Wenn Mönche morden - Frédéric Lenormand - E-Book

Wenn Mönche morden E-Book

Frédéric Lenormand

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Beschreibung

Mit einem Untersuchungsauftrag zum taoistischen „Kloster der Träume" entsandt, wird Richter Di mit mehreren unerklärlichen Selbstmorden konfrontiert. Auch andere merkwürdige Phänomene finden dort statt: vorausgegangene Visionen, Zauber und Spuk...Der Alltag der Mönche ist entschieden in Verwirrung geraten. Obwohl der Abt offenbar sehr an der Abreise des Richters und seines Mitarbeiters Tao Gan interessiert zu sein scheint, ist der Richter fest entschlossen, Licht in das Dunkel zu bringen. Leicht wird ihm das nicht gemacht, denn zufällig werden dort auch Festtage zu Ehren taoistischer Heiliger veranstaltet, ja sogar Heiligsprechungen einzelner Mönche vorgenommen und der entsprechende Besucherrummel erschwert die Ermittlungen ganz besonders. Auch die Befragung einzelner Mönche gestaltet sich nicht immer so, wie der Richter sich das wünscht, doch schließlich gelingt es Di Dank seiner Abgeklärtheit, Routine und Hartnäckigkeit, das schaurige Geheimnis um einen mordenden Mönch zu lüften. Interessanter und kenntnisreicher historischer Krimi im Spannungsfeld zwischen Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus.

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Frédéric Lenormand

Wenn Mönche morden

Reihe: Neue Ermittlungen des Richters Di

Episode 4

Kuebler Verlag

Das Buch

Richter Di wird mit einem Auftrag zum taoistischen Kloster der Träume entsandt, um mehrere unerklärliche Selbstmorde zu untersuchen. Auch andere merkwürdige Phänomene finden dort statt: vorausgegangene Visionen, Zauber und Spuk ... Der Alltag der Mönche ist definitiv in Unordnung geraten. Obwohl der Abt offenbar sehr an der Abreise des Richters und seines Mitarbeiters Tao Gan interessiert scheint, ist der Richter fest entschlossen, Licht in das Dunkel zu bringen.

Leicht wird ihm das nicht gemacht, denn zufällig werden dort auch Festtage zu Ehren taoistischer Heiliger veranstaltet, ja sogar Heiligsprechungen einzelner Mönche vorgenommen und der entsprechende Besucherrummel erschwert die Ermittlungen besonders. Auch die Befragung einzelner Mönche gestaltet sich nicht immer so, wie der Richter sich das wünscht, doch schließlich gelingt es Di dank seiner Abgeklärtheit, Routine und Hartnäckigkeit, das schaurige Geheimnis um einen mordenden Mönch zu lüften.

Der Autor

Frédéric Lenormand wurde am 5. September 1964 in Paris geboren.

Weil sein Großvater ein bekannter Sammler japanischer Kunstwerke ist, fühlte er sich bereits seit seiner Kindheit zur Kultur fernöstlicher Länder hingezogen. Nach einem Sprachenstipendium im Jahr 1982 setzte er seine Ausbildung am Institut für Politische Studien und später an der Sorbonne fort.

1988 erschienen seine ersten fünf Romane, von denen ihm gleich der erste (Le songe d'Ursule – „Ursulas Traum“) den „Del Duca“-Preis für junge Romanschriftsteller einbrachte. In den 1990er Jahren wurden seine Werke mit weiteren Preisen ausgezeichnet, darunter war auch der François-Mauriac-Preis der „Académie française“.

Schwerpunkt seines literarischen Schaffens wurden historische Romane, darunter sind auch die beiden Serien Voltaire mène l‘enquête (Voltaire leitet die Ermittlung) und Les nouvelles enquêtes du juge Ti (Neue Ermittlungen des Richters Di).

Frédéric Lenormand

Wenn Mönche morden

Neue Ermittlungen des Richters Di

Episode 4

Roman

Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Frank

Als deutsche Originalausgaben der Reihe „Neue Ermittlungen des Richters Di“ sind erschienen:

Das Wasserschloss am Tchou-An-See

Die Nacht der Richter

Das Palais der Kurtisanen

Wenn Mönche morden

Weitere Informationen: www.kueblerverlag.de

Impressum

Deutsche Erstveröffentlichung

Copyright © 2017 Kuebler Verlag GmbH, Lampertheim.

Französischer Originaltitel:

Petits meurtres entre moines de Frédéric Lenormand

© LIBRAIRIE ARTHEME FAYARD, 2004.

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten. Keine unerlaubte Reproduktion, Vervielfältigung, Vermietung, Verleih, Einspeisung ins Internet, Aufführung oder Sendung.

Übertragung aus dem Französischen von Gerd Frank.

Herausgeber der Reihe: Gerd Frank

Lektorat: Anabelle Assaf – Rotkel Textwerkstatt

Umschlaggestaltung unter Verwendung der Zeichnungen von © Andreeva Svetlana

ISBN Printbuch: 978-3-86346-032-7

ISBN Digitalbuch, EPUB 978-3-86346-301-4

Die Handlung spielt im Jahr 669.

Richter Di, 39 Jahre alt, ist Bezirksvorsteher von Puyang, einer blühenden Stadt am Ufer des Großen Kaiserkanals.[1]

***

[1] Es handelt sich um eine imaginäre Kreisstadt in der Provinz Kiang-su (Anm. d. Übersetzers).

Kapitel I

Richter Di hat häusliche Probleme; er bekommt es mit einer skandalösen Prügelei zu tun.

Die von Richter Di verwaltete Stadt lag zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere im Herzen eines landwirtschaftlich prosperierenden Gebietes, das vom Großen Kanal bewässert wurde. Dieser Kanal durchquerte das Reich von Norden nach Süden und stellte ein wahrhaft monumentales Bauwerk dar. Zusätzlich zu den reichen Ernten verschafften die Schiffe, die im Hafen vor Anker gingen, der Stadt beachtliche zusätzliche Erträge. Der nahegelegen Fluss ermöglichte überdies den Armen, vom Fischfang zu leben. Das Militär sorgte für die Einhaltung der Ordnung, Steuern gingen nahezu von selbst ein. Nichts schien daher die Ruhe des glücklichen Bezirksvorstehers stören zu können, der damit beauftragt war, diesen blühenden Flecken Erde zu verwalten.

