Wer lernen will, muss fühlen - Christiane Stenger - E-Book

Wer lernen will, muss fühlen E-Book

Christiane Stenger

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Beschreibung

Haben Sie alle Sinne beisammen? Wissen Sie, wo Sie im Sommer 2014 waren, als Deutschland die Fußball-WM gewonnen hat? Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Schultag oder Ihren ersten Kuss? Emotionale Momente wie diese stehen uns meist bildhaft vor Augen. Ein Geruch, eine Stimme, Musik oder eine Umarmung aktivieren unsere Erinnerung und machen sie lebendig. Lässt sich das nutzen, wenn wir unser Gedächtnis verbessern wollen? Können wir unsere Sinne trainieren, um uns Dinge einfacher zu merken? Sind Gefühle beim Lernen wichtig oder eher hinderlich? Christiane Stenger erklärt anschaulich, welchen Einfluss unsere Sinne und Emotionen auf unser Gedächtnis haben. So erfahren wir zum Beispiel, ob Musikhören beim Lernen hilft oder stört, warum die Aufnahmetaste des Smartphones ein Segen sein kann und weshalb Gesten beim Merken von Vokabeln und PIN-Nummern hilfreich sind.

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Seitenzahl: 270

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Christiane Stenger

Wer lernen will, muss fühlen

Wie unsere Sinne dem Gedächtnis helfen

Illustrationen im Innenteil Max Bachmeier

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Haben Sie alle Sinne beisammen?

 

Wissen Sie, wo Sie im Sommer 2014 waren, als Deutschland die Fußball-WM

Über Christiane Stenger

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortKapitel 1 Was wären wir ohne unsere Sinne und Gefühle?Kapitel 2 Das Gehirn – Ein Dschungel voller InformationenKapitel 3 Das limbische System – Angst und Wut tanzen LimboKapitel 4 Sehen – Der oberflächliche und edle SinnKapitel 5 Hören – Der raffinierte SinnKapitel 6 Tasten – Das Multitalent unter den SinnenKapitel 7 Riechen – Der emotionale SinnKapitel 8 Schmecken – Der untergebutterte SinnKapitel 9 Der sechste Sinn – Unsere verflixte IntuitionKapitel 10 Auf die Schnelle – Das große FinaleHerzlichen Dank!Literaturverzeichnis

Für Antje

Vorwort

Wissen Sie, wo Sie im Sommer 2014 waren, als die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer Weltmeister geworden ist? Erinnern Sie sich an Ihren ersten Kuss? Haben Sie Ihren ersten Schultag noch im Kopf? An Momente wie diese können wir uns meist gut erinnern, zumindest, wenn sie uns emotional bewegt haben. Ereignisse, die wir mit großen Gefühlen verbinden, sind besonders einprägsam. So haben wir nicht nur großartige Geburtstage oder feierliche Hochzeiten meist noch Jahre später konkret vor Augen, sondern auch die Sternschnuppe über dem Gardasee, die Schmetterlinge im Bauch, als wir verliebt waren, den abenteuerlichen Urlaub im Campingbus oder diese verrückten durchtanzten Nächte, wenn die Sonne beim Nachhausekommen schon wieder aufging.

Leider brennen sich nicht nur solche schönen, sondern auch viele negative Ereignisse – oft unauslöschlich – in unser Gedächtnis ein. Sicherlich wissen Sie genau, wo Sie am 11. September 2001 waren, als Sie erfuhren, dass zwei Flugzeuge in das World Trade Center geflogen sind. Wenn Sie früh genug geboren wurden, können Sie sich bestimmt an den Tag des Kennedy-Attentats erinnern, als wäre es gestern gewesen.

Emotionen, ob positiv oder negativ, gehören zu den zuverlässigsten Hilfsmitteln, um Bilder, Geschichten oder Informationen in unserem Gedächtnis als abrufbare Erinnerung zu speichern.

Nicht nur Gefühle helfen unserer Erinnerung auf die Sprünge, sondern auch unsere Sinneseindrücke. Sie können uns direkt in die Vergangenheit katapultieren: Riechen wir ein bestimmtes Parfüm, kommt uns eine gute Freundin aus dem Studium oder eine vergangene Liebe in den Sinn. Wir alle haben bereits erlebt, wie ein Geruch, eine Stimme, Musik oder eine Umarmung unsere Erinnerung aktivieren und uns Szenen aus der Vergangenheit wieder präsent werden lassen. Hören wir ein bestimmtes Lied, erinnern wir uns an die Stimmung von damals, denken an diesen einzigartigen Moment auf dem Konzert von Oasis oder an die Autofahrt mit Hund nach Rom und zurück.

Gerüche spielen eine besondere Rolle, wenn es darum geht, Erinnerungen zu wecken. Wenn ich zum Beispiel Zimt rieche, muss ich sofort an die Malkurse meiner Mutter denken, bei denen es immer frische Zimtschnecken für uns Kinder gab. Die Küche roch dann wie eine Bäckerei zur Weihnachtszeit, und der zuckersüße Duft verteilte sich langsam in der gesamten Wohnung. Ich weiß noch genau, wie es geschmeckt hat, wenn ich in die gerade etwas abgekühlte Zimtschnecke gebissen habe. Unvergleichlich. Im selben Moment sehe ich die vielen blauen Gefrierbeutel in der Kühltruhe vor mir, höre das Knirschen des Eises bei der Suche nach meiner Beute, fühle die eisige Kälte, wenn ich voller Vorfreude an Tagen ohne Malkurs einen Beutel gefrorener Zimtschnecken heraushole.

