Wenn sich die Fakten ändern - Tony Judt - E-Book

Wenn sich die Fakten ändern E-Book

Tony Judt

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Beschreibung

Das Vermächtnis eines legendären Historikers und wegweisenden Intellektuellen: »Wenn die Welt sich ändert« versammelt erstmals Tony Judts wichtigste Essays in einem Buch. Die Texte reflektieren die großen Themen, die ihn zeitlebens beschäftigten – Europa und der Kalte Krieg, Israel und der Holocaust, 9/11 und die neue Weltordnung. Zudem dokumentieren sie die Entwicklung seiner Denkweise und die bemerkenswerte Beständigkeit seines leidenschaftlichen Engagements sowie seine intellektuelle Energie. Judt brachte Geschichte und Gegenwart zusammen wie kaum ein anderer Denker seiner Zeit. Die vorliegenden Essays lassen uns die Welt, in der wir leben, mit neuen Augen sehen. Mit einem Vorwort von Jennifer Homans.

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Seitenzahl: 561

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Tony Judt

Wenn sich die Fakten ändern

Essays 1995-2010

Mit einem Vorwort von Jennifer Homans

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motti]VorwortDie Redlichkeit des IntellektuellenErster Teil, 1989 – Unser Zeitalter 1 Immer weiter bergab2 Europa – die große IllusionI.II.3 Verbrechen und andere Kleinigkeiten4 Warum der Kalte Krieg funktionierteI.II.5 Welches Osteuropa hätten Sie denn gern?I.II.III.IV.Zweiter Teil, Israel, der Holocaust und die Juden6 Der Irrweg7 Israel – die Alternative8 Eine Lobby, keine Verschwörung9 Das »Problem des Bösen« im Nachkriegseuropa10 Israelische Fiktionen11 Israel muss sich von seinem ethnischen Mythos verabschieden12 Israel ohne Klischees13 Was ist zu tun?Dritter Teil, Der 11. September 2001 und die neue Weltordnung14 Was uns Die Pest heute zu sagen hat15 Sich selbst der größte FeindI.II.16 Wie Amerika die Welt siehtI.II.17 AntiamerikanerI.II.18 Die neue WeltordnungII.II.III.19 Hat die UNO noch eine Chance?20 Haben wir aus der Vergangenheit etwas gelernt?Vierter Teil, Wie wir heute leben21 Glanz und Ruhm der Eisenbahn22 Gebt uns die Eisenbahn zurück!Wie wir heute lebenDie Eisenbahn und das moderne Leben23 Die Abrissbirne namens Innovation24 Was ist lebendig und was ist tot an der Sozialdemokratie?25 Generationen im GesprächFünfter Teil, Auf lange Sicht sind wir alle tot26 François Furet27 Amos Elon28 Leszek KołakowskiRegister

Für Joe

Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und Sie, was machen Sie?

John Maynard Keynes zugeschriebener Ausspruch

Geschichte wird von anderen gemacht … Ich sage nur, dass es auf dieser Erde Plagen und Opfer gibt und dass man sich, so weit wie möglich, weigern muss, auf Seiten der Plage zu sein.

Albert Camus, Die Pest

Vorwort

Von Jennifer Homans

Die Redlichkeit des Intellektuellen

Dieses Vorwort kann ich nur schreiben, wenn ich von dem Menschen Tony Judt abstrahiere und mich auf seine Ideen konzentriere. Sonst lande ich wieder bei dem Mann, den ich geliebt habe und mit dem ich von 1993 bis zu seinem Tod im Jahr 2010 verheiratet war, und komme nicht zu seinen Ideen. Sie als Leser werden sich hoffentlich auch auf die Ideen konzentrieren, denn es sind vernünftige Ideen eines Historikers, für den intellektuelle Redlichkeit Grundlage und Richtschnur seiner Arbeit war. Tony konnte diesem Begriff viel abgewinnen, er verstand darunter eine Arbeitsweise, die frei ist von jedwedem Kalkül – etwas sauber, klar und ehrlich darlegen.

Dies ist ein Buch über unsere Zeit. Die Kurve zeigt nach unten – von den Gipfeln der Revolutionen von 1989 mit ihren Hoffnungen und Chancen über die Katastrophe des 11. September 2001, den Irakkrieg und die sich verschärfende Nahostkrise bis hin zum Niedergang der amerikanischen Demokratie. Tony stellte immer öfter fest, dass er gegen diese Entwicklung anschrieb und all seine intellektuelle Kraft darauf verwendete, das Schiff der Ideen auf einen anderen Kurs zu bringen. Mit seinem viel zu frühen Tod ging diese Geschichte jäh zu Ende.

Für mich ist dieses Buch ein sehr persönliches Buch, denn »unsere Zeit« ist auch »meine Zeit« mit Tony. Die älteren Texte sind in den Anfangsjahren unserer Ehe entstanden, in der Zeit, in der unser Sohn Daniel geboren wurde, während unserer gemeinsamen Zeit in Wien, Paris, New York, in der Zeit, in der Nicholas geboren wurde und die Familie heranwuchs. Nicht zufällig begann unser gemeinsames Leben mit dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989. Ich studierte an der New York University, wo Tony unterrichtete. Im Sommer 1991 reiste ich durch Mitteleuropa, und nach meiner Rückkehr wollte ich mehr wissen. Man riet mir, ein Privatseminar bei Tony Judt zu belegen.

So geschah es, und so begann unsere Romanze bei Gesprächen über europäische Geschichte, Krieg, Revolution, Gerechtigkeit, Kunst. Es war nicht das übliche Arrangement. Unser zweites »Seminar« fand in einem Restaurant statt. Tony schob die Bücher beiseite, bestellte Wein und erzählte von seiner Zeit in Prag, noch unter dem Kommunismus, und wie er 1989, bald nach der Samtenen Revolution, in dieser denkwürdigen historischen Umbruchsituation, durch die winterliche Stadt gelaufen war, über stille Plätze und Straßen. Es entwickelte sich etwas zwischen uns. Wir gingen ins Kino, in Ausstellungen, aßen chinesisch. Tony kochte sogar (äußerst miserabel). Und schließlich, ganz wichtig für unsere Beziehung, lud er mich zu einer langen Europareise ein: Paris, Wien, Budapest, die irrsinnige Fahrt über den Simplonpass bei Sturm (ich am Steuer, denn Tony hatte Migräne). Wir fuhren mit dem Zug, ich sah ihm dabei zu, wie er, über Kursbücher gebeugt, wie ein aufgeregtes Kind Ankunfts- und Abfahrtszeiten notierte: Zermatt, Brig, Florenz, Venedig.

Es war eine wunderbare Liebesgeschichte, eine europäische Liebesgeschichte, die sich einfügte in jene große Liebe zu Europa, die Tonys Leben und Arbeit prägte. Ich glaube, dass er sich manchmal sogar als Europäer empfunden hat, aber das war er nicht. Er sprach Französisch, Deutsch, Italienisch, Hebräisch, Tschechisch und ein wenig Spanisch, war aber in keinem dieser Länder zu Hause. Er war eher ein Mitteleuropäer, streng genommen auch das nicht – er hatte nicht diese Geschichte, abgesehen von seinem beruflichen Interesse und seiner Herkunft (russische, polnische, rumänische und litauische Juden). Er war, in England geboren und aufgewachsen, ein richtiger Engländer (konnte mühelos zwischen dem Cockney-Akzent seiner Kindheit und selbstbewusster Oxbridge-Sprache hin- und herspringen), aber auch das war er nicht ganz – dafür war er zu sehr Jude, zu sehr Mitteleuropäer. Nicht, dass er sich irgendwo fremd gefühlt hätte, auch wenn das manchmal vorkam. Eher gab es überall bestimmte Dinge, die ihm etwas bedeuteten, weshalb ihm alle diese Orte wichtig waren.

Und so ist es vielleicht nicht überraschend, dass wir, obwohl von Anfang an in New York wohnhaft, oft überlegten, anderswo zu leben. Wir waren erfahrene Umzugsexperten und fanden den Gedanken amüsant, gemeinsam ein Buch zu schreiben, das den Titel »Zuhause in Europa. Was Sie über Schulen und den Wohnungsmarkt wissen müssen« tragen würde. Das schönste Geschenk, das ich Tony machen konnte, war ein Abonnement von Thomas Cooks Railway Timetable.

Richtig sesshaft wurde Tony erst nach 2001, was auch mit seiner Gesundheit zu tun hatte. In diesem Jahr wurde eine Krebserkrankung bei ihm diagnostiziert, er wurde operiert, musste sich Bestrahlung und anderen strapaziösen Behandlungen unterziehen. Es hatte aber auch mit dem Anschlag auf das World Trade Center zu tun. Das Reisen wurde nun immer komplizierter, und das schreckliche Ereignis, in Verbindung mit seiner Krankheit, führte dazu, dass er bei mir und den Kindern in New York bleiben wollte. In den folgenden Jahren wurde er mehr und mehr, aber nie ganz, zu einem Amerikaner – ausgerechnet in einer Zeit, in der er besonders gute Gründe hatte, die amerikanische Politik zu kritisieren. Er nahm die amerikanische Staatsangehörigkeit an. »Fragt mich ab«, forderte er unsere beiden Jungs in den Wochen vor dem Einbürgerungstest auf, die dann mit ihm, der jahrelang in Oxford amerikanische Geschichte gelehrt hatte, amüsiert den Fragenkatalog durchgingen. Um 2003 bemerkte ich eine Veränderung in seinem Denken und Schreiben, vom »Sie« hin zum »Wir« – »Wie wir heute leben« (Kap. 26).

