Werke, Band 4: Eine Übertragung - Wolfgang Hilbig - E-Book

Werke, Band 4: Eine Übertragung E-Book

Wolfgang Hilbig

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Beschreibung

Wolfgang Hilbigs erster Roman, erschienen im Herbst 1989, erzählt die Geschichte des Heizers C., der in der DDR die Existenz eines einfachen Arbeiters führt. Heimlich aber geht er der »Schwarzarbeit des Schreibens« nach, was die Stasi auf ihn aufmerksam macht. Entlassen aus der Untersuchungshaft, in die er wegen angeblicher Brandstiftung gerrät, flieht C. nach Berlin, wo er seine Erinnerungen ordnen und niederschreiben will. Bei dieser Arbeit verliert er endgültig den Boden unter seinen Füßen. Ist er einem Mordfall auf der Spur? Ist er selbst an einem Mord beteiligt gewesen? Erstmals veröffentlicht wird in diesem Band der Werkausgabe eine bisher nur handschriftlich vorliegende Erzählung, die den Anfang und Kern des späteren Romans bildet. Ein umfangreiches Nachwort von Jan Faktor ergänzt den Band. »Ein großartiger Roman … ein artistisches wie intellektuelles Vergnügen allerersten Ranges« Fritz J. Raddatz, Die Zeit

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Wolfgang Hilbig

Werke

Band 4: Eine ÜbertragungRoman

Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel

Fischer e-books

Mit einem Nachwort von Jan Faktor

Eine Übertragung

Als ich geboren wurde, sagte ein scheeler Engel,

einer von denen, die im Dunkeln hausen,

zu mir: Los, Carlos, sei linkisch im Leben!

 

C. de Andrade

Sich der Angst bedienen, nicht um die Abwesenheit zu einem Mysterium zu machen, sondern das Mysterium zur Abwesenheit.

 

E. M. Cioran

1

Die tödlichen Belanglosigkeiten, die mich in den letzten beiden Jahren, und vielleicht schon vorher, in Anspruch genommen haben, konnten mir – wie es zu erwarten gewesen wäre – den Verstand keineswegs so weitgehend einschläfern, daß eine normalerweise kaum auffindbare Notiz in der »B.er Zeitung« meine Aufmerksamkeit nicht sofort erregt hätte: indes hat sie mich zu rigoroser Rückschau angetrieben. Nachdem meine anfängliche Beunruhigung beigelegt war, haben sich die Versuche zu dieser Rückschau neu motiviert, ich gedachte meine Erinnerungen zu bündeln – freilich ist es mir gescheitert, aus der Rückschau ist ein Rückweg geworden, für den die Zeitungsnotiz letztlich ausschlaggebend war.

Die Rückschau fand meine Belanglosigkeiten auf, und sie blieb darin stecken; schier erstickte ich in einem Schwelbrand wiederauflebender Kleinlichkeiten: zum Beispiel schienen, aus einem Haufen von Unrat, eine Anzahl unangezündeter Streichhölzer ans Licht befördert worden zu sein, die infolge von Feuchtigkeit unbrauchbar waren; sie waren Randerscheinungen eines Löscheinsatzes verbaler Natur, welcher mehr einem falschen Alarm als wirklicher Gefahr zuzuschreiben war – der Unrat selbst wurde allerdings nicht abgetragen. – Nicht umsonst sprach ich von tödlichen Belanglosigkeiten: ich mußte feststellen, daß die auf diesen Einsatz folgenden Jahre beinahe vollständig aus meiner Erinnerung geschwunden waren … oder vielmehr darin versunken, untergegangen in einer Schlammflut, die ich acherontisch nannte. Rauch und üble Gerüche lagern weiterhin über Böden, die ich nicht mehr durchstoßen kann.

An der Oberfläche aber schwammen, wie dürftiges Treibgut im Brackwasser, Namen und Wörter – Wörter zum Beispiel, aus dem praktischen Gebrauch technischer Dinge abgeleitet, über die ich mir nicht viele Gedanken machen mußte, doch es gingen für mich die Wellenkreise von Assoziationen von ihnen aus, und wo sie sich schnitten, entstand für mich ein Interesse, das zuweilen funkelte, manchmal jedoch mit Ängsten korrespondierte, an die ich nicht mehr geglaubt hatte. Die Namen aber, die ich auf diese Weise – auf oft schwer erklärliche Weise – aus dem Trüben fischte, sollten mir zu den Namen meiner Geschichte werden, auf die ihre Haupfigur sich beziehen könne: die Namen spielten nicht mit, und vielleicht deshalb, weil die Hauptfigur ihre Rolle letztlich nicht zu spielen vermochte …

Um zu der Sache zu kommen, die mich beunruhigte: die Zeitungsnotiz, die in ihrer Dürftigkeit nichts zu wünschen übrigließ, verkündete sinngemäß, es seien die Nachforschungen nach der vor längerer Zeit als vermißt gemeldeten, ledigen Postzustellerin K. L. erfolgreich verlaufen. Die Ursache ihres zeitweiligen Verschwindens werde noch geklärt. Der Bevölkerung werde für sachdienliche Hinweise der Dank der Behörden ausgesprochen.

Nun war es geschehen, daß mich die lapidaren Zeilen nicht unmittelbar, also nicht schon im Augenblick der Lektüre erschreckten, der erwähnte Schmelz, in welchem meine Nerven schlummerten, verhinderte, daß der Wortlaut der Meldung sofort auf empfindlichere Inhalte meines Gehirns traf. Dennoch mußte er gleich einen Sinnzusammenhang in mir berührt haben: erst am nächsten Tag hielt ich es für auffällig, daß ich mit einer gleichsam affenartigen Geschwindigkeit die gesamte Zeitung zerknüllt und in der Heizung verbrannt hatte. Zu meinem Unglück stellte ich nun fest, daß ich nicht mehr wußte, ob in der Notiz wirklich nur die Initialen des Namens jener wiederaufgefundenen Vermißten angegeben waren. Für diesen Fall bezweifelte ich die Sinnhaftigkeit einer solchen Information … wenn der Zweck der Übung nicht der war, daß weiterhin eine Fülle von sachdienlichen Hinweisen einkam; ich traute ihnen das Denkmanöver zu, das damit rechnete, daß sich Anfangsbuchstaben nicht so leicht merken lassen wie ein vollständiger Name und daß sich dadurch bestimmte Personenkreise wie zufällig erweitern ließen. Außerdem wußte ich nicht mehr, ob sich mir die Initialen sogleich zu einem vollständigen Namen gefügt hatten – es war ein Name, der mir seit längerem nur noch unangenehme Empfindungen verursachte –, dunkel glaubte ich mich zu erinnern, daß die Person als ledige Postzustellerin bezeichnet worden war, so daß mir die blitzartige Assoziation zu einer Heirats- oder Bekanntschaftsannonce einfiel. – Aber natürlich konnte ich mich in vielen Dingen auch täuschen.

Ohne mich täuschen zu können, wußte ich nicht einmal zu sagen, an welchem Kiosk ich die Zeitung gekauft hatte, ja, ich war derart verwirrt, daß mir entfallen war, ob ich überhaupt mit dem Besorgen der Zeitung an der Reihe gewesen war: der Schichtzyklus, dem ich mich in der Dampfversorgung der Wäscherei eingliederte, hatte sich noch nicht von dem Durcheinander erholt, in das er durch eine langanhaltende und wetterbedingte Urlaubssaison geraten war; es war die Frühschicht, die die Zeitung zu kaufen hatte, und ich hielt das betreffende Blatt am Ende einer Frühschichtwoche in der Hand, doch während dieser Woche hatte ich zweimal in eine andere Schicht überwechseln müssen. – Ich grübelte bis in die Nacht hinein, am nächsten Tag grübelte ich weiter, und am Abend ärgerte ich mich anhaltend darüber, daß ich erneut zu lange gewartet hatte, nämlich so lange, bis die Zeitungsstände geschlossen waren. Nach einer Zeitung zu fragen, die schon zwei oder drei Tage alt war – und womöglich durch Zufall dort, wo ich sie schon einmal gekauft hatte –, hieß vielleicht, mich so auffällig zu verhalten, daß die Zeitungsverkäuferin, immerhin ebenfalls eine Postangestellte, einen sachdienlichen Hinweis in meine Richtung womöglich nicht würde unterdrücken können. Ich ging, um die Auslagen hinter dem Glas von zwei oder drei jener Buden des Postzeitungsvertriebs zu inspizieren – dabei entdeckte ich übrigens, daß die Herbstnummer einer Literaturzeitschrift, nach der ich periodisch auf der Suche war, nun mit gebührender Verspätung erschienen war –, in der Finsternis, die von den Straßenfunzeln nur noch verdichtet zu werden schien, fand ich das Blatt natürlich nicht mehr. Bekanntlich ist der Stil der »B.er Zeitung« so abartig schlecht, daß sich die Leute darum reißen und ihr täglicher Ausverkauf gesichert ist. Ich hatte also Pech … gleichzeitig aber Glück, daß niemand mich beim Umstreichen der Zeitungsstände beobachtete, mein scheinbar zielloses Umhergehen hätte als eine Form abwartender Haltung mißdeutet werden können … ich wirkte vielleicht wie jemand, der nach dem vergessenen Treffpunkt für ein Rendezvous auf der Suche ist. Ich wußte selbst nicht, ob es so war; wenn ich es ein Glück nannte, daß niemand außer mir die andauernde Fluchtbewegung zu bemerken schien, in der ich mich seit der Vernichtung des fraglichen Zeitungsexemplares sah, mußte ich allerdings bezweifeln, daß mir der Sinn nach vielen menschlichen Begegnungen stand. Auch die einzige nahe gelegene Kneipe, in der ich das Blatt eventuell noch finden konnte, war mir seit einiger Zeit nicht mehr zugänglich; nicht nur dem Mann am Büfett, zu dem mir ein gutes Einvernehmen aus länger zurückliegenden Gründen sowieso fehlte, war ich dort so unangenehm aufgefallen, daß ich nicht einmal den Versuch machte, eine daselbst möglicherweise noch offene Rechnung zu bezahlen. – Jedenfalls mußte ich mit Vermutungen auskommen: ein Verschnitt von Sätzen, den ich nicht mehr schwarz auf weiß hatte, blieb nur diffus zitierbar – und war deshalb nicht sezierbar. Die Annonce hatte nicht durchblicken lassen, ob mit dem Dasein der Frau, deren Name die Anfangsbuchstaben K. L. aufwies, in Zukunft etwa zu rechnen war oder nicht. Mit dieser Unsicherheit betrat ich eine andere Kneipe, in der, aus penetranter Ordnungsliebe, nur die neuesten Zeitungen am Kleiderständer hingen.

