Er ist nicht mehr der Junge von damals, sondern ein Mann, der sein eigenes Päckchen trägt – und Frieda mit schonungsloser Ehrlichkeit zwingt, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Überraschend wächst Frieda an ihren neuen Aufgaben und sie beginnt zu glauben, dass Glück nicht nur im Scheinwerferlicht zu finden ist. Doch Friedas ehrgeizige Mutter will das nicht wahrhaben und drängt weiter auf ihre Rückkehr. Als Friedas Stimme unerwartet zurückkehrt, steht sie vor einer schmerzhaften Entscheidung: Soll sie dem Ruf der Bühne folgen oder der Liebe?

Erste Leser:innenstimmen
Ein wundervoller Nordsee-Liebesroman voller Sehnsucht, Neuanfang und romantischer Winterabende am Meer.
Winterliche Romantik an der Küste, eine bewegende Geschichte über Hoffnung, Heimat und Liebe.
„Zwischen Winterstürmen und Musik entdeckt Frieda eine neue Zukunft und die Liebe zu Malte.“
„Ein tiefgründiger Küstenliebesroman über Verlust, Neuanfang und die Kraft, die eigene Stimme zurückzugewinnen.“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

Kurz vor ihrem internationalen Durchbruch trifft Frieda ein schwerer Schlag: Eine Krankheit raubt ihr die Stimme. Haltlos und verunsichert kehrt sie in ihr Heimatdorf an der Nordsee zurück, wo sie sich in den kalten Wintertagen hinter verschlossenen Türen vergräbt. Doch die Begegnung mit Malte, ihrem ehemaligen Jugendfreund, wirbelt alte Gefühle und schmerzliche Erinnerungen auf. Er ist nicht mehr der Junge von damals, sondern ein Mann, der sein eigenes Päckchen trägt – und Frieda mit schonungsloser Ehrlichkeit zwingt, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Überraschend wächst Frieda an ihren neuen Aufgaben und sie beginnt zu glauben, dass Glück nicht nur im Scheinwerferlicht zu finden ist. Doch Friedas ehrgeizige Mutter will das nicht wahrhaben und drängt weiter auf ihre Rückkehr. Als Friedas Stimme unerwartet zurückkehrt, steht sie vor einer schmerzhaften Entscheidung: Soll sie dem Ruf der Bühne folgen oder der Liebe?

Impressum

Erstausgabe Oktober 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-956-6

Covergestaltung: Larissa Siepmann unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © i_fleur, © Lesik Vitaliy, © esbobeldijk, © Rundra The Hunt, © Travelbee Journey, © Randy R adobe.stock.com: © Calado, © menno-schaefer depositphotos.com: © makieni777, © alex.stemmer Lektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 10.10.2025, 07:42:45.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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1. Prolog

Büsum, 2011

»Gewonnen.« Nele streckte beide Arme in die Höhe und ließ sich ins kühle Meerwasser fallen.

»Keine Ahnung, wie sie das immer schafft.« Malte nahm Frieda bei der Hand. »Los, komm, sonst behauptet sie wieder, wir seien wasserscheu.«

Frieda stemmte sich dagegen. »Das Wasser ist zu kalt. Mama wird böse, wenn ich eine Erkältung kriege.«

Malte verzog das Gesicht. »Das bisschen Wasser schadet bestimmt nicht. Heute ist ein warmer Tag.«

Malte hatte leicht reden. Er fror nicht einmal im Winter. Vermutlich hatte er ein integriertes Fell unter seiner Haut. Die dichten Locken auf seinem Kopf, kaum zu bändigen, waren ein Indiz dafür. Auch Frieda war heiß in ihrem Kleid und dem Pulli, den Mama ihr aufgedrängt hatte. Wenigstens ihre Zehen könnte sie ins Nass tauchen. Kurz entschlossen ließ sie sich mitziehen. Hand in Hand liefen sie die Stufen den Deich hinunter und erreichten das Wasser, in dem Nele planschte und ihnen zuwinkte.

Auf der vorletzten Stufe löste sich Malte von ihr und rannte weiter, bis es tief genug war, dass er hineintauchen konnte. Da gab es auch für Frieda kein Halten mehr. Zwei Schritte und sie plumpste auf ihren Po, schloss die Augen und genoss das kühle Nass, das sie bis zur Brust weich umspülte, sowie die warme Sonne auf dem Gesicht.

»Frieda!« Eine gellende Stimme riss sie aus dem wohligen Gefühl. Erschrocken sprang sie auf. Oben am Deich stand ihre Mutter. Sie trug ihr geblümtes Kleid, hielt die Strandpantoffeln in der Hand und ihren Strohhut in die Höhe, mit dem sie wild gestikulierte, als wollte sie um Hilfe rufen. »Was tust du da?« Es klang schrill, als müsste sie Frieda vor schlimmster Gefahr retten. »Komm sofort, sofort«, sie wiederholte das Wort noch um einige Dezibel lauter, »heraus.«

Frieda drehte sich zu ihren Freunden um. Beide standen starr, mit hängenden Schultern und traurigen Mienen, das Wasser reichte ihnen bis zur Hüfte. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Mutter den Freundeskreis störte und sie mit ihrer Überfürsorge nervte. Sie schien stets ein Gespür dafür zu haben, wenn Frieda etwas Verbotenes tat. Die Fröhlichkeit fiel von ihr ab wie der Zuckerguss von der Torte. Mit gesenktem Kopf watete sie aus dem Wasser.

»Was ist dir nur wieder eingefallen, Liebes?« Die sanfte Stimme verbarg den Stahl darunter nur schlecht. »Du weißt doch, wie anfällig du bist. Du musst dich schonen.« Ihre Mutter legte das Handtuch um Frieda und begann sofort zu rubbeln. Unwillig riss Frieda sich los, eilte zu ihrem Platz und sammelte ihre Kleidung auf.

»Bestimmt haben dich die zwei wieder herausgefordert.« Das geblümte Kleid schwang um ihre Knie, als ihre Mutter zum Meer sah. »Ich habe dir bereits mehrfach gesagt, dass die beiden kein Umgang für dich sind.«

»Nele ist meine Cousine.« Frieda zog sich das Kleid über den Kopf.

»Nun ja, das stimmt. Aber, Liebling, du weißt doch, dass du etwas Besonderes bist. Deine Gabe wird dich berühmt machen.« Ihre Mutter bückte sich und hob Friedas Sonnenhut auf. »Setz ihn auf, damit du keinen Sonnenstich bekommst. Und dann gehen wir rasch nach Hause, du musst aus dem nassen Badeanzug heraus. Warum bist du bloß ins Meer gegangen!«

Frieda sah zurück, Nele und Malte waren weiter hinausgeschwommen. Sie schluckte. Hätte ihre Mutter nicht eine halbe Stunde später kommen können? Immer spionierte sie ihr nach.

Ihre Mutter hatte zu viel Zeit, weil sie nicht arbeiten musste. Als kleines Kind war Frieda nichts aufgefallen, doch als sie älter wurde, fragte sie sich, wie sich ihre Mutter das Haus, in dem sie lebten, leisten konnte. Erst seit ein paar Monaten wusste sie, dass ihr unbekannter Vater dafür bezahlte.