Es waren auch die Jahre des Remarque Institute, das Tony 1995 gründete und bis zu seinem Tod leitete. Forschungsschwerpunkt waren die Themen, die seine eigene Arbeit bestimmten: das Verhältnis zwischen Europa und Amerika, Geschichte und zeitgenössischer Politik. In jener Zeit schrieb er Postwar (Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart), ein Mammutprojekt, das für ihn, der sich gerade von seiner Krebserkrankung erholte, eine enorme körperliche und geistige Herausforderung war, jeden Tag aufs Neue. Ich weiß noch, mit welch disziplinierter Entschlossenheit er sich den hier versammelten Essays widmete, während er an seinem großen Buch über Europa schrieb. Mit Sorge verfolgte ich, wie streng er sich antrieb, aber heute weiß ich, dass er nicht anders konnte. Er hörte die Kanarienvögel im Bergwerk unseres Zeitalters. Ein Ergebnis sind die hier vorliegenden Texte, in denen er uns – vor allem uns Amerikaner – auffordert, das zwanzigste Jahrhundert nicht zu vergessen.

 

In diesem Buch sind nicht nur publizistische Arbeiten versammelt, sondern auch Obsessionen, Tonys Obsessionen. Es ist alles vorhanden: Europa und Amerika, Israel und der Nahe Osten, Gerechtigkeit, der öffentliche Raum, der Staat, internationale Beziehungen, Erinnern und Vergessen und vor allem natürlich die Geschichte. Seine Warnung, der wir in den hier vorliegenden Texten regelmäßig begegnen, dass aus dem »ökonomischen Zeitalter« ein »Zeitalter der Angst« wird und wir ein »Zeitalter der Unsicherheit« betreten, zeigt nur, mit welcher Sorge und mit welchem Pessimismus er die politische Entwicklung verfolgte. Er erwartete viel und war ein wacher Beobachter. In diesen Texten wird der Leser einem klarsichtigen Realisten begegnen, der an Fakten, Ereignisse, Daten glaubte, und einem Idealisten, der das gute Leben anstrebte – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft.

Ich habe die Texte chronologisch und thematisch geordnet, weil Chronologie zu Tonys größten Obsessionen gehörte. Er war schließlich Historiker, hatte wenig übrig für Intertextualität oder andere modische Strömungen der Postmoderne, zumal in der Geschichtsschreibung. Der Gedanke, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, interessierte ihn nicht (war das nicht offenkundig?), es ging ihm nicht darum, diesen oder jenen Text zu dekonstruieren. Seine Aufgabe sah er darin, zu zeigen, was gewesen war – ausgehend von vorhandenem Quellenmaterial, eine überzeugende und verständlich geschriebene Geschichte zu präsentieren, immer mit Blick auf die Frage, was richtig und gerecht ist. Chronologie war nicht bloß eine technische oder literarische Konvention, sondern eine Voraussetzung, für den Historiker sogar eine moralische Verpflichtung.

Ein Wort zu den Fakten: Ich kenne niemanden, der sich strenger an Fakten gehalten hat als Tony. Seine Kinder haben das von Anfang an bei ihm gelernt. Daniel, mittlerweile neunzehn, hat sich den Titel des vorliegenden Buches ausgedacht, einen Ausspruch, der Keynes zugeschrieben wird und zu Tonys beliebten Mantren gehörte: »Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und Sie, was machen Sie?« Ich habe das schon früh an ihm selbst erlebt, in einer dieser häuslichen Situationen, in denen sich das Wesen eines Menschen offenbart. Kurz nach unserer Hochzeit kauften wir ein Haus in Princeton (Tonys Idee) – aber es war eine ziemlich theoretische Angelegenheit. Theoretisch wollte Tony dort wohnen, faktisch lebten wir in New York oder fuhren nach Europa oder sonst wohin. Schließlich wollte ich das Haus verkaufen, denn es kostete uns einen Haufen Geld, und mich schreckte auch die Vorstellung, dort zu wohnen. Das führte zu einer langen, schwierigen Diskussion, aus der ein Streit wurde und am Ende ein wütender Konflikt über den emotionalen, historischen, geographischen Stellenwert von Häusern, einem Zuhause und warum gerade dieses Haus nichts für uns war.

Diskussionen mit Tony waren immer eine große Herausforderung, weil er ein meisterhafter Dialektiker war und jedes Argument gegen einen verwenden konnte. Schließlich notierte ich in einem verzweifelten strategischen Schritt alle Fakten auf einem Blatt Papier: unsere finanzielle Situation, Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge, Fahrkosten, die insgesamt aufgewendete Zeit fürs Pendeln. Tony studierte alles ganz genau und willigte sofort ein, das Haus zu verkaufen. Kein Bedauern, keine Schuldgefühle, keine Vorwürfe, keine weitere Diskussion. Er war schon beim nächsten Thema. Für mich war das eine erstaunliche und bewundernswerte Eigenschaft. Es verschaffte ihm eine Klarheit des Denkens, er klebte weder an seinen Ideen noch, wie ich später feststellte, an dem, was er früher einmal gesagt hatte. Wenn sich die Fakten änderten, wenn ein besseres, überzeugenderes Argument vorgebracht wurde, änderte er tatsächlich seine Meinung.

Er besaß eine große innere Sicherheit, die jedoch nicht angeboren, sondern hart erarbeitet war. Ich kenne niemanden, der so viele Fakten las, aufnahm, sich aneignete, memorierte und so viel »reales Zeug« wusste, wie er es nannte. Gesellschaftliche Veranstaltungen oder Partys waren nicht sein Ding. Tony, in gewissem Sinn scheu, blieb lieber zu Hause und las – Bücher bedeuteten ihm mehr als Smalltalk. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis, fand rasch und entschieden zu seinen Standpunkten, ging mit seinem ungewöhnlich großen Wissen und mit analytischer Schärfe an Probleme heran. Nicht, dass er seiner selbst absolut sicher war – er hatte, wie wir alle, Momente, in denen Vernunft und Urteilskraft ihn im Stich ließen, aber das waren eher Situationen im Alltag, nicht in seiner Arbeit. Im Denken war er nicht unsicher. Der Umgang mit Ideen und Argumenten fiel ihm leicht.

Tony war ein großartiger Autor, weil er beim Schreiben stets gewissenhaft diesem inneren Stimmton folgte. Er ging dabei nach einem festen System vor, auch die hier versammelten Texte wurden alle nach derselben Methode geschrieben, selbst die späten, die in einer Zeit entstanden, als er schon krank war und sich nicht mehr bewegen konnte. Zuerst las er alles, was zu einem Thema zur Verfügung stand, und machte dabei ausführliche handschriftliche Notizen auf liniertem gelbem Papier. Dann schrieb er das Konzept, A, B, C, D in jeweils verschiedenen Farben markiert, mit den Unterkategorien A1 I, A1 II, A2 III usw. Dann saß er stundenlang wie ein Mönch am Esstisch und wies jeder Zeile, jedem Ereignis, jeder Jahreszahl, jedem Argument oder Gedanken eine Stelle in dem Konzept zu. Als Nächstes schrieb er sämtliche Notizen entsprechend der darin festgelegten Reihenfolge um. Wenn er schließlich daranging, den Essay zu schreiben, hatte er das meiste, was er wissen musste, notiert, neu notiert und memoriert. Dann wurde geschrieben, hinter geschlossener Tür, acht Stunden täglich, Seite für Seite, bis das Stück fertig war (mit kurzen Pausen für ein Marmite-Sandwich plus starkem Espresso). Und ganz zum Schluss wurde gefeilt.

Daran änderte sich auch nach Ausbruch seiner Krankheit nichts, es wurde nur mühsamer. Jemand musste ihm die Hände ersetzen, Buchseiten umblättern, Material sammeln, im Internet recherchieren und tippen. Er brachte sich bei, mit Hilfe eines anderen Menschen zu denken und zu schreiben, ausgesprochen private Tätigkeiten, was nur beweist, von welch ungewöhnlicher geistiger Beweglichkeit er war. Er arbeitete mit einer Assistentin, aber den Großteil der Arbeit musste er in seinem Kopf leisten, mit Hilfe der Erinnerung, gewöhnlich nachts, die mentalen Notizen gemäß Konzept ordnen, katalogisieren und neu ordnen, so dass sie anderntags getippt werden konnten – von mir, von unseren Jungs, von einer Pflegerin oder seiner Assistentin.

Das war nicht bloß eine Methode, es entsprach seinem Denken. Logik, Geduld, höchste Konzentration, sorgfältige Strukturierung seiner Argumentation, strenge Beachtung von Fakten und Details, intellektuelle Sicherheit – anders als die meisten Kollegen wich er selten vom ursprünglichen Konzept ab. Schwierig wurde es, wenn er auf Dinge stieß, die ihm nicht ganz bewusst waren: nicht konkrete Fakten, sondern »innere Fakten«, Dinge, die einfach da waren, gewissermaßen zu seiner Ausstattung gehörten. Das Offensichtlichste hatte damit zu tun, dass er Jude war.

Für Tony war seine jüdische Herkunft eine Tatsache, das älteste vorhandene Ausstattungsstück. Es war die einzig eindeutige Identität, die er besaß. Er war nicht religiös, ging nicht in die Synagoge, war auch zu Hause kein praktizierender Jude. Er zitierte gern Isaac Deutscher (dessen Bücher er in jungen Jahren von seinem Vater Joe geschenkt bekommen hatte), der von den »nichtjüdischen Juden« gesprochen hatte. Wenn Tony von seinem Judentum sprach, dann ging es um die Vergangenheit: die Schabbat-Mahlzeiten bei seinen jiddisch sprechenden Großeltern im Londoner East End, der (sehr jüdische) säkulare Humanismus seines Vaters (»Ich glaube nicht an Rassen, ich glaube an den Menschen«) und die entschieden areligiöse Haltung seiner Mutter, die sich erhob, wenn die Königin von England im Fernsehen erschien, und ihre Enkel nicht beschneiden lassen wollte, aus Sorge, es könnten wieder »schlechte Zeiten« kommen. Oder sein Großvater Enoch, der sprichwörtliche heimatlose Jude, der immer auf gepackten Koffern saß und oft unterwegs war.