Das zeitweilige Verschwinden meiner Erinnerung hatte die nebensächliche Folge, daß eine weibliche Person, die mir nur dem Namen nach bekannt war – ein womöglich seltsam doppelgesichtiges Wesen –, mir zu verschiedenen Zeiten jeweils verschiedene Empfindungen einflößte: einmal war es eine eigenartige Rührung, die ich der Trauer über den Verlust einer möglichen Neigung zuschrieb … oder vielmehr einer unmöglichen Neigung, da sie mir wahrscheinlich nie gegolten hätte – eine Empfindung also, die ungescheut als völlig sentimental bezeichnet werden kann. Ein andermal war es Wut, die ich der Enttäuschung darüber verdankte, daß sie mir den Verlust ihrer selbst auf eine Weise vorenthielt, in der er nicht mehr zum Thema einer meiner Geschichten werden konnte – eine noch weit mehr sentimentale Empfindung also, da sie die erstere mit einbezog. Geübt im Nachvollzug von Paradoxien, war ich beim melancholischen Nachsinnen über diese unterschiedlichen Gefühle oft genug an einem Punkt, an dem ich mich zu der Überzeugung entschlossen hatte, daß die Postzustellerin nicht mehr unter den Lebenden weilen dürfe. Nur war ich viel zu spät auf diese Schlußfolgerung gekommen. Es war ein Schluß, der mich verfolgte, seit ich begonnen hatte, auf ein Zeichen für ihr Dasein zu warten … dies hatte begonnen, lange Zeit, bevor ich die Annonce las. Meine Konzentration auf dieses Warten … und nicht nur auf dieses Warten: ich hatte den Verdacht, mich schon sehr lange auf nichts sonst als lediglich abwartende Haltungen konzentrieren zu können … versetzte mich natürlich in eine Lage, in der ich die Annonce augenblicklich für ein Zeichen halten mußte.

Auf der Suche nach einer Geschichte, in der ich in der Hauptrolle als das Abbild einer phantastischen Figur zu fungieren mir vornahm – genauer gesagt, als ein Schriftsteller, der in seiner Eigenschaft als Schriftsteller unter den Lebenden weilte und über diese Seite der Realität nachdachte – und außerdem in Kenntnis eines bestimmten merkwürdigen Datums, war ich umhergegangen, wie ein unversehens auf die tätige Seite zurückversetzter Toter, und dort hatte ich nach der Konzeption für meine Geschichte gesucht. Den Bock der Konzeptionslosigkeit zum Gärtner der Konzeption zu machen war mir bald als die einzig noch denkbare Möglichkeit erschienen. Dies hatte mich darauf gebracht – übrigens ohne einen naheliegenden Gedanken darin zu erkennen –, über den berühmten Mord ohne Motiv nachzudenken, eine Geschichte, die es wahrscheinlich in einigen gescheiterten Ausführungen schon gibt: gescheitert sind sie deshalb, weil ihnen das fehlende Motiv nachgeliefert wurde. Die Erwägung der Möglichkeit, eine Tat ohne Motiv geschehen zu lassen, scheint als Motiv nicht anerkannt zu sein, aus diesem Grund greifen Schriftsteller zur Waffe, die sie im Federverzeichnis wissen.

Aus verschiedenen Gründen fühlte ich mich von einer bestimmten Zeit meines Lebens an gedrängt, mich auch in der Realität als ein Schriftsteller zu erweisen: der Grund dafür waren gewisse marginale Erwähnungen meines Namens im Zusammenhang mit der Existenz irgendwelcher schriftstellerischer Praxis, Erwähnungen, von denen ich über Umwege Kunde erhalten zu haben schien, obwohl ich weder Zeit noch Ort der Äußerungen kannte. Vielleicht ahnte ich diese Erwähnungen mehr, als ich sie wußte, und wenn ich darüber nachsann, so hätten sie jenseits von Grenzen verlautet sein müssen, die ideelle oder auch materielle Grenzen sein konnten. Ich machte mir von ihrer Beschaffenheit kein Bild, eher glaubte ich, meine Person selbst sei ihr Urheber gewesen: ich selbst also habe erwähnt, daß ich als Schriftsteller erwähnt worden sei. Dies forderte mich zur Bestätigung, zu einer Geschichte heraus … also zu einer Geschichte, zu der es eigentlich kein Motiv gab. Und darüber konnte nur ein wahrhaft ungeheuerliches Motiv hinwegtäuschen. Ein solches war der Mord ohne Motiv, und ich ging umher und war damit beschäftigt, alle Motive, die ich hätte haben können, in die Flucht zu schlagen.

Da für den Erzähler meiner Geschichte der Mord an einer männlichen Figur nicht in Betracht kam – wahrscheinlich hätten sich zu viele der männlichen Personen, die zu meinem Umgang gehörten oder gehört hatten, in einem stellvertretenden Opfer wiederzuerkennen geglaubt – und weil mir überdies das weibliche Opfer meiner Geschichte förmlich ohne mein Zutun serviert worden war, fügte ich mich ohne weiteres der Idee des Zufalls und machte sie zu meiner eigenen: der Name einer Frau, der mir aus dem Unergründlichen eine annähernde Vorstellung ihres Aussehens ermöglichte, lieferte mir die Zielscheibe für meinen Protagonisten. Die Veranschaulichung des praktischen Ablaufs der Geschichte, die mir anfangs nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitete, hatte freilich zur Folge, daß ich mich fragte, welches Maß an Bosheit in mir verborgen sein müsse, von dem ich zuvor nichts geahnt hatte. Augenblicklich erkannte ich, daß ich mit dieser Frage nach einem Motiv für den Mord suchte … und keineswegs nach seiner Unmotiviertheit. Der Reihe nach stellten sich mir alle Nicht-Motive, die mir durch den Kopf gingen, als Motive heraus; einige davon mit solcher Eindringlichkeit, daß ich ihrer Überzeugungskraft nicht mehr entgehen zu können fürchtete – woraufhin ich mich nicht mehr unter die Menschen wagte. Wenn ich mir vorstellte, wie ich nächtens eine Frau dazu brachte, mich an einen abgelegenen Ort, etwa in eine leerstehende Wohnung, zu begleiten, mit der Absicht, dort mit ihr einen Koitus zu praktizieren, so erschrak ich vor dem Gedanken, es müsse mir Augenblicke vor dem Ziel schlagartig die ganze Unwirklichkeit der Situation bewußt werden, mit einem Mal werde ich gezwungen sein, das wahre Wesen der Szene zu durchschauen, und ich werde gar nicht umhinkönnen, das Schicksal der Konstellation zu erfüllen … aus bloßem Grauen schon werde ich der Vorstellung den blutigen Punkt auf das »i« setzen.

In einer der Elendshöhlen des Massivs Berlin ereignete sich die Übeltat, an die ich dachte. Der Held und sein Opfer begegneten sich zu einer ausgemachten Stunde in der stickigen Luft einiger lichtloser Räume, die, von den Verwaltungen mangels Mitteln aufgegeben und im Zustand des Verkommens belassen, kaum noch als frühere menschliche Quartiere zu erkennen waren und in denen sich, wie der Verfasser wissen wollte, das Gesindel zu treffen pflegte. Die Finsternis aufgewirbelten Staubs senkte sich über das unheimliche Geschehen, in dem rasche Bewegungen wie in plötzlicher Lähmung stockten, dann unvermittelt wieder auffuhren, Erklärungen aus den Mündern beider in verhaltenem, aber gehetztem Ton wechselten, so daß sich sofort zeigte, wie die Worte zu keinem Verständnis dienen konnten, da sie auf beiden Seiten von denkbar verschiedenen Voraussetzungen ausgingen, von zwei verschiedenen Leben aus, die einander niemals berührt hatten. – Das Motiv für ein solches Zusammentreffen, so erklärte die männliche Figur, sei ihm stets so dringend abverlangt worden … genauer, die Definition des Motivs bündig zu nennen, sei ihm stets so dringend abverlangt worden … wodurch er immer die Ahnung gehabt hatte, es sei in ihm etwas Ungeheuerliches verborgen … etwas Ungeheuerliches, das er immer versucht habe zu verkleinern. Doch gerade dadurch sei der Argwohn, mit dem er sich betrachtet gesehen habe, nur weiter gewachsen. Längst habe er selbst geglaubt, das monströse Motiv in sich nicht mehr überblicken zu können … und er habe inmitten der unüberblickbaren Motivationen in sich ein reißendes Tier vermutet, das er natürlich vor dem Auge der Welt habe verbergen müssen. Andernfalls werde er einmal als die Verkörperung dieses Motivs vor dem Auge der Welt stehen … vor dem Auge der Welt stehen müssen in Form eines ungeheuerlichen Motivs. Und damit werde er das Motiv tatsächlich sein, ohne eine andere Möglichkeit, als …

