Werke, Band 3: Die Weiber / Alte Abdeckerei / Die Kunde von den Bäumen - Wolfgang Hilbig - E-Book

Werke, Band 3: Die Weiber / Alte Abdeckerei / Die Kunde von den Bäumen E-Book

Wolfgang Hilbig

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Beschreibung

Der dritte Band der Werke Wolfgang Hilbigs sammelt die drei langen Erzählungen »Die Weiber«, »Alte Abdeckerei« und »Die Kunde von den Bäumen«. Herausgewachsen aus den Erfahrungen des Autors in den maroden Industriebetrieben der DDR und der Beobachtung ihres endgültigen Verfalls in der Nachwendezeit, wuchern diese Texte in die nächtliche Landschaft einer ungeheuren Phantasie. Sie gehören zum Beeindruckendsten, was die Literatur der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat und eignen sich zugleich als Leseeinstieg in das Werk. Ein Nachwort von Ingo Schulze ergänzt den Band.

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Seitenzahl: 447

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Wolfgang Hilbig

Werke: Die Weiber, Alte Abdeckerei, Die Kunde von den Bäumen

Erzählungen

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Inhalt

Die WeiberAlte Abdeckerei[Motto]Ich besann mich auf [...]Die Kunde von den Bäumen[Motto]Was weiß ich schon [...]NachwortDie WeiberAlte AbdeckereiDie Kunde von den BäumenNachbemerkung zu dieser AusgabeAnhangDie Kunde von den Bäumen Erstfassung des Mittelstücks der Erzählung

Die Weiber

Es war heiß, eine feuchtheiße Hölle, mir war der Schweiß aus allen Poren getreten. Ich begann Gerüche auszuscheiden, eigenartig, als ob etwas in mir zu schimmeln begänne, ein ganz besonderer Fromage, als ob ich nach meinen Augäpfeln röche, sie waren mir hervorgetreten und schienen mit einem bestimmten Schleim überquollen, wahrscheinlich zog diese Trübung aus den Lenden herauf, ein Ziehen aus der Leistengegend, das stechend mein Herz streifte, es griff mir ins Gehirn, langsam, und ich hatte den Beginn nicht bemerkt. – Ich wurde untragbar für die Werkzeugmacherei, man schickte mich in den Formenkeller, wo ich die stählernen Gießformen und Schneidwerkzeuge, sauber, wie man mir sagte, in die Regale einordnen sollte. Sauber – doch an den Stellen, an denen ich die Formen mit den nassen Händen berührte, zeigten sich nach einigen Tagen Rostflecke. Während der Kontrollen maßregelte man mich wegen dieser Flecke, und ich begann die Formen mit Öl einzupinseln, das Öl knisterte auf den braunen Flächen, es verströmte einen Brandgeruch, bei weitem stärker aber war der Geruch, den ich selbst verströmte. Riesige abblätternde Schorfstellen befielen meine Ellenbogen, weiße Flechten, die nach saurer Milch rochen, und ich hockte untätig am Tisch in dem schwülen Keller, ich war nicht einmal erschrocken, ich war konsterniert, daß sich all meine Befürchtungen mit einer so absurden Konsequenz bestätigten, geradezu zielsicher setzten sich all meine Gedanken in abgestandenes Gift um. – Täglich, später sogar mehrmals täglich, onanierte ich in den Keller und trat die schillernde Spucke auf dem Zementfußboden breit; es gab nicht den geringsten Grund zu diesen Übergriffen, nicht einmal ein Bedürfnis; du Schwein, sagte ich zu mir, beeil dich, daß man dich nicht überrascht. Aber es dauerte mir immer länger, ich trieb mich in eine immer gehetztere Verfassung, und das Ziehen in meiner Hüfte ließ nicht nach, dabei schwitzte ich weiter, die Schweißausbrüche lähmten und schwächten mich, das Glied verlor mir den letzten Rest an Kraft, ich stieß nur mehr ein trockenes, schmerzhaftes Husten hervor, wenn ich mich mit meiner ermüdeten Faust schüttelte. – Ich schwitzte weiter, obwohl es in dem fensterlosen Kellerraum, der nur von einer einzigen Lampe erhellt war, kühler zu sein schien als in der Luft dieser drei Sommermonate, die außerhalb der Fabrik glühten.