Unsere Gefühle sind automatisch in unsere Erinnerungen eingebunden. So können wir sie über viele Impulse oder Stichwörter oft noch nach Jahren oder Jahrzehnten abrufen. Lässt sich dieses Wissen bewusst umsetzen? Können wir unsere Sinne trainieren, um uns besser zu erinnern? Welche Rolle spielen sie beim Merkprozess? Und was können wir konkret tun, um uns das Lernen zu erleichtern?

Die gute Nachricht: Wir besitzen die vielen unterschiedlichen Schlüssel zu unserem Erinnerungsvermögen bereits. Manche haben wir – bildlich gesprochen – nur verlegt. Wir müssen sie lediglich wiederentdecken, indem wir unseren Sinnen und Emotionen beim Lernen und Erinnern mehr Aufmerksamkeit schenken. Wir lernen ständig. Immer und überall. Wir können gar nicht anders. Und mit dem richtigen Knowhow können wir uns das bewusste Lernen und Erinnern erleichtern.

Bevor wir uns genauer mit unseren Emotionen und unseren Sinnen beschäftigen, werden wir etwas über unser faszinierendes Gehirn erfahren – denn dort «entstehen» unsere Sinneseindrücke und Gefühle. So verstehen wir uns nicht nur selbst besser, sondern erfahren darüber hinaus, wie wir das Lernen abwechslungsreicher gestalten, uns an mehr Details erinnern und unser Wissen langfristig in Erinnerung behalten können. In vielen Übungen und Beispielen können Sie dies ausprobieren. Dazu müssen Sie sich nicht mal besonders anstrengen, denn, und dies ist eine weitere gute Nachricht: Es wird Ihnen Spaß machen und Ihren Blick auf Ihre Erinnerungen und die grandiosen Leistungen und Fähigkeiten Ihres Gehirns verändern.

Beim Schreiben dieses Buches hat mich das Gehirn immer wieder aufs Neue fasziniert, denn alles daran ist irrsinnig komplex und gleichzeitig so ausgeklügelt. Daniel Düsentrieb hätte es sich nicht besser ausdenken können! Begeben wir uns auf die Reise und entdecken, wie sehr unsere Gefühle und Sinne unsere Erinnerungen prägen.

 

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!

 

Ihre Christiane Stenger

Kapitel 1Was wären wir ohne unsere Sinne und Gefühle?

«Gefühl ist alles.»

Johann Wolfgang von Goethe

«Wir sind das, an was wir uns erinnern können», sagt eine ältere Dame zu mir, als wir gemeinsam längere Zeit im Wartezimmer eines Arztes sitzen. Wir sind zufällig ins Gespräch gekommen, und dieser Satz beeindruckt mich auf merkwürdige Weise. Er brennt sich heimlich und für immer in mein Gedächtnis ein. Die Dame hatte ihn in einem Buch gelesen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, in welchem. Doch ich habe dieses kurze Gespräch und die Situation noch heute, viele Jahre später, klar vor Augen: Ich erinnere mich an den Klang ihrer Stimme, an ihr leises Lachen, das dem Satz folgte, an die roten Stühle im Wartezimmer, an das warme Sommerlicht, das in den Raum fiel. Es kommt mir vor, als ob es gestern gewesen wäre. Der Moment an sich war gar nicht außergewöhnlich, aber die Erinnerung an ihn ist geblieben.

Aber warum? Was muss passieren, dass eine Erinnerung in unserem Kopf entsteht? Ob wir die Augen schließen oder nicht, wir können uns in Gedanken in die verschiedensten Situationen der Vergangenheit katapultieren und das faszinierendste Wissen hervorholen. Und doch scheint viel mehr verloren zu gehen, als wir behalten: Selbst wenn wir uns während eines Gespräches fest vornehmen, uns den Buchtitel und den Namen des Autors zu merken, von dem unsere Freundin so spannend erzählt, kann es leicht passieren, dass wir beides am nächsten Tag vergessen haben. Ich kann mich zwar ohne Mühe an ein Zimtschneckenrezept oder die Situation im Wartezimmer erinnern, doch von den Informationen über den Körperbau der Kuh oder den Lateinvokabeln, die ich in der 5. Klasse gepaukt habe, ist kaum noch etwas übrig.

Unter «Lernen» versteht man ganz allgemein die Fähigkeit eines Organismus, sich über kurz oder lang an seine Umwelt anzupassen. Was diese «Umwelt» genau ist, spielt dabei keine Rolle. Es ist egal, ob es sich um Alltag, Ausbildung, Beruf oder den Bootsführerschein handelt. Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, neugierig und aufmerksam zu sein, neue Erfahrungen aufzunehmen, daraus zu lernen und uns auf diese Weise fit für ein möglichst langes Leben zu machen. Unsere Erfahrungen prägen unsere Erwartungen, legen fest, auf was wir unsere Aufmerksamkeit lenken, und bestimmen, wie wir neue Situationen bewerten und auf sie reagieren. Man nimmt an, dass etwa 95 Prozent der Informationen, die wir abrufen können, unbewusst gespeichert werden. Das Quäntchen, das darüber entscheidet, was in unser Repertoire aufgenommen wird oder nicht, scheint das Gefühl zu sein, das unserem Gehirn eine Information schmackhaft macht und sie so als merk-würdig einstuft. Mit dem bewussten Einsatz unserer Sinne und Gefühle können wir auf das, was wir uns merken möchten, Einfluss nehmen und ihm einen kleinen Schubs geben, damit es leichter den Weg in unser Gedächtnis findet.