– Ja, ich weiß, sagte die weibliche Figur mit deutlicher Angst in der Stimme. Sie habe es immer gewußt und sei deshalb unablässig vor ihm auf der Flucht gewesen. Er müsse sich nicht verstellen, sie erkenne ihn genau wieder. Zum letzten Mal habe sie den Fehler gemacht, ihm über den Weg zu laufen … aber bald werde sie so weit fort sein, daß es nicht mehr passieren könne. Es gebe Grenzen, hinter denen sie vor ihm sicher sei! – Aber ich bin doch gekommen, um dich zu schützen! rief er; trotz der Dunkelheit spürte er, wie seine Reden ihre Furcht nur noch verstärkten. Als sie das Haus zu verlassen suchte, war es zu den fast unvermeidlichen Handgemeinheiten gekommen, die um so widerlicher waren, je weniger sie seinen Vorsätzen entsprachen, und wie durch höhere Gewalt auf die böse Art endeten, von welcher der Verfasser danach nicht mehr zu sprechen vermochte. Ehe er sich selbst Einhalt gebieten konnte, handelte er … er schien nur zu handeln, um den Ort endlich in Ruhe verlassen zu können. Danach war es ihm, als sei er von einer schweren Pein befreit.

Kein Zweifel, daß er später gezwungen war, sich der Motive seiner Tat zu entledigen. – Daß späterhin niemand mehr den Namen der Frau, an die ich dachte, kennen wollte, beruhigte mich nicht etwa, es erschien mir geradezu wie eine Verschwörung gegen mich. Dabei hätte ich mir sagen sollen, daß nur einer von allen, denen der Name im Gedächtnis war, mir noch gefährlich werden konnte: diese eine Person war ich selbst. Doch ich hatte kein Vertrauen, nicht in meine Erinnerungen, noch in meine Wahrnehmungen, denn mir war etwas Gespenstiges geschehen: ich hatte vom Tod dieser Frau früher schon einmal erfahren, und dennoch war ich davon überzeugt, daß sie mir später wieder über den Weg gelaufen war. Selbstverständlich konnte es sein, daß ich schlicht und einfach zwei verschiedene Frauen miteinander verwechselte, genauer, in zwei verschiedenen Frauen ein und dieselbe zu erkennen glaubte … immerhin hatte es Zeiten gegeben, in denen ich mich mehr als genug mit jenen womöglich der Literatur zuzurechnenden Schriften beschäftigt hatte … als Leser wie auch als Verfasser … in denen die bloße Aufführung einer Tatsache, die auch sonst möglich war, mit den irrwitzigsten Konstruktionen begründet wurde. So etwa war die Vorstellung seltsam genug, die ich mir machte, wenn ich der Meinung war, daß mir zwei verschiedene Frauen durchs Hirn spukten. Es war eine Verrücktheit: ich sah die eine der beiden Frauen im Körper der anderen, darin sie ohne Schwierigkeiten Platz hatte. Wenn ich mir den Unsinn aus dem Kopf schlug, blieb nur noch die eine der beiden übrig … doch war die zweite nicht etwa verschwunden, sondern nur, so meine Phantasie, ohne Rest in dem Körper, der sie umschloß, aufgegangen. Es hatte nichts damit zu tun, daß ich dabei an Mutter und Tochter dachte, nein, beide waren ungefähr gleichen Alters, vielmehr schien ich die eine unbedingt auch in der anderen sehen zu wollen. Manchmal war es auch so, daß ich ein Zimmer sah – ein mir unbekanntes Zimmer – und darin eine Frau, dabei aber wünschte, es möge anstelle ihrer die andere Frau in diesem Zimmer sein. Ich erwachte aus meiner Träumerei, sah, daß ich völlig allein im Zimmer war, lief zum Fenster und blickte hinaus, in eine sehr grüne, mir unbekannte Straße … ich kam mir verlassen vor – wenn ich den dummen Gedanken auch nicht wörtlich dachte –, alleingelassen, und wußte, daß ich selbst schuld war, da ich, wenn ich schon mit der Neigung einer Frau rechnen durfte, immer weiter auf der Suche nach dem Phantom einer Frau war … ich war erwacht, wie gewöhnlich am späten Vormittag, mit der vagen Annahme, die Gebüsche vom Fenster aus, ein paar hundert Meter weiter zwischen den Häusern gegenüber, in weißer Blüte stehen zu sehen … es war nicht so, ich fühlte mich von meinen Wahrnehmungen verlassen … es waren Belanglosigkeiten, wie sie, bei einiger Einbildungskraft, wahrscheinlich jeder an sich erleben kann. Es ist möglich, daß man in bestimmten Fällen wünscht, jemand, dem man in Sympathie verbunden ist, trüge einfach einen anderen Namen, und es ist dies nicht zwangsläufig ein Beweis dafür, daß man einen Menschen gegen einen anderen auswechseln will; Juristen mögen stolz sein, wenn sie einen solchen Umstand in eine Beweiskette einreihen können, zum Glück aber ist das Leben ein wenig mehr als ein Ermittlungsverfahren. Oft sind es Banalitäten, ausgesprochene Bedeutungslosigkeiten, die als Auslöser hartnäckiger emotionaler Prozesse fungieren: das Rätsel, das gewissen Zuneigungen oder Abneigungen zugrunde liegt, scheint sich zu verdoppeln, wenn die Erklärungsversuche im Belanglosen versiegen; damit ist um so mehr garantiert, daß es den Betroffenen nicht losläßt.

Ich erging mich in Selbstgesprächen … für Minuten unterbrochen durch die Kurznachrichten, die im Radio der Kneipe gesprochen wurden und die unter dem Datum des 3. November standen; deren Wortlaut wiederum wurde unterbrochen – ich hatte soeben daran gedacht, daß es noch fünf Tage bis zur Restzahlung im Betrieb dauern würde – durch das Verlangen der Kellnerin, meine Rechnung zu begleichen: endlich, dies war das Wort, das nicht ganz zu ihrer sonst höflichen Rede paßte, das ich aber auch selbst im Kopf gehabt haben konnte … freilich müßte ein Mensch, der sich so verfolgt fühlt wie diese Frau, einfach um den Beistand der Freunde und Helfer nachsuchen wollen, die, ob leuchtend uniformiert oder in ziviler Tarnfarbe, für jeden sichtbar die Trottoirs flankieren. Aber auf diese Idee konnte nur ich kommen, der ich die Macht der Exekutive fürchtete und deshalb ein fast übermenschliches Vertrauen ihrer Entscheidungssicherheit gegenüber hegte, die meiner Meinung nach zwischen den Polaritäten Wahrheit und Unwahrheit, also zwischen Gut und Böse, unbeirrbar zu sondieren vermochte. Dabei muß man doch nur einmal ein Polizeirevier betreten, mit der Erklärung, daß man sich für bedroht halte, wenn man augenblicklich einer versuchten Staatsverleumdung bezichtigt werden will … es war eine Erfahrung, die ich noch nicht gesucht hatte. Noch schwieriger wird es, wenn man aufgrund der Bedrohung, der man sich ausgesetzt sieht, die Absicht hat, irgendwann eine territoriale Grenze zu überschreiten, hinter der man verschwunden ist. Allzu häufiger Umgang mit den Behörden könnte der Verwirklichung einer solchen Absicht bekanntlich hinderlich sein.

Meine Selbstgespräche hatten mir keine substantiellen Erinnerungen heraufgeführt, solche aber hätte ich sehr wohl nötig gehabt, um mir sagen zu können, daß ich mich mit der Angelegenheit nicht mehr weiter befassen müsse. Eigentlich war ich schon an dem Punkt, an dem ich nicht mehr darüber nachdenken wollte … doch dies hätte bedeutet, daß ich die Geschichte, die mir auf den Fragmenten von Ideen – oder auch Nicht-Ideen – hatte entstehen sollen, als gescheitert anerkennen mußte.

Mit aufgeriebenen Nerven verließ ich die Kneipe, aber in meinen vier Wänden brütete ich weiter … dort hatte ich, eigens zum Zweck der Versenkung in meine Gedanken, zwei verschiedene Plätze parat: wenn ich mich zu einer Art Klausur anschickte, saß ich im allerfinstersten Winkel der Küche, wobei sich das bleiche Inkarnat meines Denkens, in einem merkwürdigen Licht schwimmend, einen Schritt vor mir geisterhaft bewegte, daß ich von der Angst, die es mir verursachte, getrennt schien. Der andere Platz war der auf der Bettkante, den ich bevorzugte, wenn ich von meinem Grübeln ermüdet zu werden versprach. Seit nicht langer Zeit schien mir nur noch der letztere Platz ganz zu gehören, das hieß … nach reiflicher Überlegung hieß es das für mich in der Tat … daß eine ledige Postzustellerin, abgekürzt K. L., nicht als Leichnam aufgefunden worden war! Ich hatte also meine irrsinnigen Ängste umsonst ausgestanden! Die Wirklichkeit wies einen grundsätzlichen Unterschied zu der Geschichte auf, die ich mir ausgegoren hatte! War es tatsächlich so?

