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Ein kämpferisches Buch in dunklen Zeiten, um wieder aus der Defensive zu kommen
Für den globalen Rechtsruck spielt der Kampf gegen »Gender« eine zentrale Rolle. Ob in der Hinterfragung geschlechtlicher Normen nun eine Gefährdung von Kindern, die Zerstörung der Familie oder ein Angriff auf die natürliche Ordnung gesehen wird – in nichts sind sich Rechtspopulisten, religiöse Frömmler und Anti-Trans-Feministinnen so einig, nichts sonst bringen sie solche Ablehnung entgegen.
Judith Butler hat unser Denken über Geschlecht revolutioniert und wurde zur globalen Ikone. Nun erklärt Butler, welche politische Funktion das Schreckgespenst »Gender« in der rechten Agenda besitzt. Dabei thematisiert Butler nicht nur, wie es ist, selbst zum Hassobjekt zu werden, sondern argumentiert zudem, dass queere Politik nur in einer breiten Koalition der Bewegungen gegen verschiedene Ungerechtigkeiten gelingen kann.
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Seitenzahl: 538
Veröffentlichungsjahr: 2025
3Judith Butler
Wer hat Angst vor Gender?
Aus dem Englischen von Katrin Harlaß (mit Anne Emmert)
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Who’s Afraid of Gender? bei Farrar, Straus and Giroux (New York).Die vorliegende Übersetzung wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds (DÜF).Die Übersetzerin widmet sie ihrer Kollegin und Freundin Anne Emmert, der nicht nur sie unendlich viel verdankt.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2834.
© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025© Judith Butler, 2024
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Umschlaggestaltung: nach Entwürfen von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-78422-8
www.suhrkamp.de
5für die jungen menschen, von denen ich immer noch lerne
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung. Gender-Ideologie und die Angst vor Zerstörung
1 Die globale Szene
2 Ansichten aus dem Vatikan
3 Aktuelle Angriffe auf Gender in den
USA
. Zensur und Rechteentzug
4 Trump, »Sex« und der Supreme Court
5
TERF
s und das Gewicht des biologischen Geschlechts in Großbritannien. Wie kritisch ist genderkritischer Feminismus?
6 Was ist denn nun mit dem biologischen Geschlecht?
7 Welches Gender bist du?
8 Natur/Kultur: Auf zu Ko-Konstruktion!
9 Das rassistische und koloniale Erbe des Geschlechtsdimorphismus
10 Fremde Begriffe oder Das Unbehagen der Übersetzung
Fazit. Die Angst vor Zerstörung und der Kampf der Imagination
Anmerkungen
Einleitung
1 Die globale Szene
2 Ansichten aus dem Vatikan
3 Aktuelle Angriffe auf Gender in den
USA
4 Trump, »Sex« und der Supreme Court
5
TERF
s und das Gewicht des biologischen Geschlechts in Großbritannien
6 Was ist denn nun mit dem biologischen Geschlecht?
7 Welches Gender bist du?
8 Natur/Kultur: Auf zu Ko-Konstruktion!
9 Das rassistische und koloniale Erbe des Geschlechtsdimorphismus
10 Fremde Begriffe oder Das Unbehagen der Übersetzung
Fazit
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Wer hat Angst vor Gender? In gewisser Hinsicht wir alle. Wenn wir uns Gender als eine Reihe von Normen vorstellen, die Erwartungen darüber kommunizieren, wie wir in die Welt treten, welche körperliche Form wir annehmen und wie wir uns verhalten sollten, dann gibt es gute Gründe, sich Sorgen darüber zu machen, was passiert, wenn wir an dieser Aufgabe scheitern. Wer stellt die Regeln auf, und welche Freiheit haben wir, sie zu ändern? Gender, verstanden als normative Organisierung gesellschaftlicher Realität, wird kommuniziert als Ensemble von Anforderungen oder Erwartungen, welches zugleich vermittelt, dass es schmerzhafte Konsequenzen haben könnte, wenn diesen nicht gefolgt wird. Daher fürchten manche Gender vielleicht genauso wie jedes andere Ensemble von Normen und möglichen Bestrafungen. Gender hat jedoch etwas Intimes: Es sagt nicht nur, wie Körper organisiert sind, sondern auch, wie sie sich in Bezug auf andere Körper verhalten. Denn letztendlich ist es ja dieser einzigartige, materielle Körper, der sozial geformt ist und in Übereinstimmung mit, gegen oder jenseits geltender Normen handelt.
Andere wiederum, denen zweifellos bewusst ist, dass wir uns hier auf intimem Terrain befinden, wünschen sich eine festgefügte Struktur, die über die Zeiten hinweg stabil bleibt, eine Identität, die durch Naturgesetze oder symbolische Gesetze oder sogar den Staat festgeschrieben ist. Sie fürchten die Variabilität von Gender, und zwar nicht nur die unterschiedliche Art und Weise, wie sich Männer und Frauen heute verhalten, sondern die offensichtliche Tatsache, dass sich die Kategorien im Lauf der Zeit verändern; dass Personen, denen bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, Männer werden können, und Personen, denen bei Geburt das männliche Geschlecht 10zugewiesen wurde, Frauen; dass intersexuelle Menschen die Anerkennung ihres verkörperten Lebens einfordern und manche Menschen ganz und gar außerhalb der binären Kategorien von Mann und Frau leben, in neuen Kategorien oder den Räumen dazwischen.
Diejenigen, die angesichts der Variabilität und der unterschiedlichen Ausprägungen von Gender verunsichert sind, zeigen sich besonders anfällig für politische Kräfte, die darauf beharren, »Gender« sei eine »Ideologie« und zusammen mit anderen Formen von »Wokismus« verantwortlich für die Zerstörung der Familie, der Zivilisation, der Menschheit oder nationaler Kulturen. Der politische Anti-Gender-Diskurs verstärkt die normalen Ängste, die Menschen in Bezug auf Gender haben. Und er verknüpft diese Ängste mit anderen Ängsten: Angst vor der Zukunft, dem Klimawandel, der zunehmenden Prekarisierung von Arbeit, der Konzentration von Reichtum bei einigen wenigen, nicht enden wollenden brutalen Kriegen, dem Einfluss von Migration und Vertreibung auf die Homogenität nationaler und lokaler Kulturen. Heute gibt es wirklich viele Gründe für Zukunftsangst, aber die Ursache für all die Umstände, die zur Sorge vor morgen geführt haben, ist nicht Gender.
Es wird behauptet, Gender sei eine Doktrin, ähnlich dem Totalitarismus, oder ein Sinnbild für die extremen Auswüchse des Kapitalismus. Es kursieren jede Menge widersprüchliche Vorwürfe, die in der Überzeugung gipfeln, Gender sei eine »Ideologie«, wobei unter diesem Begriff ein Paket falscher, dogmatischer Ansichten verstanden wird. Dabei sind die Gender Studies per definitionem eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich aus verschiedenen Bezugssystemen speist, geprägt von zahlreichen Debatten und Problematiken und nicht von doktrinären Behauptungen oder feststehenden Wahrheiten. Vielmehr sind ihre Seminarräume geradezu modellhafte Orte offener Debatten, und die, die dort miteinander diskutieren, haben ganz unterschiedliche Auffassungen über Methodik und Status der Theorie, den 11Bedarf für regionale Ethnografien und die Beziehung zwischen akademischer Welt und gesellschaftlichen Bewegungen. Eigentlich gibt es derart viele unterschiedliche Ansätze, dass die meisten Kurse, die sich der Vermittlung dieses Themas widmen, es kaum schaffen, all die vielfältigen Sichtweisen einzubinden, aus denen die Disziplin besteht. Auf diesem Punkt reite ich nur deshalb so stark herum, weil es Leute gibt, die »Gender« eben regelmäßig auf eine gefährliche Ideologie reduzieren und so die Komplexität und Vielfalt dieses Rahmenwerks und seiner zahlreichen konzeptionellen Beiträge zum Nachdenken über Natur, Gesellschaft, Macht und Verkörperung auslöschen. Denjenigen, die glauben, von den Gender Studies inspirierte Pädagogik sei eine Form von Indoktrination, muss entschieden widersprochen werden: Gender ist keine Ideologie und auch keine Form von Indoktrination. Tatsächlich ist die Kritik von Gender innerhalb der Gender Studies sehr produktiv. Wenn überhaupt, dann ist es ein Rahmenwerk, das es uns unter anderem gestattet zu fragen, wie die soziale Welt organisiert ist, durch welche Ausschließungen und mit welchem Potenzial. Die Debatten über solche Fragen sind ergebnisoffen. Allen, die von dieser Wissenschaftsdisziplin gelernt haben, gilt diese Offenheit als vielversprechender Wert, der zu bekräftigen ist. Für andere hingegen sollten gesellschaftliche Strukturen unverändert bleiben und auf präsozialen Unterschieden beruhen, die jenseits interpretativer Rahmenwerke oder sozialer Bedeutungen gewusst werden können.