Durch einen quadratischen Gitterrost in einem Winkel der Decke fiel ein wenig mehr Licht herab, es kam aus der Presserei über diesem Keller, in der die Maschinen stampften. Früher, als dieses Werk eine Munitionsfabrik gewesen war, in der die Gefangenen des direkt angeschlossenen Lagers gearbeitet hatten, hatte dieses Fußbodengitter dem Versenken der wertvollen Metallspäne in den Keller gedient. Jetzt war es die Öffnung für einen mechanischen Aufzug, mittels dessen die oft sehr schweren Formen – die ich auseinandernahm, säuberte, zusammensetzte, mit Bezeichnungen und Nummern versah – aus der Presserei herab transportiert werden konnten. Mir aber öffnete man das Gitter nicht, es sei zu gefährlich für die in der Presserei arbeitenden Frauen, die sich an dem Gitter hin- und herbewegten, wenn dieses stundenlang ohne Aufsicht offenbliebe. Ich schleppte die Formen über Umwege und steile Treppen in den Keller hinab, was mehrere Tage in Anspruch nahm. Nach diesen Tagen rührte ich vorerst nichts mehr an, ich saß still am Tisch und achtete gespannt auf das Zittern meiner Muskulatur, das Beben meiner Lungenflügel, nur langsam sich beruhigende Zeichen; die scharfen Kanten der Werkzeuge hatten mir die Hüften aufgeschürft, und der Schweiß brannte heftig in den Wunden, die mir tief erschienen, tief ins Innere meines Körpers gedrungen, als seien mir Nervenstränge verletzt, die Strömungen meiner Sinne durchschnitten.

Und in der Presserei arbeiteten die Frauen. – Durch das Gitter über mir flutete mit stetiger Wucht feuchte Gluthitze herab. Ich saß, inmitten dieses heißen Stroms, auf einem Stuhl unter dem Gitter, im Halbdunkel verborgen, neben dem Stuhl einige Flaschen Bier; wenn ich trank, glaubte ich, das Bier flösse mir sogleich, ohne daß sich auch nur seine Temperatur im Innern meines Körpers zu ändern vermochte, lauwarm aus allen Poren wieder hervor. Es strengte mich endlos an, den Kopf dauernd in den Nacken gelegt, starr durch das Gitter ins Licht zu blicken, immer in der Hoffnung, dort oben die Frauen über die Maschen des Rosts hinwegschreiten zu sehen. Manchmal stellte ich mich auf den Stuhl, so mit der Stirn fast das Eisengeflecht berührend, um nun einen schmalen, dicht durchkreuzten Blickwinkel in die Halle der Presserei hinein zu gewinnen; ich erkannte die kurze Bockleiter, die, etwas mehr als einen Meter hoch, die Frauen an den umfangreichen Trichter einer mit schrecklichem Geräusch mahlenden Mühle gelangen ließ, in der man die Abfälle des erkalteten Kunststoffs, aus welchem an den Pressen spulenartige Teile für Radiogeräte gegossen wurden, zu so feinem Korn zerkleinerte, daß sie wiederverwendungsfähig waren.