Di saß in seinem Arbeitszimmer und verdaute soeben geruhsam seinen Mittagsreis. Gelegentlich warf er einen oberflächlichen Blick auf die Dokumente zu aktuellen Gerichtsverfahren, was ihn mit Zufriedenheit erfüllte. Da vernahm er plötzlich ein schreckliches Geschrei, das sich zunächst in ein Wutgebrüll verwandelte, um dann in anhaltendes Schluchzen überzugehen. Der glückliche Bezirksvorsteher der blühenden Stadt fragte sich, welcher Teufel es wagte, ihn in seiner angenehmen Beschaulichkeit zu stören. Er schickte deshalb seinen Sekretär Tao Gan los, um dem auf den Grund zu gehen.

Seit langer Zeit waren die Nerven seiner Ersten Dame wegen der zwei Nebenfrauen einer harten Zerreißprobe ausgesetzt. Nach ihrer Ansicht hatte ihr Gatte schlechten Geschmack bewiesen, indem er ihr zumutete, mit den beiden zusammenzuleben. Denn die Zweite Dame war für sie eine ungebildete Idiotin von absolut niedrigem Niveau, die wohl nur wegen ihrer körperlichen Vorzüge auserwählt worden war. Noch schlimmer war, dass die Dritte Dame die reinste Legehenne war. Zwar nannten alle Kinder des gemeinsamen Haushalts ungeachtet ihrer tatsächlichen Abstammung die Erste Dame „Mutter“, während sie die anderen Damen „Tante“ nannten, doch die Erste Dame hatte keinem einzigen von ihnen selbst das Leben geschenkt. Sie hatte keine Kinder, und so hatte man sie dazu angehalten, die der Nebenfrauen wie ihre eigenen zu behandeln. Unglücklicherweise hatten die beiden die Angewohnheit, so oft schwanger zu werden, wie die Natur es ihnen gestattete. Die Zweite Dame hatte bereits mehrere Jungen geboren und der Dritten Dame stand ein solch glückliches Ereignis gerade wieder bevor – was bedeutete, dass sie sich während ihrer Schwangerschaft wie eine kleine Königin aufführen durfte und eventuell sogar noch darüber hinaus, sollte es ihr vergönnt sein, einen weiteren Erben zur Welt zu bringen. In der Familie gab es bereits drei Kinder – die Mädchen nicht mitgezählt –, sehr zum Kummer der leidgeprüften Ersten Dame.

Bereits seit Sonnenaufgang hatte sie sich an diesem Morgen über Gouang-tse und Jing-hui, die beiden älteren Kinder, aufgeregt. Ein Blumengesteck, das sie am Vorabend mit größter Sorgfalt zusammengestellt hatte, war im Laufe eines Ballspiels, das sie natürlich verboten hatte, zerstört worden. „Warum haben die Götter mir auferlegt, die Dummheiten dieser Kinder ertragen zu müssen, selbst aber keine haben zu dürfen?“, fragte sie sich verdrossen. In Wirklichkeit, überlegte sie dann, hatten die Götter keinen großen Anteil daran. Es waren die von Männern eingeführten Gesellschaftsregeln, die hierfür verantwortlich waren, und laut diesen galt es vor allem stets rückhaltlos auf ihre eigene Bequemlichkeit, nicht aber auf die der Frauen, zu achten. So war sie nicht weit davon entfernt zu denken, dass dieses Prinzip sie dazu verurteilte, die Hölle auf Erden zu erleben. Eine Verbesserung ihrer Lage würde möglicherweise erst im Jenseits eintreten, wobei die dortigen Aufenthaltsbedingungen selbstverständlich völlig unklar waren. Nun hatte der Arzt ihr Kräuter empfohlen, die ihre Nerven kräftigen sollten. Also schlürfte sie brav und oft beruhigende Tees. Die führten allerdings hauptsächlich dazu, dass sie am Tag an die zwanzigmal die Toilette aufsuchen musste.

Noch während sie versuchte, ihre innere Gelassenheit auf einem Ruhebett wiederzufinden, hatte der jüngste ihrer Quälgeister den üblen Einfall, ihr einen dummen Streich zu spielen. Mit ihren Bemühungen, sich zu entspannen, war es sofort vorbei. Die Erste Dame stieß einen Wutschrei aus, warf den Frechdachs kurzerhand hinaus und schlug mit großem Krach die Türe hinter ihm zu. Dann schloss sie sich in ihrem Zimmer ein.

Tao Gan kehrte zu seinem Herrn zurück, um ihm die Situation zusammenzufassen. Er schickte sich gerade an, mit diplomatischen Worten den Vorfall zu schildern, als der Richter die Hand hob.

„Lass mich raten. Schauen wir, ob ich heute Morgen scharfsinnig genug bin. Es war meine Erste Dame, die so geheult hat, nicht wahr?“

„Ja, mein edler Herr Richter.“

„Grund für ihren Zorn war ein gemeiner Streich, den einer meiner Söhne ausgeheckt hat, wahrscheinlich der jüngste: Er hat zurzeit nichts anderes im Sinn.“

„Ich glaube ja, edler Herr Richter.“

„Und meine liebe Frau Gemahlin, inzwischen vollständig hysterisch, hat sich jetzt vermutlich in ihren Privaträumen eingeschlossen, nachdem sie alle Welt zum Teufel geschickt hat.“

„Ich hätte es anders ausgedrückt, aber damit liegen Sie in etwa richtig, edler Herr Richter.“

Di Jen-dsiä stand seiner Ersten Dame seit langer Zeit mit gemischten Gefühlen gegenüber. Aufgrund ihrer Herkunft war sie ihm vom Rang her ebenbürtig an Würde, denn sie entstammte einer ähnlich hohen Beamtenfamilie wie er selbst. Er konnte mit ihr Gespräche auf sehr hohem Niveau führen, ob es sich nun um seinen Beruf, die Schönen Künste oder die Wissenschaften drehte, denn sie hatte eine hervorragende Ausbildung genossen. Sie führte seinen Haushalt genauso erfolgreich wie er seinen Gerichtshof leitete. Und sie besaß ein bewundernswertes Geschick im Umgang mit den Bediensteten, wobei sie sich der ihr übertragenen Verantwortlichkeiten vollständig gewachsen zeigte. In gewisser Hinsicht war sie also die perfekte und vollkommene bessere Hälfte eines würdevollen Bezirksvorstehers. Andererseits war sie die einzige seiner Gattinnen, die er nicht selbst gewählt hatte. Wie es der Brauch war, hatte man ihre Ehe bereits zu einem Zeitpunkt arrangiert, als er noch nichts weiter war als ein einfacher Examenskandidat. Seine Eltern hatten die Ansicht vertreten, dass ihm die Gründung eines eigenen Hausstands die nötige Ruhe für seine Studien verschaffen würde, da sie ihn von jenem Leben der Ausschweifungen und leichten Vergnügungen ablenken würde, dem die Studenten im Allgemeinen ausgesetzt sind.