Wer Bücher über Gender zensieren oder die Gender Studies abschaffen will, erlegt Forschung und Lehre selbst eine Doktrin auf. Abgesehen davon ist es ein Menetekel für die Demokratie, wenn die öffentliche Debatte abgewürgt und die ergebnisoffene Untersuchung an Universitäten und Hochschulen beendet wird. Dennoch fordert die Anti-Gender-Bewegung genau das. Sie führt eine von Falschbehauptungen und Zensur geprägte Kampagne, die repressive staatliche Kräfte stärkt. Dieses Buch ist der Versuch zu verstehen, wie sich die verschärfte Opposi12tion gegen Gender in den Aufstieg autoritärer Regime einpasst, die sich ihre Unterstützung holen, indem sie von einer Wiederherstellung patriarchaler, heteronormativ geprägter Ordnungen fantasieren.
Je häufiger über »Gender-Ideologie« diskutiert wird, als beschriebe der Begriff etwas Reales, desto stärker wird diese Fiktion zum Bestandteil eines weithin aufkommenden kulturellen Verständnisses, das von manchen als Backlash bezeichnet wird. Der komplexe Charakter von Feminismus, Sexualität und Gender Studies als Forschungsgebieten und ihr Potenzial, die Verkörperung des Menschlichen in ihrer Komplexität zu beschreiben und zu verstehen, wird ersetzt durch eine Karikatur. Doch dies ist nur eins der Probleme, denen wir uns stellen müssen. Bestünde die Aufgabe lediglich darin, mit der immer stärker um sich greifenden Falschcharakterisierung einer Disziplin aufzuräumen, könnten wir einfach die verschiedenen Ansätze in Lehre und Forschung darlegen und anhand der zur Verfügung stehenden Belege zeigen, warum die Karikatur das Studienfeld, seine institutionellen Formen und seine Auswirkungen auf die Gesellschaftspolitik vollkommen verfehlt. Das Zerrbild »Gender-Ideologie« wird gezielt eingesetzt, um Angst zu erzeugen, und »Gender« als die Ursache für Zukunftsängste hingestellt, um die Rückkehr in eine Zeit zu versprechen, in der Geschlechterbinarität und Geschlechterhierarchien als unabänderlich galten.
Gender beschreibt nicht nur Identitäten. Vielmehr bietet es den Rahmen, um eine wesentliche Form gesellschaftlicher Macht zu verstehen und wie diese Macht streng voneinander getrennte Sphären, soziale Ungleichheiten und Ausschlüsse etabliert. Zum wichtigen Begriff für Feminist:innen wurde Gender in den 1970er Jahren, weil er ihnen half, soziale Ungerechtigkeiten und das Fortbestehen männlicher Vorherrschaft zu beschreiben und zu kritisieren. Indem sie Fragen zur geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und dem »Gendering« des öffentlichen Raums stellten, trugen sie dazu bei, staatliche Maßnahmen zu 13formulieren und zu institutionalisieren, die sich gegen Diskriminierung richten, Gleichbehandlung vor dem Gesetz etablieren, genderbasierte Gewalt offenlegen, spezielle Anforderungen an das Gesundheitswesen skizzieren und Wege aufzeigen, wie die Gesellschaft so transformiert werden kann, dass sie mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit bietet – die Grundprinzipien der Demokratie. Gendergerechte Rahmenwerke haben sich in Umweltpolitik, Migrationsforschung und Antigewaltstrategien als produktiv erwiesen. Mittlerweile ist Gender als Teil der Geschichte von Freiheit und Gleichheit anerkannt, weil das Konzept nicht nur beschreibt, dass Ungleichheiten oder Ausschlüsse existieren und in welcher Form, sondern auch Diskurse und politische Strategien infrage stellt, die eine ganze Reihe von Menschen davon abhalten, ein glückliches Leben zu führen.
Gemäß einer am 20. Januar 2025 im Büro des US-Präsidenten unterzeichneten Verfügung ist »Gender« aus allen auf Bundesebene geförderten Aktivitäten zu tilgen, einschließlich Gesundheitswesen, Bildung und Sport. All dies geschieht im Namen der Verteidigung von »Frauen« gegen Gender, ohne zu begreifen, dass die Kategorie »Frauen« selbst gegendert ist und dass der Feminismus ihre zentrale Stellung an den Universitäten etabliert hat. Hierbei geht es eindeutig um die Frage: Wer gilt als Frau? Das Problem derjenigen, die Transfrauen aus der Kategorie Frau heraushalten wollen, wird vermeintlich gelöst durch die Behauptung, dass nur das bei Geburt zugewiesene »Geschlecht« real sei, Gender hingegen eine Fiktion oder, schlimmer noch, eine Lüge oder Verkleidung. Mit anderen Worten wird die ursprüngliche Geschlechtszuweisung als endgültig oktroyiert und als einziges Kriterium dafür anerkannt, wer zur Kategorie »Frau« dazugehört und wer nicht. Dabei ist »Frau« unzweifelhaft eine gegenderte Kategorie, wenn nicht gar die wichtigste.
Die Tatsache, dass der Staat Geschlecht jetzt auf diese Weise 14bestimmt, vergrößert seine Macht, Körper zu definieren und zu ordnen, als wäre er ein wissenschaftliches Komitee. Die Auswirkungen dieser Monopolisierung des erlaubten Diskurses sind verheerend, denn damit hat die Regierung jetzt die Macht, die Realität von Transleben zu leugnen, Transpersonen die ihnen gesetzlich zustehenden Rechte zu entziehen, sie ihrer sozialen Identität zu berauben, ihnen den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu verwehren, das Recht auf Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen oder das Recht, sich in Bildungseinrichtungen zu engagieren, die ihre Geschichte und ihren Anspruch an das Leben widerspiegeln. Mit der gegen die angebliche Gender-Ideologie gerichteten Präsidentenverfügung wurde dem Staat ebenfalls die Macht gegeben, die Lebenswirklichkeit von nonbinären und intersexuellen Menschen zu tilgen. Dabei räumte er sich seltsamerweise selbst die Entscheidungsbefugnis darüber ein, welche wissenschaftliche Meinung bei der Festlegung des Geschlechts als legitim gelten solle. Er entschied sich für ein Modell, welches auf der Annahme basiert, dass es am Beginn des Lebens immer eine größere und eine kleinere Gamete gibt und diese Tatsache den »unveränderlichen« Charakter des binären Geschlechts wissenschaftlich untermauert. Obwohl die Verfügung aus dem Weißen Haus behauptet, sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen, benutzt sie den Begriff »unveränderlich«, der der vatikanischen Glaubenslehre entstammt. Was die Frage aufwirft, ob eine solch konsequente Verweigerung grundlegender Rechte durch religiösen Eifer oder Glaubensdoktrin motiviert ist. Selbst dann, wenn wir den vorgeschlagenen Gameten-Ansatz ernst nehmen würden, bleibt wichtig festzuhalten, dass der Ursprung aller menschlichen Wesen in der größeren Gamete liegt, was für die Originalist:innen oder Kreationist:innen unter uns bedeutet, dass jeder Mensch seinem »Ursprung« nach weiblich ist. Mit Sicherheit nicht das, worauf Trump hinauswollte.
Im Allgemeinen muss sich aber, wer versucht zu entschei15den, auf welcher Basis die Unterschiede zwischen den Geschlechtern definiert werden sollten, für einen bestimmten Rahmen und bestimmte Kriterien optieren. Alle internationalen Sportorganisationen wissen, wie schwierig das angesichts der chromosomalen Ausnahmen und der komplexen Verteilung von Hormonen unter jenen, denen bei Geburt entweder das männliche oder das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, sein kann. Die US-Regierung bezog bei ihrer Verteidigung der unveränderlichen Binarität der Geschlechter weder die Endokrinologie noch die Genetik als wissenschaftliche Grundlage in ihre Überlegungen ein. Angesichts der komplexen, einander überlappenden und mosaikartigen Konstellationen, die jegliches Bemühen, auf dieser Grundlage eine absolute und unverrückbare Unterscheidung zwischen den Geschlechtern zu treffen, zunichtemachen, ergibt das Sinn. Dass aber ein Kriterium gefunden werden muss, auf dessen Grundlage Geschlecht definiert werden kann, unterstreicht, dass Geschlechtsbestimmung stets innerhalb eines Rahmenwerks erfolgt. Und wer sich für ein Studium der verschiedenen Rahmenwerke interessiert, durch die Geschlechtsbestimmung erreicht worden ist, wird natürlich Gender studieren.
Abgesehen davon: Wer weiß denn schon, ob das bei Geburt zugewiesene Geschlecht dasselbe ist, das später die Identität eines Menschen formen und das Leben dieser Person bestimmen wird? Das hat selbst der konservative Supreme Court anerkannt, und zwar 2021 im Fall »Bostock v. Clayton County«, den ich in diesem Buch unter anderen betrachte. Die Diskrepanz zwischen der Geschlechtszuweisung (die selbst eine gesellschaftliche Praktik ist) und dem Geschlecht, das eine Person mit der Zeit annimmt, ist die Zeit des Lebens selbst, in der sich Gender als komplexes, schwer zu navigierendes Feld erweist. Es kann durchaus sein, dass eine Person die ursprüngliche Zuweisung bestätigt, doch selbst hier gibt es immer noch ein zweites Moment, nämlich wenn die Person für sich selbst definiert, 16was richtig ist. Solche Festlegungen sind keine Akte radikaler Entscheidung. Sie sind auf vielfältige Weise eingeschränkt, aber nicht aus einem im Vorhinein festgelegten Grund. Freiheit tritt innerhalb dieser Begrenzungen zutage, ob als überraschende Wendung oder existenzielle Notwendigkeit oder in irgendeiner anderen Form. Ob eine Person die ursprüngliche Zuweisung bestätigt oder verwirft, ist ein Beispiel für menschliche Handlungsfähigkeit, die innerhalb von Beschränkungen operiert, welche nicht vollständig darüber bestimmen, wer wir sind und wozu wir werden.