Wenn ich fähig gewesen wäre, ernstlich darüber nachzudenken, hätte ich mir die Frage sicherlich einfach bejahen können … aber ich saß auf der Bettkante, die Luft im Zimmer war voller Müdigkeit, die geschlossenen Fenster hielten die Herbstnacht von mir fern; ich dachte an die schwere Erschlaffung meiner Gedanken, mit der ich einst hier in Berlin angekommen war. Ich wollte gefälligst einen guten Grund dafür finden, daß besagte K. L. noch lebte … ich wollte es damals schon, als ich hier ankam … ich wollte gefälligst, daß meine Gedanken eine Richtung einschlügen, die mir nicht zum Schaden gereichte, aber diese Richtung fand ich nicht. Ich hatte wahrhaftig den Eindruck, als hätten meine Gedanken eine Rolle gespielt, die mit der eines Lesers zu vergleichen war: sie hatten mich anders gelesen, als ich mir gewünscht hätte, sie hatten eine zweite Seite in mir gelesen, die ohne Zweifel ebenfalls in mir entstanden war, wenn ich es auch nicht wahrhaben wollte. Ich hatte mein Leben gelesen wie die seltsamen Kürzel eines Kassibers, auf dem in hektischer Schrift ein paar Mutmaßungen über mich völlig äußerlich beschrieben waren … und wenn es, im alphabetischen Bestand der Welt, den ich als ein begrenztes Universum von Zeichen betrachtete, diese und noch andere Kürzel wirklich gegeben hatte, so hatte ich sie ganz mechanisch mit den verworrenen Bestandteilen meines eigenen Daseins in Verbindung gebracht. So war es mir ergangen, als ich eines Tages tatsächlich einen Kassiber in der Hand hielt … doch dies war eine Geschichte, die mich jetzt nicht mehr interessieren mußte: sie löste nur noch Unmut in mir aus.

Dieser Unmut war mit einem Geschick zu vergleichen, das mich regelmäßig ereilte, wenn ich mich überwand, irgendwen eine von mir geschriebene Geschichte lesen zu lassen. Da ich die Hauptfigur – oder vielmehr die einzige Figur – meiner Geschichten in der Regel in der ersten Person auftreten ließ, schien es meinen Lesern von der ersten Zeile an gewiß, daß es sich bei diesem Ich um meine eigene Person handele, daß der Schreibende und der Beschriebene also ein und dieselbe Figur waren, daß ich nichts anderes tat, als phantasielos den Erinnerungen, die mir mehr oder weniger gegenwärtig waren, zu folgen. Eine solche Ansicht empfand ich als Frechheit, und wenn ich mich dagegen wehrte, hatte dies zur Folge, daß ich sie in ihrem Glauben noch bestärkte, daß sie meinten, nun erst recht von ihrer Lesart überzeugt sein zu müssen. – Dergleichen erregte meinen Unmut natürlich so heftig, weil ich mich mir gegenüber selbst so verhielt: wenn ich andauernd betonte, daß es sich bei dem Todesfall K. L. um eine von mir erfundene Geschichte handele, so darum, weil ich mein Leben mit dem gleichen Seitenblick auf mich las, wie meine Leser meine Texte lasen und mir dabei verstohlen hinter die Stirn zu schielen glaubten. Irgendwann sagte ich mir, ich müsse mit der Mordsache K. L. letzten Endes selber ins reine kommen … und begann, über Grenzen nachzudenken, über die sie … ohne meine ausdrückliche Beihilfe, im Gegenteil sogar … verschwunden sein konnte. Wenn ich sie in den Straßen von Berlin zu erblicken meinte, konnte ich nur noch ratlos den Kopf schütteln … ich sagte mir, daß ich schließlich geübt sei im Gespenstersehen; daß ich Wiedersehensgefühle hatte, wenn sie mir über den Weg lief … es ist müßig zu denken: wenn sie mir über den Weg zu laufen schien … brachte mich auf die Idee, ich habe in meinem Kopf eigentlich die Erinnerungen eines anderen … oder aber, ich sei ein anderer, und ginge nur noch mit den Bildern meines vergangenen Lebens spazieren. Wenn dies so war, warum wagte ich nicht zu glauben, daß ich in meinem früheren Leben aus Versehen einen Mord begangen hatte? Ich wollte wohl schon immer eine allzu deutliche Ausnahme bilden?

Ein Name, der die Anfangsbuchstaben K. L. aufwies, war mir tatsächlich schon begegnet, vor Jahren, ich hatte vom Tod einer Frau dieses Namens erfahren, und ich hatte die Sache im nächsten Augenblick schon wieder vergessen … die Umstände, unter denen ich davon erfuhr, waren nicht die besten: es gibt Situationen, in denen man die Wirren des Lebens so weit über den Hals stehen hat, daß man in jeder hinzukommenden Neuigkeit sogleich den Tropfen zu erkennen glaubt, der den Tod durch Ertrinken zur Folge haben wird.

Ich brauchte erst einige Zeit, und einen Ortswechsel, ehe mir in den Sinn kam, daß ihr Name an einem Anfang stand … und ehe er mir überhaupt wieder einfiel … am jungfräulichen Anfang einer Geschichte, deren ganzer Reiz für mich in einem dunklen Sujet lag, in dem Vorwurf nämlich, daß die Gestalt, die sich hinter dem Namen verbarg, dem Hades schon vermählt sei. Und doch war sie mir später wieder über den Weg gelaufen, durch Zufall, wodurch sonst … es war gespenstig, aber noch viel verrückter war meine unergründliche Überzeugung, ich habe sie schon vor der Zeit gekannt, in der mir die Kunde von ihrem Ableben zum ersten Mal hinterbracht worden war. Zuerst dachte ich an eine Schwester, an eine Zwillingsschwester gar, doch etwas warnte mich vor einer plausiblen Erklärung … ich litt unter dem Gedanken, keine Chance gegenüber den Platitüden der Realität zu haben. – Und vollends unheimlich war, daß es in meinem Kopf das Wissen um noch mehr solcher Begegnungen gab … Erinnerungen zufolge, meiner oder einer anderen Erinnerung nach gab es dieses Wissen … daß es immer wieder zu bestimmten Zeiten, in denen ich längst von ihrem Tod überzeugt war … wenn ich die Frage vermied, wie ich denn davon überzeugt sein konnte, wenn ich nicht selbst … überzeugt war, daß ich sie wiedergesehen hatte und daß diese Begegnungen die Tendenz hatten, eine unendliche Reihe zu bilden. Doch damit machte ich mich natürlich nur verrückt … meiner Einbildungskraft, die mir verdächtig war, fehlten die nachprüfbaren Anlässe, die Auslöser der Erinnerung, wie ich es nannte.

Und auch jetzt noch ließ mich das Gefühl nicht los, daß die Zeitungsannonce wie eine verkappte Todesnachricht geklungen habe. Von wem konnte diese Nachricht an mich ergangen sein? Und wem ist es möglich, ein solches Zeichen in einem Presseorgan unterzubringen, dem es vorbehalten ist, ausschließlich offizielles Sprachaufkommen zu verlautbaren, niemals aber das einer privaten Kreatur? Oder durfte ich mir sagen, daß ich nur auf ein Beispiel der informellen Kreativität ratloser Behörden blickte, die immer dann mobilisiert wird, wenn es um die Mitteilung einfacher Tatsachen geht? Nein, für mich war die Mitteilung, die in der Annonce verborgen war, ein Ergebnis philosophischen Denkens! Man wußte um meine Ängste, bezüglich eines bösen Geheimnisses, das mir jenseits meiner Erinnerung zu schwelen schien, aber man sagte mir, das Ganze sei kein Problem – selbst dann nicht, wenn es sich bei dem Geheimnis um eine Leiche handeln sollte –, es ginge vielmehr um ein Höheres, um das sachdienliche Höhere …