Von meinem Standpunkt aus sah ich zwei oder drei Frauen, sie waren die ältesten und kräftigsten, diejenigen, die für die Arbeit an den Handpressen eingeteilt waren. Sie wandten mir ihre Rückseiten zu, saßen auf hohen dreibeinigen Schemeln, die federten und dabei zu quietschen schienen; sie hatten, wegen der Temperaturen, auf Sitzkissen verzichtet, die Masse ihrer riesigen Hinterteile verschlang dabei vollkommen die runden hölzernen Sitzflächen der Schemel, wie alle Frauen in der Presserei waren sie lediglich mit dünnen bunten Kittelschürzen bekleidet, wenn sie sich hinauf zu den langen Hebelarmen der Pressen stemmten, erkannte ich, daß ihre Kittel hochgerafft waren, daß sie mit halbgeöffneten Beinen saßen, daß ihre bloßen oder pantinenbewehrten Füße sich, während ihre Knie endlich zur Mitte kippten, auf die äußeren Enden der breiten Fußhebelstangen stützten, was dazu diente, die Gießformen fest zu arretieren – zwanzig Zentimeter hoben sich ihre Hinterteile über dem Sitz auf, einen Augenblick lang schienen sich ihre Oberschenkel zu verschlaffen, die Gesäßhälften schienen ein Stück zu fallen, um sich zu äußerster Härte zu spannen, dabei womöglich geruchsintensive Stoffe gegen das straffe Tuch ihrer Schürzen zu drücken; die Frauen, von deren Oberkörpern ich nur ein sehr schmales Stück über der Taille sehen konnte, denn eine die Halle durchstrebende Kranbahn verdarb mir große Teile meines Ausblicks, hatten mit beiden Fäusten die schräg aufgerichteten oberen Handhebel gepackt und ließen sie unter Anhängen der Gesamtheit ihrer schweren Leiber niederfahren, sie taten es, wie ich ahnte, mit tiefen Seufzern, als sei ihnen in der Brust ein Holzkloben entzweigetrieben worden, der obere Arbeitsteil der Maschine sank auf die festgespannten Backen der Form nieder und entließ einen Teil der kochenden, dampfenden Kunststoffmasse, die Frauen, indem sie wieder in den Sitz zurückgelangt waren, hielten den phallusartigen Hebelarm unten, damit der aus den Spritzdüsen entwichene Kunststoff erkalte, dabei umkrampften Teile ihrer Schenkel die harte Schemelfläche, ich wußte, daß die Oberarme der Frauen zu Eisen erstarrt waren, daß sich ihre Schultermuskeln, Schulterblätter und Schlüsselbeine zu einer hartgepanzerten Form vereint hatten, ehe die schon blutleeren Fäuste den Hebel zurückschnellen ließen, um die genügend abgekühlten zwei oder drei kleinen Spulen, durch Öffnen der Backen, aus dem Schoß der Gießformen auszustoßen. Dies alles war das Werk von nicht mehr als einer halben Minute. Die Frauen arbeiteten im Leistungslohn, und die Besatzung der Handpressen wechselte ständig, so daß ich im Verlauf einer Woche beinahe alle älteren Frauen bei der Arbeit an diesen Maschinen beobachten konnte – stets aber waren es Frauen von ähnlicher Statur, von ähnlicher Schwere und Kraft, und alle waren ähnlich gekleidet, der nasse Stoff ihrer Kittel spannte sich zum Zerreißen über die Wellen und Ringe ihrer ungeheuren Leiber, und oft sah ich sie im Rauch ihrer Ausdünstungen verschwimmen, die blumenbunten Rückenflächen hingeflossen in die flimmernde Luft dieser drei Sommermonate, die im Wolkeninnern der Pressereihalle nichts als ein kochender Gummi- und Kunststoffgeruch war. – Unter ihren Schemeln hatte ich große dunkle Pfützen bemerkt; ich rätselte, ob sie vom Schweiß oder gar vom Urin der Frauen herrührten, resigniert aber vermutete ich bald, es seien lediglich die wertlosen Reste des Kühlwassers, das aus einigen undichten Fugen der Formen gesickert war und von dem sich die Frauen widerstandslos die Beine benetzen ließen.