Niemand leugnet mit einem solchen Argument die Materialität des Körpers. Der interaktive Ansatz der Entwicklungsbiologie geht davon aus, dass beides, Biologie und soziale Umgebung, zur Bestimmung und Entwicklung von Geschlecht beitragen. Viele feministische Biolog:innen arbeiten zu Gender, ungeachtet der irrigen Annahme, Gender würde die Biologie »leugnen«. Was der Feminismus aber beinahe stets geleugnet hat, ist die Auffassung, Biologie sei Schicksal. Nichts Biologisches allein sagt uns, ob eine Person sich reproduktiven Aktivitäten widmen, wie sie leben oder wen sie lieben wird. Die Verteidigung der »Frauen« – würde Trump es damit wirklich ernst meinen – hängt fundamental von der Einsicht ab, die Simone de Beauvoir so prägnant formuliert hat, nämlich dass biologischer Determinismus irrt. Um es noch einmal zu wiederholen: Man kann gegen Determinismus sein, ohne gegen Biologie zu sein. Biolog:innen wären sogar die Ersten, die diese Unterscheidung bekräftigen würden.
Vor diesem Hintergrund betrachte ich hier einige der hauptsächlichsten gegen Gender-Rahmenwerke gerichteten Kritiken, indem ich zeige, wie sich diese Bezugssysteme in Reaktion auf interne Herausforderungen durch den Black Feminism und antikoloniale Konzepte über die letzten Jahrzehnte hinweg verändert haben. Diese kritischen Beiträge sind enorm wichtig. Zudem werde ich darlegen, wie sich der englische Begriff »Gen17der« aus der Sexualkunde entwickelt und über die zurückliegenden Jahrzehnte gewandelt hat. Und zum Schluss gehe ich darauf ein, wie wichtig es ist zuzulassen, dass »Gender« in multilingualen Gesprächen sein Primat dort verliert, wo hinsichtlich anderer syntaktischer und relationaler Übereinkünfte die Verkörperung des Menschlichen den Vorrang hat.
Dieses Buch will einige Missverständnisse über Gender ausräumen und das Konzept in seiner inneren Komplexität detaillierter erläutern, um den kursierenden reduktionistischen Karikaturen entgegenzutreten. Hauptsächlich will es jedoch aufzeigen, in welcher Weise Gender innerhalb der neuen rechtsgerichteten Bewegungen funktioniert, die häufig, wenn auch nicht immer, von christlichem Nationalismus beeinflusst sind. Die Angst vor »Gender« wird von jenen geschürt, die behaupten, Kinder würden dem Risiko des Grooming ausgesetzt, indoktriniert oder gezwungen, schwul, lesbisch oder trans zu werden. Selbstverständlich sollten Kinder niemals indoktriniert und ihr Recht auf Schutz vor sexueller Nötigung um jeden Preis verteidigt werden. Sehen wir uns diesen politischen Diskurs aber genauer an, stellen wir fest, dass jene, die Gender angreifen, nur eine einzige Doktrin verteidigen, nämlich die, die sich mit den diversen Verlautbarungen des Vatikans verträgt oder mit nationalistischen Forderungen nach dem Schutz des »Natürlichen«, will heißen der heteronormativen Familie. Sie, die Doktrin über ergebnisoffene Untersuchung stellen, stehen an vorderster Front der Anti-Gender-Bewegung. Und sie handeln nicht im Interesse von Kindern, wenn sie den gendervarianten unter ihnen medizinische Versorgung verweigern. Sie schützen Kinder nicht, indem sie Bücher verbieten, in denen diese etwas über die komplexen Familienarrangements lesen können, die es auf der Welt gibt, über die verschiedenen Arten zu lieben und zu leben und über das Recht, dies zu tun, ohne Angst vor Gewalt oder Pathologisierung haben zu müssen. Diese Formen von Zensur wollen nicht nur Erkenntnis aufhalten und Vorstellungskraft un18terdrücken – beides zentrale Bildungswerte –, sondern auch verhindern, dass Kinder ihren eigenen Weg finden.
Rechtsgerichtete nationalistische Bewegungen, die Hass gegen Migrant:innen und Transpersonen schüren, fordern die Bewahrung von oder die Rückkehr zu Nationalkulturen, die auf weißer Überlegenheit beruhen, auf der heteronormativen Familie und, im Fall von Orbán, der Verhinderung einer ethnischen Durchmischung der Bevölkerung, die die »Reinheit« der Nation bedroht. Autoritäre Regime haben eine wahre »Gender-Hysterie« entfacht und nutzen sie als Methode, um von den historischen Bedingungen ökonomischer, ökologischer und gesellschaftlicher Instabilität und Zerstörung abzulenken. Das Wüten eines zunehmend unregulierten Kapitalismus bleibt von solchen Argumenten verdeckt, wird einer kritischen Prüfung entzogen, und sozialistische Alternativen werden entweder auf ihre neoliberale Variante reduziert oder sehr schnell mit den schlimmsten historischen Beispielen für staatlich verordneten Marxismus in Verbindung gebracht anstatt mit demokratischen Spielarten. Die Argumente gegen Gender ähneln jenen, die benutzt werden, um sich in Deutschland gegen die »Postkoloniale Theorie« oder in Großbritannien und den USA gegen die »Critical Race Theory« zu stellen, wobei das alles ohne jede ernsthafte Beschäftigung mit den auf diesen Gebieten entstandenen Arbeiten geschieht. Auch hier wird ein differenziertes Studienfeld, das innerhalb des unverzichtbaren Felds der Race und Colonial Studies lediglich einen Komplex von Sichtweisen darstellt, durch eine reduktive Karikatur ersetzt.
Wenn Autoritäre die Rückkehr in unmögliche Zeiten versprechen, schüren sie eine wütende Nostalgie bei denen, die keine besseren Mittel haben, um zu verstehen, was ihr Gefühl von einer stabilen, lebenswerten Zukunft wirklich untergräbt. Wir finden dies in den Diskursen der AfD und der Fratelli d'Italia ebenso wie bei der Anhängerschaft Bolsonaros in Brasilien und bei Trump, Orbán und Putin. Aber wir sehen diesen Geist auch 19bei jenen Kräften der Mitte, die nach Unterstützung von rechts heischen, um an der Macht zu bleiben. Werden Diversität, Gleichheit und Inklusion zu »Bedrohungen« der gesellschaftlichen Ordnung, dann wird progressive Politik ganz allgemein für jede Form von gesellschaftlichem Elend und Instabilität verantwortlich gemacht. Was in der Regel dazu führt, dass Zuspruch aus der Bevölkerung autoritären Kräften den Weg ebnet, die schwören, im Namen der Rettung der Nation, der natürlichen Ordnung, der natürlichen Familie, der Struktur der Gesellschaft oder der Zivilisation an sich den verletzlichsten Communitys ihre Rechte zu entziehen. Dass im Verlauf solcher Kampagnen die Demokratie selbst zerstört wird, spielt dabei kaum eine Rolle, denn die Bewahrung der Nation, verstanden als rassisch rein und dominiert von »natürlichen« Familien, offeriert ein perfektes Alibi, das über allen jemals gesetzlich verankerten Freiheiten und Rechten steht: das Recht auf Selbstverteidigung.
Angesichts dieses Szenarios muss jede politische Anstrengung zur Verteidigung von Gender-Politik und Gender Studies ihre Kritik innerhalb der neuen politischen Ausformungen autoritärer Macht üben, die von faschistischen Leidenschaften befeuert wird. Den verletzlichsten Gruppen ihre Rechte zu entziehen, wird zu einer »aufregenden« Aussicht für jene, die glauben, ihr Platz in der Welt, einschließlich ihrer geschlechtsspezifischen und rassisch begründeten Privilegien, hänge davon ab, die grundlegenden Rechte und Freiheiten anderer zu negieren. Ob es der Entzug von Rechten ist oder Abschiebung oder Enteignung oder Auslöschung, all diese Formen staatlicher Gewalt begründen ihre Macht zunehmend damit, dass es gut für die Gesellschaft sei. Doch welche Gesellschaft haben diese Leute im Sinn und durch welche brutalen Ausschließungen würde sie konstituiert? Jede wirksame Antwort auf die Anti-Gender-Bewegung wird eine unwiderstehliche Vision des gesellschaftlich Guten, einer lebenswerten Zukunft und einer Welt, in der wir alle in Gleichheit und Freiheit leben wollen, anbieten müs20sen. Natürlich werden wir im Recht sein, wenn wir »Gender« gegen die verteidigen, die sich zum ignoranten Angriff aufgemacht haben. Allerdings wäre es klüger, mehr darüber herauszufinden, mit welchen Ängsten diese Menschen leben. Denn eine Alternative zum Autoritarismus muss diese Ängste ansprechen und ihnen eine bestechende, reparative Vision entgegensetzen, die die Lebensbedingungen aller sichert, die gerade Angst haben unterzugehen. Eine kollektiv entwickelte Alternativvision, die sich dem Entzug von Rechten, auslöschenden politischen Entscheidungen und Enteignung entgegenstellt. Die sich jeglicher Formen von Gewalt, einschließlich juristischer Gewalt, widersetzt und die Gleichheit, den Wert und die wechselseitige Abhängigkeit aller lebenden Geschöpfe radikal bekräftigt.