In der Zwischenzeit war er reifer und unabhängiger geworden und hatte bei seinen nächsten beiden Gemahlinnen ein entscheidendes Wort mitgesprochen – deren Auswahl war vor allem auf seinem persönlichen Geschmack begründet. War ihm seine Erste Dame behilflich, ein Leben als eifriger Diener des Himmelssohnes zu führen, so bemühten sich die anderen beiden Frauen um seine Annehmlichkeiten, vor allem aber darum, ihm Nachkommen zu sichern. Diese ungleiche Verteilung von Aufgaben schien sich auf lange Sicht ungünstig auf den gesundheitlichen Zustand seiner Ersten Dame auszuwirken, deren üble Stimmung geradezu ansteckend wirkte. So manches Mal hatte er schon feststellen müssen, dass bestimmte Leute nicht über die Gabe verfügten, sich mit dem ihnen von der Gesellschaft auferlegten Schicksal abzufinden. Wurden nicht auch viele unüberlegte Verbrechen aus Unzufriedenheit begangen?

Seufzend erhob er sich und begab sich langsamen Schrittes zu den Privatgemächern seiner Ersten Dame.

Sanft klopfte er an die verschlossene Tür.

„Darf ich mein Paradiesvögelchen fragen, welch bedauerlicher Vorfall die beste aller Ehefrauen derart bekümmert hat?“

„Nichts, das Eure Aufmerksamkeit verdient“, antwortete eine schluchzende Stimme.

„Ich stelle fest, dass Sie in letzter Zeit sehr müde sind. Vielleicht ist die Last dieses Hauses zu schwer für Ihre zarten Schultern?“, forschte er. „Wenn es notwendig sein sollte, könnte ich mir ja eine vierte Gefährtin zulegen, die Sie bezüglich der Führung der Bediensteten entlasten könnte?“

Er hatte tatsächlich erst kürzlich in der Stadt eine junge Dienerin mit breiten Hüften und beachtlicher Oberweite bemerkt, die ihm als ideale Konkubine erschienen war.

Seine Erste Dame stieß einen neuerlichen Schrei aus, diesmal aus größter Wut. Ein Gegenstand prallte gegen die Tür und sie brüllte, ihr geliebter Gatte solle verschwinden und sie in Ruhe ihrem Leid überlassen.

„Wie ist es nur möglich, dass man überall gefürchtet, in seinem eigenen Haus aber nicht einmal respektiert wird?“, dachte er und zog sich zurück.

Tao Gan erwartete ihn in seinem Büro.

„Meine Erste Dame ist zurzeit ein wenig nervös“, sagte der Herr des Hauses düster.

Der Sekretär erwiderte, dass dies manchmal bei Frauen vorkomme, die langsam aber sicher verzweifelten, wenn ein Jahr ums andere verging, ohne dass sie mit dem ersehnten Kind gesegnet wurden. Er schlage daher vor, dem Tempel der Fruchtbarkeit ein großzügiges Opfer darzubringen. Di erwiderte trocken, dass er Tao Gan als Sekretär angestellt habe, nicht als spirituellen Ratgeber, und bat ihn, ihm die Akten des heutigen Tages vorzulegen.

Nachdem er sich den üblichen Standes- und Katasteramtsanfragen gewidmet hatte, legte ihm Tao Gan den Bericht eines Garnisonshauptmanns vor, den man außerhalb der Stadt stationiert hatte, um dort einen merkwürdigen Streit zwischen zwei Religionsgemeinschaften zu schlichten.

„Ein Streit theologischer Art?“

„Nach dem, was ich gelesen habe, geht es dabei eher um eine schmutzige Prügelei“, antwortete der Sekretär und runzelte verächtlich die Stirn.

„Was für ein Glück“, dachte der Richter, „so kann ich mich auf angenehme Weise von meinen häuslichen Sorgen ablenken.“ Der Hauptmann berichtete, dass mehrere taoistische Mönche und buddhistische Nonnen an einer Kreuzung des Weges, der zu ihren beiden Klöstern führte, handgreiflich geworden seien. Er hatte die Gründe, die zu der Auseinandersetzung geführt hatten, nicht ermitteln können. Ernsthaft Verletzte hatte es nicht gegeben, aber die Angehörigen beider Gemeinschaften drohten damit, Klage einzureichen, da sie sich jeweils belästigt sahen und die Praktiken der Gegenseite unvereinbar mit der Ausübung der eigenen Religion seien.

Richter Di hatte schon davon gehört, dass die unzähligen Sekten, die es im Lande gab, ständig miteinander im Streit lagen, allen voran die beiden vorherrschenden Religionen, wobei er selbst der einzig wahren Lehre – nämlich der des Konfuzius – anhing, nicht zuletzt deshalb, weil dieser die Ausübung von Gewalt unter keinen Umständen billigte. Es kam allerdings auch nur selten vor, dass Angehörige zweier so kontemplativer Orden ihre unterschiedlichen Standpunkte mit Stockhieben verteidigten, wie es im Bericht vermerkt worden war. Einer der wenigen Mönche, den noch kein Tritt in den Unterleib dazu verdammt hatte, mindestens drei Tage lang auf der Krankenstation seines Ordens das Bett zu hüten, hatte eine der Nonnen ins Ohr gebissen. Der Hauptmann war der Ansicht, dass solche Vorkommnisse schlicht untragbar seien, und schlug daher vor, dass der Bezirksvorsteher von Puyang die beiden verfeindeten Gruppen schnellstmöglich zur Ordnung rufen und ihnen die Unzumutbarkeit ihres Verhaltens vor Augen führen sollte.