Ich möchte Sie nicht nur für das Lernen mit allen Sinnen begeistern, sondern Ihnen auch vermitteln, wie unsere Sinneseindrücke und Gefühle uns die Welt zeigen und unser Gehirn – und damit uns – genau zu dem machen, was wir sind. Unsere Sinneseindrücke haben große Macht über unser Denken, unser Handeln, unsere Gefühle und Erinnerungen. Was uns ausmacht, was wir als Persönlichkeit, als unsere Identität bezeichnen, wird uns zuallererst über unsere Sinne vermittelt: Nur das, was wir wahrnehmen, können wir in unsere Welt einbeziehen, nur darüber können wir uns eine eigene Meinung bilden, können daraus Ideen entwickeln und uns an Erfahrungen und Gelerntes erinnern.

Vieles lässt unser Gehirn allerdings einfach unter den Tisch fallen oder interpretiert es auf eigene Weise. Daher ist es entscheidend, wie aufmerksam wir die Welt erleben, was uns berührt, was uns begeistert, denn es sind unsere Interessen, unsere Motivation und Neugier, die unsere Sinne dahin lenken, wo es spannend ist. All unser Wissen und unsere Erinnerungen, die aus vielen, unzählbaren kleinen Puzzleteilen bestehen, ergeben in ihrer Gesamtheit unser ganz individuelles Ich.

Was unser Gehirn – von uns meist unbemerkt – leistet, ist ein wahres Wunder. Obwohl unser Gedächtnis uns undurchschaubar erscheint, findet sich in den Tiefen unserer Erinnerungen doch eine gewisse Ordnung: Es existieren verschiedene Gedächtnisformen, «Archive», mit unterschiedlichen Inhalten. Sie lassen sich jedoch nicht auf einen bestimmten Bereich eingrenzen, denn es handelt sich um riesige Netzwerke, die miteinander arbeiten und so unser Gedächtnis bilden. Die beiden Gedächtnismodelle, die beim Lernen besonders wichtig sind, möchte ich Ihnen kurz vorstellen.

Unser Faktengedächtnis ist der Speicher, in dem Wissen abgelegt wird: die Info, wie ein Ahornblatt aussieht, dass der Rhein der längste Fluss Deutschlands ist oder die Französische Revolution 1789 stattgefunden hat. Wir erinnern uns jedoch nicht unbedingt daran, wann und in welchem Kontext wir diese Fakten gelernt haben. Das in diesem Gedächtnis gespeicherte Wissen ist «einfach da» und somit weder an eine bestimmte Situation noch eine Zeit gebunden. Doch selbst zu vermeintlichem Rohmaterial wie Zahlen und Daten haben wir einen persönlichen Zugang. Wir mögen die 7 vielleicht lieber als die 5 oder finden die 1 besonders schön. Grundsätzlich geht es im Gehirn «gefühlig» zu.

Bei außergewöhnlichen oder mit starken Emotionen verbundenen Situationen wandern die Erinnerungen in unser episodisches Gedächtnis. Aus ihm können immer wieder einzelne Episoden abgerufen werden, zu denen auch der Kontext gespeichert ist, wie etwa die Situation mit der Dame im Wartezimmer, der Satz, das warme Licht, das leise Lachen oder die roten Stühle. Im episodischen Gedächtnis sind darüber hinaus autobiographische Erinnerungen gespeichert. Sie alle sind emotional gefärbt. Objektives Erinnern ist nicht möglich. So erinnern sich zwei Personen an den gemeinsam verbrachten Nachmittag auf dem Hamburger Dom mitunter ganz unterschiedlich, da das individuell empfundene Vergnügen oder Missvergnügen mitbestimmt, an was und wie wir uns erinnern.

Aus Erinnerungen unseres episodischen Gedächtnisses kann allerdings auch Faktenwissen werden und umgekehrt. Beide Gedächtnisse gehen ineinander über. Anfangs wissen wir noch, dass es unsere Lieblingstante war, die uns den Merksatz «753 – Rom springt aus dem Ei» beigebracht hat. Doch wenn wir das Datum oft genug aufgerufen haben, hüpfen die Ziffern 753 ganz eigenständig aus dem Ei: Das Datum ist fest mit der sagenumwobenen Gründung Roms verbunden, und die Tante verschwindet allmählich aus dieser Erinnerung. Beim Besuch eines römischen Museums kann die Jahreszahl wiederum mit einem persönlichen Erlebnis verbunden werden.

Für das Lernen ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Gedächtnissen von ganz erheblicher Bedeutung, denn wie das Beispiel zeigt, sind Fakten, die in eine Geschichte eingebunden sind, viel einfacher zu lernen und bleiben besser in Erinnerung als Fakten, die nur für sich stehen. Die Zahl 753 ist ohne Tante oder Eselsbrücke viel schneller vergessen. Doch wir können nicht nur Geschichtsdaten episodisch und emotional einfärben, um uns leichter an sie zu erinnern, sondern alles, was wir bewusst lernen wollen – selbst Lateinvokabeln.