Ab und zu traten Männer leichtfüßig über den Gitterrost vor meiner Stirn hinweg; es waren die elegant sich bewegenden Männer aus der Abteilung der Werkzeugmacherei, in fast völlig sauberer Werkskleidung, mit feinen, harmlosen Werkzeugen in den Fingern; sie hatten die reibungslose Funktion der Maschinen zu überwachen, kleine Reparaturen schnell auszuführen, sie stolzierten unbeeindruckt durch den Lärm, fächelten sich Luft zu, plauderten in der Nähe der Ventilatoren; keiner von ihnen beachtete die ungeschlachten, zotigen Bemerkungen der Frauen, die ihnen durch das Gezisch der Pressen, das Stampfen der Automaten, das Heulen der Mühlen, das Knirschen der Schneidwerkzeuge, durch das gesamte, rhythmisch sich ballende und wieder spaltende Lärmgefüge, deutlich hörbar, für mich aber nicht verständlich, zugeschrien wurden.

Die Frauen kamen niemals über den Gitterrost hinweg. Selten nur streiften sie, unverhofft und blitzschnell, einen geringfügigen Winkel meines Blickfeldes: ach, ohne nur einmal einen ihrer Holzpantoffeln auf das Eisengeflecht zu setzen, kamen sie zu zweit oder zu dritt vorbei, kaum, daß ihre Schatten über mich hinflogen, für Bruchteile von Sekunden hörte ich ihre Stimmen, ein unverständliches, ununterscheidbares Schwatzen, sie waren unkonturierte Tonnen von Dunkel, sprachlose Silhouetten, die mich überwehten, nichts konnte ich sehen, außer den Gegenständen, die sie trugen, an die Hüften gedrückt hielten sie große, offenbar schwere Pappkartons, die allein deutlich zu erkennen waren, wenn sie über das Gitter schwebten. Ich sah die Frauen in solchen Momenten erst wieder, wenn sie vor der kleinen Leiter an der Mühle für die Materialabfälle haltmachten. Dies war die ersehnte Minute, in der ich die Stirn, das Gesicht gegen das Gitter preßte, um zu sehen – um zu sehen, wie eine der beiden Frauen die Bockleiter bestieg, um sich nach vorn über den Trichter der Mühle zu beugen, der Augenblick, in dem mir entgangen war, daß eine dritte Frau den beiden ersteren folgte und einen Eimer in der Hand trug. Es war der Augenblick, da der Saum des Kittels, der die sich vorbeugende Frau auf der Leiter kleidete, über die geröteten Hinterflächen ihrer Schenkel hoch hinaufzugleiten schien, das hauchdünne Synthetiktuch des Kittels im Licht des danebenliegenden Fensters, in diesem weißglühend eindringenden Sonnenlicht entflammt schien, der Augenblick, in dem die schweren, leichthin aufklaffenden Gesäßhälften sofort sichtbar werden mußten, wie durch physikalische Zauberei in einer unwägbaren Sekunde, gleich, sofort, den Punkt eines unsichtbaren Dunkels zu entblößen, der blitzartige Augenblick, in dem ein heißer Sonnentropfen die Nerven des Fleischs, das dort frei werden würde, entzünden mußte – ich hatte keine Ahnung, was ich damit meinte –, und der Moment, in dem sich die dritte Frau, die den vorangehenden gefolgt war, einem tollen, wohl hundertmal wiederholten Scherz hingab, nämlich mit mächtigem Schwung der Arme den Inhalt des Eimers, fünf oder sechs Liter kalten klaren Wassers, mit einem scharfen, wohlberechneten Ruck von bedenkenloser Zielsicherheit, die das Wasser eine pfeilgerade Linie durch die brennende Luft beschreiben ließ, unter den Schürzenrock der Frau auf der Leiter, haargenau zwischen die Schenkel der Frau, knallend auf den gesamten hinteren Unterkörper der Frau zu gießen, das belustigte gellende Geschrei der Frau auf der Leiter bestätigte unverzüglich die obschon erwartete, aber dennoch überraschende, höchst dankbare Annahme des unfehlbaren Volltreffers; oh, welch willkommene Abkühlung, ich sah nichts, ich sah den Schwall des Wassers sprühend abprallen, was ich hatte sehen wollen, war überschwemmt, von Wasser verwischt und verzerrt, ich stürzte vom Stuhl, um das jagend zurückströmende Wasser, das auf das Gitter zuschoß und durch die eisernen Maschen in den Keller eindrang, aufzufangen, mit den hohlen Händen, die es nicht zu fangen vermochten, mit dem Gesicht, das im Nu von Spritzern überflossen war, mit der Nase, mit dem aufgesperrten Mund, als könne ich eine Winzigkeit, einen vielleicht kaum merklichen Flor des Weiblichen, der vielleicht abgewaschen und mitgespült worden war, von dem das Wasser bei aller Schnelligkeit des Geschehens dennoch ein wenig benetzt sein mußte, mitkriegen, verschlingen, in einer einzigen Pore meiner Haut, wenn auch unbemerkt, bei mir behalten. Nichts als der vom Fußboden gerissene Staub traf meine Lippen, nichts als der Ölgeruch des verunreinigten Wassers blieb mir an den Händen, ich hatte ausschließlich den brandigen Gummigeruch, den unmenschlichen Kunststoffgeruch in den Nüstern, welcher, von dem Wasser sekundenlang abgekühlt, nun noch deutlicher und perverser zu schmecken war.