Richter Di, der wie generell alle hohen Beamten des Kaiserreichs überzeugter Anhänger des Konfuzius war und für den diese philosophische Religion wie geschaffen zu sein schien, fand nichts an der Tatsache auszusetzen, dass sich diese beiden Gruppen, deren Religionen wiederum seiner Meinung nach auf Vertrauensseligkeit und Aberglaube beruhten, in den Augen der Öffentlichkeit lächerlich machten. Seine Aufgabe bestand aber nun einmal darin, die Ordnung wiederherzustellen, was er sich denn auch widerwillig vornahm. Ihm war übrigens durchaus bewusst, dass das Ansehen der Buddhisten seit Kurzem am Hofe von Chang-an erheblich zugenommen hatte. Und es wäre ihm höchst unangenehm gewesen, wenn die Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Religionsgemeinschaften bis vor das Kultusministerium gelangt oder sogar noch schlimmer, zur Staatsangelegenheiten erklärt worden wäre. Nicht auszudenken, wenn ihm seine Vorgesetzten in scharfem Ton seinen öffentlichen Auftrag hätten in Erinnerung rufen müssen. In jedem Fall schien es klüger zu sein, diesen Brand bereits im Keim zu ersticken, wenn er vermeiden wollte, dass die Sache eskalierte. Um sicher zu gehen, musste er sich selbst erst einmal ein Bild von der Situation verschaffen. Es konnte nur von Vorteil sein, wenn er an jenem bizarren Fest teilnahm, das zu Ehren der taoistischen Heiligen veranstaltet wurde und von dem man ihm schon mehrfach erzählt hatte. Praktischerweise fand es in den kommenden Tagen statt.

Am besten wäre es, gleichzeitig einen seiner Adjutanten zu den Nonnen zu schicken, um auch die andere Version der Geschichte zu hören. Er überlegte, wen er zu diesen aggressiven Schwestern schicken sollte, die imstande waren, die intimen Bereiche ehrwürdiger Eremiten zu verletzen. Wer bewies genügend Gehorsam, Naivität oder Leichtsinn, um sich dieser Aufgabe anzunehmen? Ideal wäre es gewesen, eine Frau damit zu beauftragen; die wäre von ihren Gastgeberinnen bestimmt weit besser aufgenommen worden, hätte ihr Vertrauen schneller gewonnen und wäre insbesondere weniger angreifbar gegenüber gewissen Fußtritten gewesen.

Tao Gan, der inzwischen die Lektüre des Berichts fortgesetzt hatte, konnte sich das Verhalten der Ordensangehörigen immer weniger erklären. Auf der einen Seite das Taoistenkloster, das dem Traumkult geweiht war, weshalb seine Bewohner nicht gerade für körperliche Betätigungen bekannt seien. Auf der anderen Seite das Nonnenkloster, spezialisiert auf die Betreuung nervöser und launischer Menschen aller Art, was bei den Damen auf vernünftigere Charakterzüge hoffen ließe.

Das Wort „nervös“ weckte Richter Dis Interesse.

„Wie soll man das verstehen?“

„Es handelt sich um eine Zuflucht für Besessene, für Nerven- und Gemütskranke, kurz gesagt für all diejenigen, mit denen sich niemand beschäftigen will – zumindest laut dem, was ich hier lese. Ich bemitleide die Unglücklichen, deren Familien sich ihrer entledigen, indem sie sie fernab der Welt einschließen. Es handelt sich um die Art Ort, von dem man nicht weiß, ob man ihn, einmal betreten, jemals wieder verlassen wird. Nur egoistische und unsensible Menschen können es übers Herz bringen, ihre Verwandten dort zu lassen! Das muss der traurigste Ort auf der ganzen Erde sein. Schämen sollten sich diejenigen, die sich für eine solche Lösung entscheiden!“

„Na, das wäre doch der ideale Rückzugsort für meine empfindliche Erste Dame!“, rief Richter Di an dieser Stelle, der bereits seit einigen Sekunden nicht mehr zugehört hatte. „Sie erträgt keine anderen Menschen und heult bei dem geringsten Anlass! Wenn sie da nicht zur Besinnung gebracht wird, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Der Kontakt mit weitaus Unglücklicheren wird ihr gewiss guttun.“

Tao Gan konnte sein Erstaunen, das mit einem Anflug von Entsetzen gepaart war, nicht verbergen, als er das hörte. Das Kloster schien ihm kaum der geeignete Ort zu sein, der Ersten Dame seines Herrn die Freude am Leben zurückzugeben.

„Nun, dann wird sie wenigstens wissen, warum sie heult!“, rief Di, der von seinem Einfall begeistert war. Jetzt galt es lediglich, sie von dem Aufenthalt bei den Verrückten – ein Detail, das er wohlweislich übergehen würde – zu überzeugen. Di beeilte sich daher, erneut die Privatgemächer seiner Ersten Dame aufzusuchen und klopfte sanft wie ein Lamm an deren Tür.

„Fühlt sich mein kleiner Kolibri inzwischen wieder besser?“, flüsterte er.

Ein Grunzen wie von einem Brummbären antwortete ihm. Je mehr er nachdachte, umso vorteilhafter erschien ihm diese Reise. Seine Erste Dame würde die Richtige sein, die Situation der Nonnen aus nächster Nähe zu studieren. Gleichzeitig würde dieses Manöver die Bekämpfung ihrer Launen begünstigen.

„Was würden Sie zu einem kleineren Aufenthalt auf dem Land in paradiesischer Umgebung sagen? Sie würden von qualifiziertem Personal betreut und hätten den ganzen Tag über nichts zu tun …“

Ein weiteres Grunzen war zu vernehmen, dann putzte sie sich geräuschvoll die Nase.

„Ein Ort, zu dem Sie ganz allein führen, ohne die anderen Frauen und ohne die Kinder?“, lockte der Richter sanft schmeichelnd.

Das Naseputzen wurde unterbrochen, ein Geräusch von Schritten signalisierte ihm, dass sie sich der Tür näherte. Sie hatte angebissen. Di erzählte außerdem noch von „einem spirituellen Rückzug, um zu den Seelen der lange vernachlässigten Vorfahren zu beten“, und das „an einem Ort der Ruhe und der Harmonie, wo man alles für den notwendigen Seelenfrieden der Besucher unternähme“. Wohlweislich hütete er sich, Geisteskranke oder Gitterstäbe zu erwähnen, da diese schlecht zu der idyllischen Szenerie gepasst hätten, die seiner Fantasie entsprungen war. Um ihr das Ganze besonders schmackhaft zu machen, erwähnte er die Möglichkeit, dass seine Gemahlin sich überdies dort nützlich machen könne, indem sie in der Gemeinschaft der heiligen Frauen einige Informationen sammelte, die sie ihm dann mittels eines speziellen Boten so oft zukommen lassen könne, wie sie nur wolle.