Noch ein Fakt: der Hut. Vor einigen Jahren waren wir in einem Taxi unterwegs zur Bat Mitzwa der Tochter von Freunden in einer Synagoge in der Upper East Side. Wir waren schon spät dran, aber plötzlich geriet Tony in Panik: Er hatte seinen Hut vergessen. Ob das wirklich so wichtig sei, fragte ich, wir würden uns verspäten, und er würde einen Teil des Gottesdienstes verpassen, wenn er umkehrte. Ob er nicht ohne Hut erscheinen könne. Ausgeschlossen. Eine unerklärliche Unruhe hatte ihn erfasst, die mich erstaunte. Er fuhr wieder nach Hause, um den Hut zu holen, ein gepflegtes, aber altmodisches Ding, das ich noch nie gesehen hatte. Als er schließlich die Synagoge betrat und sich rasch zu mir setzte, stellte er erstaunt fest, dass er der Einzige mit Hut war – alle anderen Gäste trugen Abendgarderobe. Tony war irritiert und auch ein wenig beleidigt, vor allem aber verwirrt – und offensichtlich fehl am Platz. Was für Juden waren das?

Tony hatte selbst Bar Mitzwa gefeiert (»Wir haben unsere Pflicht getan«, erklärte sein Vater später), und als überzeugter (später desillusionierter) Zionist sprach er gut Hebräisch und hatte in Israel während des Sechstagekriegs als Übersetzer gearbeitet. Als unsere Söhne jung waren, fanden wir, dass sie zumindest ein wenig von der Religion mitbekommen sollten. Ich selbst stammte aus einer protestantischen Familie, war im Grunde aber Atheistin, so dass wir den Gedanken, die Jungs auf eine Sonntagsschule zu schicken, bald verwarfen. Stattdessen fanden wir Itay, einen Rabbinerstudenten, der allwöchentlich zu uns in die Wohnung am Washington Square kam, um den Jungs Hebräisch, Bibelgeschichte und Kultur beizubringen. Tony entschied auch: keine Bar Mitzwa. Für meine Begriffe war die Botschaft klar: Die Jungs, die ganz eindeutig als Amerikaner heranwuchsen, sollten zumindest wissen, was es mit der Kopfbedeckung auf sich hat. Alles andere wäre ihre eigene Entscheidung. Als beide später erklärten, dass sie sich nicht als Juden empfanden, waren wir rasch beim Thema Holocaust. Nicholas sagte: Ich muss kein Jude sein, um die Tragik dieser Geschichte zu verstehen. Tony war überrascht, aber nicht irritiert. Sie hatten schließlich nicht seine Vergangenheit.

Und wie war das nun mit dem Holocaust? Ein guter Freund von Tony erklärte mir einmal, dass Tony nie darüber geschrieben habe, dass er sich auf das neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert konzentriert habe und dann in die Zeit nach 1945 gesprungen sei. Das stimmt, aber (und das ist ein großes Aber) der Zweite Weltkrieg und seine Killing Fields spielten eine zentrale Rolle in Postwar und in seinen anderen Arbeiten, auch wenn es nicht ausdrücklich das Thema war. Der Epilog von Postwar trägt die Überschrift »Erinnerungen aus dem Totenhaus«.

Kurz nach Erscheinen von Postwar bedankte ich mich bei Tony für die Widmung, sagte aber, dass ich wüsste, dass es auch einem anderen Menschen gewidmet sei, nämlich Toni. Da weinte er – und er war nun wirklich niemand, der rasch in Tränen ausbrach. Toni, deren Namen er trug, eine Cousine seines Vaters, war in Auschwitz ermordet worden. Sie zog sich wie ein Schatten durch das Buch und auch durch all seine Gedanken. War es vielleicht Schuldbewusstsein? Nicht das Schuldgefühl des Überlebenden, denn er war Jahrgang 1948, es war eher ein schwarzes Loch tief in seinem Innern, schwer lastend, unbegreiflich wie das Böse oder der Teufel, wo dieser historische Moment und dieser Aspekt seines Judentums sich verbargen. Es war unergründlich und emotional, aber für mich stand außer Frage, dass Tonis Schicksal eine Verantwortung für ihn war, die in seinem Arbeitsethos zum Ausdruck kam.

Womit wir bei Israel sind. Ab 2002 legte Tony in mehreren Artikeln seine Haltung dar und plädierte für pragmatische Lösungen. Die hier abgedruckten Texte vermitteln hoffentlich, warum er sich auf dieses heikle Terrain vorwagte. Als 2003 »Israel. Die Alternative« (Kap. 7) erschien, gab es hässliche Drohungen und eine Flut von ordinären und persönlichen Angriffen, die bedauerlicherweise deutlich machten, dass eine offene Diskussion über dieses Thema nicht möglich ist, jedenfalls nicht in Amerika. Dieser und die folgenden Beiträge sprechen für sich. Ich kann nur sagen, dass die wütenden Reaktionen auf seine Artikel und die zunehmend starrsinnige und rassistische Politik der israelischen Regierung ihn zutiefst verstörten.

Nachdem im Juni 2009 sein Artikel in der New York Times über die Siedlungen erschienen war, schrieb ihm ein Kollege: Was ist zu tun? Tony wollte antworten, aber er hatte schon mit den Komplikationen seiner rasch voranschreitenden Krankheit zu kämpfen. Trotzdem schrieb er wild entschlossen eine Antwort, mit Hilfe einer Assistentin, die unermüdlich tippte, tagelang, oft ohne Pause, während Tony diktierte und den Text durchsah. Er gab ihm die Überschrift »Was ist zu tun?«. Wir diskutierten ausführlich darüber, arbeiteten weiter daran. Mir schien, dass der Text nicht seinem gewohnten Niveau entsprach, und ich sagte ihm das auch. Weil er sich aufgrund seiner körperlichen Verfassung nicht mehr in der Lage sah, seine Gedanken entsprechend seinen Vorstellungen auszuarbeiten, legte er den Entwurf frustriert und entmutigt beiseite.

Bei neuerlicher Lektüre leuchtet mir seine Entscheidung nicht ganz ein. Seine Argumentation – stellenweise lückenhaft, aber nur stellenweise – ist überzeugend. Warum hat er gezögert? Und habe ich das Recht, diesen Text zu veröffentlichen? Ich weiß nicht, wie Tony sich entscheiden würde, aber ich habe diesen Text hier aufgenommen, weil er, vielleicht gerade in seiner Unfertigkeit, wahre intellektuelle Furchtlosigkeit erkennen lässt. Er vermittelt etwas von jenem undogmatischen Denken, das für Tony so charakteristisch war, von seiner Ablehnung von Zynismus und Rechthaberei, seiner Bereitschaft, den politischen Faden dort aufzunehmen, wohin er durch die Ereignisse geweht wird (siehe seine Rückkehr zu einer Zwei-Staaten-Lösung), und mit größtmöglicher Phantasie zu versuchen, gestützt auf Fakten, also auf Geschichte, Moral und Pragmatismus, scheinbar unlösbare Probleme anzugehen. In einer persönlich und politisch unmöglichen Situation wollte er ehrlich und klar Stellung beziehen.

Im selben Jahr starben zwei seiner größten intellektuellen Leitbilder – Amos Elon und Leszek Kołakowski. Beide würdigte er, schon im Angesicht seines eigenen bevorstehenden Todes, mit einem Nachruf. »Auf lange Sicht sind wir alle tot«, scherzte er, wenn er in entsprechender Stimmung war – wieder Keynes. Tony hatte im Grunde keine Helden, eher waren es Schattenwesen, Verstorbene, die er persönlich oder aus ihren Schriften kannte, Männer, die immer präsent waren. Ich habe sie alle gut kennengelernt. Keynes war einer von ihnen. Aber auch Isaiah Berlin gehörte dazu, Raymond Aron, A.J.P. Taylor, Bernard Williams (ein Freund, aber trotzdem), Alexander Pope, Philip Larkin, Jean Renoir und Vittorio de Sica. Natürlich auch Karl Marx und die Marx Brothers, deren Filme rituell vorgeführt wurden, Orson Welles im Dritten Mann. Wohl am nächsten waren ihm der bewunderte Albert Camus, dessen Porträt auf seinem Schreibtisch stand, und George Orwell, der nach meinem Eindruck überall war. Das waren seine Vorbilder, auf die er sich stützte, denen er auf seine Weise gerecht werden wollte.

In seinen letzten Wochen wandte Tony sich einem anderen drängenden Thema zu und begann mit der Niederschrift eines Essays, der den Titel »Das Nachleben« trug. Am Anfang steht der Satz: »Ich habe nie an Gott geglaubt« – eine interessante Aussage für einen Mann der Aufklärung, der er war, da die Frage ein klein wenig offenbleibt. Immerhin könnten sich die Fakten ändern, wenn man tot ist. Also schrieb er über Vermächtnis, Erinnerung und das, was wir hinterlassen – das einzige Nachleben, von dem er etwas wusste. Er selbst konnte Erinnerungen hinterlassen und sein Werk. Der Essay blieb unvollendet, bricht unvermittelt ab. An einer Stelle heißt es:

Man kann nicht schreiben, um Wirkung zu erzielen oder Reaktionen hervorzurufen. Damit würde man Letzteres verzerren und die Integrität des Schreibens untergraben. In gewisser Weise ist es so, als würde man etwas auf den Mond schießen – man muss berücksichtigen, dass er, wenn die Rakete angekommen ist, nicht mehr am selben Ort sein wird. Man sollte also wissen, warum man sie hinaufschießt, und sich nicht so sehr den Kopf über ihre sichere Landung zerbrechen …

Genauso wenig kann man die Überlegungen zukünftiger Leser vorwegnehmen. Man kann also nur schreiben, was man schreiben soll, was immer das heißt. Eine Verpflichtung ganz anderer Art.