Ich mußte endlich das philosophische Denken verlassen und in die Niederungen dessen zurückkehren, was mir widerfuhr; Philosophie war für mich nur in Form von Einsprengseln verfügbar, wie man sie beispielhaft in Kassibern oder Annoncen findet: meine Erinnerungen – andauernd spreche ich von ihnen und setze mich damit dem Verdacht aus, daß ich zwar welche habe, diese aber nicht zugeben will – wurden davon nur irritiert. Auf merkwürdige Weise schienen sie bestimmten Zeitabläufen unterworfen, und sie glichen damit in ihren Intervallen der Geschichte meiner wiederholten Begegnungen mit einer Totgeglaubten. Manchmal hielt ich sogar eine annähernde Simultaneität beider Abfolgen für möglich, es war die Ahnung eines Zusammenhangs, dem gedanklich nachzugehen allerdings aussichtslos für mich war. Das Ganze hatte eine schwierige Logik: wenn mir die Erinnerung fehlte, glaubte ich auch nicht an die Wirklichkeit einer Wiederbegegnung mit einer Totgeglaubten, ich dachte gar nicht daran, denn die Erscheinungsbilder davon waren im Komplex der Erinnerungen enthalten, der mir nur von Zeit zu Zeit ins Bewußtsein rückte. Allein das, was vielleicht die Erinnerung an eine Erinnerung genannt werden kann, ermöglichte mir, auch dann an das unheimliche Phänomen zu denken, wenn ich lediglich den alltäglichen Banalitäten nachhing und mich kaum des vorigen Tages entsann. Was ich festzustellen meinte, war, daß mir stets ungefähr eine gleich lange Zeit verstreichen mußte, ehe sich in mir irgendein verschlossener Schrein öffnete und die Erinnerung emporsteigen ließ, in der eine Frau eine Rolle spielte: eine Frau mit langem Schatten in fackelnder Beleuchtung, eine dunkle Frau, eine undeutliche posthume Frau … offenbar fand jene Öffnung meiner Augen immer im Frühjahr statt: der Winter verging, die Zeit, in der mein Hirn zusammengerollt in seinem Gehäuse ruhte, nur darauf bedacht, von keiner Erregung berührt zu werden – dann aber begannen meine Gedanken zaghaft Witterung aufzunehmen, und plötzlich fiel mir die Geschichte einer Frau ein … einer geheimnisvollen Fremden, oder einer ähnlichen geisterhaften Figur … im Herbst war es gewesen, glaubte ich, im Herbst mußte sie meinen Weg gekreuzt haben, ich hätte schwören können, daß ich mich sogar des Tages erinnerte, obwohl ich – dies verlieh meiner Behauptung ihre Lächerlichkeit – den Vorfall überhaupt nicht bemerkt hatte. Dennoch war es geschehen, wenn sich mir im gleichen Moment auch alles, was an mir einer Wahrnehmung fähig war, abgekehrt und verschlossen hatte, wenn auch jeder meiner Gedanken sofort in Deckung gegangen war. In den ersten Nächten danach störte mich noch leichte Unruhe, doch es war Herbst, die Nächte waren lang, ich war sicher, daß mein Schlafbedürfnis den Sieg davontragen werde. Und am Morgen darauf dachte ich an nichts mehr, die Sache beschäftigte mich weniger als ein halbvergessener Traum.

Um einen scheinbaren Widerspruch nicht unbemerkt zu lassen: die Ängste, von denen ich sprach, ließen mich in der dunklen Jahreszeit, während des Herbstes und Winters also, beinahe unberührt. Wenn ich mich an Erinnerungen nur erinnerte, hielt ich die Angst für absurd und glaubte nicht der inneren Lage, darauf sie entstehen konnte … ich war, tatsächlich, wie ausgewechselt. Aber mit dem Frühjahr wachte sie auf, die befürchtete Nähe einer Begegnung trug dazu bei, im Frühjahr war ich hellwach und voller beklemmender Gefühle. Das Frühjahr war auch die Zeit, in der es mir schier unmöglich war, den aktuellen Datumsangaben der einzelnen Wochentage zu einer bleibenden Integration in meinem Bewußtsein zu verhelfen. Seit längerem verzichtete ich darauf, mich in die Menschentrauben einzugliedern, die im Februar vor den Papiergeschäften um einen seit Januar gültigen Kalender kämpften; nur selten war es mir möglich, ohne Umschweife das genaue Datum zu nennen, erst im Herbst hatte ich mich einigermaßen an das Jahr gewöhnt. Alljährlich aber schien mir ein bestimmtes Datum, im ersten Drittel des Monats Mai, überraschend, doch dabei präzise, trotz meines Erinnerungsdefizits, von einer Stimme in mir serviert zu werden, die einen veränderten Klang hatte. Sie hatte einen raffinierten und selbstsicheren Klang, und ich wollte nicht glauben, daß meine Kehle einer solchen Modulation fähig war. Die Festlegung der exakten Relationen dieses Datums zu einem anderen ist nicht nötig, auch umständehalber schlecht möglich, doch es lagen nur wenige Tage Differenz zwischen diesem Datum und dem Vormittag, an dem mir der Name Kora L. zum ersten Mal begegnete. Genauer gegenwärtig ist mir nur die Situation, sie war, ich bemerkte es schon, unangenehm, aber sie war real.

Die Äußerlichkeiten dieser Rahmensituation waren, bei aller Kürze ihrer Dauer, so einprägsam häßlich, daß sie auch meinem von Ungläubigkeit besessenen Hirn nicht leicht entfallen konnten. Salpeterschwitzende Gefängniswände, mit ihrer Feuchtigkeit, die von stockigen, braun verfärbten Matratzen angezogen wird und in der die eisernen Bettgestelle zu rosten beginnen, hinterlassen einen schwer vergeßlichen Geschmack im Hals. Die Gerüche von Bohnerwachs, Urin, ungesüßtem Kräutertee-Ersatz erzeugen auch im dünnsten Sonnenstrahl aus schräger Fensterlukenhöhe einen so bewußtseinstrübenden Dunst, daß man später meint, man habe auch die nächsten Nachbarn nur schlecht zu erkennen vermocht, und dies, obwohl man zu bestimmten Zeiten so mit ihnen zusammengepfercht war, daß man den Juckreiz einer nebenan schwitzenden Haut auf sich selbst zu spüren glaubte. So mußte auch ich sofort mit einem anderen verwechselt worden sein, was mich zuerst gewohnheitsmäßig wenig wunderte. – Als ich im Frühjahr 1978 in Haft ging, teilte ich für die ersten Tage die Zelle mit einem Gefährten, der aufgrund eingehender Erfahrungen mit der Justiz des Landes die ihm bevorstehende Strafe sich schon ausrechnen zu können behauptete. Er sah nach den Angaben seines Anwalts einem baldigen Prozeßtermin entgegen und wollte sich zu einem Schwur darauf versteifen, daß die ihm zur Last gelegten Vergehen einen Gefängnisaufenthalt von nicht mehr und nicht weniger als zweieinhalb Jahren wert seien. Und genausoviel werde er auch bekommen, er ging soweit, mir die Wette um jeden Preis darauf anzubieten, daß er einen bestimmten Plan, den er im Kopf habe, an einem bestimmten Tag im Mai in zwei Jahren ausführen werde, denn an diesem Tag werde er wieder frei sein: er nannte mir ein Datum im ersten Drittel dieses Monats … wenn ich Interesse habe, könne er mir den Beweis für den Erfolg des Coups schaffen. Mir aber fehlte der Humor, eine solche Wette anzunehmen, und dies, obgleich seine Kunst, die Zukunft zu berechnen, an mir zu versagen schien. Selbst ihm, der solcherlei Voraussagen für fast alle Insassen der Haftanstalt zu geben versprach, sofern er nur die Gründe ihrer Inhaftierung kenne, schien der Verdacht, der auf mir lastete, zu diffizil zu sein. Ich hatte keinesfalls die Absicht, länger als unbedingt nötig in den Fängen der Gerichtsbarkeit zu bleiben, doch jeder der Belastungspunkte, die ich ihm auf seine Vermutungen zugab, hatte für ihn ein Urteil zufolge, das meine bösesten Erwartungen übertraf. Er tröstete mich und meinte, es müsse gelingen, einen bestimmten Aspekt der Vorwürfe gegen mich zu entkräften – sosehr mir derselbe auch zur Ehre gereiche –, denn dieser habe einen starken politischen Geruch. Genau aus diesem Grund werde er mich seinem Anwalt empfehlen; halb stimmte ich zu, halb lehnte ich ab, da ich an die Existenz eines solchen Anwalts nicht glaubte, und wenn, dann würde die Höhe seines Honorars alle meine Möglichkeiten übersteigen. Er aber beruhigte mich, er werde mit ihm zu reden wissen, er lachte, und darin glaubte ich einen heuchlerischen Ton zu hören. – Nach wenigen Tagen fing der Prozeß gegen meinen Gefährten an, er kicherte und bestand darauf, das erste Fünftel seiner Zeit sei mit der halbjährigen Untersuchungshaft nun vorbei … ich sah ihn nicht mehr wieder und erfuhr nie genau, ob er mit seiner Prognose recht behalten hatte.

Deutlich erinnere ich mich der Szene, die sich abspielte, als sie ihn holten, sie war in mehr als einer Hinsicht herzzerreißend.

– Lieber Bruder, rief er, der mich weniger als eine Woche kannte, ich wünsche dir mehr Glück, als ich es habe … ich wünsche dir mehr Glück und Erfolg. Ich muß nun fort, und ich bitte dich, deinen Freund nicht zu vergessen. Seine Augen erschienen mir naß, er schloß mich heftig in die Arme und küßte mich auf den Mund. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloß, die Riegel schnappten … ich war allein, vielleicht nur für Minuten. Als die Schritte auf dem Flur verklungen waren, förderte ich den Kassiber unter der Zunge hervor, ein bespeicheltes Klümpchen Papier, das er in meinem Mund untergebracht hatte.

Mühsam las ich die winzigen Druckbuchstaben, die ein harter Bleistift auf ein Stück Zeitungsrand ziseliert hatte: Nimm nach Entl. meine Wohnung F. Str. / Meine Verlobte Kora L. soll ermordet w. / Von Zacharias Zwie / Tatzeit 7. Mai 7 Uhr i. Leerhaus G. Str. / Das mußt du verhindern!!! / Kassiber weg da belastend / Nicht reden sie hören alles / Bruder Z.