Die Erste Dame dachte daran, wie sehr sie es genießen würde, weder unfolgsame Kinder noch idiotische Nebenfrauen dulden zu müssen. Sie hätte zu diesem Zeitpunkt alles dafür gegeben, die anderen Gefährtinnen und deren Nachwuchs eine Zeit lang nicht mehr ertragen zu müssen. Diese Reise würde außerdem ihre Stellung als Hauptfrau stärken, da man ihr offenbar weit wichtigere Aufgaben anvertrauen konnte als die bloße Mutterrolle, derer sich ihre Konkurrentinnen auf so verhasste Weise erfreuten. Sie fasste den Vorschlag ihres Gatten als echtes Zeichen von Interesse und Liebe auf und entriegelte ihre Tür.

„Ihr seid so rücksichtsvoll“, murmelte sie und lächelte unter Tränen.

Richter Di empfing sie mit offenen Armen und beglückwünschte sich zu dem Erfolg, von dem seine wunderbare Idee jetzt schon gekrönt war.

Nun galt es nur noch zu entscheiden, wen er selbst mitnehmen sollte. Seine persönlichen Assistenten waren bloße Muskelpakete ohne großen Scharfsinn, und Wachtmeister Hong war ein alter Graubart, ein halber Krüppel. Also entschied er sich für Tao Gan, den Geistreichsten seiner Mitarbeiter. Er würde von seinen Fähigkeiten bei einer kleinen Ermittlung unter den Mönchen, die man tunlichst nicht weiter stören sollte, sicherlich profitieren.

Die laufenden Geschäftsangelegenheiten waren nicht gerade dringend, nichts sprach gegen eine spätere Erledigung. Hierbei handelte es sich ja nur um eine Verschiebung von ein paar Tagen, die zudem eine angenehme Ablenkung von der Verwaltungsroutine bot. Und wenn sich der Fall als bedeutungslos herausstellen sollte, würde ihm der Besuch dennoch Informationen über den Alltag und die esoterischen Feste in taoistischen Klöstern liefern, was sein Wissen bezüglich volkstümlicher Religionen nur verbessern konnte. Als überzeugter Konfuzianer verachtete er den Glauben an Dämonen, Wahrsagerei oder andere magische Phänomene. Gerade diesem fantastischen Aspekt verdankte aber der Taoismus seinen großen Erfolg in den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten. Einzig der Buddhismus machte ihm noch den Rang streitig, der dank seines Versprechens der Wiedergeburt das Herz jedes Sterblichen zu erobern imstande schien.

Man kam überein, dass die Ehegatten gemeinsam abreisen würden. Die Erste Dame ließ Pferde mit zahllosen Paketen beladen, unter denen sich auch ein schönes Geschenk für die Mutter Äbtissin fand, „welche die Liebenswürdigkeit besaß, sie an ihrer geheiligten Stätte zu empfangen“. Als Tao Gan die freudige Stimmung der armen Frau bemerkte, vermutete er, dass sein Herr sie über die wahren Tätigkeiten des Klosters im Unklaren gelassen hatte.

„Ich möchte ihr ja nicht die Überraschung verderben“, gestand der Richter, als er mitleidig die Reisevorbereitungen seiner Gemahlin beobachtete. „Vor allem, weil ich nicht zugegen sein werde, wenn sie sie erlebt, ihre Überraschung, und zornig wird“, schloss er in Gedanken.

Tao Gan lobte Richter Dis Qualitäten als fürsorglicher Ehemann, die genauso bemerkenswert waren wie seine Umsicht als Bezirksvorsteher im Umgang mit den schwierigsten Fällen. Die Erste Dame bestieg eine Sänfte, ihr Mann bevorzugte es zu reiten. Die Klöster befanden sich in nicht allzu ferner Umgebung; sie hatten daher nur eine halbe Tagesreise vor sich.

***

Kapitel II

Richter Di rekonstruiert einen merkwürdigen Streit; ihm wird ein unerwarteter Empfang im Kloster zuteil.

Sie gelangten an eine Kreuzung, an der eine monumentale Stele errichtet worden war. Tao Gan wies mit dem Finger in die beiden Richtungen, die sich ihnen eröffneten. In der Ferne nahm man auf einem steilen Hügel ein Gebäude wahr, auf einem anderen, sanfteren dagegen eine Reihe von Pavillons. Das Kloster der Träume befand sich links, das Kloster der Ewigen Ruhe rechts.

„Das wird aber mühsam!“, bemerkte die Erste Dame in ihrer Sänfte. „Sie tun mir leid, dass Sie da hinaufmüssen. Da sieht mein Kloster schon sympathischer aus mit den kleinen, verstreuten Pavillons. Fast wie Landhäuschen, nicht wahr? Welch reizende Architektur! Alles strahlt Frieden und Ausgewogenheit aus.“

„Sie werden dort perfekt untergebracht sein“, entgegnete ihr Gatte liebenswürdig.

Nun standen sie an genau der Stelle, an der die stürmische Begegnung zwischen Mönchen und Nonnen stattgefunden hatte. Di wollte sich das zunutze machen, indem er sich die Szene gedanklich vorstellte. Er ließ sich die Einzelheiten des vom Hauptmann verfassten Berichts nochmals vorlesen.

„Hier“, sagte Tao Gan, „waren zehn Mönche auf dem Weg nach Puyang, als sie auf eine Delegation von Nonnen stießen. Nach ihren Angaben wurden sie von den Frauen feige angegriffen, die ihnen zahlreiche Beulen und blaue Flecken zufügten, übrigens ohne dass sie auch nur im Geringsten provoziert worden wären.

„Aus wie vielen Personen bestand denn diese … Delegation, wie sie es nennen?“, erkundigte sich der Richter.

Tao Gan suchte länger in dem Dokument herum. „Aus … aus vier Frauen, edler Herr Richter. Es war eine kleine Delegation.“

Die beiden Männer wechselten einen verwunderten Blick.