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Gender-Ideologie und die Angst vor Zerstörung
Warum sollte irgendwer Angst vor Gender haben? In den USA zumindest galt der Begriff bis vor kurzem als relativ normal. Wir sollen ein Kästchen in einem Formular ankreuzen, und die meisten von uns tun das, ohne weiter darüber nachzudenken. Einige natürlich nicht so gern, weil sie finden, dass es entweder viel mehr Kästchen geben sollte oder gar keins; die Anforderung löst in uns allen ganz unterschiedliche Gefühle aus. Manche vermuten, dass mit dem Begriff »Gender« die Benachteiligung der Frauen thematisiert wird oder dass das Wort ein Synonym für »Frauen« ist. Andere halten es für einen verbrämten Verweis auf »Homosexualität«. Und wieder andere nehmen an, mit »Gender« sei »Geschlecht« gemeint, auch wenn einige Feminist:innen dabei gerade zwischen der Biologie und der rechtlichen Zuweisung bei Geburt, im Englischen »sex«, und eben »Gender« als soziokulturellen Formen des Werdens und Seins unterscheiden. Gleichzeitig sind Feminist:innen und andere Forschende auf dem Gebiet der Gender Studies auch untereinander uneins über die richtigen Definitionen und Differenzierungen. Die Vielzahl der andauernden Debatten über das Wort zeigt, dass es den einen vorherrschenden Ansatz für die Definition und Auffassung von Gender schlicht nicht gibt.
Für die »Anti-Gender-Bewegung« ist Gender jedoch ein Monolith, furchteinflößend in seiner Macht und Reichweite. Wer sich heute gegen Gender stellt, ist gelinde gesagt nicht ganz auf dem Stand der Debatte um den Begriff. Abseits seiner Verwendung im Alltag und im akademischen Bereich ist das Wort in einigen Teilen der Welt zum Gegenstand enormer Panikmache geworden. In Russland gilt es als Bedrohung der nationalen 22Sicherheit, und der Vatikan erklärt es zur Gefahr für die Zivilisation, ja für »den Menschen« schlechthin. In konservativen evangelikalen und katholischen Gemeinden rund um den Erdball wird »Gender« als Code für eine politische Agenda verstanden, die nicht nur die traditionelle Familie zerstören, sondern auch jede Erwähnung von »Mutter« und »Vater« zugunsten einer geschlechtslosen Zukunft verbieten will. Darüber hinaus stellen jüngere US-Kampagnen, die dafür kämpfen, das Thema aus den Klassenzimmern fernzuhalten, »Gender« als Chiffre für Pädophilie und eine Form der Indoktrination hin, die kleinen Kindern beibringt, zu masturbieren und schwul zu werden. Genauso wurde in Brasilien unter Jair Bolsonaro argumentiert, wo es hieß, Gender zöge den natürlichen und normativen Charakter der Heterosexualität in Zweifel, und die Welt würde, sobald das Heterosexualitätsgebot erst einmal aufgeweicht sei, in einer Flut sexueller Perversitäten einschließlich Sodomie und Pädophilie versinken. Widersprüche gibt es dabei reichlich. Wer denkt, dass es Kindesmissbrauch gleichkommt, wenn Kinder etwas über »Gender« lernen, vergisst bequemerweise die lange und grässliche Geschichte des sexuellen Missbrauchs junger Menschen durch Priester, die anschließend von der Kirche freigesprochen und beschützt werden. Der Vorwurf des Kindesmissbrauchs gegen alle, die Sexualaufklärung betreiben, projiziert das von der Kirche zugefügte Leid auf diejenigen, die Kindern beibringen möchten, wie Sexualität funktioniert, warum Einverständnis wichtig ist und welche Wege Gender und Sexualität nehmen können. Diese Externalisierung ist nur ein Beispiel für die Wirkweise des Gender-Phantasmas.
In vielen Teilen der Welt wird Gender nicht nur als Gefahr für Kinder, die nationale Sicherheit oder die heterosexuelle Ehe und normative Familie dargestellt, sondern auch als eine Verschwörung von Eliten, die »normalen Menschen« ihre kulturellen Werte aufzwingen wollen, als raffinierter Plan zur Kolonisierung des Globalen Südens durch die urbanen Zentren 23des Globalen Nordens. Es wird als Sammelsurium von Konzepten hingestellt, die im Widerspruch stehen zu Wissenschaft und Religion oder beidem, als Gefahr für die Zivilisation, Leugnung der Natur, Angriff auf die Männlichkeit oder Auslöschung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Bisweilen wird es außerdem als totalitäre Bedrohung oder als Werk des Teufels betrachtet und so als destruktivste Kraft der Welt dargestellt, als moderner, gefährlicher Rivale Gottes, den es um jeden Preis zu bekämpfen oder zu zerstören gilt.
Zumindest in den USA ist Gender schon längst kein banales Ankreuzkästchen auf behördlichen Formularen mehr und sicher auch keine dieser obskuren akademischen Disziplinen ohne Wirkung auf die breitere Gesellschaft. Im Gegenteil: Es hat sich zu einem Phantasma mit zerstörerischen Kräften entwickelt, das eine Vielzahl moderner Ängste bündelt und zuspitzt. Natürlich gibt es in der Welt von heute jede Menge absolut legitimer Gründe, Angst zu haben: die Klimakatastrophe, erzwungene Migration, Bedrohung oder Vernichtung von Menschenleben durch Kriege. Neoliberale Volkswirtschaften enthalten Menschen grundlegende Sozialleistungen vor, die diese zum Leben brauchen. Struktureller Rassismus fordert zahlreiche Menschenleben, sei es durch schleichende oder brutal ausgeübte Gewalt. Frauen, Queers und Transpersonen, besonders People of Color, werden in erschreckender Zahl ermordet.
In rechten Kreisen gehen ganz andere Ängste um: vor Angriffen auf die patriarchale Macht und staatliche Strukturen, die Zivilgesellschaft und den heteronormativen Familienverband; vor Migrationswellen, die die traditionellen Vorstellungen von der Nation, der weißen Vorherrschaft und den christlichen Nationalismus bedrohen. Die Liste ist noch länger, aber keine noch so lange Aufzählung kann erklären, wie es ultrarechten Bewegungen, Institutionen und Staaten gelingt, bestehende Untergangsängste für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen, und warum Begriffe wie »Gender«, »Gender-Theorie«, »strukturel24ler Rassismus« oder »Critical Race Theory« für die Orientierungslosigkeit und die Ängste verantwortlich gemacht werden, die Menschen in aller Welt heute umtreiben, wenn sie an ihre Zukunft denken. Damit sich Gender als Bedrohung für alles Leben, alles Denken, sämtliche Zivilisationen, Gesellschaften und so weiter identifizieren lässt, muss unter diesem Schlagwort eine breite Vielfalt an Ängsten und Sorgen gruppiert, zu einem Paket verschnürt und unter einem einzigen Namen zusammengefasst werden, egal, wie stark diese einander widersprechen. Wie Freud uns in Bezug auf Träume gelehrt hat, findet in phantasmatischem Geschehen wie diesem eine Verdichtung verschiedener Elemente statt sowie eine Verschiebung weg von dem, was ungesehen und ungenannt bleibt.