Offensichtlich eine Menge Geld. Dennoch hatte sie ihren geheimnisvollen Vater nie zu Gesicht bekommen. Sie wusste nur, dass er Stefan hieß.

»Ich habe gute Nachrichten, Frieda! Wir ziehen nach Wien. Dein Vater hat es geschafft, dass du an der Musikakademie Sound of Young Talents vorsingen darfst.«

In diesem Moment dachte Frieda nur eins: Ich werde endlich meinen Vater kennenlernen.

Kapitel 1

Frieda

14 Jahre später

Es ist nicht so kalt, wie ich an diesem ersten November befürchtet habe. Die wattierte Jacke bietet ausreichend Schutz, während ich die Straße von der Bahnstation entlanggehe. Es ist fremd und doch vertraut. Ein paar Menschen kommen mir entgegen: Touristen, eine Gruppe Kinder und schließlich ein älterer Mann. Rasch gehe ich weiter. Mit dem gemusterten Schal und der Wollmütze wird mich niemand erkennen.

Wer sollte das auch tun? Es ist vierzehn Jahre her, seit ich Büsum den Rücken gekehrt habe und nie mehr hergekommen bin. Und nun schleiche ich mich wie ein geprügelter Hund in den Ort, der einst mein Zuhause war. Frustriert, verzweifelt, unendlich traurig.

Alles ist zu Ende. Zerbrochen. Vorbei. Mein halbes Leben habe ich in meine Karriere investiert. Hatte keine Freizeit, keine Freunde, keine Liebe. Mein einziges Ziel war es, zu singen. Die Musik hat mich eingehüllt wie eine wohltuende Decke, mich umarmt, geküsst und auf ihren Schwingen voller Töne in die höchsten Lüfte getragen.

Zu hoch. Denn jetzt bin ich dermaßen hart auf dem Boden gelandet, dass der Schmerz unerträglich ist. Es gibt Tage, an denen ich kaum atmen kann. Vielleicht wäre es nicht so schlimm, hätte ich nicht kurz vor dem internationalen Durchbruch gestanden. Zumindest ist das die Meinung meiner Mutter.

»Das Goldkehlchen« haben mich die Zeitungen genannt. Der Spitzname ist mir geblieben, seit ich als Siebzehnjährige zum ersten Mal in der Staatsoper Wien gesungen habe.

Die Kritik hat es immer gut mit mir gemeint. »Außergewöhnliches Talent« – »Samt in der Kehle« – »Kräftig und voll« – niemals etwas Negatives.

Bis auf die letzte Schlagzeile.

Das Goldkehlchen ist für immer verstummt.

Meine Kehle schmerzt. Monoton setze ich einen Fuß vor den anderen, ziehe den Rollkoffer hinter mir her, während der schwere Rucksack zunehmend auf die Schultern drückt. Es ist nicht mehr weit. Zum Glück. Die Reise war lang. Flug von Wien nach Hamburg, mit dem Zug nach Büsum.

Mutter wollte mich abhalten, hierherzukommen. Doch ich habe das Gefühl, dass ich es tun muss. Nele, damals meine beste Freundin. Mein Onkel Knut und meine Tante Ingrid, sie sind meine Verwandten.

In Wien habe ich niemanden außer meiner Mutter.

Und ja, einen Vater, der sich nicht öffentlich zu mir bekennt. Er ist reich, mächtig und verheiratet. Aber nicht mit meiner Mutter.

Immerhin habe ich es ihm zu verdanken, dass ich hier bin. Mutter wollte es nicht, weil sie dachte, unser Haus wäre inzwischen verkauft worden.

Doch mein Vater hat es stattdessen lediglich in den Ferien vermietet. Und nun darf ich wieder einziehen. Solange ich möchte, hat er gesagt. »Erhol dich erst mal. Nach ein paar Monaten weißt du vielleicht, wohin dich dein Weg in Zukunft führen wird.«

Fast war er ein wenig erleichtert, dass ich Wien vorläufig verlasse. Weg von seiner Familie, die nie erfahren hat, dass ich seine Tochter bin.

Das schmutzige Geheimnis.

Spielt keine Rolle mehr, jetzt, da ich gestrauchelt bin und nicht weiß, wie es weitergehen wird. Ich kann nichts, außer singen, habe mich mein gesamtes Leben darauf vorbereitet, aufzutreten, in Opern mitzuwirken, Konzerte zu geben. Etwas anderes habe ich nicht gelernt.

Ich biege in die Straße mit den Häusern ein. Ist es wie früher? Bereits damals waren einige Häuschen als Ferienunterkünfte vermietet.

Es ist das vorletzte in der Reihe. Wie eine Welle erfassen mich Gefühle, als ich davorstehe, und ich schwanke ein wenig. Erinnerungen strömen auf mich ein, es ist gleichzeitig vertraut, warm und trotzdem anders. Das Holz könnte einen Anstrich gebrauchen, die Fußmatte ist neu. Ich stelle den Rollkoffer ab und schäle den Rucksack von meinem Rücken. Der Schlüssel liegt bei der Nachbarin. Das werde ich auch noch schaffen.

Ein kalter Luftstoß zieht mir den Schal vom Hals. Rasch zurre ich ihn wieder fest und mache mich auf den Weg zum Nachbarhaus.

Eine Klingel finde ich nicht, stattdessen klopfe ich an die Tür, die kurz darauf geöffnet wird. »Da bist du ja.« Die weißhaarige Dame im lila gemusterten Kleid zieht ihre weiße Strickjacke über der Brust zusammen. »Frieda, ich freu mich, dich wiederzusehen. Wie geht es dir? Ich konnte ja kaum glauben, dass du hierherkommst. Ich habe eine CD von dir. Aber du hattest bereits als Kind eine wunderschöne Stimme. Wie gern erinnere ich mich an die Auftritte mit dem Kirchenchor zu Weihnachten. Wohlklingend und voll.«

»Frau Schuster, ich freue mich auch.«

»Vielleicht magst du hier ein kleines Konzert in der Kirche geben? Das wäre eine tolle Geste …«

»Ich singe nicht mehr.« Es kommt schroffer heraus, als ich möchte. Ist es nicht bis hierher durchgedrungen?

Das Goldkehlchen ist für immer verstummt.

»Natürlich, du bist anderes Publikum gewohnt.« Der Tonfall ist kühler geworden. Sie schlurft zurück und nimmt den Schlüssel vom Haken. »Dein Honorar könnten wir uns hier nicht leisten. Ich hab einfach gedacht, um der alten Zeiten willen, für deine Heimat.« Sie brach ab. »Eine Ausnahme halt.«

Ich strecke die Hand aus und antworte nicht. Es ist, als fiele ein Vorhang über das Gesicht der alten Dame – sie muss mittlerweile Mitte siebzig sein –, ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen, ihre Augen füllen sich mit Wasser. Sie wird doch nicht weinen? Schweigend überreicht sie mir den Schlüssel. »Schade«, sagt sie dann und schließt vor meiner Nase die Tür.