Erster Teil1989 – Unser Zeitalter

1 Immer weiter bergab

Unter Historikern in der englischsprachigen Welt gibt es eine »Hobsbawm-Generation«. Es sind dies Männer und Frauen, die irgendwann in den »langen 1960ern«, also zwischen 1959 und 1975, ihr Studium aufnahmen und deren Interesse an der jüngsten Vergangenheit entscheidend geprägt wurde durch die Arbeiten Eric Hobsbawms, wie sehr sie sich von vielen seiner Thesen inzwischen auch entfernt haben mögen. In diesen Jahren veröffentlichte Hobsbawm eine Fülle einflussreicher Arbeiten: Die Sozialrebellen, erschienen 1959, machte junge Studenten mit einer Welt bäuerlicher Aufstände in Europa und anderswo bekannt, die uns inzwischen sehr viel vertrauter geworden ist, nicht zuletzt dank der Untersuchungen von Wissenschaftlern, die sich von Hobsbawms schmalem Band inspirieren ließen. In Labouring Men (1964), Industry and Empire, 1968 (dt. Industrie und Empire) und Captain Swing (1969, mit George Rude) wurde die Wirtschaftsgeschichte Großbritanniens und die Geschichte der britischen Arbeiterbewegung in völlig neuem Licht dargestellt. Diese Werke, die an eine fast vergessene Tradition radikaler britischer Geschichtsschreibung anknüpften und zu neuen Studien über die Lebensbedingungen von Handwerkern und Arbeitern anregten, zeichneten sich durch enormen Kenntnisreichtum und ein hohes intellektuelles Niveau aus.

Wenn die Thesen dieser Bücher inzwischen konventionell anmuten, dann nur deswegen, weil man sich heute kaum noch vorstellen kann, wie die Forschung auf diesem Gebiet vor Hobsbawm aussah. Weder revisionistisches Sperrfeuer noch modische Besserwisserei kann an der enormen Bedeutung seiner Arbeiten etwas ändern.

Sein wichtigster Beitrag zu unserem Geschichtsverständnis ist jedoch seine große Trilogie über das »lange neunzehnte Jahrhundert« von 1789 bis 1914, deren erster Band (Europäische Revolutionen von 1789 bis 1848) 1962 erschien. Welchen Einfluss dieses Werk hatte, lässt sich kaum ermessen, eben weil es so untrennbar mit unserem Bild von dieser Epoche verknüpft ist, dass alle später erschienenen Arbeiten sich unbewusst darauf stützen oder es verwerfen. Hobsbawms Blick auf dieses Zeitalter als eine Epoche sozialer Unruhen, beherrscht vom Aufstieg des Bürgertums, wurde schließlich die »konventionelle« Interpretation, die nun kontinuierlich kritisiert und revidiert wird. 1975 folgte der zweite Band, Die Blütezeit des Kapitals 1848–1875, eine meisterhafte, ungeheuer materialreiche Studie über die mittleren Jahre des letzten Jahrhunderts. Dieses Buch, in dem die mannigfaltigen Transformationen der Welt untersucht und in einem überzeugenden historischen Narrativ zusammengefasst werden, halte ich noch immer für Hobsbawms bedeutendste Arbeit. Das imperiale Zeitalter 1875–1914, zwölf Jahre später erschienen, hatte etwas unverkennbar Elegisches, als bedaure der führende Historiker des neunzehnten Jahrhunderts, dass es zu Ende gegangen sei. Es war eine Epoche tiefgreifender Veränderungen, in der ein hoher Preis entrichtet wurde für die rasche Akkumulation von Reichtum und Wissen, aber auch eine Zeit voller Versprechungen und strahlender Zukunftsvisionen. Das neunzehnte Jahrhundert war »meine Epoche«, schreibt Hobsbawm in seinem jüngsten Buch. Er ist, wie Marx, ein glänzender Sezierer verborgener Strukturen und lässt keinen Zweifel an seiner Bewunderung für die erstaunlichen Errungenschaften dieses Zeitalters.

 

Insofern ist es überraschend, dass er nun einen vierten Band über das »kurze 20. Jahrhundert« vorlegt.[1] Wie er im Vorwort schreibt, hat er lange Zeit einen großen Bogen um die Ära nach 1914 gemacht, und zwar aus den üblichen Gründen. Man ist zu nahe an den Ereignissen dran (Hobsbawm, Jahrgang 1917, hat die meisten persönlich erlebt), umfassende Einschätzungen liegen noch nicht vor, und für fundierte Interpretationen ist es noch zu früh.

Aber es gibt natürlich noch einen anderen Grund, den Hobsbawm gewiss nicht in Abrede stellen würde: Das zwanzigste Jahrhundert endete mit dem Zusammenbruch der politischen und sozialen Ideale und Institutionen, für die er zeitlebens gekämpft hat. Es ist eine düstere Geschichte von Irrtümern und Katastrophen. Wie die anderen Vertreter einer bemerkenswerten Generation britischer kommunistischer oder ehemals kommunistischer Historiker (Christopher Hill, Rodney Hilton oder Edward Thompson) beschäftigte sich Hobsbawm mit der revolutionären Vergangenheit, und zwar nicht nur, weil die Parteilinie es praktisch unmöglich machte, offen über die jüngste Vergangenheit zu schreiben. Ein lebenslanger Kommunist und seriöser Historiker, der die Geschichte unseres Jahrhunderts interpretieren will, steht vor schier unüberwindlichen Hindernissen, wie sein jüngstes Werk unfreiwillig offenbart.

Gleichwohl hat Hobsbawm ein in vielerlei Hinsicht ungewöhnliches Buch geschrieben. Der erste Teil (»Das Zeitalter der Katastrophe«) umfasst die Zeit vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Sieg über Hitler, der zweite (»Das Goldene Zeitalter«) ist eine Darstellung der Ära beispiellosen Wirtschaftswachstums und sozialen Wandels, die um 1950 begann und Mitte der 1970er endete und den »Erdrutsch« auslöste, wie der dritte und letzte Teil überschrieben ist, in dem es um die letzten beiden Dekaden des Jahrhunderts geht. Jedes Kapitel hat ein eigenes Thema, das mit den entsprechenden historischen Details unterfüttert wird. Die vier Dekaden nach dem Attentat von Sarajewo porträtiert Hobsbawm als eine Welt, die »von einer Katastrophe in die nächste« taumelt, als eine Zeit von Elend und unvorstellbaren Schrecken, in der Millionen zur Flucht gezwungen wurden und das Kriegsrecht, in den vorangegangenen Jahrhunderten so mühsam erkämpft, einfach über Bord geworfen wurde. (Im Zweiten Weltkrieg kamen von 5,5 Millionen russischen Kriegsgefangenen etwa 3,3 Millionen ums Leben, eine Zahl, die, wie so viele andere Zahlen, älteren Generationen völlig unvorstellbar erschienen wäre.)

Das »Goldene Zeitalter« nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet Hobsbawm als den Moment, in dem für achtzig Prozent der Menschen das Mittelalter schließlich endete, eine Zeit dramatischer sozialer Umwälzungen und Verwerfungen in Europa und in der kolonialen Welt, die von den europäischen Mächten nun in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Doch der explosive Erfolg des Kapitalismus in der Nachkriegszeit, der für beispielloses wirtschaftliches Wachstum sorgte und die Früchte dieses Wachstums immer mehr Menschen zugänglich machte, trug die Saat seiner Verfallserscheinungen schon in sich. Nicht umsonst hat sich Eric Hobsbawm immer wieder als erfahrener und kenntnisreicher marxistischer Interpret seines Forschungsgegenstands erwiesen.

Die Erwartungen und Institutionen, die durch rasche Expansion und Innovation in Gang gesetzt wurden, haben uns eine Welt mit nur wenigen erkennbaren Orientierungspunkten oder vertrauten Praktiken hinterlassen, eine Welt ohne Kontinuität und Solidarität unter den Generationen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Demokratisierung von Wissen und Ressourcen (einschließlich Vernichtungswaffen) und ihre Konzentration in unkontrolliertem Privatbesitz untergräbt die Institutionen der kapitalistischen Welt, die das erst ermöglicht haben. Eine Welt ohne kollektive Praktiken, Wertvorstellungen und Bestrebungen verliert die Orientierung, wird instabil und gerät in Krisen.

 

Kurzum, Eric Hobsbawms Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Geschichte des Niedergangs einer Zivilisation, die Geschichte einer Welt, die das Material und kulturelle Potential des neunzehnten Jahrhunderts zur Entfaltung gebracht und sein Versprechen verraten hat. In Kriegszeiten haben einige Staaten chemische Waffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt (auch gegen die eigene, wie im Fall des Irak), die von unkontrollierten Marktkräften verursachten sozialen und ökologischen Probleme nehmen weiter zu, während das kollektive Bewusstsein gemeinsamer Interessen immer weiter abnimmt. »Der Niedergang der organisierten Massenparteien, klassenorientiert, ideologisch ausgerichtet oder beides, hat die wichtigste soziale Maschinerie beseitigt, durch die die Menschen zu politisch aktiven Bürgern wurden.« Auf kulturellem Gebiet ist nun alles »post«-irgendetwas:

postindustriell, postimperial, postmodern, poststrukturalistisch, postmarxistisch und dergleichen mehr. Dieses Präfix ist eine Art Begräbnis, eine offizielle Todeserklärung, ohne dass es Einverständnis signalisierte oder die Gewissheit böte, wie das Leben nach dem Tod aussieht.