Versuchsweise zitiere ich diesen Text – der das Licht eines ziemlich intelligenten Menschen, wie es mein Gefährte war, allerdings arg unter den Scheffel zu stellen scheint – so wortwörtlich, wie er mir noch in Erinnerung geblieben ist, wenn es auch keine untrügliche Erinnerung ist: bietet er doch ein ausreichendes Beispiel für die ganze widerwärtige Trivialität, die von der Sprache der Wirklichkeit Besitz ergriffen hat. Längst hat sich die Natur, sofern sie in der Hand der Menschen ist, in schwachsinnige Künstlichkeit verkehrt, und die natürliche menschliche Ausdrucksweise ist nicht mehr das Vorbild einer erfundenen. Umgekehrt, seit Generationen nunmehr bedienen sich die Leute des affektierten Gewäschs serieller Kinoschablonen; sollte es die Möglichkeit sein, daß die Unterhaltungsbranche das noch dümmere Klischee einer Umgangsform zu erfinden vermag, als es schon der Fall ist, kann man fest damit rechnen, daß es den Konsumenten innerhalb weniger Monate in Fleisch und Blut übergeht. – Die mir idiotisch vorkommenden Versatzstücke auf dem Papierfetzen waren es offensichtlich nicht wert, daß man sie verstand, ich hatte auch weder viel Zeit, sie zu studieren, noch mich länger darüber zu ärgern. Mir war nur aufgefallen, daß man den Zeitungsrand so krumm abgeschnitten hatte, daß noch ein Fragment des Erscheinungsdatums der Zeitung, der Monatsname April, zu lesen war. Ich hielt den Zettel noch in der Hand, als die Tür aufflog und zwei neue Finsterlinge in der Zelle standen. Ich schaffte es nicht mehr, das Papier in den Abtritt zu werfen, dennoch blieb ihm nur eine Zwischenstation auf diesem Weg vorbehalten, ich kaute es hinunter. Meine beiden neuen Freunde hatten dies sehr wohl bemerkt und versuchten bald, mich auf ziemlich plumpe Art auszuhorchen. – Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, als mich einer von ihnen auch schon anflötete: Hallo, angenehm dich zu sehen, Bruder Z., wirklich angenehm. Ah, es geht dir gut, wie zu sehen ist, sehr gut. Du kennst mich doch noch, nicht wahr, ich bin Wasja, ganz unverändert, alter Bekannter … – Maul halten, sagte der zweite sanft. Klar kennt er dich noch, aber er wirds nicht wollen, nicht wahr … Er war ein langer grobknochiger Kerl mit einem eisernen Schultergürtel, der ihm eine solche Last zu sein schien, daß er stets ein wenig gebückt stand. In Wirklichkeit war es ein Zeichen von Unterwürfigkeit, entweder diesem Wasja … oder mir gegenüber. Wasja sagte: Wir müssen ja nicht gleich so einsteigen, nicht wahr. Wenn er seinen Namen hier nicht hören will, sagen wir eben was anderes zu ihm … was denn, zum Beispiel? – Was weiß ich, erwiderte der andere, der Ronni gerufen wurde. Was weiß ich denn, was er überhaupt noch mit uns zu tun haben will. Da kann man eben nichts machen … oder können wir was machen? – Jetzt noch nicht, sagte Wasja. Mir war nicht wohl zumute, und ich wußte, daß ich mir alles verderben konnte. – Wenn ihr was von mir wollt, sagte ich, versuchts nur … Damit war ich am Türrahmen und hatte den Daumen am Knopf der Alarmklingel. Dennoch hatte ich Erfolg, Wasja riß beschwichtigend die Hände in die Höhe: Halt, halt … um Gottes willen, kein Aufsehen. Ronni ist ein Idiot, und er wird sich sofort bei dir entschuldigen. Entschuldige dich bei ihm, Ronni, los, sofort, frag ihn, ob er vielleicht Tabak haben will. – Ich entschuldige mich bei ihm, sagte Ronni. Will er vielleicht Tabak haben, weil er klingeln will? – Das geht nicht so einfach, sagte Wasja; ich holte meinen winzigen Rest Tabak hervor und bot den beiden wohl oder übel davon an.

In den nächsten Tagen bemerkte ich, daß sie über ungewöhnlich gute Beziehungen verfügten: unsere Portionen fielen bei der Essenausgabe sehr reichlich aus, und des öfteren waren zwischen den Plastikschüsseln auf den Tabletts kleine Sonderzuteilungen versteckt, dennoch schimpften die beiden unermüdlich über den gewöhnlichen Gefängnisfraß und stachelten mich an, es ihnen gleichzutun. Dadurch erhielten wir neue Sonderzuteilungen von den verständnisinnig grinsenden Hausarbeitern, und in den Nachbarzellen hörte man, daß bei uns alles in Ordnung war. Wir schienen eine besondere Rolle auf der Etage zu spielen, und ich wurde den Verdacht nicht los, daß ich das Objekt dieser Fürsorge war. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich mich dafür hätte erkenntlich zeigen sollen, und man machte mir keine Andeutung mehr; die Gespräche, die ich mit ihnen hatte, schienen sich zu offensichtlich auf den Inhalt des Kassibers zu beziehen, den ich verschluckt hatte, und ich sagte ihnen: Hört zu, wenn hier vorher jemand drin war, den ihr gekannt habt, es gibt wirklich keine Nachricht von ihm, die euch interessieren würde. Ich weiß nur, daß seine Wohnung frei wird, in irgendeiner F. Straße. Aber ich weiß nicht mal, wo diese F. Straße sein könnte.

– In Berlin gibt es eine F. Straße, sagte Wasja. Übrigens gibt es in Berlin nur eine F. Straße, in ganz Berlin nur eine F. Straße … Als uns nach kurzer Zeit endgültig das Rauchzeug ausging, ließ einer der Hausarbeiter während der Essenausgabe ein kleines Stück Papier über die Türschwelle flattern; Ronni hob es blitzschnell auf und ließ es verschwinden, auf eine so ungeschickte Art jedoch, daß ich es finden konnte. Wenn Bruder Z. keinen Tabak hat, soll er das Maul aufmachen, lautete die rätselhafte Mitteilung. Ich mußte nur kurze Zeit nachdenken, bis mir klarwurde, daß ich den Zettel finden sollte; Ronni zeigte keine Regung und schien in lauernde Haltung versunken. Versuchsweise beschloß ich, meinen Widerstand aufzugeben, und notierte auf der Rückseite des Zettels, daß Bruder Z. Tabak brauche, dann legte ich ihn in Ronnis Versteck zurück. Allerdings konnte ich mir nicht verkneifen, die beiden auf ironische Art merken zu lassen, daß ich sie durchschaut hatte. Ich wählte den üblichen Ganovenjargon und fügte, mein angeborener Intellekt ritt mich, eine Ziffer hinzu, die meine Distanz zu dem Spiel ausdrücken sollte: Bruder Z. (2) gibt seine Seele her für etwas zu rauchen.

Mit der gewohnt unbeteiligten Miene ließ Ronni das Papier in der Tasche verschwinden, doch ich spürte, daß sein Gehirn Schwerstarbeit leistete. Dann, nach Ablauf etwa einer halben Stunde, flog sein Kugelkopf mit einem Ruck in die Höhe, er starrte mich überrascht an, und es schien eine Weile zu dauern, bevor er ein grenzenloses Mißtrauen überwinden konnte. Noch am Nachmittag erreichte uns aus unerforschlichen Quellen ein Päckchen Tabak, die beiden verloren, wie es ihre Art war, kein Wort über den prompten Erfolg. Aber nun machten sie mich nervös, denn sie waren plötzlich sehr einsilbig geworden und schienen in der Zelle wie auf Kohlen zu sitzen. Am folgenden Tag quartierte man sie aus: obwohl dauernde Verlegungen von Zelle zu Zelle nichts Ungewöhnliches waren und zur allgemeinen Zermürbungstaktik den Untersuchungshäftlingen gegenüber gehörten, fragte ich mich, ob es diesmal ein Zeichen dafür sein konnte, daß man ein mir unbekanntes Ziel mit mir erreicht habe. – Der ewige Kreislauf des Gefängnisalltags führte mir neue Bekanntschaften zu: diesmal waren es drei Leute, und die Zelle war bis auf das letzte Bett besetzt. Die Mahlzeiten schrumpften wieder auf Normalgröße; dies konnte nur bedeuten, daß ich in der Gunst irgendeiner mir unerforschlichen Hierarchie gesunken war. Doch bald mußte ich feststellen, daß man mir in der Zelle mit einer geradezu peinlichen Hochachtung begegnete. Wenn jemand einen Begriff davon hat, wie man im Ansehen seiner Mithäftlinge kontinuierlich mit der Schwere der Schuld gewinnt, die man auf sich geladen hat, so wird er verstehen, daß ich keine reine Freude darüber empfinden konnte, als man mich nun förmlich anzubeten schien. Mein erster Zellengefährte, jener Bruder Z., mußte eine Autorität sondergleichen gewesen sein; ich mußte mich, koste es, was es wolle, des unverdienten Ruhms, der wahrscheinlich ihm gebührte, schnellstens entledigen. – Da ich mir Aufklärung erhoffte, fieberte ich dem Neubeginn meiner seit geraumer Zeit stagnierenden Vernehmungen entgegen; ich war erleichtert, ja fast erfreut, als man mich eines Tages abrief. Aber es war keine Vernehmung, man stellte mich einem Rechtsanwalt vor, um dessen Audienz ich nie gebeten hatte.

Dieser mit mir bestenfalls gleichaltrige Mann, der mich wie einen völlig aus der Rolle gefallenen Klippschüler anschaute, ging eine Weile gereizt und kopfschüttelnd in dem Raum auf und ab, ehe er zu reden anhub: Sie haben tatsächlich kaum Ähnlichkeit mit ihm, jedenfalls nicht so, daß eine Verwechslung möglich wäre. Trotzdem … – Mit wem? fragte ich. – Halten Sie die Klappe, fuhr er mich an, halten Sie die Klappe, Sie Idiot. Sie haben keine Ähnlichkeit mit ihm, keine, verstehen Sie … – Was erlauben Sie sich, sagte ich erbleichend. – Und trotzdem erlauben Sie sich solche Witze, tobte er unbeirrt weiter. Sie sind wohl verrückt geworden? Sie haben sich beinahe jeden Vorschuß an Wohlwollen verscherzt, Sie können froh sein, daß auch in den Ermittlungsbehörden nicht nur Blindgänger sitzen. Mir jedenfalls haben Sie fast die Nerven geraubt, Ihretwegen mußte ich reden wie ein Buch. Und nun sitzen Sie hier und grinsen mich rosig an … Er hatte nicht recht, ich war immer blasser geworden und stotterte, doch er schnitt mir das Wort mit einer Handbewegung ab: Hören Sie zu. Es würde mich interessieren, wie Sie auf diese Dummheit gekommen sind, die Sie sich da geleistet haben. Sie haben wohl keine Ahnung, welche Schwierigkeiten ich hatte, Sie hier rauszuholen … Dunkel ahnte ich, daß sich das Blatt zu wenden begann, und vorsichtshalber setzte ich eine schuldbewußte Miene auf. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und sah mich lange zweifelnd an: Tatsächlich, Sie scheinen nichts zu verstehen. Aber wer, außer mir, soll Ihnen das Schafsgesicht glauben. In Wirklichkeit sind Sie vielleicht gerissen und spielen mit dem Feuer. Aber nein, Sie sind wirklich nur ein harmloser Idiot, und dabei bleibe ich, schließlich bin ich Ihr Anwalt. Meine Zweifel spielen keine Rolle, Sie sind schlicht und einfach ein Idiot, Sie geben den Leuten, die etwas gegen Sie haben … aus Berufsgründen etwas gegen Sie haben müssen … irgendwelche Buchstabenrätsel auf, die nur zu eindeutig gelöst werden können. Das ist eben Ihr Hobby. Sie geben sich als sogenannter Schriftsteller aus, und nur aus diesem Grund finden Sie Spaß an Buchstabenrätseln, Abkürzungen, Wortspielen, nicht wahr. Sagen Sie bloß, es ist anders, und ich lasse Sie einfahren, soviel Jahre, wie Sie wollen. Wenn Sie jetzt etwas anderes sagen, passe ich und schmeiße die Karten auf den Tisch. Sagen Sie bloß um Gottes willen kein Wort mehr! – Seine eindringliche Aufforderung war unnötig, denn ich war sprachlos und hatte zu zittern begonnen, obwohl ich nicht das mindeste begriff. – Ich sehe es Ihnen an, fuhr er fort, daß Sie ein Nichts sind. Schriftsteller sind ein Nichts, aber Sie haben nicht mal damit eine Ähnlichkeit. Und deshalb müssen Sie sich als ein anderer ausgeben. Und Sie geben sich als Z. aus … aber nicht als der richtige Z., und damit hängen Sie ihm was an, Ihrem Freund, der Ihnen freundlicherweise seine Wohnung in Berlin überläßt. Aber beinahe hatten Sie Pech, beinahe wärs an Ihnen selbst hängengeblieben. Oder vielleicht fühlen Sie sich auch wohl im Knast? Tut mir leid, wir können Sie nicht behalten auf Dauer, auch wenn Sie sich noch so wohl fühlen. Ihr Problem habe ich hinter mir. – Und Sie wollen mich nicht verteidigen? – Was ich für Sie noch tun kann, ist, Ihnen zu raten, Ihre Späße zu unterlassen. Die Nachredner Brechts reden zwar sehr viel von Späßen … es ist das einzige, das sie von Brecht noch haben können … aber Sie, denke ich, sind kein Epigone von Brecht? – Was ist eigentlich mit Z., suchte ich nach einer erstaunten Pause das Thema zu wechseln. Sie haben ihn doch verteidigt? – Es geht, sagte er. Sein Kopf ist noch oben, wenn auch sein Strafmaß höher ausfiel als erwartet. Irgendein dummer Fall von Brandstiftung war nicht niederzuschlagen … – Brandstiftung? Aber ich denke, wegen Brandstiftung wird man mich anklagen? – Sie …? Was für einen Brand können Sie schon stiften? Bleiben Sie bei Ihren Buchstaben, bei Ihren i-Punkten, Pünktchen, Pünktchen, Komma … aber ohne Witze! Schlüpfen Sie nicht immer in fremde Rollen. Und sagen Sie den Jungens auf der Zelle, wer Sie wirklich sind. Bleiben Sie bei der Wahrheit und ziehen Sie lieber nicht nach Berlin! Er hatte schon nach dem Beamten telefoniert, der mich abholte; zuletzt schärfte er mir noch einmal ein: Schweigen Sie wie ein Grab über alles, was nicht Ihre eigene Person betrifft. Schweigen Sie wie ein Grab!

Sollte ich es Erleichterung nennen, was mich auf dem Weg zur Zelle, durch die mir nie faßlich werdenden Labyrinthe der Anstalt, so schwanken ließ? Es war eine Unsicherheit in mir, die aus dem unwiederbringlich scheinenden Verlust einer Bedeutung resultierte, welche mir zuvor ganz gegen meinen Willen zugefallen war: ich war aufgefordert, mich zu dem Menschen zu bekennen, der ich eigentlich war … der mir aber plötzlich verloren schien. Das Ende meiner Bedeutung unter den Häftlingen, zu dem ich mich stellen sollte, hatte augenblicklich eine Leere in mir hinterlassen, die mir im Moment nur schwer wieder auffüllbar sein würde, wenn mir nicht eine schnelle und überzeugende Erfindung dabei zu Hilfe kam. Ganz unmöglich kam es mir vor, jenes Loch damit zu füllen, wozu mir geraten worden war: mit dem Schweigen eines Grabes – obwohl dies so vollkommen logisch klang. – Dennoch war ich fest entschlossen, der Prämisse des Anwalts zu folgen, dafür zu dulden und notfalls sogar zu büßen. Da der Tag ein Donnerstag war und damit derjenige in der Woche, an dem der Einkaufswagen von Zelle zu Zelle fuhr, war während meiner Abwesenheit Reichtum über unseren Klapptisch gekommen. Er bestand aus einer ungeheuren Menge von Keks und Zwieback, woraus unter Verwendung aller verfügbaren Marmelade eine riesige komplizierte Pyramide zusammengekleistert worden war. Vor diesem sakral wirkenden Gebäude lagen drei Zigaretten – nicht solche, wie man sie aus den Resten schon mehrfach gerauchter Stummel zu drehen pflegte, sondern blütenweiße nagelneue Stäbchen aus einer Firmenpackung – die in der Form eines Blitzes aneinandergelegt waren. Nur langsam begriff ich: was hier zu sehen war, stellte keinen Blitz vor, sondern meinte ein »Z« und bezeichnete damit den Eigentümer des kunstvoll servierten Backwerks, welches man in der Anstaltssprache eine Dora 3-Torte nannte und was eine der höchsten Auszeichnungen für einen Zellenbruder darstellte: eine solche Torte hatte unter den Häftlingen die Funktion einer Art Henkersmahlzeit, wie mir inzwischen bekannt geworden war, wenn ich auch, mit einem Rest von Hoffnung, zweifelte, ob die Torte ausschließlich diese Funktion haben müsse. Zudem sagte eine solche Zuwendung nichts über die Person des Scharfrichters, wenn ich auch ahnte, daß dieser nicht unbedingt aus den Reihen der Justiz stammen müsse. Ich blickte in die Gesichter meiner drei Zellengenossen, fand jedoch keinerlei sichtbare Aggressionshaltung in ihnen und setzte mich aufatmend nieder. Im Gegenteil, sie strahlten, als ich unversehrt vor ihnen saß: Alles für dich, Bruder, laß dir die Torte schmecken, wir haben schon nach Tee geklingelt. – Da mir empfohlen war, wie ein Grab zu schweigen, sagte ich nichts und machte mich daran, die Torte mit Hilfe großer Mengen von Kräutertee hinunterzuwürgen. Als ich anfing zu ersticken, machte ich einen Verhandlungsversuch: Mein Fall werde offenbar gut ausgehen, es sei vielleicht sogar möglich, daß ich ohne einen Prozeß wieder freikäme … Sie zeigten keinerlei Erstaunen und nahmen meine Worte mit leuchtenden Augen auf. Wenn mir das gelinge, so meinten sie, so sei dies nur meiner absoluten Raffinesse zuzuschreiben. – Wenn diese Eigenschaft für irgendeine Sache von Nutzen sein sollte, so müsse ich zumindest lebendig hier rauskommen! – Jeder hier im Knast sei natürlich nur daran interessiert, jeder … in ihren Gesichtern war bei diesen Worten eine Offenheit, in der ich nicht den geringsten Hinterhalt entdecken konnte; es sei denn, es gab eine grundsätzliche Falschheit hinter dieser Offenheit, an deren Dasein ich, weil ich ihre Gründe nicht verstand, mitbeteiligt war … natürlich könne es auch hier ein paar Spinner geben, die nicht daran interessiert seien, aber: das sind natürlich Leute, die draußen überhaupt nicht klarkommen, hier nicht und draußen auch nicht. – Es gelang mir nicht, dem Gespräch eine Wendung zu geben, in der es für meine Situation aufschlußreicher wurde, resigniert kaute ich an meinen Keksen und wagte keinen Versuch, sie zur Teilnahme an der Mahlzeit einzuladen; sie saßen mit andächtigen Gesichtern daneben, hielten die Hände im Schoß gefaltet und schauten mit erbarmungsloser Begeisterung auf meine mahlenden Kiefer. Der letzte Bissen Gebäck schien in meinem Mund zu Zement verwandelt, und der Tee floß mir aus den Mundwinkeln in die Hemdbrust, doch ein vor meinem Gesicht aufflammendes Streichholz brachte mich wieder zur Besinnung: dankbar griff ich nach einer Zigarette. – Nach dieser Feier war ich erledigt, lag oben auf meinem Bett und lauschte dem Rumoren in meinen Gedärmen. – War die Torte gut? hatten sie mich gefragt. – Ausgezeichnet, gab ich zur Antwort, ohne zu bemerken, daß ich damit ihre Sprachgewohnheiten verlassen hatte. Die Kekse waren feucht gewesen und hatten nach der Pappe angeschimmelter Kartons geschmeckt, worin sie offenbar in irgendwelchen muffigen Kellern lagerten. Dabei war ich an den Geschmack von Tinte erinnert gewesen, und während ich dieser mir seltsamen Assoziation nachgrübelte, benahmen sich meine Zellengenossen so leise, daß ich kein Wort verstand, ein paarmal aber meinen Namen aus ihrem Wispern zu hören glaubte. Doch sie vermuteten wohl nur, ich sei im Begriff einzuschlafen; mir fielen die Worte des Rechtsanwalts ein, der mir empfohlen hatte, wie ein Grab zu schweigen.

Für einige Augenblicke schlief ich wirklich ein, erwachte wieder – offenbar wurde es schon dämmrig in der Zelle – und schloß die Augen, um einem Alptraum nachzusinnen, den mir der überfüllte Magen verursacht hatte: ich war in einem Keller, wo ich große Mengen leerer Pappkartons zerreißen und in einem Heizkessel verbrennen mußte. Da mich der Nachschub der Kartons fast überwältigte und in große Zeitnot brachte, nahm ich, während ich die Pappfetzen mit einer Hand ins Feuerloch stieß, beim Zerreißen der nachfolgenden Kartons die Zähne zu Hilfe, bis ich den Eindruck hatte, daß sich immer mehr kleine Pappstücke in meinem Mund ansammelten, meinen Speichel aufsaugten und eine immer ärgere Trockenheit in mir verursachten … nun sah ich, daß viele der Kartons vollgestopft waren mit alten Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, plötzlich begannen mich die Kreuzworträtsel in den Heften zu interessieren, diese aber waren schon gelöst, beinahe vollständig ausgefüllt, immer wieder fehlten nur noch ein oder zwei Wörter, und zwar, weil stets derselbe Begriff noch ausstand; es wurde ein Wort verlangt, das einen zischenden oder pfeifenden Laut beschreiben sollte. In jedem Moment hoffte ich das Wort zu finden, doch dann wurde ich abgelenkt und sah mich plötzlich einer Frau gegenüber … ich war ihr noch nie begegnet, aber nur in diesem Alptraum, so sagte ich mir, war ich ihr noch nie begegnet, denn sie war von so zierlicher Statur, daß sie aus keiner der Wirklichkeiten, die der Anlaß meiner Träume waren, stammen konnte. Sie hatte ein seltsames Lächeln auf den Lippen, dabei klatschte sie in die Hände, vermutlich, um mir den Sinn des in den Kreuzworträtseln fehlenden Wortes anzudeuten: ein Laut, den ich in der Kehle nachzuahmen versuchte, was mir mit dem von Pappe verstopften Rachen nicht gelang. Ich brachte nur ein Gurgeln, ein würgendes Lallen hervor, von dem ich erwachte … ich bemerkte, daß ich, über mein eigenes Schnarchen erschrocken, aus dem Schlaf gefahren war. – Dann jedoch glaubte ich mich zu erinnern, daß ich die Frau – es war im letzten Moment des mir schon entgleitenden Traums geschehen – in ein Dunkel, in einen Abgrund zwischen den turmhoch aufgehäuften Kartons hatte taumeln sehen, und mir war, als ob an ihr eine Wunde gewesen sei, die ich ihr während meines rasenden Arbeitens versehentlich zugefügt hatte … davon aber war ich im Traum keineswegs unangenehm berührt gewesen, im Gegenteil, ich hatte es mit einem aufreizenden Kitzel gesehen und war mit einer fast vollständigen Erektion erwacht. – Offenbar tat die Erwartung, in Kürze aus der Haft entlassen zu werden, schon jetzt ihre Wirkung, mein Triebleben, das während des gesamten Aufenthalts in der Anstalt wie tot gelegen hatte, begann sich beim geringsten Hoffnungsschimmer zu regen: nun meinte ich, die Frau in dem Traum nackt gesehen zu haben … nur daß an ihr keine Brüste zu erkennen gewesen waren, ich hatte einen Leib von jugendlicher Schmalheit und Glätte gesehen; vielleicht, weil ich mich dauernd an meinen eigenen Körper, etwa im Alter von zwölf Jahren, erinnert glaubte, hatte ich diesen geschlechtslosen Anblick als sehr erregend empfunden. Dann aber nahm dieser Körper, der Unterkörper, an Stärke zu, fast gewalttätig schimmerte die Kraft weiblicher Schenkel, ich hatte den muskulösen, doch wohlgestalteten Unterkörper einer Frau gesehen, der sich mir in offener Breite darbot … ich stieß sie in einen dunklen Abgrund, ohne noch einen Blick auf ihr Gesicht zu wagen. – Mit dem Erwachen hatte ich wieder die Warnung des Rechtsanwalts im Ohr: Bleiben Sie bei der Wahrheit und ziehen Sie lieber nicht nach Berlin! Ich war fest entschlossen, seinen Ratschlag zu befolgen.

Doch schon am Abend hatte ich wieder das sichere Gefühl, das ich kannte, solange ich denken konnte, und ich hatte es mir niemals zu erklären vermocht. Nur ahnte ich, daß es gerade dieses Empfinden war, das mich die ganze Zeit lang – über vierzig Jahre lang – in meinem Wohnort festgehalten hatte: so als habe ich es, ohne die unbestimmte Ahnung, stets fehl am Platz zu sein, nirgendwo aushalten können, hatte ich mir immer wieder die falschen Aufenthaltsorte ausgesucht, und der falscheste aller Orte für mich war das Nest, in dem ich geboren war. Was mich an dieses Heim gebunden hatte, sagte ich mir, war ein andauerndes schlechtes Gewissen gewesen; ich hatte es immer für unergründlich gehalten. – Wie naiv doch, wer das Zuhause für verpflichtet hält, den Sohn zu nähren, dachte ich. Sehr richtig, es gibt ein Staatsgesetz, das dieses Zuhause dazu verpflichtet, aber gibt es noch eine natürliche Verpflichtung, wenn dieses Staatsgesetz die Natur aufhebt und damit den Drang, den Jungen das Futter in die Schnäbel zu hacken? Es gibt sie vielleicht, aber da dem noch nicht flüggen Nachwuchs auch die Gedanken in den Hals gestopft werden, erscheint ihm seine Aufzucht doch als ein Opfer wider die Natur, vor dem er zum Schuldner wird. Und wie sollte er es nicht, denn er muß dieses Opfer ja annehmen, ob er will oder nicht. Wie sollte er, da die Kunst zu rechnen in dieser hohen Gattung von Lebewesen sein eigen werden wird – auch eine Kunst und Nahrung, die er nicht selber erfand –, aus dieser Zwangsverbindung nicht als ein für allemal Verschuldeter hervorgehen? Wer kennt nicht den unbändigen Wunsch der Kinder, endlich groß … endlich erwachsen zu werden und damit selbständig, diesen Antrieb, von dem sie sich aus ihrer als glücklich gepriesenen Kindheit geradezu gejagt fühlen. Glauben wir nicht, dem göttlichen Vater selbst Dank schulden zu müssen für die Erkenntnis, die er uns vermachte? Hab Erbarmen, du Hund, mit deinen undankbaren Kindern … wenn wir dich nicht in deine eigene Hölle verstoßen, so erblicke darin ein Wunder, das selbst der heilige Glaube nicht zu denken vermag!

Wahrscheinlich mußte ich erst im Gefängnis landen, ehe ich bemerkte, daß das beharrliche Zurückbleiben in meiner Geburtsstadt dazu angetan war, mich zu vernichten. In der Zelle erschien es mir plötzlich möglich, jene beängstigenden Stimmungen zu deuten, die sich aus dem Dunkel meiner Stadt auf mich übertrugen, jedesmal, wenn ich von irgendeiner Reise dorthin heimkehrte. Ich ahnte nun, sie seien in einem lange schon – seit ich die Stadt allein zu verlassen wagte – in mir abgelagerten Schuldgefühl dieser Kleinstadt gegenüber begründet. Es war nur mit scheinbar kontroversen Begriffen auszudrücken: soweit ich mich zurückerinnerte, war diese Stadt, die mein Heim war, für mich eine unheimliche