Unser Gehirn ist in der Lage, alle Erinnerungen so in seinen Netzwerken zu speichern, dass wir im Prinzip jederzeit darauf zurückgreifen können. Tja, nur manchmal will uns der Name dieses einen Schauspielers partout nicht einfallen. Falls wir nicht schnell googeln können, erinnern wir uns vielleicht an einen Film, in dem dieser Schauspieler mitgespielt hat, stellen uns vor, wie er spricht, versuchen uns durch eine Unterhaltung mit einer Freundin an den Namen zu erinnern oder gehen das Alphabet durch, überlegen, ob uns beim Klang eines Buchstabens der Vor- oder Nachname einfällt. Manchmal klappt es. Die Chancen, uns an etwas zu erinnern, stehen umso besser, je mehr Sinne wir aktivieren.

Unser Sinnes-Repertoire

Sie kennen natürlich unsere fünf Sinne: Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken. Schon Aristoteles beschäftigte sich mit ihnen. Seitdem hat sich die Einteilung der Sinne allerdings etwas verändert; die Neurowissenschaften haben mittlerweile den Gleichgewichtssinn in den Kreis der Sinne aufgenommen. Damit wären wir bei sechs Sinnen. Auch Schmerz- und Temperaturwahrnehmung werden bereits öfter als einzelne Sinne gezählt – macht acht Sinne. Als weiterer und damit neunter Sinn wird der Bewegungssinn aufgeführt. Er wird in der Fachsprache klangvoll als Propriozeption bezeichnet und umfasst das Wissen des Körpers, welche Position unsere Körperteile gerade einnehmen. Dank der Propriozeption können wir mit geschlossenen Augen mit dem Finger auf unsere Nase tippen – zumindest, wenn wir nicht gerade auf einer feuchtfröhlichen Geburtstagsfeier waren.

Und es gibt einen weiteren heißen Anwärter auf offizielle Anerkennung, ebenfalls mit einem ausgefallenen Namen, den sogenannten viszeralen Sinn. Er beschreibt die Fähigkeit, Signale aus dem eigenen Körper, unsere «inneren Leiden», wie zum Beispiel Kopf- oder Bauchschmerzen, wahrzunehmen. Nun sind wir bereits bei zehn Sinnen gelandet. Wer da nicht langsam den Überblick verliert!

Im Zusammenhang mit dem Lernen orientieren wir uns ganz altmodisch an Aristoteles und unseren primären fünf Sinnen, die das bewusste Lernen unterstützen. Je bewusster unsere Wahrnehmung ist, desto mehr Einfluss können wir auf die Informationsverarbeitung unseres Gehirns nehmen. Dann spielt nicht mehr unser Gehirn die Rolle des «Beleuchters», sondern wir richten die Scheinwerfer auf das, was uns persönlich interessiert. Wir können jeden einzelnen unserer Sinne «heranzoomen», indem wir unsere Aufmerksamkeit speziell auf ihn lenken.

Um Ihrer Wahrnehmung neue Impulse zu geben und Ihren einzelnen Sinnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, können Sie ab und zu ein paar Aufwärmübungen absolvieren: Achten Sie darauf, ob Ihr Kühlschrank seltsame Geräusche macht, wenn Sie ihn öffnen. Vielleicht gibt Ihr Staubsauger lustige Töne von sich? Wie fühlt sich der Schaum beim Geschirrspülen auf Ihrer Haut an? Versuchen Sie, den Geschmack Ihres Abendessens genau wahrzunehmen und – zumindest in Gedanken – mit möglichst vielen Worten zu beschreiben. Betrachten Sie Ihr Bonsai-Bäumchen einmal ganz genau und entdecken Sie seine filigrane Blattstruktur. Ihrer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Sie werden sich wundern, was Ihr Gehirn alles entdeckt!

Unsere Sinne unterstützen uns, ich habe es bereits angedeutet, ganz unbewusst beim Lernen. Das geht schon im Mutterbauch mit dem Erkennen der Stimme von Mama los. Später lernen Kinder die Welt allmählich kennen, indem sie zunächst die Gegenstände um sich herum buchstäblich begreifen: Sie fassen sie an und stecken sie in den Mund, als ob sie erst so eine bessere Vorstellung von diesen Gegenständen bekommen. Manchmal kauen sie auch darauf herum – sehr zum Leidwesen vieler Eltern, wenn mal wieder eine Ladung Sand im Mund verschwindet. Dies ist aber eine wichtige Lernphase in der kindlichen Entwicklung, da sich sowohl in den Händen als auch in den Lippen sehr viele Tastrezeptoren befinden.

Seit unserer Kindheit haben wir vieles so oft gesehen, gespürt, gehört, dass wir es nicht mehr bewusst wahrnehmen. Ein Bagger oder ein Barbie-Traumschiff lösen heute – in der Regel – keine kindlichen Begeisterungsstürme mehr aus. Unsere damalige Begeisterungsfähigkeit und die Faszination neuer Erlebnisse sind etwas verblasst. Mit kleinen Tricks kann man sie allerdings wieder aufleben lassen und auch beim Lernen nutzen. Neugier ist der größte Antrieb des Menschen. Daher wird jede eintreffende Information in unserem Gehirn daraufhin überprüft, ob sie einen gewissen Neuigkeitswert besitzt, wir also etwas dazulernen können.