Ich atme durch. Warum habe ich ihr nicht ehrlich gesagt, weshalb ich nicht singen kann?

Weil es immer noch wehtut, es auszusprechen. Mit hängenden Schultern gehe ich zurück, sperre die Haustür auf und hole mein Gepäck. Minutenlang stehe ich im Flur.

Es ist anders. Das Haus ist nun ein Ferienhaus. Ohne persönliche Gegenstände darin. Meine Großeltern haben hier gewohnt und Mutter hat zumindest Fotos aufgehängt. Jetzt wirken die Möbel verwaist, nur leere Hüllen.

Auch Küche und Wohnraum sehen steril aus. Keine Blumen, keine der kleinen Figuren, die noch aus Omas Zeiten Regale und Ablagen bevölkert haben. Oma hat sie geliebt. Die Räume sind sauber und gepflegt. Mein Vater hat eine Firma damit beauftragt, und ich freue mich, dass ich in kein verwahrlostes, schmutziges Haus komme.

Ich gehe ins Wohnzimmer, setze mich auf die Couch und sehe aus dem Fenster. Von hier aus kann ich das Meer nicht sehen, doch die Gewissheit, dass es vorhanden ist und ich in zehn Minuten am grünen Strand sein kann, beruhigt mich irgendwie.

Aufseufzend lasse ich mich nach hinten fallen. Das Klingeln des Handys reißt mich aus dem Dämmerzustand, in den ich mich geflüchtet habe.

»Bist du gut angekommen?« Meine Mutter.

»Ja.« Ergeben schließe ich die Augen, denn ich weiß bereits, was kommt.

»Und? War das nötig?« Ihre Stimme klingt spitz. »Denkst du, im Norden wird es besser werden?«

»Ich brauche einfach Abstand zu allem.« Ich spreche leise, bin es müde, es immer wieder zu erklären. Mich rechtfertigen zu müssen, für das, was ich tue. »Warum bist du nicht mitgekommen? Onkel Knut ist schließlich dein Bruder. Möchtest du ihn nicht mal besuchen?«

Dumme Frage. Meine Mutter und ihr Bruder waren kein gutes Match.

»Ich wollte immer nur raus aus dem Kaff. Und was willst du dort machen? Dort gibt’s doch keinerlei Zukunftsaussichten für dich.«

»Und welche bietet mir Wien?« Plötzlich werde ich wütend. »Kannst du bitte einmal im Leben meine Entscheidung akzeptieren? Ich brauche Abstand, und hier habe ich die Möglichkeit.«

Sekundenlang ist es still. Meine Mutter ist einen derart heftigen Tonfall nicht von mir gewohnt. »Du wirst es bereuen«, sagt sie schließlich, fast resigniert. »Vor allem finde ich es unvernünftig, dass du nicht Professor Haiden konsultieren möchtest.«

»Mutter, ich war bei drei Spezialisten, alle haben dasselbe gesagt. Es ist vorbei, und ich muss nach vorn schauen.«

»Tu das. Und wenn du deinen Egoismus besiegt hast, dann melde dich.« Es klickt und tutet nur noch. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Keins von beidem. Ich bin sauer. Meine Welt ist in Millionen Teile zerbrochen. Ich muss mich komplett neu finden, die Scherben aufsammeln und meinem Leben einen Sinn geben. Doch meine Mutter tut so, als wäre sie die Betroffene.

Plötzlich wird es mir zu eng im Haus. Ich muss hinaus, an den Strand. Kalte Luft bläst mir entgegen, Wolken ziehen auf. Dennoch drängt es mich, weiterzugehen, an den Häusern vorbei, mein Tuch vor das halbe Gesicht geschoben. Ich erinnere mich an die Nachbarn in der Straße. Ob sie noch alle hier wohnen? Der alte Justus gewiss nicht mehr, der war damals schon weit über achtzig. Familie Weinstetten vielleicht? Die hatten gerade ein Baby bekommen, als ich fortging. Frau Schuster weiß bestimmt Bescheid, doch ich möchte ohnehin wenig Kontakte. Wer weiß, wie lange ich hier bin. Ich habe mich nicht einmal richtig verabschiedet, weil ich nicht wusste, dass ich nicht zurückkommen würde. Einzig und allein die Aussicht, meinen Vater zu treffen, hat mich mitgehen lassen. Danach hat mich das neue Leben in Wien vereinnahmt. Als Vierzehnjährige gewöhnt man sich noch rasch um, und mein Weg war vorgezeichnet.

Plötzlich stehe ich in der Straße, an deren Ende das Wirtshaus von Onkel Knut liegt. Ob sie mich erkennen werden? Es ist vierzehn Jahre her. Sie wissen, dass ich komme, schließlich haben sie das Haus für mich vorbereitet. Es kann nicht schaden, kurz Hallo zu sagen.

Es beginnt zu regnen, und ich ziehe die Kapuze über mein Kopftuch. Nur wenige Menschen sind unterwegs, obwohl auch um diese Jahreszeit Touristen hier sind. Ich beschleunige meine Schritte. Der Regenschirm liegt wohlversorgt zu Hause, na, wenigstens hat er es trocken. Schließlich gelange ich zum Eingang. Dat Fischhuus, leuchtet mir die Inschrift auf dem Dach entgegen. Das ist neu. Damals war es ein altes Holzschild, dessen Schrift nach jedem Winter unleserlicher wurde. Drinnen brennt Licht, und durch die kleinen Fenster erkenne ich Bewegungen. Es scheint einiges los zu sein. Vermutlich kommt mein Besuch ungelegen. Um diese Zeit herrschte damals bereits Hochbetrieb, und offenbar erfreut sich die Kneipe bis heute großer Beliebtheit. Meine Schritte werden automatisch langsamer, und ich bleibe stehen.

Ein Geräusch hinter mir, ich fahre herum. Ein junger Mann, keine zwanzig Jahre alt, der abrupt stoppt. Er trägt eine rote Mütze, eine gleichfarbige Jacke und Sportschuhe. »Sorry«, sagt er.

Ich hebe beide Arme. »Auch sorry. Ich hätte nicht mitten auf der Straße stehen bleiben sollen.« Etwas wuselt an mir vorbei. Es ist ein weißer Husky, der an mir vorbeirennt, die Leine strafft sich und streift mich.

»Simba ist ungestüm, wenn es rausgeht. Sie war den ganzen Tag noch nicht richtig draußen und braucht die Bewegung dringend.« Er zieht an der Leine. »Simba, stopp.«

Sofort schlägt mein Herz höher. Dieser Hund mit dem weißen, flauschigen Fell, der sich artig hinsetzt und erwartungsvoll hechelt, hat es mir sofort angetan.

»Darf ich ihn streicheln?«

»Natürlich.«

Ich bücke mich und fahre durch das weiche Fell. »Du bist aber ein Schöner«, sage ich und erkenne mich selbst nicht wieder. Jedes Mal habe ich innerlich gelacht, wenn ich in Wien die alten Frauen mit ihren Handtaschenhündchen beobachtet habe, die in Babysprache mit ihren Lieblingen sprachen.