 

Langsam hatte ich begonnen, mich in eine Krankheit zu verwandeln. Wie alles, was ich hervorbrachte, war auch diese Verwandlung vollkommen übertrieben, wenn sie schon nicht das Leiden eines Menschen war, war sie schließlich auch nicht mehr das eines Tieres. Es führte dazu, daß man mich aus dem Betrieb entließ, die Einzelheiten, die dazu führten, sind nicht erwähnenswert, ich lebte in Umständen, in denen die Symptome wichtiger waren als die Gründe, oder vielmehr die Gründe sich andauernd in die Symptome verwandelten, tagsüber versteckte ich mich in der Wohnung, abends erst, in der Dunkelheit, ging ich aus, ich ging in den abgestorbenen Straßen der Stadt umher, in Selbstgesprächen, mir schallende Reden haltend, schwitzend, mit milchgrünen Blattern bedeckt. Es war etwas Furchtbares geschehen, das Schlimmste, seitdem ich das Leben von außen zu betrachten vermochte, seitdem ich es vermochte, das Leben zu benutzen, um Beschreibungen anzufertigen, die mir ein inneres Leben ermöglichen sollten. Etwas Furchtbares, und ich sollte es eine Schönheit nennen – wenn mir ähnliches schon gelungen war? … ich hatte es immer bezweifelt? … so war die Diskrepanz diesmal die tiefste, sie war entsetzlich, nichts an dem Vorfall ließ sich in eine schöne Idee für mein inneres Leben verwandeln. Früher hatte es mir nichts ausgemacht, den Schmutz schillern zu lassen, in meinen früheren Schreibarbeiten, die ich der Veröffentlichung preisgegeben hatte, dem? … ich grinste? … dem Druck, oder die ich anderswie von mir entfernt hatte, die mir auch entfernt worden waren, waren die Ungeheuerlichkeiten immerhin schmackhaft gewesen, ich hatte sie in billige Mystifikationen gekleidet, und wenn sie sich auch nicht irgendwo etablieren ließen, so wurde ihr Verkauf wenigstens diskutiert. Oh, diese schönen Gefängnisse – so etwa hatte ich die Mülltonnen, die auf der Straße standen, wenn nicht gerade als nützlich, aber doch als Reflektoren eines magischen Mondlichts beschrieben, ich hatte sie glänzen lassen, wie große Konservenbüchsen in der Sonne, ich hatte ihren Glitzer silbern genannt.