Warten auf Neuigkeiten

«Deine Wahrnehmung bestimmt deine Realität», sagt Qui-Gon Jinn zu Anakin Skywalker in Star Wars – Episode I. Doch wie entsteht sie? Wir halten es für selbstverständlich, dass wir jeden Morgen die Kaffeemaschine und unsere Liebsten erkennen, beim Frühstück miteinander Gespräche führen, abends ein leckeres Essen, die frisch zubereitete Zitronenlimonade mit Minze oder das Stachelbeer-Aroma im vollen Bouquet eines Weines erkennen und genießen können. Aber ohne unsere Sinne könnte das Gehirn dies alles gar nicht wahrnehmen. Es sitzt im dunklen Schädel und ist abhängig davon, dass ihm seine unzählbaren kleinen Spione, die Sinneszellen, immer das Neueste aus der Außenwelt (und unserer Innenwelt) berichten. Diese Informationen, die in Form elektrischer Impulse permanent unser Gehirn erreichen, bilden die Grundlage dafür, Situationen wahrnehmen und sie richtig einschätzen zu können.

Schauen Sie einmal kurz vom Buch auf – was nehmen Sie wahr? Was hören, sehen oder riechen Sie gerade? Vielleicht das Abendessen in der Küche? Hoffentlich keine angebrannten Kartoffeln oder einen Hunde-Pups. Just in diesem Moment sind Sie pro Sekunde mit unfassbar vielen Informationen konfrontiert. Kein Wunder, dass sich die Forschung nicht einig ist, ob wir jeden Moment 10000 oder 10 Millionen Eindrücke erfahren. Wie soll man sie auch zählen? Fest steht, dass um uns herum jede Menge passiert. Die meisten dieser Eindrücke werden, solange sie keine neuen Informationen enthalten, von unserem schlauen Gehirn nicht beachtet, aussortiert oder – von uns unbemerkt – weiterverarbeitet. Eine geniale Fähigkeit unseres Hirns: sich auf etwas Bestimmtes konzentrieren zu können, gleichzeitig aber von den vielen Eindrücken nicht überfordert zu werden und trotzdem ständig auf dem Laufenden zu sein. Es bringt unser gesamtes individuelles Know-how in jedem Augenblick auf den neuesten Stand. Das soll ihm mal jemand nachmachen!

Anhand dieser Daten entwickelt unser Gehirn in jedem Moment automatisch eine Vorstellung dessen, was passieren wird, also eine Erwartung, um sofort reagieren zu können. Aufmerksam wird unser Gehirn vor allem dann, wenn etwas seinen Erwartungen widerspricht, wenn also das Telefon plötzlich klingelt, der Ball einem Fußballspieler direkt am Elfmeterpunkt vor die Füße gespielt wird und er in Bruchteilen einer Sekunde entscheiden muss, wie er diesen Ball in der richtigen Ecke versenkt, oder wenn etwas auf eine Gefahr hindeutet – Stichwort angebrannte Kartoffeln. In all diesen Fällen wird ein Gefühl ausgelöst, das uns unbewusst oder bewusst zum Handeln bringt.

Wenn eine Erwartung übertroffen wird, also positiver ausfällt als gedacht, springt unser Belohnungssystem an. Im Bereich des Lernens heißt das, dass wir Glücksgefühle empfinden, wenn wir uns nur an eine Vokabel mehr erinnern, als wir uns im Vorfeld zugetraut hatten. Unser Gehirn ist somit der perfekte Motivator. Um glücklich zu sein, reicht es schon aus, ein klein wenig besser zu sein als erwartet. Achten Sie mal darauf. Belohnungen, die uns relativ sicher sind, lösen keine großen Freudensprünge aus. Und was passiert, wenn etwas schlechter ausgeht als erwartet? Beobachten Sie sich mal. Seien Sie also kreativ, was Belohnungen angeht!

Unsere Wirklichkeit ist ein Konstrukt

Jedes unserer Sinnesorgane nimmt auf seine ganz eigene Weise die Reize aus der Umwelt auf und unterzieht sie einer ersten Analyse. In speziellen Arealen des Gehirns findet daraufhin ein Abgleich mit bereits vorhandenen Daten statt, während die Informationen in unsere sensorischen Systeme zur Koordination weitergeleitet und ausgewertet werden. Geräusche werden also in einem anderen Bereich bearbeitet als visuelle Eindrücke wie Formen und Farben und die heiße Kaffeetasse in einem anderen Areal als der Geschmack des heißen Kirschblütentees. Mit «sensorisch» bezeichnet man übrigens alles, was mit der Aufnahme von Sinneseindrücken zu tun hat, nicht nur das, was man über den Tastsinn wahrnimmt.