„Dann waren diese Gläubigen zweifellos regelrecht sieche Greise?“, mutmaßte Di.

„Das wird nicht näher ausgeführt, edler Herr Richter. Im Bericht steht, dass sich unter ihnen auch mehrere Novizen befanden, und die waren gewiss nicht im fortgeschrittenen Alter.“

„Wer hat am Ende dieser bedauerlichen Auseinandersetzung den Sieg davongetragen?“

Tao Gan blätterte mehrere Seiten durch. „Hm. Nach dem, was hier steht, waren es die Nonnen. Der Offizier, der den Bericht unterschrieben hat, steht nicht in dem Ruf, ein Spaßvogel zu sein. Aber ist es nicht seltsam, dass schwache Frauen eine Gruppe von Männern verprügelt haben sollen, selbst wenn es sich bei diesen nur um schlechtgenährte, faule Frömmlinge gehandelt hat?“

„Dieser Punkt bedarf noch der Klärung. Beschränken wir uns für den Augenblick auf die Annahme, dass Buddha an jenem Tag offenbar besseren Schutz gewährleistet hat als die Gesetze des Tao.“

Die Erste Dame streckte den Kopf durch den Vorhang ihrer Sänfte. „Wovon sprechen Sie?“

„Von nichts Besonderem, meine liebe Seele!“, erwiderte Richter Di. „Wir stimmen uns nur über den weiteren Verlauf unserer Ermittlungen ab.“

„Brauchen Sie dazu noch lang? Ich sehne mich schon danach, meinen spirituellen Aufenthalt unter den heiligen Frauen anzutreten.“

Ihr Gatte kam nicht umhin zu bemerken, dass sie die Bedingungen ihres „spirituellen Aufenthaltes“ zu idealisieren schien. Was die heiligen Frauen anbelangte, so waren deren Exerzitien – wenn sie schon in der Lage waren, einen Trupp Mönche in die Flucht zu schlagen – wohl eher martialischer als spiritueller Natur.

„Leben Sie wohl, mein lieber Gatte!“, rief die Erste Dame nun und zog ihren Vorhang wieder zu. „Ich werde Ihnen durch eine Dienerin Nachrichten zukommen lassen.“

Der Richter wünschte ihr einen angenehmen Aufenthalt und die beiden Konvois trennten sich an der Wegkreuzung.

„Lässt man die Pensionsgäste mit der Außenwelt in Verbindung treten?“, wunderte sich Tao Gan und dachte an die Briefe, die die naive Unglückliche zu senden beabsichtigte.

„Ich möchte dich daran erinnern, dass ich meine Frau nicht dorthin schicke, damit man sie einsperrt“, erwiderte der Bezirksvorsteher. „Sie ist lediglich eine Besucherin. Patientin, im äußersten Falle. Ich hoffe, dass die Nonnen es nicht für nötig erachten werden, sie einzuschließen!“

„Oder, wenn sie es tun, sie hoffentlich erst wieder freilassen, nachdem sie sie vollständig beruhigt haben, edler Herr Richter.“

Zum Wohle des weiteren Verlaufs seiner Ehe musste Di nun bangen, dass die Nonnen seine Gemahlin auch standesgemäß behandelten, obwohl es nun natürlich etwas zu spät war, sich darüber noch Gedanken zu machen.

*

Der Weg, der zum Kloster führte, schlängelte sich schier unendlich den Hügel hinauf. Das Gebäude war auf dem Gipfel errichtet worden wie eine Leiter zwischen Himmel und Erde. Die hohe weiße Mauer, die es umgab, ähnelte eher der einer Festung als einem Ort der Gebete und der Meditation. Die Männer ritten an ihr entlang in Richtung des Haupttores.

Das Schweigen und die Ruhe waren so eindrucksvoll, dass sie Tao Gan in Bezug auf das bewegte Leben seines Herrn einen Vergleich anstellen ließen: Wohin dieser auch kam, schienen sich die Fälle geradezu auf ihn zu stürzen – wie wolkenbruchartiger Regen.

Der Richter kicherte. „Hier gehen wir ausnahmsweise kein solches Risiko ein – weder Morde aus Habgier noch untreue Frauen dürften uns erwarten. Nur friedliche Mönche, beschäftigt mit nichts anderem als zu beten. Dieser Aufenthalt wird uns eine erholsame Atempause bescheren!“

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein gellender Schrei ertönte, auf den das grauenvolle Geräusch eines gewaltigen Sturzes folgte. Unmittelbar vor ihren Pferden schlug ein menschlicher Körper auf: Er hatte sie nur um Haaresbreite verfehlt. Vor Schreck scheuten die Pferde. Die beiden Reiter zogen mit aller Kraft an den Zügeln und hatten große Mühe, die Tiere wieder zu beruhigen.

Der Richter starrte an der Mauer entlang nach oben und sah gerade noch einen Kopf, der herunterblickte. Auf diesem saß eine Kappe von der Art, wie sie nur der Ranghöchste solcher Gemeinschaften trug. Der Abt wich sogleich zurück und sein Gesicht verschwand hinter dem Bollwerk.

„Was war denn das?“, fragte Tao Gan und starrte auf den leblosen Körper. „Ein örtlicher Brauch? Eine grausame Bestrafung? Oder vielleicht ein Beispiel für den Umgang mit schlechten Mönchen?“

Aus einem beruflichen Reflex heraus stieg der Richter von seinem Pferd, um den Körper sogleich sorgfältig zu untersuchen.

„Können Sie etwas erkennen, edler Herr Richter?“, fragte der Sekretär.

„Ich sehe nichts weiter als einen toten Mönch“, erwiderte sein Herr. „Keinerlei Spuren von Gewaltanwendung. Er ist von da oben heruntergefallen wie eine reife Birne vom Baum.“

Der Mann lag in seinem safranfarbigen Gewand mit dem Gesicht zum Boden. Seine Kappe war davongeflogen, daher war sein glattrasierter Schädel zu sehen, um den sich eine rote Lache ausbreitete. Das Blut wurde von der Erde aufgesogen wie die für offizielle Bekanntmachungen verwendete scharlachrote Tinte von Löschpapier.