Und nun hocke ich hier vor einem Fellpaket und tue das Gleiche.

»Simba, du hast eine neue Freundin.« Der Junge kichert. »Sind Sie eine Touristin?«

»Halb.« Ich richte mich auf. »Habe früher hier gewohnt.« Dann strecke ich ihm die Hand hin. »Ich bin Frieda. Und du?«

»Tobias.«

»Ist das ein reinrassiger Husky?«

»Nein. Labrador ist auch dabei, sagt mein Onkel. Der muss es wissen, ist nämlich Tierarzt. Wir haben ihn damals am Strand gefunden, ausgesetzt. Aber wir haben nicht bedacht, wie viel Auslauf er braucht. Und meine Oma ist zu alt, obwohl man es ihr nicht anmerkt, seit sie mit der neuen Hüfte herumspringt. Nur das Gassigehen, das bleibt an mir hängen, denn mein Onkel ist in den Flitterwochen.«

»Frieda, ich glaub’s nicht! Hab schon gedacht, das Fenster spiegelt mir eine Fata Morgana vor.«

Ich drehe mich um. Eine blonde Frau überbrückt die wenigen Schritte vom Eingang des Wirtshauses zu mir. Wie damals hängt ihr glattes, weißblondes Haar zu einem Zopf geflochten über den Rücken. Was habe ich sie immer beneidet! Wie erwachsen sie geworden ist, eine bildschöne Frau. Dann vergesse ich zu denken. Stürmisch umarmt sie mich und ich rieche den Duft ihres Shampoos, Vanille und Pfirsich, denn sie ist gute zehn Zentimeter kleiner als ich. Offenbar ist sie nicht im gleichen Ausmaß hochgeschossen wie ich.

»Ist sie deine Freundin?«, fragt Tobias.

»Ja«, will ich schon antworten, als ich bemerke, dass er Nele anschaut.

»Meine Cousine, meine lang verschollene Cousine.« Sie rückt von mir ab und strahlt mich an. »So schön, dich wiederzusehen. Endlich. Mama und Papa werden sich ärgern. Sie sind gestern für eine Woche zu Tante Rieke aufgebrochen, du erinnerst dich? Das ist Mamas ältere Schwester, sie ist operiert worden … Ach, ich plappere zu viel.« Sie dreht sich zu Tobias. »Du kannst dich vermutlich nicht an sie erinnern, warst damals noch zu klein. Und du, Frieda, erkennst ihn wahrscheinlich nicht wieder.«

Ich sehe mir den Jungen genauer an. Er erinnert mich schon entfernt an jemanden. Nele hilft mir weiter. »Das ist Tobias Christiansen.«

»Der Urenkel von Antje, vom Souvenirladen.« Ich runzle die Stirn. »Richtig, Antje. Lebt sie noch?« Gleich darauf schlage ich mir auf den Mund. »Entschuldigung, das war jetzt taktlos.«

»Ach, Oma sieht das bestimmt nicht so eng. Sie ist dreiundachtzig geworden, ich wette, sie wird hundert. Seit sie eine neue Hüfte hat, arbeitet sie sogar ab und zu im Geschäft.« Simba bellt und Tobias lacht. »Ich komm ja schon. Mann, bin ich froh, wenn dein Herrchen wieder zurückkommt.«

»Sind Sebastian und Mia noch in den Flitterwochen?«, erkundigt sich Nele.

Sebastian, klar, der war im Gymnasium ein paar Klassen über uns.

Der Junge verzieht das Gesicht. »Schon seit zwei Wochen. Frag mich nicht, was die da tun auf der Insel. Menorca, da soll ja gar nichts los sein. Noch dazu jetzt im November.«

»Als sie weggefahren sind, war’s Oktober.« Nele zog die Mundwinkel amüsiert nach oben.

»Egal.« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Sie haben sich erst einmal gemeldet, vermutlich weil sie so gar nichts zu berichten haben.«

»In den Flitterwochen hat man anderes zu tun, glaub mir. Ich habe meine Eltern auch nur einmal angerufen, und zwar, um ihnen mitzuteilen, dass wir gut angekommen sind.«

»Du bist verheiratet?« Ich staune. Wie viel habe ich noch versäumt? Mein Hals wird eng beim Gedanken, dass sie mich nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen hat.

»Vor einem halben Jahr. Ich habe dir eine Einladung geschickt. Schriftlich.«

»Ich habe keine bekommen.«

»Nein?« Neles Gesicht zieht sich lang. »Das darf doch nicht wahr sein! Dabei war das Porto nicht ohne, und dann kommt nichts an.«

»Ich muss dann.« Tobias schiebt den Schal vors Gesicht. Er winkt mir zu und ich rufe ihm einen Gruß nach. »Ein netter Junge«, sage ich. »Leider kann ich mich gar nicht an ihn erinnern. Der muss damals vier oder so gewesen sein.«

»Tobi ist schwer in Ordnung.« Nele seufzt. »Obwohl er ohne Eltern aufwachsen musste.«

»Wieso das denn?«

Sie blinzelt kurz. »Richtig, du warst nicht mehr hier, als es passiert ist. Es war eine Katastrophe, ein furchtbarer Autounfall, bei dem Tobis Eltern, seine Großeltern und Sebastians Freundin ums Leben gekommen sind. Sie hieß Wiebke, erinnerst du dich? War in der Volleyballmannschaft der Schule.«

Ich runzle erneut die Stirn. »Nee, leider nicht. Den Sebastian sehe ich vor mir, der war nicht ohne.«

»Sieht immer noch gut aus.«

»Aber nicht so gut wie dein Mann, nicht wahr?« Ich stupse sie wie früher in die Seite.

»Niemand sieht so toll aus wie mein Mann.« Es gelingt ihr, todernst zu bleiben. Ich kann ein Glucksen nicht zurückhalten und die alte Vertrautheit, als ich mich mit Nele über Jungs ausgetauscht habe, ist wieder da. »Und Wiebke ist ebenfalls gestorben?«

»Ja. Es blieben nur Antje, Sebastian und Tobi übrig. Mittlerweile ist Sebastian Tierarzt geworden und glücklich verheiratet.« Nele öffnet die Tür. »Komm mal rein, ich mache dich mit meinem Mann bekannt.«

Wen sie wohl geheiratet hat? Malte erscheint in meinen Gedanken, wir waren schließlich unzertrennlich. »Ist es Malte?«, frage ich.

Sie bleibt stehen und sieht mich an, als wären mir plötzlich acht Beine gewachsen. »Malte? Mensch, Frieda, der war damals nur verrückt nach dir. Das musst du doch bemerkt haben.«

Nun erstarre ich. Malte? Konnte das stimmen? Wir waren Klassenkameraden, vierzehn Jahre alt. Fast die gesamte Freizeit, die meine Mutter mir zugestanden hat, habe ich mit Nele und Malte verbracht, meinen beiden Kumpels. Aber verliebt?

»Malte hat eine Touristin geheiratet.« Nele kräuselt leicht die Nase. »Doris. Es war die ganz große Liebe damals, er hat ziemlich rasch geheiratet, mit zwanzig oder so.«

Warum gibt mir das einen Stich?

Genau das tut es. Meine beiden Jugendfreunde haben ihr Glück gefunden.

Ich habe meins verloren.

Nele reibt sich über ihre Oberarme. »Ohne Jacke ist es kalt hier draußen. Komm auf einen Sprung rein. Und dann machen wir was aus, wenn ich länger Zeit habe.«

Sie zieht mich in die Wirtsstube des Dat Fischhuus. Überrascht bleibe ich in der Tür stehen. Der Innenraum ist komplett verändert. Die Beleuchtung ist anders: Statt der trüben Deckenlampen mit den matten Glühbirnen ist es nun, hinter Holzleisten verborgen, eine Randbeleuchtung, die das Licht indirekt ausstrahlt und eine gemütliche Atmosphäre verbreitet. Die Holztische sind mit hellen Tischtüchern bedeckt, auf jedem der Tische steht eine Kerze im Glas.

»Gefällt es dir?«

»Ja, wow! Es sieht wie ein Restaurant aus.«

»Kjell ist Koch und zaubert die allerbesten Gerichte.« Neles Gesicht überzieht sich mit einem verklärten Lächeln. »Er ist eine Bereicherung für uns.«

»Und dein Papa?«

»Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Aber heute sind Papa und Mama zu einem Konzert nach Hamburg gefahren.«

»Wie schade!« Mir wird erst jetzt bewusst, wie gern ich sie wiedergetroffen hätte. »Dann sehe ich sie gar nicht.«

»Morgen sind sie ja wieder hier.« Nele geht voran und ich folge ihr. Die Tische sind besetzt und ich sehe zwei Kellnerinnen, die die Gäste bedienen. Nele lotst mich nach hinten und kurz darauf erreichen wir die Küche.

Auch hier hat sich einiges verändert. Der Raum wirkt heller und ist mit neuen Geräten und Arbeitsplatten ausgestattet. Eine Frau mittleren Alters schneidet Gemüse, ein jüngerer Mann, unter dessen Kopfmütze ein Schopf feuerrotes Haar hervorschaut, wäscht Töpfe ab. In der Mitte jedoch steht ein leicht untersetzter, blonder Mann, dessen weiße Kochmütze ihm ein majestätisches Aussehen verleiht. Seine Stirn ist durch zwei Stirnfalten geteilt und er wirkt streng mit dem zusammengekniffenen Mund, während er Gewürze in einen Topf streut.

»Kjell«, ruft Nele neben mir. Der Koch hebt den Kopf. Die Veränderung, die mit seinen Gesichtszügen vor sich geht, ist erstaunlich: Die Stirn glättet sich, die Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln und die Augen beginnen zu leuchten. »Was gibt’s, Schatz?«

»Frieda ist da.« Sie dreht sich zu mir. »Frieda, das ist mein Liebster, Kjell.«

Kjell kommt um die Kochinsel herum und streckt mir die Hand entgegen. »Freut mich, dich kennenzulernen.« Er klingt höflich, aber ich spüre einen harten Unterton. Offenbar ist er nur nett zu mir, weil Nele das möchte.

Nele zieht mich bereits weiter. »Wir setzen uns nach hinten, dann bringe ich dir einen Teller Büsumer Krabbensuppe. Erinnerst du dich?«

»Natürlich. Dein Papa macht die beste.«

»Kjell kocht sie nach seinem Rezept. Mir schmeckt die von ihm fast einen Tick besser – aber verrate das bitte nicht Papa.« Wir erreichen den kleinen hinteren Raum, der ebenfalls umgestaltet wurde. Zwar steht noch der breite Holztisch in der Mitte, aber die Holzbänke sind durch eine gepolsterte Eckbank sowie Holzstühle mit Kissen ersetzt worden.

»Sieht gut aus«, sage ich mit ehrlicher Bewunderung. »Ich freue mich für dich, dass das Wirtshaus offenbar gut läuft.«

»Wir können nicht klagen.« Neles Blick ist genau wie der, den sie schon als Kind draufhatte: spitzbübisch-frech, mit leicht verzogenen Mundwinkeln und zwinkernden Augen. Sie streicht eine Strähne zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat. »Es kommen zunehmend mehr Touristen in den Ort. Deswegen wurde das große Hotel gebaut. Sicher ist es dir schon ins Auge gefallen.«

Nein, aber ich habe überhaupt noch nichts von Büsum gesehen.

»Kjell hat dort als Koch angefangen, vor sechs Jahren war das. Für mich also ein Riesenglück, es war Liebe auf den ersten Blick.«

Sie strahlt von innen. Nele war für mich immer schon eine Schönheit, die zarte Haut, das weißblonde Haar, die tiefblauen Augen – aber nun steht sie vor mir, und ihre Ausstrahlung wirft mich um.

Ihr Lachen, ihre Energie – still sitzen war nie ihr Ding – und ihre Empathie.

Sie hat mir so gefehlt.

Spontan umarme ich sie und sie erwidert den Druck, wir stehen eine Ewigkeit so da, bis ein Räuspern uns auseinanderfahren lässt. Kjell steht mit zwei Tellern dampfender Suppe in der Tür. Seine Stirn ist gerunzelt, die Lippen zusammengepresst, während er die Teller abstellt.

»Sind Gäste gekommen?«, fragt Nele.

Sofort glättet sich seine Miene. »Die anderen schaffen das schon.« In seiner Stimme liegt Zärtlichkeit. Im Hinausgehen streicht er Nele kurz über den Arm.

Sie lächelt ihn an, eine Innigkeit in ihrem Blick, die mir durch und durch geht. So muss Liebe sein.

»Setz dich, wir essen. Ich habe so eine Stunde, ehe der Rummel losgeht. Schade, dass Mama und Papa nicht hier sind, dann könnte ich mir freinehmen.«

»Das ist okay, Nele, ich habe nicht erwartet, dass du für mich alles stehen und liegen lässt.« Ich nehme auf der Bank Platz und schnuppere. »Kaum zu glauben, wie lange ich das nicht mehr gegessen habe.«

»Gibt’s in Wien vermutlich nicht.«

»Nein.« Ich tauche meinen Löffel in die cremige Suppe. »Aber dafür andere leckere Sachen. Vor allem Mehlspeisen.«

Nele sieht mich an. »Wie geht’s dir, Frieda? Und ich meine ehrlich, nicht den Unsinn, den du in diesem Interview von dir gegeben hast.« Sie isst einen Löffel Suppe.

Mein Löffel stoppt auf dem Weg zum Mund, dann lege ich ihn nieder. »Wie meinst du das? Du hast das Interview gehört?«

»Gelesen. Ich habe das meiste von dir verfolgt. Du hast eine steile Karriere hingelegt. Das Goldkehlchen, so ein schöner Kosename, und er ist so passend. Du hattest damals schon Gold in der Stimme.«

Ich nicke und beiße in das knusprige Brötchen. Die Erinnerung an das Mädchen von damals ist lediglich ein vages Bild in meinem Kopf. Nur die Zeit mit Malte und Nele, die erscheinen klar vor meinen Augen. Waren das doch die einzigen Stunden, in denen ich frei war. Meine Mutter hat meine Tage seit jeher verplant: Gesangsunterricht, Klavierspielen und Lernen – wie froh war ich gewesen, wenn ich dem Drill hin und wieder entkommen konnte.