Wie viele Vorgänge und Verarbeitungsschritte bei unserer Wahrnehmung unbewusst ablaufen, zeigt zum Beispiel die klassische Situation auf einer Party, in der Sie in ein Gespräch vertieft sind und die anderen Anwesenden und ihre Gespräche nicht beachten – bis in der Gruppe nebenan Ihr Name fällt. Zack! – ist Ihre Aufmerksamkeit da, und Sie hören plötzlich, was über Sie gesagt wird. Unser Gehirn lässt uns also nur das wahrnehmen, was es als interessant genug erachtet. Eigentlich ziemlich frech, uns Informationen vorzuenthalten. Andererseits wiederum sehr nett von ihm, wenn es uns die nervige Stimme auf der Party überhören lässt, bis sie unseren Namen sagt. Das Phänomen, dass unser Gehör aus einem Stimmengewirr genau die Stimme unseres Gegenübers herausfiltern kann, wird übrigens als Cocktailparty-Effekt bezeichnet.

Natürlich sind wir in der Lage, den Baulärm von nebenan, den Fahrstuhl im Treppenhaus oder das Türenschlagen unserer Nachbarn wahrzunehmen – aber eben nur, wenn wir bewusst hinhören. Wollen wir uns jedoch konzentrieren, zum Beispiel darauf, ein Buch zu lesen, werden störende Geräusche ausgeblendet, solange sie nicht zu laut sind oder plötzlich auftreten.

Die «Wirklichkeit», die wir erleben, ist also eine bereits interpretierte Konstruktion unseres Hirns dessen, was «wirklich» vorhanden ist. Sie ist nur ein individueller Ausschnitt der Welt, kein genaues Abbild der Realität, sondern eine aus unseren Sinneswahrnehmungen zusammengesetzte Vorstellung, die uns unser Gehirn auf individuelle Art und Weise präsentiert: Unsere Augen erfassen nur ein bestimmtes Lichtspektrum, Geräusche nehmen wir nur in bestimmten Frequenzbereichen wahr, und wir können auch nicht alles ertasten, riechen oder schmecken. Für viele physikalische Gegebenheiten auf dieser Erde haben wir keinen ausgeprägten Sinn. Wie verfügen weder über die Fähigkeit zur Echoortung wie Fledermäuse, die sich auch im Dunkeln zurechtfinden, noch können wir uns wie Vögel mit Hilfe des Erdmagnetfelds orientieren. Hunde erkennen jeden einzelnen Menschen allein an seinem Duft – wir zum Glück nur manche. Wahrscheinlich ganz gut so, sonst müsste unser Gehirn mit noch mehr Informationen umgehen.

Der Screen in unserem Kopf

Von vielem, was in unser Bewusstsein gelangt, haben wir ein Bild im Kopf, ohne dass wir dazu die Augen schließen müssen. Erinnern wir uns an einen Film, sehen wir ganz bestimmte Bilder, Szenen oder kurze Sequenzen vor unserem geistigen Auge. Auch wenn wir an eine Person denken, taucht sofort ein Bild von ihr in unserem Kopf auf, und sei es nur für einen sehr kurzen Moment. Lesen wir einen Roman oder Krimi, entstehen beim Lesen lebhafte Bilder und Geschichten vor unserem inneren Auge. Das ist im Übrigen der Grund, warum wir manchmal von der Verfilmung eines Buches enttäuscht sind und feststellen: «Die Person habe ich mir aber ganz anders vorgestellt.» Unser innerer Kinofilm passt nicht zu den realen Bildern – wieder wird deutlich, wie individuell jedes Gehirn arbeitet.

Wir verfügen also über eine Art bildliches Gedächtnis, ein bildliches Vorstellungsvermögen. Geschlossene Augen können die Deutlichkeit der Bilder sogar noch unterstützen. Das werden Sie kennen: Wollen wir uns auf etwas konzentrieren, schließen wir häufig unbewusst die Augen.

Auf jeden Fall besitzen wir eine Art Projektionsfläche im Kopf, auf der nicht nur Bilder, sondern auch Konzepte oder Gedanken entstehen. Lese ich ein Sachbuch, mache ich mir eigene Gedanken zu dem Gelesenen. Denke ich an Bruchrechnen, sehe ich sofort einen Bruch vor meinem inneren Auge, höre vielleicht das unbeschreibliche Geräusch des Bleistifts auf dem Papier, mit dem ich früher die Bruchrechnung in meinem Matheheft löste, oder fühle mich plötzlich unangenehm berührt, weil meine Mathelehrerin damals so wahnsinnig streng war. Entscheidend ist, dass da etwas ist, das wir bewusst nutzen können, um uns Argumente zurechtzulegen oder Erinnerungen wieder lebendig werden zu lassen, zu denen auch Gelerntes gehört.

Dieses Etwas ist der Ausgangspunkt für das Lernen mit allen Sinnen. Oft sind es nicht nur Bilder, Geräusche oder Gerüche, die hier entstehen, sondern auch Gefühle – und gerade die wollen wir bewusst zum Lernen nutzen. Da sie beim Lernen eine so große Rolle spielen, möchte ich Ihnen einen wichtigen Zeitgenossen in diesem Zusammenhang vorstellen.

Limbo steht für unsere Gefühle

Das ist Limbo, der kleine Gepard. Er symbolisiert das, worum es mir in diesem Buch geht: um das Ausschmücken des Lernstoffs mit außergewöhnlichen Bildern, Sinneseindrücken und Gefühlen mit Hilfe einer kurzen Geschichte oder das Finden kleiner Eselsbrücken. Dies können Anfangsbuchstaben oder Silben sein oder Eigenschaften, die Sie mit einer Person oder einem Gegenstand verbinden. Ja, Sie können sogar reimen, wie bei «753 – Rom schlüpft aus dem Ei», wenn Ihnen das besonders liegt. Nutzen Sie Ihre Phantasie!