Können wir überhaupt sagen, wie viele Ängste sich heute rund um den Schauplatz Gender versammeln? Oder erklären, auf welche Weise die Dämonisierung von Gender den Blick weglenkt von legitimen Ängsten vor Klimazerstörung, wachsender wirtschaftlicher Prekarität, Krieg, Umweltgiften und Polizeigewalt – die uns gewiss berechtigterweise umtreiben – und diese überdeckt? Wenn das Wort »Gender« eine Palette von Ängsten in sich aufnimmt und zum phantasmatischen Sammelbehälter der modernen Rechten wird, macht das die verschiedenen Umstände, die diese Ängste in Wahrheit auslösen, namenlos. Denn »Gender« sammelt und schürt diese Ängste nicht nur, es hält uns auch davon ab, genauer darüber nachzudenken, was wir tatsächlich fürchten müssen und woher das Gefühl, dass die Welt gefährdet ist, überhaupt kommt. Bestehenden Mächten – Staaten, Kirchen, politischen Bewegungen – hilft die Verbreitung des »Gender«-Phantasmas, um Menschen einzuschüchtern und dazu zu bringen, sich wieder unterzuordnen, Zensur hinzunehmen und ihre Angst und ihren Hass auf schutzlose Bevölkerungsgruppen zu externalisieren. Auch diese Mächte sprechen bereits bestehende Sorgen, etwa die um den Arbeitsplatz oder das traditionelle Familienleben, an und verstärken sie, indem 25sie den Leuten eine bequeme Alternative bieten und sie nachgerade dazu auffordern, »Gender« als die wahre Ursache ihrer Ängste und Unsicherheiten anzusehen. Nehmen wir die aufwieglerischen Worte von Papst Franziskus im Jahr 2015. Auf den Warnruf, es habe in jeder historischen Epoche einen »Herodes« gegeben, lässt er die Aussage folgen, die Vertreter:innen der zeitgenössischen »Gender-Theorie« seien die modernen Verkörperungen dieser historischen Gestalt. Sie würden »Todeskomplotte« schmieden, »die das Angesicht von Mann und Frau entstellen und die Schöpfung zerstören«. Dann macht er deutlich, wie vernichtend die Gewalt der »Gender-Theorie« ist: »Denken wir an Atomwaffen, an die Möglichkeit, innerhalb weniger Augenblicke eine sehr große Zahl von Menschenleben auszulöschen […]. Denken wir auch an Genmanipulation, an Eingriffe in das Leben selbst, oder an die Gender-Theorie, welche die Ordnung der Schöpfung nicht anerkennt.« Während einer Pressekonferenz im Januar gibt Franziskus eine Geschichte über Armenschulen zum Besten, deren Finanzierung davon abhängig gemacht worden sei, dass »Gender-Theorie« auf dem Lehrplan stehe; was genau mit »Gender-Theorie« gemeint ist, darüber erfahren wir nichts, nur, dass wir sie unbedingt fürchten müssen, wie man etwa den Verlust vieler Menschenleben fürchten muss. Seiner Aussage nach handelt es sich bei der Forderung, die Gender-Theorie an Schulen zu unterrichten, um »ideologische Kolonisierung«. »Aber«, so fügt er hinzu, »das ist nichts Neues. Dasselbe haben die Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts getan. […] [D]enken Sie an die Hitlerjugend …«1
Dass sich der Vatikan einer derart hetzerischen Wortwahl bedient, ist angesichts des Einflusses dieser Institution und der allgemein hohen Wertschätzung, die Papst Franziskus genießt, zweifelsohne ziemlich zerstörerisch. Wenn Gender eine Atombombe ist, muss es entschärft werden. Wenn es der Teufel höchstpersönlich ist, müssen alle, die Gender repräsentieren, aus der 26Menschengemeinschaft ausgestoßen werden. Franziskus' Aussagen, ebenso grotesk wie gefährlich, verfolgen aber auch ein taktisches Ziel: Dadurch, dass Gender als Massenvernichtungswaffe, als Teufel, als neue Spielart von Totalitarismus, Pädophilie oder Kolonisierung hingestellt wird, nimmt es eine erstaunliche Zahl phantasmatischer Formen an, sodass der akademische und alltagssprachliche Gebrauch des Wortes in den Hintergrund tritt. Wird die Vorstellung verbreitet, dass Gender zerstörerische Kräfte besitzt, so lassen sich damit Existenzängste hervorrufen, die sodann von all jenen ausgenutzt werden können, die vermittels einer Stärkung der Staatsmacht zu einer vermeintlich »sicheren« patriarchalen Ordnung zurückkehren wollen. Ängste werden hervorgerufen und geschürt, auf dass diejenigen, welche sie zu lindern versprechen, als Kräfte der Erlösung und Wiederherstellung auftreten können. So lassen sich Menschen dafür gewinnen, die Zerstörung verschiedener gesellschaftlicher Bewegungen und Abschaffung politischer Maßnahmen, für die sich Gender angeblich starkmacht, zu unterstützen.
Die Instrumentalisierung dieses fürchterlichen Phantasmas namens »Gender« ist autoritär bis ins Mark. Sicher, das Zurückdrehen progressiver Gesetzgebung wird durch einen Backlash befeuert, aber Backlash bezeichnet in dieser Szene nur das reaktive Moment. Das Projekt, die Welt in den Zustand der Vor-»Gender«-Zeit zurückzuversetzen, verspricht die Rückkehr zu einer patriarchalen Traumordnung, die, obwohl sie so wohl nie existiert hat, den Platz von »Geschichte« oder »Natur« einnimmt – eine Ordnung, die nur ein starker Staat wiederherstellen kann.2 Die Stärkung staatlicher Befugnisse, die Macht der Gerichte eingeschlossen, integriert die Anti-Gender-Bewegung in ein größeres autoritäres Projekt. Indem sexuelle und Gender-Minderheiten als Gefahr für die Gesellschaft ins Visier genommen werden und als Beispiel unvorstellbar destruktiver Kräfte dienen, um sie ihrer fundamentalen Rechte, Schutzmöglichkeiten und Freiheiten zu berauben, rückt die Anti-Gender-Ideolo27gie in den Kontext des Faschismus. Die Panik wächst, und der Staat erhält einen Freibrief, die Existenzen derer zu negieren, die entsprechend der Syntax des Phantasmas zu einer Gefahr für die Nation geworden sind.
Aus den Reihen der Anti-Gender-Bewegung ist oft zu hören, durch den Angriff auf Gender würden nicht nur Familienwerte verteidigt, sondern Werte an sich, nicht nur eine bestimmte Lebensweise, sondern das Leben als solches. Dieses Phantasma befeuert faschistische Tendenzen, denn es zielt darauf ab, den sozialen Bereich zu totalisieren, Existenz- und Zukunftsängste in der Bevölkerung zu schüren, oder besser noch, bestehende Ängste auszuschlachten und sein »Anliegen« in eine totalisierende Form zu gießen. Durch dieses Anziehen und Mobilisieren von Ängsten aus verschiedenen gesellschaftlichen Systemen einschließlich Ökonomie und Ökologie ist man versucht, »Gender« als leeren Signifikanten zu bezeichnen, bezieht er sich doch nicht länger auf irgendetwas, das sich noch als Gender verstehen ließe. Dabei ist er mit dieser Aufnahme unterschiedlichster Bedrohungsängste aus der Geschichte der Gesellschaft und dem politischen Diskurs nicht leer, sondern vielmehr überdeterminiert. Zudem bezeichnet »Gender« sogar im alltäglichen Gebrauch eine Art, den Körper zu leben, was auf Leben und den Körper als seinen Wirkungsbereich hinweist. Das körperliche Leben ist eng verknüpft mit Leidenschaft und Angst, Hunger und Krankheit, Verletzlichkeit, Penetrabilität, Relationalität, Sexualität und Gewalt. Und wenn dieses Leben des Körpers, als einzelnes oder differenziertes, schon unter den besten Bedingungen eine Sphäre ist, wo sich sexuelle Ängste anhäufen und gesellschaftliche Normen ansiedeln, dann können genau dort auch alle geschlechtlichen und sozialen Kämpfe im Leben Heimat und Nahrung finden. Während der Begriff in der Anti-Gender-Bewegung so viel mehr umfasst als »Gender«, bezeichnet er außerhalb dieses Diskurses vor allem die Empfindungen des verkörperten Lebens, die von gesellschaftlichen Konventionen 28und psychischer Störung geprägt und gerahmt sind. Wenn die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni der italienischen und spanischen Öffentlichkeit vermittelt, Anhänger:innen der Gender-Bewegung würden die Menschen ihrer geschlechtlichen Identität berauben wollen, so schürt sie Angst und Wut bei denen, für die diese Identität zum Fundament ihrer Selbstwahrnehmung gehört. Wer Angst erzeugt mit dem Ziel, Transpersonen ihre Selbstbestimmungsrechte zu entziehen, mobilisiert die Angst vor der Aufhebung der eigenen geschlechtlichen Identität, um die geschlechtliche Identität anderer für nichtig zu erklären. Die Angst, etwas so Intimem und Bestimmendem beraubt zu werden, gründet auf der verbreiteten Annahme, dass es sich hierbei tatsächlich um einen Raub handelt; dass, mit anderen Worten, dieser Entzug des geschlechtlichen Aspekts des Seins nur falsch sein kann. Ausgehend von dieser Prämisse könnte man die allgemeine Forderung aufstellen, sich an keinerlei Aktivitäten zu beteiligen, die Menschen ihrer geschlechtlichen Identität berauben, auch Transpersonen nicht. Wenn aber andere das Recht auf ihr Geschlecht verlieren müssen, damit das Recht auf das eigene geltend gemacht werden kann, tritt genau das Gegenteil ein.
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Unsere Aufgabe besteht nun darin, dieser sich rasant beschleunigenden Zunahme und Ballung potenzieller und tatsächlicher Gefahren auf den Grund zu gehen und zu fragen, wie wir einem Phantasma dieser Größe und Stärke begegnen können, ehe es seinem Ziel, reproduktive Gerechtigkeit auszulöschen, die Rechte von Frauen, trans und nonbinären Personen, Schwulen und Lesben abzuschaffen und alle Bemühungen, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Gender und Geschlechter zu erreichen, zunichtezumachen, noch näher kommt, ganz zu schweigen von der Zensur, die sich gegen den offenen Diskurs in der Öffentlichkeit und an den Universitäten richtet.