„In jedem Fall war dieser Mönch höchst ungeschickt“, kommentierte Tao Gan. „Glauben Sie, dass er Selbstmord begangen hat? Die taoistische Religion trachtet doch vor allem danach, das Leben zu verlängern. Seiner Existenz ein Ende zu bereiten, muss hier doch als das größte aller Vergehen gelten.“

„Es zieht aber keine Strafe mehr nach sich, zumindest nicht in dieser Welt“, entgegnete der Richter und schwang sich wieder auf sein Pferd.

Er nahm sich vor, baldmöglichst den Abt dazu zu vernehmen, was eines seiner Schäfchen veranlasst haben mochte, sich in die Tiefe zu stürzen. In diesem Augenblick eilten einige recht erschrocken aussehende Mönche herbei.

„Es ist Zeit, dass wir uns offiziell anmelden“, sagte der Richter und wies Tao Gan an, ihre Banderole auszurollen. Dieser zog aus seiner Tasche drei Bambusstäbe, die er so ineinander fügte, dass sie eine Stange ergaben; anschließend rollte er das lange Band aus karminrotem Stoff vollständig aus und hängte es an die Stange. Darauf war in gelben Lettern Der Gerichtshof des Richters Di zu lesen.

An der Spitze der Neuangekommenen marschierte der Prior, der den zweithöchsten Rang des Klosters bekleidete. Es war schwer zu sagen, was ihm unangenehmer war: der dramatische Vorfall oder die Tatsache, dass der Bezirksvorsteher alles miterlebt hatte.

„Edler Herr Richter! Wir fühlen uns geehrt von Eurem … unerwarteten Besuch!“, stammelte er zur Begrüßung und verbeugte sich tief. „Unsere bescheidene Behausung ist Eurer Anwesenheit kaum würdig!“

„Die Ehre ist ganz meinerseits“, entgegnete der Gast. „Es wäre aber nicht notwendig gewesen, mir einen Mönch zu Füßen zu werfen. Ein paar Blumen hätten genügt.“

Der Prior konnte der Worte gar nicht genug finden, um sich dieses bedauerlichen Vorfalls wegen zu entschuldigen. „Dass unser Bruder ausgerechnet den Zeitpunkt Ihrer Ankunft wählen musste, um von der Mauer zu fallen! Sein unverzeihliches Versagen diesbezüglich stürzt uns alle in tiefe Verlegenheit.“

„Beunruhigen Sie sich deswegen nicht!“, erwiderte der Richter mit einem Seitenblick auf Tao Gan. „Scheinbar passiert mir das ständig; es liegt wohl in der Natur der Dinge, dass der Tod immer dort auftritt, wohin ich meine Schritte lenke. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, sondern erweisen Sie mir die Ehre, uns in Ihrem erlauchten Hause aufzunehmen.“

Vom Prior geleitet gelangten sie in den Innenhof des Klosters, wo die allergrößte Aufregung herrschte. Der gesamte Ort wimmelte von alten Eremiten und jungen Mönchen, die alle in gelb-orangefarbene Kutten und dazu passende Kappen gekleidet waren. Viele von ihnen rannten auf der Mauer umher, wo man offensichtlich versucht hatte, den Verzweifelten von seinem traurigen Vorhaben abzuhalten. Zur Glückseligkeit des Bezirksrichters stimmte anscheinend hinter diesen wuchtigen Mauern irgendetwas nicht. Di fiel es äußerst schwer, die strenge Miene eines kaiserlichen Beamten auf Inspektionsreise zu wahren. In seinem Kopf brodelte es bereits, während er versuchte zu durchdringen, welches Mysterium, welches niederträchtige Geheimnis die Atmosphäre dieser Einsiedelei derart hatte verpesten können, dass es einen ihrer Bewohner zum Äußersten getrieben hatte.

Auf der Freitreppe stand der Abt. Er trug eine rote, mit goldenen Borten besetzte Robe. Auf seinem Kopf saß jene geschmückte Kappe, die Di bereits vom Weg aus wahrgenommen hatte. Sein Gesichtsausdruck war so undurchdringlich wie es sich für einen Geistlichen seines Ranges geziemte, der Gefasstheit und Gelassenheit demonstrieren musste – Tugenden, die alle Religionen der Welt besonders schätzten.

Die beiden Männer stiegen von ihren Pferden, um ihn zu begrüßen.

„Ich habe soeben erfahren, dass ein unglückseliger Zufall Ihre Ankunft gestört hat“, sagte der Ehrwürdige gewandt, aber kalt wie eine Statue. „Sie sehen mich zutiefst betrübt.“ Ein Haar in der Suppe hätte ihm vermutlich mehr Traurigkeit abgerungen.

„Machen Sie sich nur keine Sorgen, Meister“, wiederholte Richter Di beinahe jovial. „Passiert diese Art von Unfall hier öfter?“

Im Fall einer bejahenden Antwort hätte er umgehend geplant, seine Rente an diesem Ort zu verbringen, sobald die kaiserliche Verwaltung seiner Dienste nicht mehr bedurfte. Die Begebenheit bereitete ihm nämlich die größte Freude. Der Aufenthalt im Kloster würde scheinbar doch nicht so langweilig ausfallen, wie er befürchtet hatte. Er war stattdessen ganz in seinem Element! Es fehlte nur noch eine ordentliche Sittenwidrigkeit, eine Veruntreuung schändlich ergaunerter Geldmittel, und schon wäre alles wie gewohnt.

Die taoistische Religion begann ihm plötzlich sehr viel mehr zu gefallen. Der Abt hingegen teilte seine Begeisterung nicht.

„Darf ich fragen, welchem Umstand wir das Vergnügen verdanken, dass Eure Exzellenz uns zu einem solch unpassenden Zeitpunkt das erste Mal besuchen?“

Es war eine heikle Angelegenheit, dem hohen Mann, der auf der Freitreppe seines Klosters stand, mitzuteilen, dass der örtliche Bezirksvorsteher herauszufinden gedachte, warum sich seine schwächlichen Mönche auf der Landstraße von einer Handvoll frommer Nonnen hatten verprügeln lassen.

Richter Di verschob die unangenehmen Erklärungen auf später und entschied sich stattdessen für eine höfliche diplomatische Antwort: „Nun, obwohl ich meinen Aufgaben in Ihrem Bezirk schon seit einiger Zeit nachkomme, hatte ich bisher noch nicht das Vergnügen, das schönste Kloster der ganzen Gegend zu besuchen, dessen Ruf den Neid aller anderen erregt. Von einer plötzlichen Eingebung getrieben, hatte ich heute Morgen den Wunsch, dieses Versäumnis aus der Welt zu schaffen. Was genau mich nach dem Aufwachen veranlasst hat, Sie unverzüglich aufzusuchen, kann ich nicht einmal sagen.“

Dieser letzte Satz weckte das Interesse des Abtes.