Aber warum habe ich mir als Sinnbild ausgerechnet einen Geparden ausgesucht und ihn Limbo genannt? Ganz einfach, Gefühle und Gepard fangen mit der gleichen Silbe an – eine schöne Eselsbrücke.

Und warum habe ich ihn Limbo genannt? Vielleicht haben Sie schon mal etwas vom limbischen System, unserem «Gefühlszentrum», gehört. Um dieses System wird sich vieles im Buch drehen. Es ist nicht für die großen bewussten Gefühle, sondern vielmehr für die leisen, intuitiven Gefühle und Ahnungen zuständig. Auch deshalb passt der Gepard als Bild: Viele Menschen empfinden beim Anblick eines im Zoo umherschleichenden Gepards sicherlich einen Hauch von Angst, Respekt oder die Bewunderung für seine Grazie. Limbo wird Sie immer an Ihre Gefühle erinnern und daran, sie beim Lernen aktiv zu nutzen. Hoffe ich!

Die eigenen Assoziationen sind selbstverständlich immer die besten. Es führt nie nur ein Weg nach Rom. In diesem Buch müssen Sie allerdings zunächst mit meinen Bildern vorliebnehmen – oder sie blitzschnell durch eigene ersetzen.

Welche Rolle spielen nun unsere Gefühle, wenn es den Sinnen doch eigentlich schon gut gelingt, die «Wirklichkeit» für uns abzubilden?

Wo viel Gefühl ist, ist auch viel Erinnerung

Jeder Gedanke ist emotional gefärbt, denn Gefühle helfen unserem Gehirn, die vielen Sinneseindrücke und Erlebnisse zu beurteilen, sie einzuordnen und entsprechend auf sie zu reagieren. Gefühle stellen unsere Verbindung zur Welt und unserer unmittelbaren Umgebung her. Wir brauchen sie, um uns in dieser komplizierten Welt zurechtzufinden.

Was einen berührt, muss gar nicht unbedingt riesengroße Gefühle auslösen. Eine Geschichte oder ein Bild kann einfach «süß» oder witzig sein. Wenn mir die fast 90-jährige Tante meines besten Freundes Oliver erzählt, dass er ihr Krapfen mitgebracht hat, vergesse ich das vielleicht sehr schnell. Wenn sie aber mit einem verschmitzten Lächeln ausführt: «Oliver hat einen Krapfen gegessen, und die anderen zwei habe ich verputzt!», bleibt es in meiner Erinnerung, weil ich diese Vorstellung so reizend finde. Ein Gefühl, das uns beim Erinnern hilft, muss also gar nicht sonderlich intensiv sein.

Im Alltag achten wir häufig weder auf unsere eigenen noch auf die Gefühle anderer. Das fiel mir im Rahmen meiner Schauspielausbildung auf, als wir bei einer wichtigen Übung das Verhalten unseres Gegenübers benennen sollten: «Du lachst!», «Du bist verlegen!», «Du bist aufgeregt!» oder «Du bist traurig!». Das hört sich einfacher an, als es ist. Denn es ist leicht zu merken, dass irgendetwas in dem anderen vorgeht, es aber exakt zu benennen, ist schon weitaus schwieriger. Mir ist dabei aufgefallen, wie selten ich tatsächlich ganz bewusst auf Gefühle anderer achte. Nach der Übung dafür umso mehr, was nicht nur für die Schauspielerei Vorteile hat.

Gefühle entscheiden also, was für uns wichtig ist, an welche Ereignisse wir uns erinnern, und kreieren durch ihre Färbung auch unser autobiographisches Gedächtnis, das einer ständigen Anpassung unterliegt. Nicht nur, weil wir älter werden und neue Erfahrungen hinzukommen, sondern auch, weil wir die mitunter vergangenen Erlebnisse anders einschätzen, bewerten und einordnen. So verändern sich unsere Erinnerungen jedes Mal ein wenig, wenn wir sie erneut abrufen oder jemandem erzählen. Sie kennen das vielleicht: Manche Geschichten werden beim wiederholten Erzählen immer noch ein wenig mehr – nennen wir es: ausgeschmückt –, weil wir unsere Freunde mit einer möglichst legendären Darbietung unterhalten möchten. Gefühle spielen dabei eine entscheidende Rolle, weil durch sie Dramatik, Spannung und Witz hervorgerufen werden können.

Unsere Erinnerungen ändern sich natürlich nicht nur, um bewusst den Entertainment-Faktor zu erhöhen. Beim Erinnern gesellen sich zu den «alten» Gefühlen, die wir mit dem Ereignis verbinden, aktuelle Erfahrungen und die momentane Stimmung hinzu. Bestehende Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle werden immer wieder aktualisiert – Gott sei Dank, sonst würde der Ärger über eine vor allen Kollegen in den Sand gesetzte Präsentation nie aufhören!