29Wir könnten natürlich gute Argumente dafür liefern, warum diese Sicht auf Gender falsch ist. Dies wäre eine Hilfe für Lehrkräfte und politische Entscheidungsträger:innen, die erklären möchten, warum sie den Begriff verwenden und für sinnvoll halten. Wir könnten auch die Geschichte erzählen, wie es zu dieser Sicht auf Gender gekommen ist, dabei säkulare wie religiöse Versionen berücksichtigen und darstellen, auf welche Weise rechtsgerichtete Katholiken und Evangelikale im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind einige ihrer Differenzen beilegten. All diese Ansätze sind notwendig, doch der immer stärker werdenden phantasmatischen Kraft von »Gender« können sie kaum wirklich Rechnung tragen, geschweige denn etwas entgegensetzen. Durch dieses Phantasma, verstanden als psychosoziales Phänomen, werden intime Sorgen und Ängste auf gesellschaftlicher Ebene organisiert und mobilisiert, um politische Leidenschaften anzufachen. Worin besteht die Struktur dieses ebenso dynamischen wie verzerrten Phantasmas namens »Gender«? Von welchem Ziel wird es angetrieben? Wie entwickeln wir ein Gegenimaginäres, das stark genug ist, seine Täuschungen offenzulegen, seine Kraft zu schwächen und das von ihm beförderte Streben nach Zensur, Verzerrung und reaktionärer Politik aufzuhalten? Es ist an uns, eine überzeugende Gegenvision hervorzubringen, die die Rechte und Freiheiten des verkörperten Lebens bekräftigt, das wir schützen können und sollten. Denn am Ende kann man dieses Phantasma nur besiegen, indem man bejaht, wie man liebt und in seinem Körper lebt, indem man das Recht betont, ohne Angst vor Gewalt oder Diskriminierung in der Welt zu existieren, zu atmen, sich zu bewegen, zu leben. Warum sollten denn diese fundamentalen Freiheitsrechte nicht für alle Menschen gelten?
Wenn der Gegner von Angst ergriffen, von der Bedrohung durch ein gefährliches Phantasma überwältigt ist, dann muss ein anderer Ansatz her. Wie es scheint, haben wir derzeit überhaupt keine öffentliche Debatte darüber, und zwar deswegen, 30weil es keinen verbindlichen »Text in diesem Kurs« gibt, keine gemeinsamen Begriffe, und die Landschaft, in der kritisches Denken florieren sollte, von Angst und Hass geflutet ist. Das ist eine phantasmatische Szene. Mit dieser dem theoretischen Ansatz des französischen Psychoanalytikers Jean Laplanche entlehnten Begrifflichkeit soll in der Folge über psychosoziale Phänomene nachgedacht werden. Für Laplanche ist Fantasie nicht einfach nur ein Produkt der Vorstellungskraft – eine vollständig subjektive Realität –, sondern muss in ihrer grundlegendsten Form als syntaktisches Arrangement von Elementen des Seelenlebens verstanden werden. Fantasie ist somit nicht nur eine Geistesschöpfung, eine unterschwellige Träumerei, sondern ein Gebilde aus Begehren und Angst, das bestimmten strukturellen und organisatorischen Regeln folgt und auf unbewusstes wie auch bewusstes Material zurückgreift. Nach meinem Verständnis ist die Struktur oder Syntax von Träumen und Fantasie zugleich sozial und psychisch. Laplanche war an der Kindheit und der Herausbildung einer »Urphantasie« interessiert, doch es fragt sich, ob wir uns nicht einige Aspekte seiner Auffassung zu eigen machen und Anti-Gender als phantasmatische Szene begreifen können. Meine Vermutung ist, dass wir mithilfe eines solchen Bezugsrahmens besser auf die Bewegung und ihren Diskurs zu reagieren vermögen. Denn wenn die Szene eingerichtet ist und die Vorstellung herrscht, dass etwas namens Gender in schändlicher und zerstörerischer Weise auf Kinder einwirkt oder die Öffentlichkeit beeinflusst, ersetzt »Gender« ein komplexes Gefüge aus Ängsten und entwickelt sich zu einer überdeterminierten Sphäre, in der sich die Angst vor Zerstörung sammelt.
Das Phantasma findet sich in einer ganzen Reihe von Bestrebungen gegen progressive Gesetzgebung wieder. Es erscheint als programmatisches Kernelement des christlichen Nationalismus in Taiwan und erreicht die Podien des Präsidentschaftswahlkampfs in Frankreich; es ist in den kämpferischen Aufru31fen zur Verteidigung des weißen Europa, der nationalen Werte und der »natürlichen Familie« ebenso präsent wie in der Kritik der Konservativen an der Europäischen Union und deren Politik des Gender-Mainstreaming, will sagen an deren neoliberaler Agenda. Wo immer es wirkt, trägt es eine sadistische Freude an der Befreiung von neuen ethischen Beschränkungen mit sich, die angeblich von Verfechter:innen feministischer und LGBTQIA+-Programme oder deren Mainstream-Apologet:innen oktroyiert werden. Besonders bemerkenswert und verstörend ist, mit welchem Ergötzen im Rahmen dieses Moralfeldzugs diverse Methoden ausprobiert werden, die Existenz anderer zu leugnen, ihnen Rechte zu entziehen, ihre Lebenswirklichkeit abzulehnen, grundlegende Freiheiten einzuschränken, sich an schamlosen Formen des Rassismus zu beteiligen und diese Leben zu kontrollieren, zu entwerten, zu karikieren, zu pathologisieren und zu kriminalisieren. Hass wird durch moralische Rechtschaffenheit befeuert und begründet, während man all jene, die durch hasserfüllte Bewegungen Schaden nehmen, als die eigentlichen Agent:innen der Zerstörung hinstellt. Diese Projektionen und Verkehrungen sind es, die die phantasmatische Szene strukturieren. Was zwei überaus drängende Fragen aufwirft: Wer ist darauf aus, wen zu zerstören? Und wie gelingt es Ausprägungen eines kollektiven, ausufernden moralischen Sadismus, sich als Gebot der Tugend auszugeben?3
Die Aufgabe besteht nicht nur darin, diese Lüge aufzudecken. Wir müssen auch der Verbreitungs- und Überzeugungskraft des Phantasmas die Luft ablassen und ein anderes Imaginäres erzeugen, das allen, die von der Anti-Gender-Bewegung unter Beschuss genommen werden, helfen kann, sich miteinander zu verbünden und gegen jene zu stellen, die ihr Recht auf eine freie, lebenswerte Existenz in dieser Welt vernichten wollen.
Die phantasmatische Szene hat nichts gemein mit den zufälligen Träumereien, denen Sie oder ich in einem Moment der Ablenkung nachhängen. Vielmehr handelt es sich um eine Me32thode, die Welt zu organisieren, und sie erwächst aus der Angst vor einer Zerstörung, für die Gender verantwortlich gemacht wird. Dabei richtet die Anti-Gender-Bewegung mit ihren Bestrebungen, den Begriff und damit auch seine vermeintlichen Auswirkungen auf die Welt zu verbannen, eindeutig selbst Schaden an, indem sie Praktiken, Institutionen und Politikansätze zu demontieren versucht, denen es darum ging, Freiheit und Gleichheit einer neuen Beurteilung zu unterziehen und auszuweiten; die, mit anderen Worten, eine größere Freiheit ermöglichten, offen und ohne Angst vor Angriffen zu leben, frei zu atmen in dem Gefühl gesellschaftlicher Gleichberechtigung.
Betrachten wir einmal die Behauptung, »Gender« – was immer das auch ist – stelle eine lebensbedrohende Gefahr für Kinder dar. Dies ist eine gewaltige Anschuldigung. Für manche wird sie schon wahr, sobald sie ausgesprochen ist, und dann sind Kinder nicht mehr nur in Gefahr, sondern ihnen wird aktiv Leid zugefügt. Gelangt man zu dieser übereilten Schlussfolgerung, gibt es nur noch eine Option: Beendet das Leid! Weg mit Gender! Die Angst, dass Kinder Schaden nehmen könnten, die Angst, dass die eigene Familie oder die Familie an sich zerstört werden könnte, die Angst, dass »die Menschheit« zugrunde gerichtet werden könnte, einschließlich der Männer und auch des Mannes, der in manchen von uns steckt, die Angst, dass ein neuer Totalitarismus über uns hereinbricht, alle diese Ängste treiben jene um, die sich der Ausradierung von Gender verschrieben haben – des Wortes, des Konzeptes, der akademischen Disziplin und der diversen gesellschaftlichen Bewegungen, die es mittlerweile bezeichnet. Und sie sind, so meine Theorie, in einer hetzerischen Syntax gebündelt.
Syntax ist, ganz allgemein gesprochen, eine Methode, sprachliche Elemente miteinander zu verbinden, um die Welt zu erklären. Auch in Träumen und Fantasien ist die Anordnung von Elementen essenziell, um den Sinn dessen, was geschieht, zu verstehen. Linguist:innen, die sich mit Syntax beschäftigen, ver33suchen, die Regeln zu ergründen, denen solche Anordnungen folgen. Als aber Laplanche die Frage nach der Syntax von Fantasie stellte, fragte er nach unbewussten Anordnungen, die auf der schon benannten Verbindung von Verdichtung und Verschiebung beruhen, jenem speziellen Prozess also, Assoziationen miteinander zu einer komplexen Einheit zu verknüpfen, die sie zwingend als real erscheinen lässt. Verdichtung bezeichnet dabei die Art und Weise, wie disparate psychische und soziale Elemente willkürlich miteinander verbunden und zu einer einzigen Realität eingedampft werden. Verschiebung bezeichnet hingegen, wie eines oder mehrere Themen aus dem Bewusstsein verbannt – oder externalisiert – werden zugunsten eines einzigen Motivs, das für sie steht und sie zugleich verbirgt. Wir werden noch sehen, wie diese beiden psychischen Prozesse, gepaart mit sozialen Sorgen und Ängsten, zusammenwirken, um das Gender-Phantasma zu erzeugen und zu verbreiten.
In einem späten Interview stellte Laplanche die Theorie auf, dass »Ideologie« dann entsteht, wenn kulturelle Codes Einzug in die Urfantasien halten, wo es keine eindeutige Möglichkeit gibt, das Unbewusste vom Wirken des Kulturellen zu trennen. Unbewusste Elemente können auf verschiedenste Art und Weise angeordnet werden, also besteht die Aufgabe darin, zu verstehen, wie diese Elemente miteinander verbunden sind. Laplanche sagt: »Der Primärprozess [ist] die erste Form der Bindung. Es ist eine sehr lockere Bindung, aber eine Bindung. Die Assoziationen, Verschiebungen und Verdichtungen bedeuten, dass es Bindungen gibt. Durch den Primärprozess werden Pfade etabliert.«4 Es geht somit nicht darum zu überlegen, wie die Psychoanalyse auf kulturelle Phantasmen wie »Gender« angewendet werden kann. Vielmehr gilt es herauszufinden, auf welche Weise eine Reihe kultureller und sozialer Elemente durch Pfade oder Anordnungen, die auf der Ebene des Unbewussten bereits aktiv sind, neu organisiert werden. Dieser Logik folgend, wird die Anti-Gender-Bewegung von einer hetzerischen 34Syntax geleitet, will sagen: einer Methode, die Welt zu ordnen, die die Sorgen und Ängste im Hinblick auf Durchlässigkeit, Prekarität, Verdrängung und Austausch, den Verlust patriarchaler Macht in Familie und Staat sowie den Verlust weißer Vorherrschaft und nationaler Reinheit absorbiert und reproduziert.5 Im Prozess der Reproduktion der Angst vor Zerstörung wird die Quelle der Zerstörung als »Gender« externalisiert, wobei der Begriff als Einheit eine Palette von Komponenten verdichtet und das Bedrohungsgefühl intensiviert. Darüber hinaus verschiebt er Ängste vor unterschiedlichen Formen ökologischer und ökonomischer Zerstörung auf ein verfügbares Substitut und hält uns so davon ab, die wahren Ursachen der heute stattfindenden Verheerung der Welt zu adressieren. Und so wird Gender, nun fest als existenzielle Bedrohung etabliert, zum Ziel der Zerstörung.
Laplanche regt uns dazu an, auf diese Weise über »Ideologie« nachzudenken. Die Anti-Gender-Bewegung ist selbst ideologisch in seinem Sinne. Zwar ist sie in der Regel antimarxistisch, dennoch nimmt sie in ihren Angriffen auf Gender Anleihe bei popularisierten Spielarten der Ideologiekritik. Manchmal werden »Ideologien« in Anlehnung an die marxistische Bestimmung vom falschen Bewusstsein als irrige Form des Wissens betrachtet. Ein andermal wird »Ideologie« mit »Perspektive« oder einer »totalisierenden Weltanschauung« gleichgesetzt – ein Gebrauch, der den Begriff all seiner historischen Bedeutungen entleert und seinen Platz im kritischen Denken ignoriert. Marx und Engels haben in Die deutsche Ideologie (1845-1846) eine Unterscheidung zwischen geistiger und materieller Tätigkeit vorgenommen und jenen, die behaupten, Denken allein könne eine Revolution herbeiführen, attestiert, sich auf Abwegen zu befinden und das tatsächliche Verhältnis zwischen Denken und Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen.
Louis Althusser nahm später deutliche Korrekturen an dieser Auffassung vor. In seinem Aufsatz »Ideologie und ideologi35sche Staatsapparate« (1970) erklärte er, dass abstrakte Formen des Nachdenkens über revolutionärere Methoden des Widerstands und die Überwindung kapitalistischer Ausbeutung als einer akzeptierten Organisationsform der Gesellschaft durch Ideologie ersetzt worden seien. Seiner Auffassung nach durchdringt Ideologie, gleich Luft, unser gesamtes Leben, und der Versuch, aus ihrem Dunstkreis auszubrechen, ist mehr als schwierig. Denn es handelt sich nicht nur um ein Set von Überzeugungen, die wir über die Zeit hinweg angenommen haben, sondern um Arten und Weisen, wie wir die Realität organisieren, und sie sind Teil unserer Selbstwerdung, einschließlich unserer Erziehung. Ideologie stellt die Begriffe bereit, mit deren Hilfe wir unser Selbstverständnis entwickeln, doch ebenso bringt sie uns als soziale Subjekte hervor.
So zum Beispiel am Beginn des Lebens, wenn wir in der Regel als Mädchen oder Junge angesprochen und damit plötzlich in ein konfrontatives Verhältnis zu einer mächtigen Anrufung von außen gestellt werden. Was aus dieser Anrufung letztendlich gemacht wird, lässt sich nicht im Vorhinein bestimmen. Tatsächlich kann es uns passieren, dass wir dem Anspruch, den eine solche Bezeichnungspraxis erhebt, nicht gerecht werden und ein »Scheitern« sich womöglich als Befreiung herausstellt.6 Daher wurzelt unsere Fähigkeit zur Ideologiekritik notwendigerweise in der Position als schlechtes oder gebrochenes Subjekt: eine Person, die daran gescheitert ist, sich den Normen zu unterwerfen, denen Individuation unterliegt. Was uns in die schwierige Lage bringt, mit unserer eigenen Erziehung oder Selbstwerdung brechen zu müssen, um auf unsere eigene Art kritisch denken zu können, neu denken zu können, aber auch, um zu einer Person zu werden, die nicht in vollem Umfang den Erwartungen entspricht, die so häufig mit der Geschlechtszuweisung bei Geburt an uns herangetragen werden.
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36Die Anti-Gender-Bewegung wird oft als Backlash gegen progressive Bewegungen interpretiert. Eigentlich wird sie aber von einem stärkeren Wunsch angetrieben: dem Wunsch nach Wiederherstellung einer patriarchalen Traumordnung, in der ein Vater ein Vater ist, sexuelle Identität sich nie verändert, Frauen, die als »von Geburt an weiblich« begriffen werden, ihre naturgegebene und »moralische« Stellung im Haushalt einnehmen und weißen Menschen unangefochtene rassische Überlegenheit zukommt. Allerdings ist das Projekt fragil, denn die patriarchale Ordnung, die es wiederherzustellen sucht, hat in der Form, die ihre Verfechter:innen heute wieder verwirklichen wollen, nie existiert. »Gender« ist hier eine psychosoziale Szene, eine öffentliche Art des Träumens von der Wiedererlangung einer auf patriarchaler Autorität gründenden Ordnung. Die Rekrutierung von Unterstützer:innen erfolgt über die Einladung, sich einem kollektiven Traum, vielleicht sogar einer kollektiven Psychose anzuschließen, die all den Ängsten und Sorgen, die so viele Menschen erbarmungslos umtreiben (Klimakatastrophe, überbordende Gewalt oder brutale Kriege, ausufernde Polizeigewalt oder am eigenen Leib erfahrene zunehmende ökonomische Prekarität), ein Ende bereiten wird.
Das Anheizen einer Sehnsucht nach Wiederinstandsetzung männlicher Privilegien dient zahlreichen anderen Formen von Macht, bildet jedoch auch ein eigenes gesellschaftliches Projekt: Herstellung einer idealen Vergangenheit, deren Wiederbelebung sexuelle und Gender-Minderheiten ins Visier nimmt, wenn nicht sogar auslöscht. Dieser Traum ist dabei nicht nur bestrebt, einer patriarchalen Autorität, die als Teil einer natürlichen und/oder religiösen Ordnung verstanden wird, wieder ihren rechtmäßigen Platz einzuräumen. Er zielt auch darauf ab, progressive Politikansätze und Rechte zurückzudrehen, um zur ausschließlich heterosexuellen Ehe zurückzukehren, sicherzustellen, dass an dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht festgehalten wird und Abtreibungen einzuschränken, da der 37Staat ja besser wisse, welche Grenzen schwangeren menschlichen Körpern aufzuerlegen seien. Der aktuelle Backlash gegen »Gender« ist Teil dieses größeren restaurativen Projekts, das darauf aus ist, autoritäre Regime als rechtmäßige Formen des Paternalismus zu stärken – den wahr gewordenen Traum.
In welchem Maße sich die gegen Gender gerichteten Stimmungen durch die Rechte mobilisieren lassen, hängt davon ab, wie glaubwürdig dieser Traum von der Vergangenheit für jene ist, die für die Verlockungen des Autoritarismus empfänglich sind. In diesem Sinne sind die Ängste weder vollständig fabriziert noch vollständig als bereits vorhandene entdeckt. Niemand liefert historische Belege für die patriarchale Ordnung, die wiederhergestellt werden und ihren rechtmäßigen Platz wieder einnehmen muss; es ist keine Vergangenheit, die sich in historischen Zeiten wiederentdecken ließe, auch wenn man in der Geschichte viele Beispiele für patriarchale Strukturen finden kann und auch gefunden hat. Vielmehr ist sie Teil einer Fantasie, deren Syntax Elemente der Realität im Sinne einer treibenden Kraft neu anordnet, die ihr eigenes Wirken vernebelt. Der Traum funktioniert nur als phantasmatische Organisation der Realität, die eine Reihe von Beispielen und Vorwürfen offeriert, um die verfolgte politische Agenda zu stärken.