„Das ist bemerkenswert! Eure Exzellenz wurden offenbar im Traum von einem guten Geist dazu angeregt, diesen Besuch vorzunehmen. Es wäre interessant zu erfahren, ob Sie sich noch an Einzelheiten dieses Traumes erinnern.“

Einen Augenblick lang war Richter Di über diese seltsame Antwort verblüfft, dann fiel ihm plötzlich ein, dass sich diese Einrichtung das Kloster der Träume nannte; das waren demnach keine leeren Worte: Man beschäftigte sich tatsächlich mit nächtlichen Visionen. Er antwortete daher, dass dieser Traum zwar durchaus stattgefunden haben mochte, dass er aber leider keinerlei Erinnerung daran bewahrt habe.

„Das ist aber sehr schade!“, entgegnete der Abt. „Ich glaube, dass Ihr Aufenthalt bei uns in dieser Hinsicht unglaublich vorteilhaft sein wird. Wir haben verschiedene Techniken entwickelt, wie man unmittelbar nach dem Aufwachen Träume festhalten kann. Dies ist nämlich die Grundlage unserer Lehre.“

„Das klingt faszinierend“, antwortete der Richter und fragte sich gleichzeitig, wie er seinen erhabenen Gesprächspartner am schnellsten wieder auf das handfestere Thema des vorzeitigen Tods eines seiner Schäfchen lenken konnte.

Der Abt klatschte in die Hände. Ein junger Mönch eilte dienstbeflissen herbei und verbeugte sich demütig.

„Zeigen Sie dem Sekretär Seiner Exzellenz schon mal die Gemächer“, befahl ihm der Patriarch. „Sie haben zweifellos das Bedürfnis, sich von den Strapazen der langen Reise zu erholen“, fügte er an seinen Besucher gewandt hinzu.

„Überhaupt nicht“, antwortete dieser, während Tao Gan bereits im Inneren des Gebäudes verschwand, gefolgt von einigen Novizen, die das Gepäck hineintrugen. Indessen wurde die Leiche des Mönchs auf einer Bahre in den Hof geschafft.

Jetzt hatte Richter Di endlich einen Anlass, um auf das Thema überzuleiten, das ihn am meisten interessierte. „Ich bin erstaunt, dass die umfassende Weisheit, die hier gelehrt wird, Ihrem Schüler nicht dazu verholfen hat, sich vor dem unheilvollen Schicksal zu bewahren, zu dem er sich selbst verdammt hat“, sagte er und war äußerst zufrieden mit seiner Formulierung.

Der Abt seufzte. „Bruder Mo war ein hervorragender Mönch und ein brillanter Träumer“, sagte er.

Richter Di fragte sich, ob er richtig gehört hatte. „Entschuldigen Sie, wie ist das zu verstehen?“

„Ich sehe, dass Eure Exzellenz mit den Besonderheiten unserer Gemeinschaft noch nicht vertraut sind“, stellte der Abt fest und versprach, ihn bei einer besseren Gelegenheit in die Einzelheiten des Traumkultes einzuführen. „Im Moment genügt es für Sie zu wissen, dass wir den Träumen eine fundamentale Bedeutung beimessen. Sie dienen auch dazu, unter uns eine Art Rangordnung herzustellen – vor allem nach unserem Tod. Morgen, vor Bruder Mos Beerdigung, werden wir dessen Träume besprechen und dabei, da bin ich mir absolut sicher, einige bemerkenswerte Überraschungen erleben.“

Di hatte sich inzwischen schon daran gewöhnt, dass eine Überraschung auf die nächste folgte. Er hatte kein Wort von dem verstanden, was der Abt ihm gesagt hatte. Um wieder auf ein für Laien verständliches Gesprächsniveau zurückzukehren, bat er den Abt, ihm in groben Zügen die näheren Umstände des Todes zu erläutern.

Der weise alte Mann fuhr sich mit einem Anflug von Traurigkeit über seinen langen weißen Bart und teilte ihm mit, dass der hervorragende Mönch schon den gesamten Vormittag über recht bedrückt gewirkt habe. Er sei auf das Bollwerk emporgestiegen und habe zögernd am Rande des Abgrunds gestanden. Alles, was man zu ihm gesagt hatte, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, habe nichts genützt. Der Abt hatte sich persönlich zu ihm begeben, um ihn zur Vernunft zu bringen. Umsonst. In dem Moment, als man ihn daran zu erinnern versuchte, was er der Gemeinschaft schuldig war, dass er sich den Zorn der Dämonen der Hölle zuziehen werde und dass ihm seine innere Stimme doch zuflüstern müsse, dass er gerade eine Dummheit beging, war er in die Leere gesprungen.

„Nicht ganz ins Leere“, korrigierte ihn der Richter. „Unten standen nämlich mein Sekretär und ich. Ihr Verzweifelter hat uns nur knapp verfehlt.“

„Ein derartiges Unglück konnte nicht geschehen“, sagte der Abt und wies mit einem Finger zum wohlwollenden Himmel hinauf, der über ihr Schicksal wachte, „da die positiven Kräfte, die Sie hierherführten, die gleichen sind, die die Gefahr von Ihnen ferngehalten haben. Die Götter haben Sie mit einer Aufgabe betraut, für deren Erledigung sie Ihnen alle nötigen Mittel zur Verfügung stellen werden. Zweifeln Sie also nicht daran, edler Herr Richter. Sie wachen über Sie.“

Mit Befriedigung registrierte Richter Di die Neuigkeit, dass er nunmehr für die taoistischen Götter arbeite. Dies würde ihn von Seiner Majestät dem Kaiser, dem Provinzgouverneur und dem Präfekten entbinden, denen er für gewöhnlich unterstellt war. Er hoffte, dass sich seine neuen Arbeitgeber als mindestens so großzügig erweisen würden wie seine vorherigen.

Di verbeugte sich, um dem alten Mann für diese glückliche Prophezeiung zu danken, der sich alsdann mit der Gelassenheit des über allen Dingen stehenden Weisen zurückzog. Seine Füße waren unter der langen roten