»Hast du dich verliebt in Wien?«, fragte Nele weiter. »Entschuldigung, wenn ich dich so ausquetsche, aber ich weiß so gar nichts mehr von dir.«

»Kurz habe ich das gedacht. Doch ich hatte keine Zeit für einen Freund«, sage ich leise. Die letzten vierzehn Jahre, seit ich von hier fortgezogen bin, habe ich nur auf ein einziges Ziel hingearbeitet: eine berühmte Opernsängerin zu werden.

Ich spüre Neles Hand über meiner, die locker neben dem Teller liegt.

»Ich kann mir vorstellen, dass du kaum Freizeit hattest. Sich künstlerisch hinaufzuarbeiten, das ist kein Zuckerschlecken, nicht wahr? Und Tante Solveig ist ganz anders als Papa.« Sie isst weiter.

Ich muss lächeln. Diese Tatsache haben wir bereits als Kinder festgestellt. Onkel Knut hat mit meiner Mutter, obwohl sie Geschwister sind, keinerlei Ähnlichkeit, weder äußerlich noch innerlich. Onkel Knut arbeitet hart, während meine Mutter sich ausschließlich um mich gekümmert hat. Zudem ist er humorvoll, ständig gut aufgelegt, freundlich zu jedermann, knüpft gern Kontakte und ist der geborene Wirt. Mama hingegen hat sich stets für was Besseres gehalten, legt Wert auf Manieren und angemessene Kleidung. Sie konnte sich von jetzt auf gleich in die Schickimicki-Gesellschaft von Wien einfügen, als wäre sie immer schon dort zu Hause gewesen. Und sie ist, was mich betrifft, ein Kontrollfreak. Kein Wunder, dass ich früher viel lieber bei Onkel und Tante war als mit meiner Mutter allein. Oder im Haus von Maltes Eltern, da ging es auch immer hoch und her.

Die heiße Suppe tut mir gut.

»Es ist so wunderbar, dass du wieder hier bist.« Nele lächelt mich an.

»Nele, kommst du mal?« Der Rothaarige streckt den Kopf zur Tür herein.

Sie springt auf und streicht über ihre Schürze. »Ich muss leider, Frieda, aber ich komm dich bald besuchen. Oder du kommst her, bist jederzeit willkommen. Und bitte, iss fertig. Ich bin es schon gewohnt, schnell zu essen, weil die Zeit immer knapp ist.«

Sie umarmt mich kurz, dann verschwindet sie, und ich starre auf meinen halb vollen Teller. Gedämpft dringen Stimmen, Schritte, Geschirrklappern und Gläserklirren herein. Plötzlich hüllt mich die Einsamkeit ein wie ein frostiges Tuch. Ich esse weiter, der Appetit ist mir vergangen, und bin froh, als der Teller endlich leer ist.

Kjell steht auf einmal vor mir, ich habe ihn nicht kommen hören. »Satt?« Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern nimmt die Teller und dreht mir den Rücken zu. »Du warst dir wohl zu gut, um zu schreiben, nicht wahr?«

»Was meinst du?« Meine Fingernägel bohren sich in die Handflächen, wie immer, wenn ich nervös bin.

Er stellt die Teller ab, wendet sich mir zu und verschränkt die Arme. »Ich habe einiges über dich gehört. Die tolle Cousine, die Berühmtheit mit der außergewöhnlichen Stimme – die sich in ihrem Ruhm suhlt und ihre alten Freunde vergessen hat. Und jetzt kommst du nach der langen Zeit und willst – was? Das würde mich interessieren.«

Meine Kehle schnürt sich zusammen und ich sehe in Kjells Gesicht. Es ist gerötet und die Stirnfalten sind tief eingegraben, seine Lippen zusammengepresst.

Ich bin doch nicht schuld daran, brüllt es in mir.

Die Chance zu antworten, ist vertan. Er nimmt die Teller und eilt in die Küche zurück.

Es dämmert draußen, mittlerweile ist es halb acht geworden. Ich betrete die Gaststube. Nele und ihre Helfer wuseln hin und her, ich winke ihr kurz zu, gehe zwischen den Tischen durch, bis ich im Freien stehe. Von hier ist es nicht weit zum Strand. Ich habe Sehnsucht nach dem Meer. Doch als ich die Promenade erreiche, ist es wirklich dunkel geworden. Der Mond als winzige Sichel ist als Beleuchtung unzureichend. Das dunkle Meer liegt schwach glitzernd vor mir.

Ich bleibe stehen und sauge die salzige Luft ein. Kaum zu glauben, dass ich das vierzehn Jahre nicht getan habe.

Warum habe ich nicht darauf bestanden, wenigstens für einen Urlaub hierherzukommen?

Urlaub! Es stößt mir bitter auf. Als ob ich einen gehabt hätte, die Ferien waren voll mit Terminen, Kursen, Proben. Meine Mutter hat mir keine Luft gelassen, doch ich habe mitgespielt.

Weil ich mich für etwas Besonderes gehalten habe.

Kapitel 2

Frieda

»Weshalb kommt mein Vater nie her?« Frieda saß auf der Bank vor dem Haus. Sie und Nele halfen ihrer Mutter, Kirschen zu entsteinen.

Während sie pulten, schwangen die beiden Mädchen ihre nackten Füße hin und her.

»Frieda, ich habe es dir schon mehrfach erklärt. Dein Vater ist ein bedeutender Mann, der kann nicht so einfach fort. Er arbeitet rund um die Uhr und er wohnt weit weg.«

»Hat er kein Flugzeug?« Nele hob die Finger von der Schüssel, der rote Kirschsaft tropfte hinein. »Mein Papa wäre traurig, wenn er mich nicht jeden Tag hätte.«

»Du hast einen Kirschstein übersehen.« Mama zeigte mit spitz gefeiltem Nagel auf eine Kirsche in Neles Topf. »Konzentriert euch lieber auf die Früchte, statt euch den Kopf über jemanden zu zerbrechen, der euch nichts angeht.«

Nele sah zu Frieda, die ihr bedeutete, still zu sein. Mit Mama zu diskutieren, das war zwecklos.

Die Erinnerungen überfallen mich wie Flashmobs. Mittlerweile fühle ich mich bereits wieder zu Hause. Tante Ingrid und Onkel Knut haben ihren Aufenthalt in Köln verlängert, wie mir Nele geschrieben hat, und sie selbst hat im Wirtshaus jede Menge Arbeit, sodass ich allein geblieben bin. Mittlerweile habe ich einen täglichen Rhythmus gefunden. Den Nachbarn gehe ich nach kurzen Begrüßungen aus dem Weg. Vor allem Frau Schuster, deren Fragen ich fürchte. Einkaufen, Spaziergänge den Deich entlang, lesen, Musik hören und das Haus putzen. Ich habe sämtliche meiner Kleidungsstücke eingeräumt und einiges gekauft. Beispielsweise gefütterte Gummistiefel. Oft sitze ich nur da und starre aus dem Fenster.