Hobsbawms Darstellung hat oft etwas düster Prophetisches, doch das schmälert nicht ihre Qualität. Das »Zeitalter der Extreme« wird in gewohnt einfacher, klarer Sprache beschrieben, jargonfrei, unprätentiös. Seine Überlegungen kommen in verblüffend knappen und oft witzigen Formulierungen daher. Die politischen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs fasst er in der Bemerkung zusammen, dass »keine der alten Regierungen zwischen Frankreich und dem Japanischen Meer sich halten konnte«. Er erinnert uns an Hitlers abfälliges Urteil über die Demokratie: »Die einzige Demokratie, die er ernst nahm, war die britische, die er zu Recht als nicht völlig demokratisch ansah.« Hobsbawm verhehlt auch nicht, welch geringe Meinung er von der Neuen Linken der 1960er hatte:

Während junge Linke Mao Tse-tungs Strategie für den Sieg der Revolution propagierten – die Mobilisierung von Millionen von Bauern für den Kampf gegen die städtischen Hochburgen des Status quo –, verließen diese Millionen ihre Dörfer und zogen in die Städte.[1]

Der Hinweis auf die Millionen Bauern macht deutlich, dass Hobsbawm, obschon überzeugter Eurozentriker, einen sehr weiten Blick hat.[2] Seine unmittelbare Kenntnis namentlich von Lateinamerika bereichert seine Schilderung der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, und sein Vergleich zwischen der polnischen Solidarność und der brasilianischen Arbeiterpartei, beides populäre Arbeiterbewegungen, die sich in den 1980ern als Opposition unter einem repressiven Regime verstanden, ist aufschlussreich. Er interessiert sich zwar mehr für den Süden als für den Osten (darüber später), ist aber nach wie vor vertraut mit der Literatur über die peruanische Linke und über neapolitanische Banditen (und mit den Menschen selbst) und kann über den sozialen und ökonomischen Wandel in rückständigen Gesellschaften daher kenntnisreich diskutieren. Und ebenso selbstverständlich zieht er die Food and Food Production Encyclopedia von 1982 heran, wenn er etwas über das Konsumverhalten sagen will.

 

Dieses Buch erinnert auch daran, dass Hobsbawm ein analytisch vorgehender Wirtschaftshistoriker ist. Besonders eindrucksvoll schreibt er über die Weltwirtschaftskrise oder die Folgen des Booms in der Nachkriegszeit, ohne dabei in militärische oder politische Diskussionen zu verfallen. Seine Darstellung der ökonomischen Absurditäten der sowjetischen Welt (»eine energieerzeugende Kolonie von entwickelteren Industrienationen – praktisch also ihrer eigenen Satelliten«) oder der sozialistischen Länder als »ein ziemlich archaisches, auf Eisen und Rauch beruhendes Industriesystem« ist entschieden besser als seine politischen Urteile über dieselben Gesellschaften.

Und seine Ausführungen über den Faschismus als Produkt der Weltwirtschaftskrise sind plausibler als die recht knappe Erörterung der politischen Gründe. Seine Darstellung des dramatischen Zusammenbruchs der kommunistischen Regime im Jahr 1989 grenzt fast an ökonomischen Determinismus. Was nicht heißen soll, dass Schuldenkrisen und Misswirtschaft nicht in erheblichem Maß zum Ende des Kommunismus beigetragen haben – ganz im Gegenteil. Aber Hobsbawm bewegt sich hier auf vertrautem Terrain, und dort will er auch bleiben. Seine Ausführungen über Entwicklungen im Westen seit 1974 werden dadurch jedoch umso überzeugender. Seine Analyse der langfristigen Probleme der Weltwirtschaft ist ebenso klar und plausibel wie seine Darstellung der Krise des Wohlfahrtsstaates, zu der es kam, als die politischen Kosten des wirtschaftlichen Abschwungs durch Steuererhöhungen der arbeitenden Bevölkerung aufgebürdet wurden.

 

Hobsbawm hat sich in all seinen Werken hauptsächlich mit langfristigen wirtschaftlichen Entwicklungen und allgemeinen säkularen Trends beschäftigt, aber Das Zeitalter der Extreme ist sein persönlichstes Buch. Es oszilliert zwischen distanzierter Interpretation und fast schon privatem Kommentar. Wenn Hobsbawm sagt, er habe sein Wissen über das zwanzigste Jahrhundert als »teilnehmender Beobachter« zusammengetragen, glaubt man ihm sofort.[3] Die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt er am Beispiel seines österreichischen Großvaters, der für seine fällig gewordene Versicherungspolice gerade einmal ein Getränk in seinem Stammcafé bekommt, und seine eigene Abscheu vor den städtebaulichen Scheußlichkeiten der 1960er kontrastiert er mit Kindheitserinnerungen an die »großen architektonischen Monumente der [Wiener] liberalen Bourgeoisie«. Seine Anmerkung, dass 1939 nichts auf ein baldiges Ende der Kolonialimperien hingedeutet habe, beruht auf seinen persönlichen Erinnerungen an eine Schule für kommunistische Studenten aus Großbritannien und den Kolonien.

Seine Ausführungen über den sozialen Wandel auf Sizilien, über Arbeitslosigkeit in São Paulo oder die Risiken der Einführung des Kapitalismus in China stützen sich auf Gespräche mit sizilianischen Banditen, brasilianischen Gewerkschaftern und chinesischen Parteifunktionären (nicht umsonst wird in seinem Eintrag im Who’s Who unter Freizeitaktivitäten »Reisen« genannt). Als Fellow des King’s College in Cambridge kannte er Alan Turing, den tragischen Erfinder des Computers, und dank seiner kommunistischen Kontakte konnte er sich bei der Darstellung der florierenden Agroindustrie in der Emilia Romagna auf eine persönliche Stellungnahme des (kommunistischen) Bürgermeisters von Bologna stützen.[4]

Hobsbawm schildert seine persönlichen Erlebnisse mit entwaffnender Offenheit und Ehrlichkeit.[5] Er zählt sich zu jener »aufmerksamen und bedingungslos ergebenen Menschenmenge«, zu der Castro stundenlang sprach. Er erinnert daran, dass Linke gern verdrängen, dass der Faschismus nach der Machtergreifung auf die Unterstützung ehemaliger sozialistischer und kommunistischer Arbeiter zählen konnte, und berichtet von einem Aktivisten der britischen KP, der ganz fassungslos war, wie gut es den Arbeitern in Coventry ging: »Wisst ihr, dass die Genossen dort oben Autos haben?«

Hobsbawm hat sich zuweilen geirrt, und das räumt er auch ein. Mehr als einmal drückt er seine Bewunderung für Journalisten aus, die Verhältnisse durchschauten, die er, der Marxist, nicht sah. Als vor vierzig Jahren ein China-Korrespondent der Londoner Times prognostizierte, dass der Kommunismus im 21. Jahrhundert überall verschwunden sein werde, ausgenommen in China, wo er sich in eine nationale Ideologie verwandelt haben werde, war Hobsbawm nach eigenem Bekunden schockiert. Heute klingt diese Vorhersage absolut plausibel. Gegen Ende seines Buchs weist er darauf hin, dass auch Marx sich geirrt habe: »Nicht immer stellt sich die Menschheit nur die Aufgaben, die sie lösen kann.«

 

Wenn die Stärken dieses Buchs auf seinem engagierten und persönlichen Charakter beruhen – dann gilt das auch für seine Schwächen, genauer gesagt für seine Schwäche, denn es gibt nur eine, die allerdings verschiedene Formen annimmt. Weil es die Geschichte von Hobsbawms eigener Zeit ist (die, wie er jüngst in der BBC erklärte, einer einzigen großen Sache gewidmet war), neigt er verständlicherweise dazu, die großen Konturen und Konflikte dieser Epoche so zu interpretieren, wie er sie selbst erlebt hat. Die Kategorien rechts-links, faschistisch-kommunistisch, fortschrittlich-reaktionär verwendet er sehr entschieden und im Grunde so, wie sie sich in den 1930ern präsentierten. Die tragischen strategischen Irrtümer der Kommunisten erkennt er ebenso an wie den erstaunlich ähnlichen Geschmack von faschistischen und kommunistischen Führern und selbst die schiere Grauenhaftigkeit des Kommunismus als System. Er kommt aber nicht auf die Idee, das politische Lagerdenken der damaligen Zeit kritisch zu überprüfen und in Faschismus und Kommunismus mehr als nur gelegentliche und paradoxe Verbündete zu sehen.

Man kann wohl sagen: eine verpasste Gelegenheit. Der Spanische Bürgerkrieg ist für ihn noch immer »die einzige Sache, für die zu kämpfen selbst im Rückblick ebenso klar und plausibel erscheint wie 1936«. Aber genau deswegen verhindern der Spanische Bürgerkrieg und ganz allgemein die Kämpfe der 1930er ein radikales Nachdenken über die Illusionen, mit denen sie einhergingen.

Nirgendwo erörtert Hobsbawm, wie sich Stalin den Spanischen Bürgerkrieg zunutze machte, um unter dem Deckmantel der Unterstützung eines antifaschistischen Krieges mit diversen in- und ausländischen Gegnern abzurechnen. Er sieht auch nicht, dass das ganze Projekt der »antifaschistischen Einheit« nach den anfänglichen militärischen, ökonomischen und strategischen Katastrophen dem internationalen Kommunismus ein neues Image verschaffen sollte. Das zwanzigste Jahrhundert ist ohne einen Blick auf diesen radikalen Neuauftritt des Kommunismus (der nach 1943 in geringerem Umfang wiederholt wurde) nicht zu verstehen. Stattdessen stellt Hobsbawm die kommunistischen Denk- und Vorgehensweisen im Grunde so dar, wie sie seinerzeit verstanden und präsentiert wurden, selbst in seinen Formulierungen und Kategorien, weshalb von einer kritischen Analyse des Bolschewismus keine Rede sein kann.

 

Hobsbawm betrachtet die bolschewistische Revolution und das aus ihr hervorgegangene kommunistische Regime als »Entwicklungsprogramm für rückständige Länder« – ein Argument, auf das »Revisionisten« und andere Sympathisanten der Linken gern zurückgriffen, wenn sie erklären wollten, wie sich Lenins Revolution in Stalins Autokratie verwandeln konnte. Aber er überlegt nicht, ob es nicht auch und vor allem der erste und bedeutendste all jener Staatsstreiche in der »dritten Welt« war (die er sonst so gut beschreibt), bei denen revolutionäre Modernisierer die Hauptstadt erobern und in einer rückständigen Gesellschaft die Macht übernehmen. Das mag nebensächlich sein, aber es ist wichtig. Indem er die bolschewistische Revolution nicht als »Putsch« bezeichnet, sondern wiederholt darauf hinweist, dass es eine von den »Massen« getragene Revolution gewesen sei, bewahrt er den spezifischen Charakter des Kommunismus und bleibt einer Interpretation unseres Jahrhunderts treu, die heute, da die Erfahrung hinter uns liegt, nicht mehr angemessen ist.

Und im Hinblick auf Faschismus versäumt er zu fragen, inwieweit Hitlers Krieg faktisch eine große europäische Revolution war, die Mittel- und Osteuropa transformierte und den Boden bereitete für die sozialistischen Regime der Nachkriegszeit, die auf den von Hitler herbeigeführten radikalen Veränderungen aufbauten – namentlich der Vernichtung der Intellektuellen und des urbanen Bürgertums, erst durch die Ermordung der Juden und dann als Folge der Vertreibung der Deutschen aus den befreiten slawischen Regionen. Weil er mögliche »revolutionäre« Qualitäten des Faschismus herunterspielen will, ist sein Blick auf den Zweiten Weltkrieg untypisch konventionell. Ihm entgeht die Ironie, dass Hitler den Weg für Stalin bereitete. Auch das erklärt sich daraus, dass er die Welt noch immer so sieht, wie sie sich damals präsentierte, als Faschismus und Kommunismus einander ideologisch und militärisch bekämpften und Stalin den »linken Flügel« der siegreichen Kräfte der Aufklärung verkörperte.

 

Wozu dieser Ansatz führt, zeigt sich aber besonders deutlich in der Art und Weise, wie Hobsbawm mit Osteuropa umgeht: dem »real existierenden Sozialismus« in den Ländern zwischen Berlin und Moskau widmet er gerade einmal sechs von fast sechshundert Seiten, und die berüchtigten Schauprozesse der 1950er werden in ein paar Sätzen abgehandelt. In seinen gelinde gesagt revisionistischen Ausführungen über den Ursprung des Kalten Krieges behauptet er, die Sowjetunion sei dem Beispiel der Amerikaner gefolgt, die im Mai 1947 in Frankreich und Italien für eine Entfernung der Kommunisten aus der Regierung gesorgt und – für den Fall, dass die Italiener 1948 »falsch« wählen – mit einer militärischen Intervention gedroht hatten. Erst da habe man die Nichtkommunisten aus den Mehrparteien-»Volksdemokratien« entfernt und wieder von »Diktatur des Proletariats« gesprochen. Bis dahin, schreibt er, sei es das erklärte Ziel der von Moskau kontrollierten Regime und kommunistischen Bewegungen gewesen, eben nicht Staaten nach sowjetischem Vorbild zu errichten, sondern gemischte Wirtschaften in parlamentarischen Demokratien.

Wer genau für den Kalten Krieg verantwortlich ist, mag eine Streitfrage sein, aber Zeitpunkt und Stoßrichtung der kommunistischen Strategie in Osteuropa stehen außer Frage. Was immer Stalin und seine Anhänger nach 1945 in den osteuropäischen »Bruderstaaten« praktizieren wollten, es war ganz bestimmt kein demokratischer Mehrparteienstaat im üblichen Sinn. Die staatliche Neuordnung in der Region hatte schon vor den italienischen Parlamentswahlen im April 1948 begonnen. Die augenfälligsten Beispiele waren Rumänien (wo Stalins Emissär Andrei Wyschinski im Februar 1945 eintraf, um zu diktieren, wer an der »Koalitionsregierung« teilnehmen durfte) und Bulgarien (wo Nikola Petkoff, der Führer der Bauernpartei, im Juni 1947 verhaftet und nach einem schändlichen Schauprozess drei Monate später hingerichtet wurde).

In Ungarn und der Tschechoslowakei waren die Dinge nicht ganz so klar, zumindest bis 1947, auch wenn die ungarische Kleinbauernpartei 1946 aufgrund kommunistischer Einschüchterung ihre Vertreter aus dem Parlament abziehen musste. Selbst in der Tschechoslowakei, wo die Kommunisten auf einen starken Rückhalt in der Bevölkerung zählen konnten und bei den Wahlen von 194638 Prozent der Stimmen errungen hatten, büßten sie im Laufe des Jahres 1947 erheblich an Zuspruch ein. Daraufhin nutzten die Kommunisten ihren Einfluss im Polizeiapparat und im Innenministerium, um ihre Gegner (vor allem die slowakische Demokratische Partei und die tschechische Nationalsozialistische Partei) zu diskreditieren, und putschten sich im Februar 1948 – zwei Monate vor den Wahlen in Italien – an die Macht.[6]

In Polen machte sich niemand Illusionen über eine »Mehrparteiendemokratie«. Vierzehn von zweiundzwanzig Mitgliedern der Nachkriegsregierung von 1945 waren im Komitee der nationalen Befreiung gewesen (Lublin-Komitee), das die Sowjets im Juli 1944 zur Verwaltung eines befreiten Polens eingesetzt hatten. Die Ergebnisse eines Referendums im Juli 1946 wurden, dank Einschüchterung und Schikanierung von nichtkommunistischen Aktivisten, ebenso gefälscht wie die der Wahlen vom Januar 1947. Vertreter der Bauernpartei wurden aus dem Rundfunk verbannt, ihre Anhänger zu Tausenden verhaftet, Kandidaten nicht zur Wahl zugelassen. Im Parlament und anderswo wurde die Partei der Spionage bezichtigt, um die Führungsspitze zu diskreditieren. Dennoch mussten die Wahlergebnisse gefälscht werden, um eine Niederlage der Kommunisten zu verhindern. Es kam zu internationalen Protesten, die jedoch folgenlos blieben. Im Oktober 1947 floh Stanisław Mikołajczyk, der Vorsitzende der Bauernpartei, ins Ausland, weil er um sein Leben fürchtete. Hier wie anderswo waren bis Anfang 1949 aufgrund dieser Taktik der Kommunisten praktisch Einparteienstaaten entstanden, in denen nichtkommunistische Parteien nur als Verbündete oder gehorsame Befehlsempfänger zugelassen waren, deren Führer im Exil waren, im Gefängnis saßen oder tot waren. Die Behauptung, dieser Prozess sei lediglich eine unmittelbare Folge amerikanischer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der westlichen Verbündeten, ist schlicht falsch.

 

Dass ein akribischer Historiker wie Eric Hobsbawm einen derart merkwürdigen Fehler macht, kann kein Zufall sein. Vielleicht findet er, genau wie Marx, diese kleinen Nationen einfach nicht interessant genug. Die Bezeichnung »Goldenes Zeitalter« für die Jahre zwischen 1950 und 1974 dürfte für einen Mitteleuropäer, sagen wir aus Prag, wie Ironie klingen. Und man muss schon ziemlich unbedarft sein, um Folgendes schreiben zu können: »Was 1944 in Warschau passierte, war die Strafe für verfrühte Aufstände in den Städten.« Als Bemerkung über urbane Revolten trifft das im weitesten Sinne natürlich zu, aber in Bezug auf die Situation in Polen, als die Rote Armee auf der anderen Seite der Weichsel stand und zusah, wie die polnische Widerstandsbewegung von den Nazis vernichtet wurde, ist das, vorsichtig gesagt, historisch nicht ganz korrekt.

Hobsbawm scheint, wie ein anderer berühmter linker englischer Historiker, nicht sehr viel für die Staaten zwischen Deutschland und Russland übrigzuhaben.[7] Wie sonst ist es zu verstehen, wenn er sagt, das bolschewistische Modell sei 1917 die einzige Alternative zur »Desintegration der anderen archaischen und besiegten Imperien (Österreich-Ungarn und Türkei) gewesen. Im Gegensatz dazu hielt die bolschewistische Revolution die territoriale Einheit des alten multinationalen Zarenreichs mindestens vierundsiebzig Jahre lang aufrecht.« Dass dies keine beiläufige Bemerkung ist, wird später klar, wenn er sagt, der Zerfall der Sowjetunion habe zum ersten Mal seit der Mitte des achzehnten Jahrhunderts zu einem »internationalen Machtvakuum zwischen Triest und Wladiwostok« geführt.

Für die Bewohner dieses Vakuums stellt sich die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts etwas anders dar. Aber bei ihnen handelt es sich ja um »Nationalisten«, und der Nationalismus wird, wie die Religion, in Hobsbawms Buch recht stiefmütterlich behandelt. Selbst aus rein analytischer Sicht ist das ein Fehler. Wie immer man zum Nationalismus stehen mag (und Hobsbawm hat generell wenig für ihn übrig), sein Platz in der Geschichte unserer Zeit hat mehr als nur abfällige Bemerkungen über den »kollektiven Egoismus« von Slowenen, Kroaten, Tschechen und anderen verdient. Nationale Selbstbestimmung mag eine törichte und »emotionale« Antwort auf Probleme sein, die auf diese Weise nicht zu lösen sind, wie er schreibt. Aber damit verkennt er ein wesentliches Element unserer Zeit. Ohne ein Verständnis der vielen unterschiedlichen (säkularen und religiösen) Glaubensrichtungen ist der Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts schwer im Nachteil.[8]

 

Das Problem des Glaubens bringt uns zurück zu den 1930ern und zu Hobsbawms Verhältnis zu seinem Gegenstand. Er gibt sich zwar keinen Illusionen über die damalige Sowjetunion hin, findet aber doch einiges, was ihm anerkennenswert erscheint (etwa, dass sie in Europa für Stabilität sorgte). So behauptet er, die Sowjetunion habe den Westen immerhin zu Wirtschaftsplanung angeregt und ironischerweise den Kapitalismus gerettet, indem sie ihn in seiner Existenz bedrohte und ihm zugleich das Überleben ermöglichte. Doch es war nicht die staatliche Planungskommission Gosplan, die die jungen Linken in den 1930ern zu begeisterten Planern machte und zur gemischten Wirtschaftsordnung im westlichen Nachkriegseuropa führte.[9] Hobsbawm verkennt, dass viele Planer sich nach dem Krieg nicht von Moskau, sondern von Rom (oder im Falle Frankreichs von Vichy) anregen ließen. Die Technokraten, die in den 1940ern das Steuer übernahmen, bezogen sich eher auf die Planungsideen der Faschisten, nicht der Kommunisten. Bewunderung für die sowjetischen Fünf-Jahr-Pläne gab es vor allem unter Intellektuellen – Fabianern, André Gide und anderen, einschließlich den linken Studenten in Hobsbawms eigener Generation. Auch hier wird die Geschichte unserer Zeit allzu leicht Opfer der persönlichen Erinnerungen.

Der Wunsch, dem kommunistischen Projekt doch eine gewisse Sinnhaftigkeit abzugewinnen, dürfte auch seine banale Darstellung des stalinistischen Terrors erklären. In seinem Plädoyer für die halsbrecherische Industrialisierung zieht er eine Analogie mit einer Kriegswirtschaft:

Wie in einer Kriegswirtschaft […] konnten und mussten Produktionsziele meist ohne Rücksicht auf Kosten und Rentabilität festgelegt werden. Entscheidend war nur, ob und wann sie erreicht werden konnten. Wie bei allen Anstrengungen, bei denen es um Leben oder Tod geht, ließen sich auch hier Planvorgaben und Termine am wirksamsten einhalten, indem man dringende Befehle erteilte, denen alles andere untergeordnet wurde.

Worauf man entgegnen könnte, dass zu jener Zeit kein Krieg geführt wurde und es bei dem gefährdeten »Leben« um das des bolschewistischen Regimes ging, während der »Tod« der von Millionen Menschen war. Zu diesen Verlusten an Menschenleben sagt Hobsbawm zu Recht, dass sie »nicht zu rechtfertigen« sind, aber man hätte sich doch eine umfassendere, historisch angemessenere und einfühlsamere Darstellung der ganzen Tragödie gewünscht. Man vergleiche nur seinen scharfen Kommentar zu den optimistischen und wohlmeinenden Verfechtern des New Poor Law von 1834:

Meines Erachtens waren die Reformer ehrlich überzeugt, dass die getrennte Unterbringung von Frauen und Männern im Arbeitshaus zu einer moralischen Läuterung der Armen beitrug […]. Aus Sicht der Betroffenen war das genauso schlimm (oder vielleicht noch schlimmer), wie wenn man sie durch gezielte Brutalität herbeigeführt hätte: eine unmenschliche, unpersönliche, gefühllose Erniedrigung von Männern und Frauen und die Zerstörung ihrer Würde. Vielleicht war das historisch unvermeidlich und sogar notwendig. Aber das Opfer litt – Leiden ist nicht das Privileg gutinformierter Menschen. Und Historiker, die das nicht akzeptieren, braucht man nicht zu lesen.[10]

Weil die Sowjetunion angeblich für eine gute, ja für die einzig lohnende Sache stand, erscheinen ihre Verbrechen für viele von Hobsbawms Generation nicht so schwerwiegend. Andere könnten sagen, gerade deswegen sei es umso schlimmer gewesen.[11] Jedenfalls war der Untergang des Kommunismus für viele Millionen ein Anlass zu großer Freude, auch wenn diese Freude angesichts der dann auftretenden Probleme einen Dämpfer erhielt. Hobsbawms These, das alte Jahrhundert habe kein gutes Ende genommen, erscheint aber zweifelhaft. Man könnte immerhin fragen: Für wen? Der getragene, fast apokalyptische Ton des letzten Abschnitts seines Buchs verschleiert, dass die 1980er für viele auch ein Jahrzehnt der Befreiung waren, nicht nur in Osteuropa. Es stimmt schon, wie Hobsbawm öfters feststellt, dass kein Mensch mehr Lösungen für die Probleme der Welt anzubieten hat, dass wir in einem globalen Nebel herumirren, dass wir in einer Welt leben, in der »die Vergangenheit […] keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die Menschen und Gesellschaften durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprechen, in der wir uns bewegen«. Aber man kann bezweifeln, dass die großen Menschheitsvisionen, die uns abhandengekommen sind, überhaupt so vorteilhaft waren – unter dem Strich war ihr Schaden sehr viel größer als der Nutzen.

 

1968 befand ich mich unter den aufmerksamen und bewundernden Studenten, zu denen Eric Hobsbawm über die Grenzen des studentischen Radikalismus sprach. Ich erinnere mich noch gut an sein Schlusswort, weil es überhaupt nicht in die damalige Atmosphäre passte. Manchmal, sagte er, komme es nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu interpretieren. Doch um sie interpretieren zu können, müsse man natürlich wissen, in welcher Weise sie sich verändert habe. Sein jüngstes Buch ist eine oft brillante, kühle und kluge Darstellung der Welt, die wir geerbt haben. Wenn es nicht an seine besten Arbeiten heranreicht, sollte man bedenken, wie hoch er die Messlatte selbst gelegt hat.

Doch es gibt ein, zwei tiefgreifende Veränderungen, die sich in der Welt ereignet haben – beispielsweise der Tod des Kommunismus oder, damit zusammenhängend, der Verlust von Vertrauen in die Geschichte und die therapeutischen Funktionen des Staates –, mit denen Hobsbawm nicht immer einverstanden ist. Das ist schade, denn seine Darstellung wird dadurch so stark geprägt, dass er diejenigen, die sein Buch lesen und daraus lernen sollten, vielleicht nur bedingt erreicht. In seiner Version des zwanzigsten Jahrhunderts habe ich jenen unbestechlich analytischen Blick vermisst, der ihn zu einem unverzichtbaren Führer durch die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts gemacht hat. In einer bemerkenswerten apologia pro vita sua weist Hobsbawm darauf hin, dass Historiker »von Berufs wegen an das erinnern, was ihre Mitbürger vergessen wollen«. Das ist eine anspruchsvolle Vorgabe.

Dieser Text erschien im Mai 1995 in der New York Review of Books als Rezension von Eric Hobsbawm, The Age of Extremes. A History of the World, 1914–1991.

2 Europa – die große Illusion

I.

Die Europäische Gemeinschaft wurde vor fast vierzig Jahren mit dem erklärten Ziel einer »immer engeren Union der Völker Europas« gegründet. Es ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, freilich nicht ganz so bemerkenswert, wie von ihren Fürsprechern behauptet. An ihren Zielen hat kaum jemand etwas auszusetzen, und die praktischen Vorteile für die Mitgliedsstaaten, etwa der freie Personen- und Warenverkehr, liegen auf der Hand. Ebendeswegen wollen so viele der Gemeinschaft beitreten. Inzwischen wird über eine europäische Gemeinschaftswährung und verbesserte Entscheidungsmechanismen diskutiert und zugleich den ehemals kommunistischen Ländern Europas eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt.

Dass die Europäische Union das Versprechen eines immer engeren Zusammenwachsens einlöst und neue Mitglieder zu den gleichen Bedingungen aufnehmen wird, ist ziemlich unwahrscheinlich. Die einmaligen historischen Bedingungen der Jahre 1945 bis 1989 können nicht einfach kopiert werden. Die Ereignisse von 1989 haben den Westen ähnlich durcheinandergewirbelt wie den Osten. Die deutsch-französische Allianz, das Fundament Westeuropas in der Nachkriegszeit, war ein für beide Seiten vorteilhaftes Arrangement: Die Deutschen verfügten über die wirtschaftlichen Ressourcen, und die Franzosen behielten die politische Initiative. In den ersten Jahren hatten die Deutschen noch nicht ihren gegenwärtigen Wohlstand erreicht, und die Vormachtstellung der Franzosen war real. Doch ab Mitte der 1950er Jahre galt das nicht mehr. Die französische Hegemonie in Westeuropa beruhte nun auf einer Atomwaffe, die die Franzosen nicht verwenden, einer Armee, die sie auf dem Kontinent nicht einsetzen konnten, und einem internationalen Status, der weitgehend auf dem nicht uneigennützigen Wohlwollen der drei Siegermächte des Zweiten Weltkriegs beruhte.

 

Dieses eigentümliche Zwischenspiel ist nun beendet. Eine ökonomische Tatsache soll das veranschaulichen. 1990 beschränkte sich der wirtschaftliche Einfluss Frankreichs auf das Europa der Neun, also auf die ursprünglichen sechs Gründungsstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder) plus Großbritannien, Irland und Dänemark. Die französischen Importe und Exporte entfielen hauptsächlich auf diese Länder, während sich der wirtschaftliche Einfluss Deutschlands nicht nur auf das gegenwärtige Europa der Fünfzehn erstreckte, sondern auch auf die meisten ost- und südosteuropäischen Länder. Was das bedeutet, liegt auf der Hand. Frankreich ist eine westeuropäische Regionalmacht geworden, und Deutschland war schon vor der Wiedervereinigung wieder die führende europäische Großmacht.