Jetzt aber war etwas geschehen, das nicht so leicht umzubiegen war, es hatte nichts mit irgendeiner Verunreinigung zu tun, eher war es ein Mangel an Reichtum, ein Verlust, ein besonders schmerzlicher, die Stadt schien sich mit einemmal von einem bestimmten Inhalt befreit zu haben, anfangs war es mir, als hätte sie sich von einem ihrer Gerüche befreit. Der Wahnwitz mußte mit dem Tag meiner Entlassung aus dem Betrieb begonnen haben, seit diesem Tag jedenfalls fehlte mir etwas Bestimmtes; als ich mich am Abend auf die Straße wagte, rang ich nach Luft, mir war, als sei der Luft ein spezielles Aroma entzogen, das mir lebensnotwendig war. Ich suchte nach der Ursache dieser Empfindung, dann kam mir ein Verdacht, der sich verstärkte, und bald ging ich tagelang umher, nur um festzustellen, wie recht ich hatte, nächtelang, nur um mir den scheußlichen Verdacht zu bestätigen: sämtliche Weiber waren aus der Stadt verschwunden. – Es half mir nichts, daß ich mich von einer Zwangsvorstellung besessen fühlte, in meinem übermächtigen Kopf flammte es in jagenden Lettern, daß sie alle aus der Stadt verschwunden waren, sämtliche Weiber, und mit ihnen schien auch jeder Hauch von Weiblichkeit aus der Stadt entwichen. – Noch nicht genug, es kam mir vor, als seien selbst die weiblichen Wörter nicht mehr in Gebrauch, ich glaubte plötzlich zu bemerken, daß man in dieser Stadt eine Tonne als einen Kübel zu bezeichnen begonnen hatte. Wenn ich sie von weitem erblickte, die Mülltonnen, die in diesem Sommer in langen Reihen an den Rändern der Trottoire aufgestellt waren – und ohne daß Aussicht auf Änderung bestand, da die Müllabfuhr noch funktionsuntüchtiger als im Winter war –, glaubte ich stets zuerst, es handele sich um eine Serie von unförmigen Weibern, die sich dort aufhielten, matt irisierend in der bläulichen Straßenbeleuchtung, und ich näherte mich schnell. Ich erkannte, daß es lediglich die Mülltonnen waren, die ich allnächtlich sah, aus ihren klaffenden Öffnungen hing Gerümpel, das mir behaart vorkam, das von einem nicht auszumachenden Übel war. Ich ging so weit, eine der Tonnen heftig zu umarmen, sie vom Boden abzuheben, wie man es im ersten Feuer großer Wiedersehensfreude gelegentlich tut – in dieser Jahreszeit war das möglich, da die Behälter gewöhnlich nur faules Obst und zerknülltes Papier, vielleicht auch einige alte Kleider enthielten –, es bestätigte sich, daß ich einen kühlen, häßlichen Kübel umschlungen hielt, aus verschmiertem Metall, das mich abstieß, donnernd stellte ich ihn wieder auf das Pflaster und war von Fliegen umschwärmt, die in dem Unrat der Behältnisse ausgeruht hatten, die mich plötzlich für den besseren Platz zu halten schienen, aber empört flohen, wenn ich sie zu greifen versuchte.

Dennoch hielt ich mich lange und häufig in der Nähe dieser Tonnen auf; in einer solchen Stadt, meinte ich, ist es möglich, daß eine Frau gerade, der schaumgeborenen Aphrodite gleich, aus dem Innern eines derartigen Gefäßes auftaucht und ans Licht steigt.