Unser episodisches Gedächtnis und unsere Erinnerungen setzen sich nicht nur aus bildlichen, sondern auch aus akustischen, haptischen, gustatorischen und olfaktorischen Elementen zusammen. Aus diesen einzelnen Puzzlesteinchen konstruiert unser Gehirn Erinnerungen an Bilder, Geräusche, Gefühle oder Gefühltes, an Geschmack oder Geruch. Daraus können sogar komplett neue Erinnerungen entstehen. Falls mal etwas fehlt, baut unser Gehirn einfach andere Elemente ein, damit die Logik der Geschichte stimmt. Das ist kein bewusster Prozess: Für uns wirkt es trotzdem wie die Erinnerung an eine konkrete Begebenheit. Kindheitserinnerungen lassen sich zum Beispiel sehr leicht manipulieren, wie Studien gezeigt haben. So konnten sich Probanden an eine Ballonfahrt mit ihrem Vater erinnern, wenn sie ein Foto davon sahen. Dieses Bild war jedoch bearbeitet und die Personen nur hineinmontiert. Die Ballonfahrt hatte also nie stattgefunden![1]

Wir sehen, dass wir unserem Gedächtnis nicht immer vertrauen können, weil es von vielen Faktoren beeinflusst wird. Das alles geschieht aber nur zu unserem Besten. Erinnerungen werden auf den neuesten Stand gebracht, um uns in Zukunft nützlich zu sein, sodass wir in der Lage sind, angemessen zu reagieren. Ab und zu bleibt auch mal Unnützes hängen.

Produktionschaos – Warum irren manchmal Vorteile hat

Manchmal erinnern wir uns an seltsame Sachen, die für unser Leben und «unser Bestes» auf den ersten Blick keine große Rolle zu spielen scheinen. Kennen Sie das? Sie hören oder lesen am Morgen etwas völlig Unsinniges, lachen oder ärgern sich darüber. Dieser Blödsinn geht Ihnen den ganzen Tag partout nicht mehr aus dem Kopf – worüber Sie sich aufregen, weil Sie deshalb unkonzentriert sind. Oder, ein anderes Beispiel: Sie haben sich mal wieder ein Detail gemerkt, das total irrelevant für Sie ist, Sie aber trotzdem beschäftigt. Bei mir ist vor Jahren aus unerfindlichen Gründen die Info hängen geblieben, dass der Verzehr von Avocados für Papageien tödlich enden kann. Weshalb hab ich mir das gemerkt? Und vor allem: Warum geht es mir nicht mehr aus dem Kopf? Ich esse weder besonders viele Avocados noch habe ich einen Papagei oder habe vor, mir einen zuzulegen – obwohl, wer weiß?

Vielleicht habe ich diese Info am selben Tag auch nur mehreren Freunden weitererzählt, weil ich sie so skurril fand. Oder ist da etwas in meinem Hirn schiefgelaufen?

Sosehr sich unser Gehirn auch anstrengt, alles in den Griff zu bekommen, «tickt» es manchmal nicht ganz richtig und ihm unterlaufen Fehler bei der Bewertung, Kategorisierung und Zuordnung unserer Sinneswahrnehmungen und Gefühle. Die Folge: Wir versprechen uns, machen eine falsche Bewegung, lassen uns von unseren Gefühlen überrumpeln, handeln vorschnell, schreien jemanden an, der gar nicht für unsere Verärgerung verantwortlich ist, oder vergessen unseren Haustürschlüssel. Sie haben sicherlich sofort eine Reihe eigener Beispiele parat. Doch trotz dieser «Fehler» ist unser Gehirn selbst Hochleistungsrechnern weit überlegen. Gerade dieses Unvollkommene ist das Tolle an unserem Gehirn, denn durch solche «Fehlleitungen» bilden sich neue Verknüpfungen zwischen Gehirnzellen, die, wenn es gut läuft, zu neuen Ideen führen. Kreativität entsteht durch das Verlassen der üblichen Trampelpfade. Computer können, zumindest bisher, nur das tun, was programmiert wurde, und haben daher auch keine neuen Einfälle. Zum Glück. Man stelle sich vor, der eigene Laptop käme morgens auf die Idee, einen Ausflug in die Berge zu machen …

Wir können also froh sein, dass unser Gehirn sich von Gefühlen leiten lässt, es nicht perfekt ist und sich dafür umso besser an neue Situationen anpassen kann. Wir verfügen über Sinne, die sich wunderbar ergänzen und gegenseitig unterstützen. Es ist fabelhaft, dass wir in der Lage sind, Gefühle bewusst wahrzunehmen, die uns bei der Bewertung unserer Umwelt helfen und uns so in dieser komplizierten Welt den Weg weisen. Zumindest so gut wie eben möglich.

Das Gehirn ist der Produktionsort, an dem unsere individuelle Repräsentation der Welt entsteht, und zeitgleich der Schneideraum unseres ureigenen privaten 3-D-Breitwandfilms: Hier werden unsere Wahrnehmungen zusammengeführt, und das, was wir sehen, mit einer synchronen Ton-, Geruchs-, Geschmacks-, Tast- oder Gefühlsspur unterlegt sowie mit Emotionen verknüpft. Mit den einzelnen Sinnen und unseren Erinnerungen werden wir uns später noch intensiver beschäftigen.

Lassen Sie uns zunächst kurz Ihre Erinnerungsfähigkeit testen. Denn sie ist die Basis fürs Lernen – und darum soll es ja letztlich in diesem Buch gehen.

Susanne und der Wind – Ein Test

Lesen Sie bitte den folgenden Text und versuchen Sie, sich möglichst viele Details der Geschichte einzuprägen: