Wer die Goldkehlchen stört - Levi Henriksen - E-Book

Wer die Goldkehlchen stört E-Book

Levi Henriksen

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Beschreibung

Jim hat keinen Bock - keinen Bock auf Oslo, keinen Bock auf die furchtbare Musik, die er in den letzten Jahren als Tontechniker produziert hat. Er muss raus und strandet in seinem Heimatdorf, mitten im Nirgendwo in den endlosen Wäldern Norwegens. Auf einer Taufe hört er einen dreistimmigen Gesang - und ist wie verzaubert. Es sind drei Geschwister im Alter von 79 plus. Jim verspricht sich Großes von der Rentnertruppe. Schließlich sind seit dem Erfolg des Buena Vista Social Clubs alte Musiker in. Seine Versuche, Kontakt zu den Sängern aufzunehmen, scheitern allerdings kläglich. Da muss Jim einige Tricks anwenden, um das Vertrauen der verschrobenen Senioren zu gewinnen ...

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Zum Buch

Jim hat keinen Bock – keinen Bock auf Oslo, keinen Bock auf die furchtbare Musik, die er in den letzten Jahren als Tontechniker produziert hat. Er muss raus und strandet in seinem Heimatdorf, mitten im Nirgendwo in den endlosen Wäldern Norwegens. Bei einer Taufe hört er einen dreistimmigen Gesang – und ist wie verzaubert. Es sind drei Geschwister im Alter von 79 plus. Jim verspricht sich Großes von der Rentnertruppe. Schließlich sind seit dem Erfolg des Buena Vista Social Clubs alte Musiker in. Seine Versuche, Kontakt zu den Sängern aufzunehmen, scheitern zunächst allerdings kläglich. Da muss Jim einige Tricks anwenden, um das Vertrauen der verschrobenen Senioren zu gewinnen …

Zum Autor

LEVI HENRIKSEN wurde 1964 in Kongsvinger/Norwegen geboren. Er ist Musiker, Journalist und Autor und gilt in seiner Heimat als der »Bob Dylan Norwegens«. Sein Debütroman wurde in Norwegen zum Lieblingsbuch des Jahres gewählt. Mit seinen schrägen Kurzgeschichten zur Weihnachtszeit ist er dort seit Jahren erfolgreich.

Levi Henriksen

Wer die Goldkehlchen stört

Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die norwegische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Harpesang« bei Gyldendal Norsk Forlag AS, Oslo.

Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.

Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung September 2018

Copyright © Levi Henriksen 2014

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Dejan Patic/Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

AH · Herstellung: sc

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-17053-0V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Leah, Elisabeth und Hermann

We are ugly but we have the music.

Leonard Cohen, »Chelsea Hotel # 2«

Kapitel 1

Ich sah die Geschwister Thorsen zum ersten Mal in der Kirche von Kongsvinger. Ich war in der Stadt, um bei einer Taufe Pate zu sein, und selten hat mich ein Sonntagmorgen so heftig und frontal getroffen. Der Vorabend hatte mit einem totalen Absturz geendet. Eine Bande von lokalen Musikern, die laut dem Vater des Täuflings wichtiger für die Modernisierung des Blues war als irgendeine andere norwegische Gruppe, hatte zu Hause ein Konzert abgehalten. Plattenproduzenten wie ich suchen allerdings etwas andere Qualitäten als halb betrunkene Kneipengäste, und dieser Versuch, Rootsmusik in neuer Verpackung zu bringen, hatte mich in den Suff getrieben. Und das Schlimmste war, dass er mich auch noch dazu getrieben hatte weiterzutrinken, obwohl ich braunen Schnaps noch nie vertragen konnte. Als ich am Sonntagmorgen meine Visage aus dem beschlagenen Badezimmerspiegel herauskratzte, kam es mir unmöglich vor, präsentabel genug zu wirken, um vor einem Taufbecken Aufstellung zu nehmen, ganz zu schweigen davon, die Pastorin lange genug anzuschauen und den Namen Hubert so auszusprechen, dass es nicht wie eine Verwünschung klang.

Ich versuchte, Stärke zu finden, indem ich mir das Gesicht des verstorbenen Gitarristen von Howlin’ Wolf vorstellte, nach dem der Täufling benannt werden sollte, aber ich sah bloß einen schwarzen Mahlstrom, in den die ganze Welt hineingesaugt wurde. Zwei Kannen Kaffee später konnte ich mich immerhin zur Kirche schleppen, kam aber nur bis zur hintersten Bank und signalisierte den anderen von dort, dass ich mich zuerst ein wenig sammeln müsste, ehe ich nach vorn zu den für Paten und Verwandte reservierten Plätzen gehen könnte.

Ich bin nie besonders gläubig gewesen, aber ganz hinten in Gottes eigenem Tempel musste ich doch an eine Geschichte aus der Bibel denken, die mein Großvater immer gern erzählt hat. Die von Paulus, der auf der Straße nach Damaskus zu Boden geschlagen wird und blind werden muss, um zu sehen. Als ich aus der Kirche stürzte und die Abkürzung über mehrere Gräber nahm, um die Toilette zu erreichen, ehe die Katastrophe zur Tatsache würde, konnte ich mich gerade noch fragen, ob auch mir eine solche Prüfung bevorstand, ehe ich die Tür aufriss und vor dem Porzellanklo auf die Knie fiel.

In der Kirche gab ich mir dann alle Mühe, so wenig wie möglich zu schwanken, ließ mich in einer der ersten Bänke am Rand nieder und versuchte, andere nicht anzuhauchen, aber die neue Frau meines alten besten Freundes kniff die Augen stark zusammen. Ich setzte mich gerade, spannte meine Magenmuskeln an, doch die Schwerkraft machte mir auf eine noch nie erlebte Weise zu schaffen. Der Schweiß brannte mir in den Augen, und ein eisiges Gefühl kroch mein Rückgrat hinauf, wie der Zeigefinger des Todes. Mein Herz pochte doppelt so schnell.

An diesem Sonntag wurden drei Kinder getauft, und die Kirche war fast voll. Zuletzt sollte Hubert Malling in das seichte Becken vor dem Altar getunkt werden, und ich merkte schon, dass ich den Taufgottesdienst nicht bis zum Ende durchhalten könnte. Das Kirchenschiff hatte ein wenig Schlagseite, die groben Bodenbretter wirkten so einladend wie das Innere eines Sarges, und ich wollte gerade aufgeben, als ich von den Geschwistern Thorsen gerettet wurde. Später dachte ich an ihre Stimmen wie an die Hand, die dich packt, wenn du gerade zum dritten Mal untergehst. Ich kann es nur so erklären, dass die Geschwister Thorsen mein verhärtetes Produzentenherz auf eine Weise anrührten, wie das keiner anderen Stimme je gelungen war.

Anfangs wagte ich nicht, mich umzudrehen, aus Angst, die Schweißausbrüche und hämmernden Kopfschmerzen noch zu verstärken, aber als die dritte Strophe begann mit »Die rechten Wege wandle ich, solang ich leb auf Erden«, schaute ich doch nach hinten. Ich rechnete damit, auf die kreideweißen Gebisse großbusiger Gospelnebelhörner zu blicken, und musste zweimal hinsehen, um wirklich zu begreifen, wer da mit solcher Inbrunst sang. Der Mann war fast schon schwabbelig, und seine dünnen gelblich weißen Haare klebten an seinem Schädel wie die Breitengrade auf einem Globus. Die größere Frau hatte kohlschwarze Haare, und das Rouge betonte die Wangenknochen in dem schmalen Gesicht auf eine Weise, die mich an einen Vogel mit einem langen Schnabel denken ließ. Die andere Frau hatte ihre Haare unter einem altmodischen Hut verborgen – trotzdem sah ich, dass sie einmal eine gewesen war, für die Männer über Reklameschilder gestolpert oder gegen Laternenpfähle gelaufen waren. Wie sie da so Schulter an Schulter saßen, drei Reihen hinter mir und weit im Norden des Lebens, wies nur wenig darauf hin, dass dieses bejahrte Trio dieselben Vorfahren haben könnte, aber ihre Stimmen wurzelten in einer gemeinsamen musikalischen DNA, und ich musste einfach darüber staunen, mit welcher Autorität sie sangen. Obwohl in der Kirche vielleicht zweihundert Menschen anwesend waren und mindestens die Hälfte bei den Liedern mitsang, hörte ich die drei deutlich heraus, sie vermittelten jedes einzelne Wort wie ein kleines Stück Leben, das sie wirklich gelebt hatten. Ihr Gesang hatte etwas Schwereloses, einen langen Schweif von Bewegung, der alles um mich herum verschwimmen ließ. Er hob meinen gebrechlichen Leib aus dem Tal der Todesschatten und erfüllte mich mit Demut.

Während wir uns um das Taufbecken aufstellten, fühlte ich mich so lebendig, als ob ich gerade aus einem Autowrack herauskroch. Problemlos konnte ich mit klarer Stimme Huberts Namen verkünden, und angesichts der halbmondförmigen Tränen, die in die Augen des Vaters traten, musste ich den Kopf ehrfürchtig senken, weil ich etwas so nahe war, das im Leben eines anderen Menschen offenbar als reines, unverfälschtes Glück erlebt wurde.

Nachdem die Pastorin Hubert vor dem Altar hochgehoben hatte, damit die gesamte Gemeinde ihn willkommen heißen konnte, nahmen wir wieder in den Bänken Platz, und der Küster trug etwas aus dem Ersten Petrusbrief vor. Ich spürte, wie sich ein gesegneter Friede über mich senkte, und setzte mich bewusst möglichst unbequem hin, damit mir nicht die Augen zufielen. In Gedanken hatte ich schon die Hand nach dem ersten Budweiser auf dem Tauffest ausgestreckt, und als die Pastorin alle bat, sich im Gebet des Herrn zu vereinen, glaubte ich zuerst, das Trio sei in Zungensprache ausgebrochen, aber dann erkannte ich das Vaterunser. Nur klang es bei den dreien ganz anders als bei den gesenkten Köpfen in meiner Nähe.

»Was ist hier los?«, flüsterte ich Malling zu und bewegte meinen Kopf nach hinten.

»Sie demonstrieren gegen die Neufassung des Vaterunsers. Sie weigern sich, den heute eingeführten modernisierten Text zu verwenden«, flüsterte Malling zurück und starrte weiter auf seinen Bogen mit dem Text.

»Wer sind diese Leute?«

»Geschwister aus einem Dorf hier in der Nähe. Sie haben im vorigen Jahrtausend mehrere Platten veröffentlicht und waren ziemlich berühmt.«

»Was für Musik war das denn?«, flüsterte ich mit noch immer leiser Stimme.

»Sie gehören einer Pfingstgemeinde an, und sie haben christliche Lieder gesungen«, sagte Malling und versuchte, sich wieder auf sein Gebet zu konzentrieren.

Als ich mich umdrehte, hatten sich die drei Geschwister erhoben, und etwas an ihrer Haltung erinnerte mich an eines der schärfsten Rockfotos überhaupt. Dieses Bild war 1970 in Oakland, Kalifornien, entstanden und zeigt, wie Creedence Clearwater Revival auf dem Höhepunkt ihres Schaffens vom Publikum gefeiert wurden. Der Fotograf hinter der Bühne hatte das Bild über die wogende Menschenmenge hinweg aufgenommen. Zwischen den erregten Gesichtern, den ausgestreckten Händen und den eng gedrängten Körpern fallen drei Mädchen auf. Sie überragen alle um mehrere Haupteslängen, vermutlich haben sie bei anderen auf den Schultern gesessen, aber ich habe immer glauben wollen, dass sie von ihrer Fähigkeit getragen wurden, sich vollständig in der Musik versinken zu lassen. Die Geschwister Thorsen warfen nicht wollüstig den Kopf in den Nacken, aber ihre Gesichter strahlten ganz ähnlich. John Fogerty scheint sich in seiner Rolle absolut wohlzufühlen und hebt die linke Hand, wie um die Versammlung zu segnen, während die Pastorin in der Kirche von Vinger eher verlegen wirkte. Ihr Versuch, die Gemeinde durch die neue Version des Vaterunsers zu führen, gab mir das Gefühl, eine Fernsehsendung zu verfolgen, bei der Ton und Bild nicht synchronisiert waren. Die Lippen der Pastorin bewegten sich, aber was ich hörte, waren die Stimmen der drei Geschwister.

Nach der Taufe blieben wir vor dem Altar stehen, um zusammen mit der Pastorin fotografiert zu werden, und ich musste natürlich dem Abmarsch der drei singenden Geschwister zusehen. Zuerst war ich davon überrascht, dass sie aus der Ferne viel älter wirkten und dass der Mann einen Rollator benutzte. Dann ging mir auf, dass sie sich wie eine Rockgruppe bewegten, die seit Jahren die Bühne nach demselben eingeübten Muster verlässt, der Frontmann vorweg, dann die anderen in genau synchronisiertem Diagonalgang. Ich wollte Malling gerade weitere Fragen nach den Geschwistern stellen, als das Blitzlicht um uns herum losknisterte, und ich musste die nächsten Minuten lang meine Lippen zu meinem besten Popstarlächeln anspannen.

Auf dem Weg aus der Kirche hinaus begleitete ich die Pastorin. Ich dankte ihr für die schöne Predigt und fragte, wer sie seien, diese drei, die so schön gesungen hatten.

»Maria, Timoteus und Tulla Thorsen«, lautete die Antwort.

»Sie waren unglaublich überzeugend«, sagte ich und musste mich anstrengen, um nicht ungeduldig zu wirken, denn ich wollte noch einen letzten Blick auf die Geschwister werfen, ehe sie verschwanden.

»Die Wirkung haben sie immer schon auf andere gehabt«, sagte die Pastorin.

»Sie kennen die drei also?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich würde eher sagen, dass ich weiß, wer sie sind.«

»Ich dachte, die Angehörigen der Pfingstgemeinden gingen nicht in die Kirche«, sagte ich.

»Ihr Gebetshaus ist abgebrannt, aber ich habe keine Ahnung, wie oft sie dort waren. Auch vor dem Brand habe ich oft gehört, dass sie andere Gemeinden hier in der Stadt besucht haben.«

»Warum denn?«

Die Pastorin zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht weil sie sehr genau zu wissen meinen, wie der Glaube ausgeübt werden sollte.«

»Also ziemlich konservativ?«, fragte ich.

»Nein, so würde ich das wirklich nicht nennen. In vieler Hinsicht sind sie voller Widersprüche, wenn es um die großen und nicht zuletzt die kleinen theologischen Fragen geht. Die eine Schwester ist übrigens fester Gast auf dem Friedhof, früher jedenfalls mehrmals pro Woche. Ich habe jahrelang versucht, sie zum Singen in der Kirche zu überreden. Dann haben sie einmal zugesagt, und es kamen mehr Menschen als zu Heiligabend. Ein Journalist, der anwesend war, meinte, die Geschwister könnten die Toten aus den Gräbern singen. Das ist kein Bild, das ich selbst benutzen würde, aber früher hat niemand in Hedmark so viele Schallplatten verkauft wie diese drei.«

Die Frühlingssonne schien mir Tränen in die Augen, als ich auf die Kirchentreppe hinaustrat, und wieder machte ich Bekanntschaft mit den Höllenqualen. Erst nachdem ich die Sonnenbrille aufgesetzt hatte, konnte ich den Blick über den Friedhof heben und sah die drei Geschwister bei einem Grabstein dicht vor der Friedhofsmauer. Noch immer musste ich Hände drücken und stellvertretend für Hubert gute Wünsche entgegennehmen, ehe ich mir einen Weg durch die Familienfotografen bahnen durfte. Die beiden Schwestern waren schon auf dem Parkplatz verschwunden, Timoteus aber konnte ich einholen, als er gerade den Friedhof verlassen wollte.

»Entschuldigung«, sagte ich, um ihn zum Anhalten zu bewegen. »Ich möchte ganz einfach sagen, dass es ein phantastisches Erlebnis war, Sie und Ihre Schwestern in der Kirche singen zu hören. Das war … magisch.«

»Bist du betrunken?«, fragte er und starrte mich dermaßen an, dass ich die Augen niederschlagen musste.

»Entschuldigung?«, stammelte ich und merkte, dass meine Ohrläppchen heiß wurden.

»Bist du betrunken? Du stinkst nach Schnaps.«

»Ich hab gestern Abend ein paar Gläser gekippt«, sagte ich und schluckte.

»Du weißt doch, was über Alkohol gesagt wird?«, fragte er streng.

Ich schüttelte den Kopf.

»Das Badewasser des Teufels«, sagte er mit einer klaren und deutlichen Stimme, die einem zwanzig Jahre jüngeren Mann gehört haben könnte. Dann setzte er seinen Rollator in Bewegung und steuerte seine Schwestern an.

»Entschuldigung«, sagte ich noch einmal und legte die Hand auf den einen Handgriff. »Das eben kam mir von Herzen. Mir ist noch nie irgendein Gesang dermaßen unter die Haut gegangen.«

»Dann will ich doch hoffen, dass du eine dicke Haut hast«, sagte er.

»Ich bin Schallplattenproduzent«, sagte ich.

Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er mich ansah und nicht einfach nur durch mich hindurch. Seine Augen funkelten wie die eines Tieres, das plötzlich eine überaus unwillkommene Witterung nimmt.

»Schallplattenproduzent?«, wiederholte er.

Ich nickte und lächelte.

»Wo schon die Rede vom Teufel ist, weißt du, was wir da, wo ich herkomme, über ihn sagen?«, fragte Timoteus.

Ich versuchte eine originelle Antwort zu finden, konnte aber nur den Kopf schütteln.

»Es lohnt sich nicht unbedingt, sich auf eine Schlägerei mit dem Teufel einzulassen. Selbst wenn du gewinnst, wirst du dich gewaltig verbrennen. Und jetzt warten meine Schwestern auf mich, nimm dich vor der Harley in Acht«, sagte er, und ich starrte ihn verständnislos an.

»Vor der Harley?«

Timoteus Thorsen gab keine Antwort, sondern fuhr mir mit dem Rollator über den Fuß.

»Entschuldigung«, rief ich hinter ihm her und suchte nach meiner Brieftasche.

»Du bittest häufiger um Entschuldigung als ein Quäker«, sagte er, schien aber nicht noch einmal stehen bleiben zu wollen.

»Darf ich Ihnen meine Telefonnummer geben? Ich würde gern mal mit Ihnen und Ihren Schwestern reden«, sagte ich und lief hinter ihm her, während ich mich darauf konzentrierte, aus meiner Brieftasche eine Visitenkarte zu fummeln.

Timoteus schien mich nicht gehört zu haben, er ging einfach weiter über den Parkplatz. Jetzt sah ich, dass die kleinere Schwester vor einem großen blauweißen Amerikaner auf ihn wartete. Die andere Schwester saß bereits hinter dem Lenkrad.

»Ich steck sie Ihnen einfach in die Tasche«, sagte ich, und als er noch immer keine Antwort gab, tat ich es dann.

»Okay. Schönen Sonntag noch«, fügte ich hinzu und zögerte. »Vielleicht ist es Ihnen ja lieber, wenn ich Sie anrufe. Haben Sie eine Telefonnummer, unter der ich Sie erreichen kann?«

Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet und wollte schon kehrtmachen, als seine Stimme einige Zahlen herunterleierte. Fast hätte ich wieder um Entschuldigung gebeten, schaffte es aber, mich zu beherrschen.

»Könnten Sie das noch einmal sagen«, rief ich, und diesmal kritzelte ich seine Nummer in mein Notizbuch.

»Hervorragend. Vielen Dank und auf Wiedersehen«, sagte ich dann und schaute Timoteus hinterher, bis er bei dem Auto angekommen war. Seine Schwester klappte den Rollator zusammen, sie stiegen ein, und der blauweiße Amerikaner fuhr langsam über den Parkplatz, danach blinkte er und bog auf die Straße ab. Trotz der scharfen Sonne war es nicht besonders warm, und ich fand es waghalsig von Timoteus Thorsen, mit offenem Fenster zu fahren. Dann wurde etwas aus dem Auto geworfen. Ich wartete, bis der Amerikaner in Richtung Stadt verschwunden war, ging über den Asphalt, um zu sehen, was das war, und brauchte mich nicht zu bücken, um meine Visitenkarte zu erkennen.

Kapitel 2

Am Montag erwachte ich sehr früh in einer der frisch restaurierten ehemaligen Mietskasernen unten in der Altstadt von Kongsvinger. Ich musste erst am Donnerstag wieder nach Oslo, dann würde ich mit einer neuen Produktion beginnen, und ich hatte beschlossen, einige Tage bei Malling Zeit totzuschlagen. Man könnte meinen, ein Mann meines Alters lerne aus seinen Fehlern, aber als ich ins Badezimmer trottete, spürte ich deutlich, dass der Vorabend wieder ein reichlich feuchtes und heftiges Ende genommen hatte. Meine Form war jedoch spürbar besser als am Sonntagmorgen, ich schaffte beim Frühstück zwei Eier, und ich stand am Fenster und winkte Malling zu, der seine Frau und Hubert zur Kontrolle auf die Gesundheitsstation fuhr, ehe er sich selbst in sein Maklerbüro begab. Als ich Timoteus Thorsens Nummer hervorzog, hatte ich keine klare Vorstellung davon, was ich erwartete. Aber im Leben eines jeden Mannes gibt es eine klare Grenze dafür, wie viel 12-Takt-Blues er verdauen kann, und seit einiger Zeit spürte ich ein verzweifeltes Bedürfnis danach, mit Musik zu arbeiten, die nicht um jeden Preis in dieses Schema passen musste. Paradoxerweise sind die meisten europäischen Bluesmusiker konservativer als die, die über Generationen im Mississippidelta oder in den Sümpfen von Louisiana den Blues ererbt haben. Bei Blues geht es mehr als bei jeder anderen Musikform um Gefühle, aber wenn die Stücke ausnahmslos der einen Formel folgen, wird er rasch zu Mathematik. Deshalb setzte ich solche Hoffnungen in die Band, die Malling mir begeistert empfohlen hatte. Ich vertraute ihm. Andererseits war sehr viel Blues ins Meer geflossen, seit wir zum ersten Mal zusammen Bukka White gehört hatten, und obwohl wir weiterhin gute Freunde waren, hatten wir uns unterschiedlich entwickelt. Als Zuhörer ging Malling fast kindlich an Musik heran, während meine Begeisterungsschwelle immer höher lag.

Ich nahm mir noch eine Tasse Kaffee und ließ mich in einen der abgenutzten Chesterfield-Sessel fallen, die Malling von seinem Vater geerbt hatte. Wenn ich am Vortag bei der Taufe nicht in so elender Form gewesen wäre, hätte mich dann der verletzliche Gesang der Geschwister Thorsen auf dieselbe Weise getroffen? Diese Frage ließ sich nicht beantworten, aber ich brauchte eine richtige Herausforderung. Ich musste die Behauptung zum Schweigen bringen, dass Jim Gystad seine besten Produktionen hinter sich habe und von keinem anderen Hunger getrieben werde als dem nach ausreichenden Mahlzeiten. Doch wenn man die ganze Zeit die volle Kontrolle hat, wird man zu einem langweiligen Produzenten.

Ich hatte schon seit Jahren nicht mehr das Gefühl gehabt, etwas riskieren zu können. Viel zu lange hatte ich mich in einer Art Shabby-chic-Landschaft aufgehalten, in der es darum ging, neue Musik alt klingen zu lassen. Bei den Geschwistern Thorsen würde es darum gehen, das Ursprüngliche in ihren Stimmen zu erhalten, sie durften nicht gesüßt oder verschönert werden. Ich musste den Mut haben, ihr Alter als Teil des künstlerischen Ausdrucks einzusetzen, statt es als Entschuldigung anzuführen.

In letzter Zeit war ich mir oft vorgekommen wie ein Zimmermann, der immer das gleiche Haus baut, weil das erwartet und bestellt wird. Vielleicht könnte ich mich da auch nach etwas ganz anderem umsehen? Möglicherweise anfangen, wieder Leitungen zu legen und Sicherheitskästen festzuschrauben? Ich war zweiundvierzig Jahre alt – mein Leben musste doch mehr bedeuten als einen langsamen Zeitvertreib.

Ich kritzelte zuerst einige Stichwörter auf einen Klebezettel, knüllte den dann aber zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Etwas sagte mir, es habe wohl kaum Sinn, sich auf ein Gespräch mit Timoteus Thorsen vorzubereiten.

Ich wählte ohne weiteres Zögern die Nummer, und der Hörer wurde so schnell abgehoben, dass die Zeit nicht einmal zum Nervöswerden reichte. Ehe ich mich vorstellen konnte, fing eine Frauenstimme an zu reden.

»Äh, hallo. Hier ist Jim Gystad. Ich bin Timoteus Thorsen gestern nach dem Gottesdienst begegnet. Ich bin der Plattenproduzent. Ist er zu sprechen?«, fragte ich, ohne Atem zu holen, während die Frau die ganze Zeit unangefochten weiterredete.

»Ich stelle Sie durch«, sagte die Stimme.

Ich dachte, Timoteus wohne vielleicht in einem Pflegeheim, dann meldete sich eine neue Frau, auf Schwedisch, und diese klang viel freundlicher als die erste.

»Ja, hallo«, sagte ich. »Hier ist Jim Gystad. Könnte ich wohl mit Timoteus Thorsen sprechen?«

»Versuchen Sie’s beim Schwulentelefon«, sagte die Schwedin um einiges weniger freundlich.

»Entschuldigung?«

»Das hier ist ein privates Chatforum für Heteros. Der Schwulenchat hat am Ende eine Neun.«

»Entschuldigung«, sagte ich und legte auf.

Jesus. Zum ersten Mal hatte ich nüchtern ein Sextelefon angerufen.

Ich sah nach, was ich in mein Notizbuch geschrieben hatte, und wählte die Nummer ein weiteres Mal.

»Hallo, willkommen beim Erotiktelefon. Dieser Dienst kostet bei der Verbindung einhundertneunundvierzig Kronen, und sowie Sie Antwort erhalten, pro Minute fünfzehn. Sie werden jetzt durchgestellt«, sagte dieselbe Stimme wie vorhin.

Halleluja. Ich hatte es geschafft, die falsche Nummer zu notieren. Die Rockgeschichte wimmelte zwar von legendären Fuck-ups, bei denen Bands den falschen Zug erwischt oder das Flugzeug verpasst oder sich aus purer Freude über einen Schallplattenvertrag dermaßen sinnlos betrunken hatten, dass sie nicht mehr wussten, mit wem sie wo verabredet waren. Und Dick Rowe bei Decca fiel mir ein, der mit der Begründung, Gitarrenbands seien nicht mehr aktuell, die Beatles abgelehnt hatte? Aber ein Sextelefon!

Ich wählte die Nummer der Auskunft und war erleichtert, als sich ein Mann meldete, der Norwegisch sprach.

»Ich suche die Nummer von Timoteus Thorsen im Bezirk Kongsvinger«, sagte ich.

Durch das Muschelrauschen im Mobiltelefon hörte ich fieberhaftes Tastenklappern, dann:

»Timoteus Thorsen in Kongsvinger habe ich nicht, nein«, sagte der Mann.

»Dann versuchen Sie es mit Maria. Maria Thorsen.«

Diesmal kam die Antwort schneller.

»Tut mir leid. Auch die kann ich nicht finden. Genauere Auskünfte haben Sie nicht?«

Ich schüttelte den Kopf, dann riss ich mich zusammen.

»Nein, aber können Sie es auch mit Tulla Thorsen versuchen, obwohl das sicher ein Kosename ist?«

Ohne Ergebnis.

Ich wählte Mallings Nummer.

»Die Geschwister Thorsen sind nicht über die Auskunft zu ermitteln. Weißt du vielleicht, wo die wohnen?«, fragte ich.

»Ich glaube, sie wohnen alle im selben Haus, aber sie haben sicher eine Geheimnummer. Ich kenne die genaue Adresse nicht, aber ich kann dir den Weg erklären, und dann musst du dich eben durchfragen.«

Ich ließ mich wieder in den Ohrensessel sinken, während ich meine Eindrücke vom Vortag sortierte. Versuchte, in Gedanken eine Projektbeschreibung zu erstellen, als wollte ich mich um einen Zuschuss zu den Aufnahmekosten bewerben, aber das gelang mir nicht. Noch nie war es mir weniger möglich gewesen, etwas Gescheites über Musik zu sagen, mit der ich arbeiten wollte. Die meisten Produzenten träumen davon, über einen Künstler oder eine Band zu stolpern, die dieses gewisse Etwas haben. Diesen Ausdruck, bei dem man sich sofort überlegt, wie man ihn im Studio veredelt und dem Publikum nahebringt, ohne das Künstlerische zu verwässern. Ich hatte meine Künstler in einer Kirche gefunden, und ich dachte daran, dass die Pastorin gesagt hatte, diese Geschwister könnten die Toten aus dem Grab singen. Ich hätte es etwas anders ausgedrückt, aber die Stimmen von Maria, Timoteus und Tulla waren fertig ausgeformt.

Es war ein strahlend schöner Tag. Das Licht hatte diese ungefilterte glasklare Schärfe, die man fast nur im Frühling findet, und am Ufer eines der Seen vor der Stadt standen die kahlen Laubbäume wie eine Schar von aufmarschierten windgebeutelten Soldaten. Einen Moment bereute ich, meinen Skizzenblock nicht mitgenommen zu haben. Es wäre ein perfekter Tag gewesen, sich an den Straßenrand zu setzen, ein neues Blatt aufzuschlagen und ausgiebig den Bleistift zu spitzen. Ich folgte Mallings Anweisungen und bog von der Hauptstraße ab, wäre aber aus irgendeinem Grund am liebsten weiter nach Schweden gefahren. Ich war hier zuletzt unterwegs gewesen, als ich mit sechzehn Motörhead im Eda Folkpark gesehen hatte, und plötzlich hätte ich zu gern gewusst, ob sich dieser seltsame winzige Ort Eda noch immer zwischen Zeltwarenhäusern, Pornoläden und Lebensmittelgeschäften anklammerte. Doch wenn es den Ort noch gab, würde er sicher auch am nächsten Tag dort liegen, deshalb fuhr ich vorbei am Schild eines Golfgeländes und um einige Haarnadelkurven, bis ich unten im Tal angelangt war.

Die erste Straße links führte zur Eisenbahn, und ich dachte, das könnte ein guter Ausgangspunkt sein. In der Rootsmusik gibt es viele Eisenbahnbezüge, aber etwas an diesem kleinen Bahnhof erinnerte an Aufbruch – oder daran, für immer und ewig zum Zurückbleiben verdammt zu sein. Die Plakette »167 MüM« klammerte sich zwar hartnäckig unter dem Dachvorsprung fest, und auf dem Bahnsteig stand eine verlassene Bank, doch das Schild mit dem Namen der Station war verschwunden, und die zerbrochenen Fensterscheiben und die vulgären Graffiti sangen ihre trostlosen Lieder über Verslumung und Stilllegung. Auf jeder Seite der Bahnlinie gab es Häuser, und ich stieg in der Hoffnung aus dem Auto, irgendwo ein Lebenszeichen zu entdecken. Überall hier herrschte eine drückende Sonntagsstille.

Ich bin eigentlich keiner, der an fremden Haustüren klingelt, und als ich deshalb eine Weile ruhig vor der Motorhaube gewartet hatte, setzte ich mich wieder ins Auto und fuhr zurück. Gleich nach einer Kiesgrube bei einem kraterförmigen See führte die Straße weiter an der Eisenbahnlinie entlang, ehe sie in die Gegenrichtung abbog. Ich näherte mich einem stillgelegten Laden. Auf der anderen Straßenseite standen zwei Männer auf einem riesigen Gerüst und hämmerten. Ich hielt am Straßenrand und hob, ohne so recht zu wissen, warum, die Hand, ehe ich etwas sagte.

»Hallo«, rief ich, als ich nahe genug gekommen war und die Männer den Hammer sinken ließen. »Kennen Sie sich hier aus?«

Der Jüngere nickte. Er hatte sich die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, und über seine beiden Arme zogen sich farbenfrohe Tätowierungen.

»Ich bin unterwegs zu den Geschwistern Thorsen, und mir wurde gesagt, dass die irgendwo hier im Dorf wohnen«, sagte ich und lächelte.

»Sind Sie Journalist?«, fragte der Mann mit dem Pferdeschwanz.

Ich schüttelte den Kopf, wollte schon sagen, Produzent, riss mich aber zusammen. »Ich habe sie gestern fotografiert, da haben sie bei einer Taufe gesungen, aber als ich die Nummer anrufen wollte, die sie mir gegeben haben, kam ich nicht durch«, sagte ich und staunte darüber, wie leicht mir das Lügen fiel. Doch angesichts der Blicke, die die Männer jetzt tauschten, war ich mir nicht mehr sicher, ob meine Lüge gelungen war.

»Wurde viel gestöhnt?«, fragte der mit dem Pferdeschwanz, und der andere, der dünne rötliche Haare hatte, verdrehte die Augen.

»Entschuldigung?«, sagte ich.

»Sind Sie bei einem Sextelefon gelandet? Solche Nummern gibt Timoteus gern Leuten, mit denen er nicht reden will.«

»Ja«, sagte ich und spürte, wie meine Wangen glühten. Es musste an dieser engen, eingeschlossenen Siedlung liegen, dass alle, die hier wohnten, Fragen mit unangenehmen Fragen beantworteten. Ich drehte mich um, um zu meinem Auto zurückzugehen.

»Sie sind dran vorbeigefahren«, sagte der Langhaarige und zeigte in die Richtung, aus der ich gekommen war. »Das Thorsen-Haus liegt gleich oberhalb der Kiesgrube. Sie müssen auf die andere Seite der Bahnlinie. Es ist ihr Elternhaus, und es liegt an einer der schönsten Stellen im ganzen Dorf. Die Leute nennen es nur die Hallelujastraße.«

»Hallelujastraße?«, fragte ich.

Er nickte.

»Das stammt aus einem Lied«, sagte er.

»Danke für die Hilfe«, sagte ich und trat einen Schritt zurück.

»He, Moment noch«, sagte der Mann mit dem Pferdeschwanz. »Haben die drei wirklich gestern gesungen? Das tun sie in der Öffentlichkeit fast nie mehr. Wir hatten gehofft, sie herzubekommen, wenn das Haus fertig ist.«

»Es war kein Soloauftritt, falls Sie das meinen«, sagte ich. »Bauen Sie hier ein Gemeindehaus?«

»Nein. Gebetshaus. Das vorige ist vor zwei Jahren bei dem schweren Herbststurm abgebrannt. Eine Neueröffnung mit den Drei Singenden Geschwistern Thorsen wäre das Größte, aber sie verlangen dreißigtausend für einen Auftritt.«

»Dreißigtausend Kronen, um in einem Gebetshaus zu singen?«, fragte ich.

Beide Männer nickten.

»Viel Glück«, sagte ich und fuhr zurück zu Kiesgrube und See. Dreißigtausend Eier. Ich kannte so einige Künstler, die einen zu hohen Preis forderten, um sich vor Gigs zu drücken, die sie nicht haben wollten.

Nachdem ich einem Ziegenpfad durch die Kiesgrube und vorbei an einem gewaltigen Holzlager gefolgt war, erreichte ich eine Art Plateau, das zum Tal hin durch wie Palisaden stehende Tannen geschützt wurde. Der Boden wirkte hier grüner und üppiger als unten beim Bahnhof, und auf beiden Seiten der Straße zum Tor wuchsen Leberblümchen dicht an dicht.

Das rostrote geräumige Holzhaus lag gleich unter einem Hügelkamm zwischen üppigen Birken. Ein Bach schäumte den Hang herunter und unter der Straße hindurch, ehe er in Tannenwäldchen und Kiesgrube verschwand. Mitten auf diesem Plateau lag ein kleiner Teich, und als ich vorüberkam, flogen einige Enten vom Wasser auf. Nachdem ich angehalten und das Wagenfenster heruntergekurbelt hatte, erfüllte das Rauschen des Baches das Autoinnere. Nichts hallt so sehr wider wie das Geräusch der Stille.

Mir ging auf, dass das Haus vielleicht nicht hier errichtet worden war, um möglichst lange jeden Tag Sonne zu haben. Die Lage gab den Bewohnern ausreichend Zeit zu überlegen, ob sie Besuch wollten oder nicht. Sie brauchten sich nicht einmal zu beeilen, wenn sie sich in den Wald hinter dem Garten verdrücken wollten, falls ungebetene Gäste vor der Haustür auftauchten.

Als ich das Tor öffnete, quietschte es widerwillig, als ob es lange nicht mehr benutzt worden sei. Die beiden großen Fenster im ersten Stock starrten mich an wie blanke Glasaugen, und das halbmondförmige Geländer um die Eingangstür erinnerte an schiefstehende Zähne in einem Unterkiefer.

Ich weiß nicht so recht, ob ich erleichtert oder enttäuscht war, als ich sah, dass die Garagentüren offen waren und der riesige Amerikaner nicht dort stand. Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich tun sollte. Dann hörte ich im Haus ein Geräusch. Musik? Ich konnte noch zwei Schritte weitergehen, schon begann ein Hund zu bellen, und ein weiterer stimmte ein. Wieder blieb ich stehen, diesmal jedoch nicht unschlüssig. Seit ich in der vierten Klasse von einem Schäferhund gebissen worden bin, habe ich eine wahnsinnige Angst vor Hunden.

Unendlich vorsichtig begann ich, mich rückwärtszubewegen, und als meine Hand gerade die Torklinke gefunden hatte, kamen zwei Elchhunde um die Hausecke getrottet. Zuerst war ich erleichtert, weil es keine Schäferhunde waren, aber als das Trotten in wilde Sprünge umschlug, riss ich das Tor auf und lief los. Mir war bereits klar, dass ich nicht die geringste Chance hatte, das Auto vor den Hunden zu erreichen, deshalb hielt ich auf das Wäldchen zu. Vielleicht würde ich es schaffen, auf einen Baum zu klettern, vielleicht etwas finden, um mich zu verteidigen, vielleicht wusste ich nicht, was ich hier tat. Meine Fußsohlen knallten unelegant auf den Boden auf, und ich rannte wie nie zuvor in meinem Leben. Ich konnte schon hören, wie meine Hose in Fetzen gerissen wurde, spürte die Zähne, die meine Haut zerreißen und sich durch Muskeln und Fleischfasern fressen würden, bis sie auf Knochen träfen.

Aber warum holten sie mich nicht ein?

Ich schaute mich kurz um und konnte gerade noch registrieren, dass ich einige Meter Vorsprung hatte, dann verschwand die Erde unter mir. Für einen Moment schwebte ich davon, dann landete ich auf den Knien in einer weichen Masse, kippte um und rollte willenlos und ruckartig abwärts. Jetzt sterbe ich, dachte ich, dann nahm alle Bewegung abrupt ein Ende. Ich blieb ganz still liegen und wartete darauf, schwerelos zu werden. Zu spüren, wie sich meine Seele einen Weg aufwärts und aus mir hinaus bahnte, während mein Körper am Boden zurückgehalten würde. Aber nichts passierte. Ich hob den Kopf und sah die beiden Elchhunde Schulter an Schulter stehen, unergründlich wie zwei Sphinxen oben am Rand der Kiesgrube. Als sie merkten, dass ich mich bewegte, hätte ich schwören können, dass sie einander ansahen wie zwei Rausschmeißer, zufrieden, weil sie gute Arbeit geleistet hatten. Dann verschwanden sie einfach.

Dort, wo ich über den Rand gestürzt war, war die Kiesgrube zum Talgrund hin abgeschrägt, und die Masse hatte eine fast goldbraune Farbe. Zum Bahnhof hinüber sah der Kies ganz anders aus, schien eher aus Erde zu bestehen als aus Sand. Die Farbschattierungen sahen aus wie ein geschichteter Kuchen oder wie ein Schaubild über den Aufbau des Erdinneren. Kruste, oberer Mantel, Mantel, äußerer und innerer Kern. Das wusste ich noch aus meiner Schulzeit, hatte immer Lust gehabt hineinzubeißen, um zu erfahren, wonach Norwegen wirklich schmeckt.

Ich drehte mich auf den Rücken und entdeckte eine Schar Uferschwalben, die bei ihren Nestern oben in der Kiesgrube aus- und einflogen. Die Löcher, allesamt gleich groß, waren in die Grubenwand gebohrt wie die Noten einer schicksalhaften Symphonie. Ich hatte mir beide Handflächen aufgeschrammt und fühlte mich wie gerädert, aber offenbar war nichts gebrochen. Dennoch schreckte ich davor zurück, mich aufzurichten. Fürchtete plötzlichen Schmerz und eine abrupte Erkenntnis, dass ich doch verletzt sei, denn nun hörte ich in meinem Kopf ein Geräusch. Etwas, das ich nicht bemerkt hatte, solange ich noch auf dem Bauch lag. Ein bohrendes Brummen. Hatte ich mir eine Gehirnerschütterung zugezogen? Ich merkte, dass der Boden unter mir bebte, und vermutete, dass dort ein Zug vorbeifuhr, aber die Vibrationen verschwanden nicht. Wie ein beharrlicher, primitiver Rhythmus drangen sie in mich ein und hinterließen in meinem ganzen Leib ein schwaches Wogen. Ich kniff die Augen zusammen, dachte, beim Sturz sei mir schwindlig geworden, aber das Geräusch wurde immer lauter. Es hatte etwas monoton Manipulierendes an sich, etwas rhythmisch Suggestives, mir fiel das Intro von »Telegram« von Nazareth ein, und nun konnte ich nicht mehr still liegenbleiben. Ich kam mühselig auf die Beine und spuckte Sand aus. Ging los mit einem Gefühl wie nach einem plötzlichen Druckverlust, und ich musste Extraschritte einlegen, um nicht zu fallen. Das Geräusch wurde weiter unten in der Kiesgrube noch stärker. Ich kam vorbei an einem gelben Bagger und überquerte verrostete Bahngleise.

Als ich um eine heruntergekommene Nissenhütte bog, erkannte ich, woher das Geräusch stammte. Kies strömte durch ein langes enges Gerät hinab auf ein Fließband und weiter zu etwas, das aussah wie ein metallenes Gestell zum Trocknen von Fischen. Das monotone Klirren erzeugten kleine Steine, die über Stahlsträngen hin- und hergeschüttelt wurden, um dann in das Innere eines Güterwaggons gefiltert zu werden. Das Geräusch wurde lauter und leiser, weil es unterschiedliche Phasen gab, während die kleinen Steine mit metronomischer Präzision gesiebt wurden. Das Geräusch schien sich aus der Erde herauszupressen, etwas Ursonisches, das mich an uralte Bluesmusiker in den Südstaaten erinnerte, wenn sie den Takt zu Liedern trampeln, die sie seit ihrer Geburt in sich tragen.

Ich kam noch ein wenig näher und sah, dass ein Mann mit Blaumann und Gehörschutz das Gerät bediente. Der Mann schaute auf, aber erst als ich so dicht an ihn herangetreten war, dass ich seine Schulter hätte berühren können, zeigte er durch ein kurzes Nicken, dass er meine Anwesenheit bemerkt hatte. Ich gab ihm ein Zeichen, den Gehörschutz abzunehmen.

»Hallo. Dieses Gerät finde ich faszinierend. Was macht es?«, fragte ich und merkte beim Lächeln, dass ich noch immer Kies im Mund hatte.

»Das Ding?«, fragte er. »Das sortiert Kies.«

»Faszinierend«, wiederholte ich. »Wie heißt es?«

Der Mann sah mich an und fischte eine Zigarette aus der Packung in seiner Jackentasche.

»Kiesharfe«, sagte er.

»Phantastischer Name.«

»Hatten Sie einen Unfall?«, fragte er und musterte meine zerschundenen Knie.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte wieder.

»Bin nur gestolpert. Darf ich das Geräusch aufnehmen?«

»Aufnehmen?«, fragte er.

Ich nickte und hielt mein iPhone hoch.

»Warum das denn?«, fragte er.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, denn es war nichts, das ich erklären konnte, wie ein Gedanke, den ich noch nicht gedacht hatte, aber die rhythmische Inständigkeit der Kiesharfe, das Organische und zugleich Maschinenhafte, erfüllte mich mit einer plötzlichen Erkenntnis, dass alles seinen eigenen Gesang hat.

»Das Geräusch gefällt mir«, sagte ich nur.

»Sind Sie aus der Stadt?«, fragte er.

»Kongsvinger? Nein, ich komme aus Oslo.«

»Das habe ich auch gemeint«, sagte der Mann. »Bitte sehr. Nehmen Sie auf, was Sie wollen.«

Eine Viertelstunde später überquerte ich die Bahnlinie ein weiteres Mal. Ich konnte noch immer aus der Ferne die Kiesharfe hören. Der fesselnde Rhythmus trug mich bis zum See hinunter, und erst dort überkam mich wieder die Unschlüssigkeit. Wie sollte ich das Auto holen, solange die beiden Hunde frei herumliefen? Es war zu früh, um Malling anzurufen, er war noch im Büro, außerdem wollte ich ihm nicht die Gelegenheit geben, sich auf meine Kosten zu amüsieren. Ich hatte mir fast schon eingeredet, dass die Hunde nicht an meinem Auto Wache standen, als ein Range Rover an den Straßenrand fuhr. Ich brauchte einen Moment, um den langhaarigen Zimmermann vom Gebetshaus zu erkennen.

»Haben Sie die Bilder abliefern können?«, fragte er, nachdem er das Fenster heruntergekurbelt hatte.

»Was? Ach, nein«, sagte ich und schüttelte so heftig den Kopf, dass mir Kies aus den Haaren rieselte.

»Waren sie nicht zu Hause?«

»Nein, oder doch, ich weiß nicht. Der Amerikaner war jedenfalls nicht da.«

»Der Amerikaner?«, fragte der Langhaarige und runzelte die Stirn.

»Das Auto. Mit dem sie gestern gefahren sind.«

»Sicher haben Sie sich geirrt, die fahren keinen Amerikaner«, sagte der Mann und sah aus, als hätte er lieber etwas anderes gesagt. »Das ist ein Opel Kapitän, Baujahr 1956. Der besterhaltene Oldtimer hier im Ort. Und niemand außer Maria darf ihn anrühren. Sie fährt ihn, seit sie ihn nach ihrer Rückkehr aus Amerika gekauft haben.«

»Rückkehr aus Amerika«, sagte ich. »Was haben sie da gemacht?«

»Die waren auf irgendeiner Tournee.«

Der Mann schaute auf die Uhr, dann fügte er hinzu:

»Auch wenn Maria weg ist, sind die beiden anderen doch zu Hause. Vielleicht haben die Ihr Klopfen nicht gehört?«

Ich antwortete nicht sofort. Starrte zu dem tintenschwarzen See hinüber, ehe ich den Blick des Mannes erwiderte.

»So weit kam ich gar nicht erst. Plötzlich rannten zwei wütende Hunde um das Haus herum, und ich mag Hunde nicht. Und danach bin ich in die Kiesgrube gefallen, und mein Wagen steht noch immer da oben.«

»Zwei Hunde? Zwei Elchhunde?«, fragte er.

Ich nickte.

Wieder schien er etwas anderes zu sagen, als was er wirklich gedacht hatte.

»Soll ich Sie kurz hochfahren?«, fragte er.

Ich nickte abermals.

Das Auto roch nach Farbe und Baumaterial, und der Mann fuhr so salopp, wie Handwerker eben fahren. Als wir vor dem Haus zum Stehen kamen, hatte er auf keines der mit Wasser gefüllten Schlaglöcher geachtet, denen ich vorher mit solcher Mühe ausgewichen war.

»Das war wirklich nett von Ihnen«, sagte ich und griff nach der Tür. Das Tor schien noch immer offenzustehen, aber die beiden Hunde konnte ich nicht entdecken.

»Nicht der Rede wert. Wollen Sie noch einen Versuch machen?«, fragte der Mann, und als ich zögerte, fügte er hinzu: »Sie können die Bilder doch einfach in den Briefkasten legen.«

»Gute Idee. Danke fürs Bringen«, sagte ich, hob zum Abschied die rechte Hand und lief eilig zu meinem eigenen Auto.

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, dicht vor das Haus zu fahren und im Auto sitzen zu bleiben, bis irgendjemand meine Anwesenheit bemerkte. Aber ich hatte das Gefühl, dass ein solcher erster Auftritt – oder eher ein solcher Mangel an erstem Auftritt – es nicht leichter machen würde, in Kontakt zu Timoteus Thorsen zu treten. Es wäre sicher besser, mir seine Telefonnummer zu besorgen und anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren.

Auf dem Weg nach unten schaute ich zu der Stelle hinüber, wo ich über den Rand gerutscht war. Etwas aus einem Lied, oder konnte es eine Bibelstelle sein, kam mir in den Kopf. Das Salz der Erde. Das Salz aus der Erde. Ihr seid das Salz auf der Erde. So ungefähr. Egal, es war ein guter Arbeitstitel.

Kapitel 3

Eine halbe Stunde später hielt ich beim Bahnhof von Kongsvinger. Bei meinem letzten Besuch hier in der Stadt hatte es am Ende des Bahnsteigs ein asiatisches Restaurant gegeben, aber das war jetzt stillgelegt, weshalb ich ein neues Lokal auf der anderen Straßenseite ansteuerte. Es hatte die italienische Flagge in seinem Logo, und in dem kleinen Straßencafé saßen einige verhuschte Seelen eng aneinandergedrängt und nach Cowboymanier mit dem Rücken zur Wand. Ich dachte, hier könnte ich sicher ebenso gut Kaffee trinken wie an jedem anderen Ort, und erst als ich die Straße überquerte, fiel mir ein Kellerlokal direkt neben dem Italiener auf. Die Fenster waren mit alten Singles beklebt. Finn Eriksen, Sandie Shaw, Evert Taube, die Rolling Stones und Mud. Dort hingen außerdem David Houstons Originalversion von »Almost Persuaded« und Abba-Benny, der sich mitsamt den restlichen Hep Stars auf dem Cover von »Sunny Girl« auf eine Parkbank quetschte. Unter etlichen weniger bekannten Künstlern entdeckte ich zudem die einzige EP, die die Young Lords vor ihrer Namensänderung veröffentlicht hatten, und verspürte ein erwartungsvolles Prickeln im Leib: Nach dieser Platte mit »Oh So Slow« und »5 Feet Heroes« suchte ich seit vielen Jahren.

Ich stieg die schmale Wendeltreppe hinab und wäre fast mit dem Kopf gegen das Türfenster gestoßen, als ich auf die Klinke drückte. Die Tür bewegte sich nicht. Ich legte mehr Gewicht in meine Bewegung, aber die Tür klemmte weiter. Also versuchte ich, einen Blick durch das Fenster zu werfen, doch ein riesiges Bob-Dylan-Plakat versperrte mir die Sicht. Mit vor Wut zitternden Buchstaben verkündete es: Anybody who comes out for peace, is not for peace. Peace is the time it takes to reload your rifle.

Als ich wieder auf der Straße stand, war mir die Lust auf Kaffee vergangen, und ich wollte schon ein weiteres Mal die Straße überqueren, als einer der Restaurantgäste etwas Unverständliches sagte.

»Entschuldigung?«, fragte ich.

»Hast du nicht angeklopft?«, fragte der Mann und schob sich seine langen strähnigen Haare hinter die Ohren.

»Angeklopft? Die Tür war zu«, sagte ich.

»Es ist sicher einfach so ein Tag. Wenn du anklopfst, lässt Jethro Tull dich bestimmt rein.«

»Jethro Tull?«

»Ja, so nennen wir den Typen, dem der Laden gehört. Er findet, alle müssten sich erst die Ehre verdienen, von ihm Platten kaufen zu dürfen«, sagte der Mann und trank einen Schluck aus seinem Glas.

»Das war jetzt aber ein Witz?«

»Überhaupt nicht. Klopf an, dann macht er auf. Aber starr ihm bloß nicht ins Auge. Sonst fängt er an zu singen.«

Ich blieb stehen und sah den Mann an.

»Das war ein Witz!«, sagte er und prostete mir zu.

Mit dem Gefühl, dass auf meine Kosten ein Witz gemacht worden war, stieg ich wieder die Treppe hinunter und hämmerte gegen die Tür. Zählte in Gedanken bis zehn und klopfte noch einmal. Keine Reaktion, und ich wollte gerade gehen, da drehte jemand innen einen Schlüssel um. Ich zögerte und hätte es eher als Einladung genommen, wenn die Tür geöffnet worden wäre, aber nichts passierte. Im Schaufenster mit den EPs wurde ein grünes Licht eingeschaltet. Ich holte tief Luft und betrat den Laden.

Musik stapelte sich vom Boden bis zur Decke. Schellack, Vinyl, LPs, Singles, CDs, DVDs und Videokassetten häuften sich in Regalen, auf Bierkästen und auf langen Brettern, die sich zwischen Eingangstür und Tresen dahinzogen. Die an den Wänden noch vorhandenen freien Stellen waren bedeckt mit Plakaten und Zeitungsausschnitten, die annehmen ließen, dass Alvin Stardust hier eine Art Hausgott war.

»Ist geöffnet?«, fragte ich den Mann, der plötzlich neben einem Regal vor dem Tresen auftauchte. Die vielen Platten gaben meiner Stimme einen seltsam gedämpften Klang, und zuerst dachte ich, er habe mich nicht gehört. Dann glaubte ich, ein unmerklich winziges Nicken zu ahnen, aber er schaute noch immer nicht direkt in meine Richtung.

Sein Kopf wirkte zu groß für den restlichen Körper, und seine Schädelspitze ragte wie ein karger, unbewohnter Planet aus dem grauen wild wuchernden Unterholz hervor. Sein »My Coo Ca Choo«-T-Shirt war jedenfalls zwei Nummern zu klein, und Alvin Stardust darauf hätte der Originalverfilmung vom »Planet der Affen« entsprungen sein können. Die dünnen flatternden Haare des Verkäufers schienen mit dem Bart zusammenzuwachsen, und offenbar hatte ihm das den Spitznamen nach der englischen Band mit dem zerzausten Frontmann eingetragen.

Einen Moment lang überwältigte mich eine archäologische Mutlosigkeit, denn wo fängt man eigentlich an zu graben an einem Ort, wo die Platten in den Regalen so eng zusammengepfercht sind, dass man erst ein Dutzend davon herauszerren muss, um überhaupt die Titel durchblättern zu können. Mein Blick fiel auf die Vinylausgabe von »Take the Heat of Me« von Boney M. In einer Musikzeitschrift hatte ich gelesen, dass Frank Farian, der Produzent der Band, mit den Zähnen auf seinem Kugelschreiber gespielt hatte, um den richtigen Trommelsound für den Hit »Daddy Cool« herzustellen, und ich freute mich darauf, ihn Malling vorspielen zu können.

Ich klemmte mir das Album zwischen die Knie, während ich weiter durch die Titel blätterte, ohne etwas Interessantes zu finden.

»Ich leg die so lange hier hin, während ich noch weitersuche«, sagte ich und schob die Platte zu Jethro Tull, der jetzt hinter den Tresen getreten war.

»Mal von Peter Green gehört?«, fragte er, ohne aufzublicken. Vor ihm lag etwas, das aussah wie ein selbstgemachtes Sudoku.

»Entschuldigung?«, fragte ich.

»Peter Green, mal von dem gehört?«, wiederholte er und schrieb eine Zahl in eines der Kästchen auf dem Bogen.

»Äh. Ja, natürlich«, sagte ich und zögerte. »Peter Green’s Fleetwood Mac. ›Albatross‹. ›End of the Game‹.Splinter Group und überhaupt.«

»Marty Stuart?«

»Der Countrymusiker? Der in der Band von Johnny Cash war?«

»Doll by Doll?«

»Wer?«

»Jackie Leven?«

»Von dem hab ich zwei Platten, ja.«

»Dann brauchst du die hier nicht«, sagte Jethro Tull und legte das Album von Boney M. in ein Regalfach unter dem Tresen.

Was sollte ich sagen? Ich hielt das für einen Witz, aber bei Menschen, deren Blick man nicht einfangen kann, weiß man schließlich nie.

»Boney M. ist für Leute, die nicht wissen, was Musik ist«, sagte er und schrieb eine neue Zahl auf sein Papier.

Ich blieb ziemlich ratlos vor dem Tresen stehen und dachte, dass das der Mann im Straßencafé gemeint hatte: Man müsse sich die Ehre verdienen, hier Platten kaufen zu dürfen.

»Ich habe gesehen, dass du im Fenster die EP der Young Lords hast. Die suche ich schon lange. Ist die zu verkaufen?«, fragte ich.

»Natürlich. Alles im Laden ist zu verkaufen«, sagte er.

Ich beschloss, ihm nicht zu widersprechen, ging zum Fenster und reckte mich gerade, um nach der Platte zu greifen, als er sich lautstark räusperte. Plötzlich hielt er in der ausgestreckten Hand ein Paar Latexhandschuhe, und ich starrte ihn fragend an.

»Zieh die hier an, ehe du die alten Singles anfasst«, sagte er.

Im Laden roch es nach modrigem Zelt. Auf dem Boden unter den Regalen hausten mehrere Generationen Wollmäuse, und das graue Linoleum war in neuem Zustand sicher um etliche Nuancen heller gewesen. Aber ich gehorchte.

Die Handschuhe spannten um meine Handgelenke wie Gummibänder, als ich die Young Lords aus dem Gestell löste und dabei zufällig außerdem »Sunny Girl« erwischte.

»Die Hep Stars nehm ich auch mit«, sagte ich, streifte die Handschuhe ab und legte die Platten vor ihm auf den Tresen, leicht unsicher, ob ich jetzt nicht übermütig wäre.

»›Sunny Girl‹ wurde in Kongsvinger geschrieben«, sagte er und zog unter dem Tresen eine Tüte hervor.

»Red keinen Scheiß.« Ich lachte.

»Ich hab seit dem Tod von Marc Bolan keinen Scheiß mehr geredet«, sagte er und steckte die Platten in die Tüte. »Benny Andersson hat das Lied 1966 im Vinger Hotell geschrieben. Er hat eine Viertelstunde für die Melodie gebraucht und dann noch eine Viertelstunde für den Text. Wie du natürlich weißt, wurde das Lied sofort Nr. 1 in den schwedischen Charts.«

Ich nickte und fand den Tausender in meinem Notizbuch, dort, wo ich die von Timoteus genannte Telefonnummer notiert hatte. »Übrigens. Du hast nicht zufällig Aufnahmen von drei christlichen Geschwistern namens Thorsen?«, fragte ich.

Jethro Tull hielt mitten in der Summe inne, die er gerade in die Kasse eingeben wollte. Zum ersten Mal trafen sich unsere Blicke, und sein scharfblauer wirkte in dem bleichen Gesicht seltsam fehl am Platze. Diesmal war er es, der mich um Wiederholung bat.

»Ich habe gestern in der Kirche die Thorsens singen hören«, sagte ich, »und es hieß, dieses Trio habe einige Platten veröffentlicht, jedenfalls mehrere Singles. Weißt du, ob die sich irgendwo auftreiben lassen?«, fragte ich.

Ohne zu antworten, verschwand er in seinem kleinen Hinterzimmer und kehrte zurück mit einem Karton, den er vor mir auf den Tresen stellte.

»Das sind die meisten von ihren Aufnahmen«, sagte er. »Timoteus, Maria und Tamar Thorsen.«

»Tamara?«, fragte ich.

»Nein, zum Henker. Das wäre doch ein russischer Name. Hier«, sagte er, hob die erste Platte heraus und tippte mit dem Zeigefinger auf das weiße Kleid von Tulla Thorsen, die zwischen ihren älteren Geschwistern stand.

»Das ist Tamar Thorsen, und das ist eine ihrer besten Veröffentlichungen.«

»Entschuldigung. Ich habe nie einen anderen Namen gehört als Tulla«, sagte ich und streckte die Hand nach der Single aus. Jethro Tull räusperte sich, nickte zu den Handschuhen auf dem Tresen hinüber und wartete, bis ich sie wieder übergestreift hatte, ehe ich die Platte anfassen durfte.

Das Bild der Drei Singenden Geschwister Thorsen war vor einen gelben Hintergrund montiert und zeigte das Trio an einem ungestrichenen Holzzaun, umgeben von einigen zerzausten Laubbüschen. Das Foto hätte eher in ein Familienalbum gehört als auf eine Schallplattenhülle. Dennoch hatte das Bild etwas an sich, das die Blicke anzog. Das sommerliche Motiv bildete einen scharfen Kontrast zu dem Titel: »Die Stunde vor der Morgendämmerung ist immer die finsterste.«

Timoteus Thorsen hatte sich die welligen Haare zurückgekämmt und trug einen schwarzen Anzug mit passendem Hemd. In der rechten Hand hielt er eine Sunburst-F-Style Gibson-Mandoline, deren Hals er nach unten zeigen ließ. Wie er mit dem lässig vor seiner Hüfte hängenden Instrument dastand, erinnerte er an einen Revolvermann in einem Westernfilm, der einen Vorwand sucht, um den Colt aus dem Holster zu ziehen. Sein Blick verstärkte diesen Eindruck noch. Ich war nie ein Experte für Gebetshausmusik, aber wie sich seine Augen in mich hineinbohrten, lag mehrere Unwetterhimmel weit entfernt von den christlich-positiven Gospelsängern, die ich einige Male im Studio gehabt hatte.

Maria hatte sich die dunklen Haare im Nacken schneiden lassen. Auch sie starrte mit ernster Miene in die Kamera, jedoch ohne dass ihr Blick so durchdringend war wie der ihres Bruders. Sie trug ein anthrazitgraues Kleid, und das bildete einen seltsam nüchternen Kontrast zu der roten Hagström, die sie um den Hals hängen hatte. So wie sie die Unterarme auf der Gitarre ruhen ließ, wirkten ihre Schultern burschikos, sie verbreitete eine Aura der Ernsthaftigkeit. Ihr völlig ungeschminktes Gesicht war porzellanblass.

Nur Tulla hielt kein Instrument. Sie hatte die Hände um eine Bibel geschlossen und sah aus wie kurz vor der Konfirmation. Die unschuldsreine Farbe ihres Kleides und die züchtigen Ärmel, die sich bis zu den Handgelenken hinzogen, waren jedoch nicht das, was vor allem meine Blicke lenkte. Tulla Thorsen besaß eine üppige Figur mit Wespentaille, die es den Männern im Gebetshaus ab und zu schwergemacht haben musste, sich auf die Lieder über das uralte Kreuz und den wundervollen Erlöser zu konzentrieren. Sie war auch die Einzige unter den Geschwistern, die in die Kamera lächelte, und durch ihre Lachgrübchen wirkte sie um einiges jünger als die anderen.

»Phantastisch«, sagte ich und blätterte durch die übrigen Platten im Karton. Die meisten waren EPs und enthielten Titel wie »Pilgerlieder«, »Kommst du mit, wenn der Zug aufbricht«, »Unter dem Kreuz ist auch für dich Platz«, »Am Mond vorbei zum Perlentor«, »Dreißig Silberlinge auf Vaters Bibel«, »Dies Kreuz muss ich nun tragen« und »Wo warst du, als unser Erlöser ans Kreuz geschlagen wurde?«. Auf den ältesten Covern trugen beide Schwestern einen Hut und eine weite Strickjacke, und auf zweien posierte Timoteus lächelnd in einem weißen Anzug. Während Maria und Tulla ihre Hüte ablegten und sich legerer kleideten, wurde der Bruder immer düsterer und ernster. Auf der neuesten Aufnahme schaute er aus dem Bild hinaus, wie um sich von der sommerleichten Erscheinung seiner Schwestern zu distanzieren. Die Platte war auch die einzige, die keinen eigenen Namen hatte und nur zwei Lieder enthielt. Unter den Liedertiteln stand mit großen weißen Buchstaben vor schwarzem Hintergrund: »Text: Was siehst du in mir?«

»Text? Wie ist das denn gemeint?«, fragte ich und hielt die Platte vor Jethro Tull hoch.

»Du weißt doch wohl, was Text bedeutet«, sagte er mit spitzer Stimme.

»Auf einer Musikplatte?«