Mein Handy klingelt, es ist zum x-ten Mal meine Mutter, sie ruft täglich mehrmals an und wiederholt sich ständig. Wann ich endlich wieder zurückkäme, und ich solle zu diesem Spezialisten in die Schweiz fahren. Diesmal muss ich rangehen, sonst alarmiert sie die Feuerwehr. Jedes Mal, wenn ich mit ihr spreche, fühle ich mich in meine Teenagerzeit zurückversetzt.

»Endlich!« Den dramatischen Tonfall kenne ich bei ihr, und ich seufze innerlich. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Das musst du nicht.«

»Frieda, warum willst du nicht zu Professor Haiden? Dein Vater kann einen Termin mit ihm vereinbaren. Du weißt, er ist eine absolute Koryphäe und wird dir helfen …«

»Lass gut sein, Mutter. Ich muss damit leben und ich möchte auch zu keinem noch so brillanten Spezialisten gehen. Versteh mich bitte. Ich bin hier, weil ich mein Leben neu aufstellen muss, und brauche etwas Zeit für mich.« Ich spreche langsam und geduldig, wie bereits in den letzten Tagen. Doch ich kann nicht verhindern, dass ich zunehmend genervt bin.

»Die du in der Einsamkeit vergeudest. Was tust du den ganzen Tag?«

»Das Gleiche wie du damals.« Ich höre, wie sie geräuschvoll einatmet.

»Das ist unfair, Frieda, und das weißt du. Ich hatte dich, ein kleines Kind zu versorgen, und musste mich um das Haus kümmern. Das kann man nicht mit dir vergleichen.«

»Nein.« Die altbekannte Müdigkeit lähmt mich. »Tut mir leid. Gib mir einfach Zeit.« Dann reitet mich ein Teufelchen. »Warum kommst du nicht auch her?«

»Nein, gewiss nicht, Kind. Ich fühle mich wohl in Wien.«

Mit Vaters Geld. Es kann mir egal sein. Ich will Ruhe und am allerwenigsten brauche ich meine Mutter hier. Innerlich atme ich auf.

»Aber dass du dort einsam bist …«

»Hier lebt doch dein Bruder mit Familie.«

»Ach, Knut.« Es klingt abfällig. Die beiden haben niemals in der gleichen Welt gelebt.

Da fällt mir Nele ein. »Sag mal, wusstest du, dass Nele geheiratet hat? Sie hat gesagt, sie hätte uns eine Einladung geschickt.«

Es bleibt still und ich fröstle. »Mutter? Du hast es gewusst?«

»Du warst krank, Kind. Völlig außer dir, hast gerade erfahren, dass deine Stimme … Du hättest ohnehin nicht hinfahren können.«

Mir bleiben die Schreie im Hals stecken.

»Ich muss Schluss machen, heute Abend ist die Eröffnung der Ausstellung. Impressionismus. Dein Vater hat mir Karten besorgt.«

»Halt«, kreische ich. »Du kannst jetzt nicht auflegen. Wie konntest du mir das verheimlichen? Es ist meine Entscheidung, ob ich hätte hinfahren wollen.«

»Du hast anderes im Kopf gehabt, sei nicht kindisch. Du hattest doch seit Jahren keinen Kontakt zu Nele.«

»Du hast das hinter meinem Rücken entschieden! Ich fass es nicht!«

»Ich muss jetzt wirklich Schluss machen, wir telefonieren ein anderes Mal.«

Sie ist weg. Ich starre fassungslos auf das tote Handy und schreie – nein, brülle – auf.

Vor drei Monaten war ich am Boden zerstört. Vielleicht hätte mich die Hochzeit und das Wiedersehen aufheitern können?

Ich sitze minutenlang da und starre in die Luft. Hat meine Mutter noch mehr verheimlicht?

Erst eine halbe Stunde später ziehe ich mich an. Mein Handy piept. Nele textet mir, dass ihre Eltern übermorgen zurückkommen werden.

Ein Anflug von schlechtem Gewissen überspült mich. Nele wundert sich bestimmt, dass ich nicht mehr im Fischhuus aufgetaucht bin. Ich habe mich gefreut, sie wiederzusehen, und die alte Vertrautheit ist aufgeflammt. Doch Kjells Auftreten hat mich entmutigt. Ich werde warten, bis Onkel Knut und Tante Ingrid zurück sind.

Eisiger Wind schneidet mir in die Wangen. Ich ziehe mein Wolltuch hoch und die Kapuze über die Wollmütze. Das Wetter passt zur Stimmung, ich brauche die Kälte, damit ich weiß, dass ich am Leben bin. Mutters Verrat nagt an mir. Und der Verdacht, dass sie auch damals die Briefe nach Büsum nicht abgeschickt hat. Der Vertrauensbruch macht mir zu schaffen.

Ohne dass ich nach rechts oder links schaue, führen mich meine Füße Richtung Strand. Ich sehe nach unten, wie sich die gelben Gummistiefel Schritt für Schritt in den feuchten Sand graben, und ich brauche Kraft, um vorwärtszukommen.

Plötzlich höre ich Bellen, und als ich mich umdrehe, rennt Simba auf mich zu. Der wunderschöne Husky-Mischling setzt sich vor mich in den Sand, ein Stöckchen im Maul. »Da will wohl jemand spielen?« Weit hole ich aus und werfe das Stöckchen, begeistert rennt Simba hinterher. Was für elegante Bewegungen das sind! Ich drehe mich um und halte nach Tobi Ausschau.

Stattdessen stoppt eine junge Frau, leicht keuchend, vor mir. »Oh, da hat Simba wohl eine neue Eroberung gemacht. Ich habe mich schon gewundert, weshalb sie dermaßen schnell gelaufen ist.« Mit ihrer modernen Sportkleidung und dem Stirnband um das dunkelblonde Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, könnte sie Modell für einen Katalog stehen. Lächelnd streckt sie mir die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Mia.«

»Frieda. Ich habe Simba zusammen mit Tobias letzte Woche getroffen. Du musst diejenige sein, die in den Flitterwochen war.« Das Du erscheint mir selbstverständlich. »Hattet ihr eine schöne Zeit?«

Mias Augen leuchten auf. Ich schätze sie auf ein bisschen jünger als mich, doch sie wirkt mit sich zufrieden. Etwas, das mir momentan fehlt. Simba kommt zurück und legt mir das Stöckchen zu Füßen, rasch werfe ich es erneut.

»Stimmt, es war traumhaft schön. Sebastian und ich sind gestern zurückgekommen.« Ihr Gesicht ist ein einziges Strahlen. »Er muss heute wieder arbeiten. Vermutlich laufen ihm seine vierbeinigen Patienten die Türen ein.«

»Sebastian ist also Tierarzt geworden, und ich dachte immer, er wird Sportler.«

»Kennst du ihn?«

»Er war auf derselben Schule wie ich damals. Lang ist es her.«

»Wow, klasse! Dann kannst du mir ja ein paar Geheimnisse von ihm erzählen.«

Ich muss grinsen. »Leider nein, ich war vier Klassen unter ihm.«

Simba springt bellend an mir hoch.