1989 hat für die Deutschen aber auch neue Schwierigkeiten gebracht. Wenn wirtschaftliche Schwäche und internationaler Machtverlust für die Franzosen mit problematischen Erinnerungen einhergehen, so gilt Ähnliches für den unübersehbaren Machtzuwachs der Deutschen. Deutsche Politiker von Adenauer bis Helmut Kohl haben immer Wert darauf gelegt, die deutsche Stärke herunterzuspielen, sich französischen Initiativen unterzuordnen und zu betonen, dass ihnen nichts mehr am Herzen liegt als ein stabiles Deutschland in einem blühenden Europa. Sie sind Opfer ihrer eigenen Rhetorik geworden und haben dem Nach-Wende-Europa einen kraftstrotzenden, aber verunsicherten Staat hinterlassen.

Das hat dazu geführt, dass die politische Agenda Deutschlands heutzutage ein wenig übervoll ist. Neben dem ökonomischen und politischen Problem der Integration der ostdeutschen Länder müssen sich die Deutschen mit dem Paradox einer Ostpolitik herumschlagen, die aus der Zeit vor 1989 stammt: Viele Politiker, vor allem linksorientierte, waren mit den Verhältnissen ganz zufrieden und hätten nichts dagegen gehabt, wenn die Mauer noch etwas länger gestanden hätte. Die Deutschen müssen auch davon ausgehen, dass ihre Macht für Verunsicherung sorgt – nun, da sie in Europa eine Führungsrolle übernehmen können und das erkennbar auch tun, wohin werden sie den Kontinent führen? Und welches Europa wird sich unter ihrer Führung herausbilden – das westlich orientierte, französisch geprägte Europa oder das traditionelle Europa, in dessen Mitte Deutschland sich befindet?

Ein Deutschland im Herzen Europas weckt Erinnerungen, die viele Menschen seit 1949 zu überwinden bestrebt waren, am allermeisten vielleicht die Deutschen selbst. Aber das Image eines Deutschland, das sich, eingedenk seiner schwierigen Vergangenheit, leidenschaftlich zu seinen westlichen Verbündeten bekennt, als könnten sie allein die Nation vor ihren Dämonen bewahren, ist nicht sehr überzeugend.

 

Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich in Europa verändert. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1950 erlebte Westeuropa eine beispiellose Kombination von Wachstum und Quasi-Vollbeschäftigung. Daraus entstand die in mehreren optimistischen Wirtschaftsprognosen der OECD zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass der Krisenzyklus, der Europa in den vorangegangenen fünfzig Jahren geprägt hatte, ein für alle Mal überwunden sei. Die große Erdölkrise von 1974 dürfte mit solchen Illusionen aufgeräumt haben. 1950 deckte Westeuropa seinen Energiebedarf nur zu 8,5 Prozent mit Öl, ansonsten wurde meist Kohle verwendet, der billige einheimische Rohstoff. 1970 stand Öl schon für 60 Prozent des europäischen Energieverbrauchs. Die Vervierfachung des Ölpreises beendete ein Vierteljahrhundert billiger Energie, die Kosten für Produktion, Transport und Güter des täglichen Bedarfs stiegen rasant. In der Bundesrepublik ging das Bruttoinlandsprodukt um 0,5 Prozent (1974) und im darauffolgenden Jahr noch einmal um 1,6 Prozent zurück – beispiellose Einschnitte für das westdeutsche Wirtschaftswunder, die sich 1981 und 1982 wiederholten, als die westdeutsche Wirtschaftsleistung um 0,2 bzw. 1 Prozent zurückging. In Italien sank das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 1976 um 3,7 Prozent, zum ersten Mal seit Kriegsende. Weder die deutsche noch irgendeine andere westeuropäische Volkswirtschaft hat sich davon wirklich erholt.

Das hatte beträchtliche Auswirkungen auf die Europäische Gemeinschaft, die spätere EU. Ein wichtiges Merkmal der Gemeinschaft war ihre Fähigkeit, die Bedürfnisse der Mitgliedsstaaten zu befriedigen, die auf sehr unterschiedlichen Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit beruhten. Die Belgier (und Briten) hatten in erster Linie Angst vor Arbeitslosigkeit, während die Franzosen unbedingt die malthusianische Stagnation vorangegangener Jahrzehnte vermeiden wollten, und die Deutschen sorgten sich vor allem vor Inflation. Nach 1974 drohte überall in Westeuropa wachsende Arbeitslosigkeit, verlangsamtes Wachstum und ein spürbarer Preisanstieg. Es gab also eine unerwartete Rückkehr zu alten Problemen. »Europa« ist nicht mehr imstande, immer neuen Beitrittskandidaten die Vorteile seines Wirtschaftswunders zu bieten, es kann sie nicht einmal sich selbst garantieren. Mit den Ereignissen von 1989 sind diese Probleme offen zutage getreten.

Die Erinnerung an die Arbeitslosigkeit der Zwischenkriegsjahre unterscheidet sich von Land zu Land. In Frankreich, mit durchschnittlich 3,3 Prozent in den 1930ern, war das nie ein ernsthaftes Problem. In Großbritannien aber, wo es schon in den 1920ern eine Arbeitslosigkeit von 7,5 Prozent gegeben hatte, sorgten die 11,5 Prozent in den 1930ern für Verhältnisse, die sich nach Ansicht von Politikern und Ökonomen jedweder Couleur keinesfalls wiederholen durften. In Belgien und Deutschland, wo die Arbeitslosenquote bei knapp 9 Prozent gelegen hatte, sah man die Dinge ähnlich. Das Westeuropa der Nachkriegszeit konnte daher mit Stolz darauf hinweisen, dass in den 1950ern und 1960ern praktisch Vollbeschäftigung herrschte. In den 1960ern lag die Arbeitslosigkeit bei nur 1,6 Prozent. Im darauffolgenden Jahrzehnt stieg sie wieder auf durchschnittlich 4,2 Prozent. Ende der 1980er hatte sich die Quote in der Europäischen Gemeinschaft auf 9,2 Prozent verdoppelt, 1993 waren es 11 Prozent.

Hinter diesen unguten Zahlen verbargen sich noch viel beunruhigendere Muster. 1993 lag die offizielle Jugendarbeitslosigkeit in sechs EU-Ländern (Spanien, Irland, Frankreich, Italien, Belgien und Griechenland) bei über 20 Prozent. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen lag in diesen sechs Ländern, aber auch in Großbritannien, den Niederlanden und im vormaligen Westdeutschland bei mehr als einem Drittel der Arbeitslosen. Hinzu kommt der Umverteilungseffekt durch Inflation seit den 1980ern. Die Kluft zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen wird immer größer. Und anders als in den 1950ern führt wirtschaftliche Erholung nicht mehr dazu, dass Arbeitslose wieder in Lohn und Brot kommen und das Einkommensniveau steigt. Wer erinnert sich heute noch an die schönen Vorstellungen der 1960er, als unbekümmert geglaubt wurde, dass die Produktionsprobleme gelöst seien und nur noch der Wohlstand umverteilt werden müsse.

Das rasche Wachstum der Städte in Verbindung mit anschließender wirtschaftlicher Stagnation hat Westeuropa nicht nur die neuerliche Gefahr wirtschaftlicher Unsicherheit gebracht (die den meisten Europäern seit den späten 1940ern unbekannt war), sondern auch schärfere soziale Konflikte als zu irgendeiner Zeit seit den Anfängen der Industriellen Revolution. Im heutigen Westeuropa sieht man trostlose Trabantenstädte, heruntergekommene Außenbezirke und hoffnungslose städtische Ghettos. Selbst die Metropolen (London, Paris, Rom) sind nicht mehr so sauber, sicher oder hoffnungsvoll wie noch vor dreißig Jahren. Dort und in den größeren Provinzstädten wächst eine urbane Unterschicht heran. Wenn dies nicht zu noch explosiveren sozialen und politischen Konflikten geführt hat, so ist das einzig den vielfältigen Sozialleistungen zu verdanken, die in Westeuropa nach 1945 eingeführt wurden.

 

Die Krise des Sozialstaats ist also der dritte Grund, warum die Europäische Union nicht für alle Zeit an ihren Errungenschaften und Versprechungen wird festhalten können. Die Bevölkerung Westeuropas altert. Seit Mitte der 1960er werden immer weniger Kinder pro Familie geboren, in manchen Ländern, besonders in Italien und Spanien, geht die Bevölkerungszahl insgesamt zurück. In Spanien erreichte die Geburtenziffer 1993 mit nur 1,1 pro Tausend Einwohner einen historischen Tiefststand. Inzwischen müssen die Europäer immer mehr Ältere versorgen, zu Lasten von immer weniger Jungen, die nicht selten arbeitslos sind. Ein System von großzügigen Sozialleistungen, konzipiert für florierende Volkswirtschaften, in denen Jüngere mit versicherungspflichtigem Job die Versorgung einer relativ überschaubaren Zahl von Alten und Kranken garantierten, steht nun unter erheblichem Druck.

In Nord- und Westeuropa ist die Zahl der Senioren seit Mitte der 1960er Jahre zwischen 12 und 17 Prozent angestiegen. Und selbst die Jüngeren stehen nicht automatisch auf der »produktiven« Seite. In Westdeutschland ging der Anteil der Beschäftigten im Alter zwischen 60 und 64 Jahren in den zwei Jahrzehnten nach 1960 von 72 auf 44 Prozent zurück, in den Niederlanden von 81 auf 58 Prozent. Noch sind die gering beschäftigten Älteren lediglich eine kostspielige Belastung. Aber wenn die Babyboomer in Rente gehen (ab etwa 2010), könnte die große Zahl von frustrierten, gelangweilten, unproduktiven und am Ende kranken Alten zu einer sozialen Krise führen.