Dass keinerlei historische Belege für eine idealisierte patriarchale Vergangenheit beigebracht werden, spielt kaum eine Rolle. Was aber mit Sicherheit eine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass die angebotenen Argumente vor Widersprüchen nur so strotzen. Inkohärenz und Unmöglichkeit der Anti-Gender-Agenda bilden einander widersprechende Phänomene ab und eröffnen ihrem Publikum sogar einen Weg, einen Großteil seiner Ängste und Überzeugungen zu bündeln, ohne dieses Bündel jemals schlüssig machen zu müssen: Gender ist Kapitalismus und purer Marxismus; Gender ist libertäres Konstrukt und Vorbote einer neuen Welle von Totalitarismus; Gender wird die Grundfesten der Nation zerstören, genau wie unerwünschte Migra38tion es tut, genau wie aber auch imperialistische Mächte es tun. Was davon ist nun richtig? Sein widersprüchlicher Charakter ermöglicht es dem Phantasma, jede Sorge oder Angst in sich aufzunehmen, die die Anti-Gender-Ideologie für ihre eigenen Zwecke befeuern möchte, ohne je irgendeine Form von Kohärenz herstellen zu müssen. Tatsächlich sind die Abwesenheit historischer Belege und das Fehlen einer kohärenten Logik immanente Bestandteile eines sich immer weiter steigernden Rausches, der faschistische Raserei nährt und Formen von Autoritarismus stärkt.
Es ist unerheblich, dass die Anti-Gender-Bewegung eine Vielzahl unterschiedlichster Gruppen ins Visier nimmt, die selbst untereinander nicht immer Verbündete sind: Transmenschen einschließlich Transjugendliche, die nach juristischer und gesellschaftlicher Anerkennung und Gesundheitsfürsorge streben; alle, die reproduktionsmedizinische Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen und deren offenkundige Priorität gerade nicht in der Heiligung der heteronormativen Familie liegt (was alle einschließt, die eine Abtreibung wünschen und viele, die Geburtenkontrolle betreiben möchten); alle, die sich in Kampagnen für gleichen Lohn einsetzen; alle, die an der Verabschiedung und Bewahrung von Gesetzen gegen Diskriminierung, Belästigung und Vergewaltigung arbeiten; lesbische, schwule und bisexuelle Menschen, die gesetzliche Schutzrechte einfordern; und jene, die um ihr Recht kämpfen, sich ohne Angst vor Gewalt, Bestrafung oder Inhaftierung frei auszudrücken und zu bewegen. Der Widerstand gegen »Gender« als dämonisches soziales Konstrukt kulminiert in politischen Strategien, die Menschen ihrer juristischen und gesellschaftlichen Rechte berauben wollen, das heißt der Möglichkeit, in dem Modus zu existieren, den sie mit allem Recht für sich selbst aufgestellt haben. Menschen im Namen der Moral oder der Nation oder eines feuchten patriarchalen Traums Rechte zu entziehen, reiht sich ein in eine breitere, vom autoritären Nationalismus verstärk39te Logik, die etwa auch Geflüchteten das Asylrecht verweigert, Indigene von ihrem Land vertreibt und Schwarze Menschen in ein Gefängnissystem presst, in dem Bürgerrechte systematisch verweigert und Missbrauch und Gewalt als »legitime« Sicherheitsmaßnahmen gerechtfertigt werden. Daraus erwachsende autoritäre Freiheitsbeschränkungen gibt es reichlich, ob in Form der Einrichtung »LGBT-freier Zonen« in Polen oder der Entfernung progressiver Lehrinhalte wie Sexualität und Freiheit der Gender aus den Lehrplänen von Schulen in Florida. Doch wie sehr sich autoritäre Kräfte auch bemühen, Freiheiten einzuschränken – die Tatsache, dass die Kategorien Frau und Mann sich historisch und je nach Kontext verschieben, ist unbestreitbar. Die Ausformung neuer Gender war und ist Teil der Geschichte und der Realität. Sie zu ignorieren oder zu ächten ist der vergebliche Versuch, eine existierende Komplexität zu negieren, die mit Sicherheit auch in den kommenden Jahren nicht verschwinden wird.
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Gender ist seit vielen Jahrzehnten Bestandteil des Feminismus. Fragen Feminist:innen »Was ist eine Frau?«, wird von vornherein anerkannt, dass die Bedeutung dieser Kategorie ungewiss bleibt, ja sogar enigmatisch. Gender ist lediglich die Rubrik, unter der wir den Wandel dessen betrachten, wie Männer, Frauen und ähnliche Kategorien verstanden worden sind. Stellen wir also Fragen zu Männern und Frauen und anderen geschlechtlich bestimmten Kategorien, die von einem binären Schema abweichen, oder dazu, was in dem Raum zwischen solchen Kategorien geschieht, führen wir eine Untersuchung über Gender durch. Die Fragen »Was ist eine Frau?« oder, psychoanalytisch betrachtet, »Was will eine Frau?« sind auf so vielfältige Art und Weise gestellt und kommentiert worden, dass wir irgendwann einfach akzeptiert haben, dass es sich um eine offene Kategorie 40handelt, die Gegenstand ewiger Interpretation und Debatte sowohl in akademischen Kreisen als auch im gesamten öffentlichen Diskurs sein wird.
Schränken Regierungen Abtreibungsrechte ein, weil Frauen über Freiheiten solcher Art angeblich nicht verfügen dürfen, werden Frauen definiert und fundamentaler Rechte beraubt. Nicht nur, dass Frauen diese spezielle Freiheit vorenthalten wird, nein, überhaupt beansprucht der Staat, über die Grenzen ihrer Freiheit zu entscheiden. Indem man sie solchen Restriktionen unterwirft, werden Frauen als diejenigen bestimmt, deren Freiheit durch den Staat beschränkt werden muss. Jene, die zu wissen behaupten, welchen Platz Frauen im sozialen und politischen Leben einzunehmen haben, hängen einer sehr speziellen Gender-Theorie an. Sie sind nicht gegen Gender an sich, im Gegenteil. Sie haben eine überaus präzise Gender-Ordnung im Kopf, die sie der Welt überstülpen möchten. Sie streben danach, den patriarchalen Traum von einer festgelegten, hierarchischen Gender-Binarität wiederherzustellen und zu konsolidieren, eine Ordnung, die nur erreicht werden kann, indem das Leben anderer zerstört oder zumindest der Versuch dazu unternommen wird. Zerstörung wird dadurch paradoxerweise zur Möglichkeitsbedingung für eine patriarchale Geschlechter- und Gender-Ordnung, die der perspektivisch »zerstörerischen« Macht von Gender entgegenwirken will. Anstatt Zerstörung abzuwehren, hat sich die Anti-Gender-Bewegung dem Ziel verschrieben, eine immer destruktivere Welt zu schaffen.
Die Versuchung, diese hasserfüllte Karikatur durch eine intellektuelle Denkübung bloßzustellen und in sich zusammenfallen zu lassen, ist groß. Als Lehrende würde ich sagen: »Schauen wir uns gemeinsam einige Schlüsseltexte der Gender Studies an und sehen mal, was Gender meint und nicht meint und ob die Karikatur dem standhält.« Wir wären dann zuversichtlich, dem übersteigerten Phantasma die Luft ablassen zu können, indem wir es an den realen Texten messen, in denen Gender diskutiert 41wird, an den realen politischen Strategien, in denen es zum Tragen kommt. Traurigerweise funktioniert eine solche Strategie nur selten. Diejenigen, die die gegnerische Position vertreten (und Gender als »Ideologie« auffassen), glauben ja, Gender abschaffen zu müssen – die akademische Disziplin, das Konzept, die gesellschaftliche Realität –, eben weil sie die Forschungsmeinungen zum Thema, die sie ablehnen, nicht zur Kenntnis nehmen und sich, manchmal einfach aus Prinzip, einer informierten, kritischen Diskussion verweigern. Ihr Antiintellektualismus, ihr Misstrauen gegenüber akademischen Kreisen ist zugleich die Weigerung, in die öffentliche Debatte einzutreten. Was als »akademisch« abgetan wird, ist in Demokratien aber gerade erforderlich, um eine sachkundige öffentliche Debatte zu führen. Diese jedoch wird unmöglich, wenn einige Beteiligte sich weigern, das zur Diskussion gestellte Material zu lesen. Lesen ist nicht bloß Luxus oder Zeitvertreib. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen einer lebendigen Demokratie und trägt dazu bei, der Debatte und dem Dissens Bodenhaftung zu geben, ihnen einen Fokus zu verleihen und sie produktiv zu machen.
Darüber hinaus haben die Vertreter:innen der Anti-Gender-Bewegung zu einem Großteil beschlossen, keine kritische Lektüre zu betreiben, denn sie befürchten, diese könnte sie einer Doktrin aussetzen – oder unterwerfen –, der sie von Anfang an ablehnend gegenüberstanden. Ihrer Vorstellung nach haben nicht sie selbst, sondern die Forschenden und Lehrenden auf dem Gebiet der Gender Studies einer Ideologie oder einem Dogma Gefolgschaft geschworen und beteiligen sich an unkritischen Formen des Denkens und Handelns, die sie als Gruppe zusammenschweißen und gegen ihre Widersacher:innen in Stellung bringen. Wer kritische Lektüre oder kritisches Denken auf diese Weise imaginiert, verkehrt die Positionen und externalisiert die Rolle, die die Gender-Kritik eigentlich einnimmt – eine konsequente Form phantasmatischer Verschiebung.
Religiös geprägten Kritiker:innen, deren Widerstand gegen 42