»Benimm dich, Simba.« Mit rubbelnden Bewegungen massiert sie ihre Oberarme. »Ich fürchte, ich muss weiterrennen, sonst friere ich. Wollen wir mal zusammen was trinken gehen? Vielleicht fällt dir noch was ein, ein Jugendstreich meines Mannes. Der würde Augen machen, wenn ich plötzlich einen seiner Streiche aufdecke.«

Die Frau ist erfrischend liebenswürdig. In den wenigen Minuten besteht eine Verbundenheit, als würden wir uns bereits Jahre kennen. Das ist mir nie zuvor passiert.

»Gern«, höre ich mich sagen.

»Super.« Mia zieht ihr Handy heraus. »Ich speichere deine Nummer gleich mal ab.«

Eine Minute später sehe ich ihr nach, wie sie den Strand entlang joggt. Simba rennt neben ihr her. Sie wirkt glücklich. Kunststück, Frieda, sie ist frisch verheiratet. So kurz nach der Hochzeit sieht man das Leben nur rosarot.

Über meins schiebt sich erneut der graue Vorhang. Manchmal denke ich, schwarz wäre mir lieber. Denn das würde alles abdecken und ich könnte alles vergessen. Die Farbe Grau verschleiert die Umgebung bloß in düstere Farben und das Elend wird mir so ständig vor Augen geführt.

Zu Hause angekommen, stelle ich mich unter die heiße Dusche. Plötzlich kommt mir mein Vater in den Sinn, die letzte Begegnung mit ihm.

»Spann dich ein paar Wochen aus, Liebes.« Seine Stimme ist ungewohnt sanft. »Was du brauchst, ist Abstand, komm erst mal zur Ruhe.«

»Du unterstützt das auch noch?« Meine Mutter klingt wütend, wie bereits die letzten Tage. Seit ich mich geweigert habe, mich von dem ach so tollen Spezialisten Professor Haiden untersuchen zu lassen.

»Für ein paar Wochen.« Er legt mir die Hand auf die Schulter. »Du bist aus der Schusslinie von den Journalisten …«

»Die haben doch ohnehin schon das Interesse an ihr verloren.« Ihre Augen funkeln, als sie nun direkt zu mir spricht. »Du könntest wenigstens dieses Zeitungsinterview machen, das Zelda für dich ausgemacht hat.«

»Solveig, es reicht.« Mein Vater drückt meine Schulter. »Die Zeit in Büsum wird dir guttun.«

Die heiße Dusche hilft nicht, die Schwermut wegzuwaschen. Ich schleppe mich in die Küche und brühe mir Tee auf, Zitrone-Mango. Zum Glück habe ich Matjesfilets eingekauft, die ich zum Mittagessen verspeise, danach liege ich auf der Couch und starre in die Luft. Wie soll mein Leben nun weitergehen? Muss es das?

Ich werde nie wieder singen können. Die harte Arbeit – alles umsonst. Während Gleichaltrige ausgingen, Spaß hatten, Sport betrieben oder einfach nur zusammensaßen – habe ich geübt. Mir die Finger wund gespielt, weil meine Mutter der Überzeugung war, dass ich zumindest ein Instrument beherrschen müsse. Und meine Gesangsübungen ausgeführt. Auf alles verzichtet, was mir hätte schaden können, meine Stimme beeinträchtigen würde und vor allem – ich habe sonst nichts gelernt.

Die Reifeprüfung, ja, aber jeder weiß, dass ein Schulabschluss nur die Grundlage für eine Weiterbildung ist. Mein Klavierspiel ist nett anzuhören, doch selbst bei maximalem Wohlwollen reicht es nicht zur Konzertpianistin. Gitarre habe ich ebenfalls gelernt, hauptsächlich zur Liedbegleitung.

Da der entscheidende Punkt, der mich als Sängerin prädestiniert hat, nämlich meine Stimme, weggefallen ist, ist alles andere überflüssig geworden.

Ich bin wertlos.

Der Fall ist ungeheuer tief. Vom gefeierten Goldkehlchen zur bedauernswerten Frau, die ihre Stimme verloren hat.

Ich rolle mich zusammen, die Tränen fließen ungehemmt, während mein Herz in unheimlichem Tempo gegen die Rippen pocht. Hier sieht mich niemand, hört mich oder verlangt irgendwas von mir. Ich schalte den Fernsehapparat ein, ohne richtig hinzusehen. Gegen vier gebe ich den Kampf auf: Ich schleppe mich ins Bad, angle meinen Kosmetikbeutel und nestle das Päckchen heraus. Die Beruhigungstabletten für den Notfall. Meine Finger zittern, als ich die weiße Tablette aus dem Blister drücke. Klein und unschuldig liegt sie auf der Handfläche. Nur heute, verspreche ich mir und schlucke sie hinunter.

Mein Kopf dröhnt und mein Rücken fühlt sich an, als hätte ich einen Tritt bekommen. Durch das Fenster fällt fahles Licht. Kaum zu glauben, ich habe die Nacht auf der Couch verbracht. Die Erinnerung sickert in mich ein wie zäher Schleim. Meine Blase drückt. Mühselig kämpfe ich mich hoch, blinzle, kann nur durch einen Schleier sehen. Im Schneckentempo schleppe ich mich halb gebückt die Treppe hinauf, als plötzlich eine Stufe einbricht.

Das macht mich hellwach. Ein Brett hat sich gelöst und hängt. Dabei stelle ich fest, dass die Treppe zum Teil morsch geworden ist. Vorsichtig gehe ich am Rand hinauf, die Konstruktion ist wacklig.

Ich rufe Nele an. »Hi, an dich habe ich gerade gedacht. Der Weihnachtsbaum wird heute im Hafen aufgestellt. Magst du zuschauen?« Ihre fröhliche Stimme hebt meine Stimmung um ein paar Millimeter.

»Gern. Ich musste mich erst einrichten.« Es ist nur halb gelogen, lügen konnte ich noch nie.

»Meine Eltern kommen endlich heim. Tante Rieke geht es besser. Sie freuen sich schon, dich zu sehen.«

»Ich mich auch.« Die beiden waren mir damals sehr nahe, ich habe sie vermisst. »Nele, ich rufe an, weil die Treppe …« Rasch schildere ich das Malheur.

»Geh zu Malte. Mich wundert ohnehin, dass er noch nicht bei dir war.«

»Weshalb hätte er das tun sollen?« Malte? In mir kribbelt etwas.

»Es ist kein Geheimnis, dass du wieder hier bist. Er hat eine eigene Tischlerei, habe ich dir doch gesagt. Da ist deine Treppe in den besten Händen.«

Auf einmal freue ich mich, meinen Jugendfreund wiederzusehen.

»Nele, ich habe gestern mit meiner Mutter telefoniert.«

»Du musst wieder nach Wien? Das kann sie nicht machen. Du bist gerade erst angekommen und …«