Niemals zuvor hatte es geringste Anzeichen für den Skandal gegeben, auf den ich seit meiner Entlassung blickte: Das Verschwinden der Weiber, so meinte ich, mußte sehr schnell vonstatten gegangen sein, eine radikale, reibungslose Aktion, eine Nacht- und Nebelaktion, ohne Widerstand, womöglich waren sie alle freiwillig und gemeinsam verschwunden, es war, als hätten sie sich in Luft aufgelöst und wären dann mit einem Wind, den ich nicht bemerkt hatte, davongeblasen worden. Wahrscheinlich war es an jenem Tag geschehen, an dem ich unter gräßlichen Wirren aus dem Betrieb flog; am Abend nämlich, als ich in der Stadt erschien – was für mich einer Rückkehr zu einem schon verloren geglaubten Ort gleichkam –, spürte ich augenblicklich, daß die Tatsachen nicht mehr mit meiner Erinnerung übereinstimmten, ich witterte es mit dem Instinkt einer Hyäne. Ich fragte mich, stand dieses Verschwinden in einem ursächlichen Zusammenhang mit meiner Rückkehr, lag es an der Gefahr meiner um ein beträchtliches Zeitmaß erweiterten Möglichkeit, freizügig durch die Straßen zu schlendern, hatte ich sie auf andere Weise erschreckt, vertrieben, hatte meine Ankunft in der Stadt sie einfach aufgelöst, vertrugen sie nicht den Stoff, aus dem ich gemacht war, war ich eine Art Antimaterie zu der ihren. Konnte ich sie bloß nicht mehr sehen? … hören, riechen. Ich hatte es doch im Betrieb noch gekonnt, der ein sogenannter Frauenbetrieb war, wo man nur einige wenige männliche Exemplare beschäftigte? … wenn ich nicht irrte. Ich wußte nicht mehr genau, ob ich in diesem Punkt irrte, ob ich vielleicht auch im Betrieb schon die Frauen nicht mehr sehen, nicht mehr feststellen konnte. Für Wochen gab es für mich kaum noch Zweifel, daß ich an ihrer Flucht die Schuld trug, daß das, was ich meine Rückkehr in das äußere Leben nannte, ihren Augen eine zu monströse Beleidigung gewesen sei. Aber was an mir war es, waren es meine allerorts zu erwartenden drohenden Reden, die sie verjagt hatten, war es mein Aussehen, waren es diese nicht mehr zu kontrollierenden Verfärbungen an mir, die Tatsache, daß ich immer finsterer wurde. War es meine Geilheit, irgendeine verschlagene Lüsternheit, die mich so lange aufregte, bis ich feststellte, daß sie ohne Basis war, daß mir die Kraft fehlte, die ihre Ideen hätte verwirklichen können. War es meine Gier, die sie abstieß, der Geruch meiner trockenen Gier, die Sucht, sie immerfort zu sehen, sie in der Nähe zu haben, war es meine Hand, die längst zu zittern begonnen hatte, da sie nicht eine der ihren berühren, streifen konnte. War es mein Geiz, der mich ihre weggeschmissenen Tempotaschentücher einsammeln ließ. War es der Lärm meiner Gurgel beim Leertrinken meiner Flaschen. War es der Lärm meiner Wimpern, die sich senkten, sobald nur ein flüchtiger Blick von ihnen über mich hinflog. War es, daß ich auffiel, da ich mich aufs erbittertste unauffällig verhielt. Oh, war es mein Geheul, das mich schüttelte, wenn ich in den Nächten ohne Aussicht auf den Anblick nur einer von ihnen in mein Zimmer verkrochen war, war es meine Tollwut, die sie ahnten.

Es konnte freilich auch umgekehrt sein – möglich, daß ich verschwunden war, und sie statt meiner noch vorhanden. Daß ich sie nicht erblickte, weil ich fort war, nichtexistent, aufgefressen und lediglich versteckt in den Eingeweiden meiner eigenen Filzläuse, denen es nicht möglich war, in ihrer kühlen Reinheit zu nisten. Oder ich war versteckt in den Eingeweiden meiner Mutter? …

Möglicherweise hatte es doch ein Vorzeichen dieses Skandals gegeben. Ich erinnerte mich eines nachhaltigen Erschreckens, das mir ein Begebnis aus dem vorigen Winter verursachte. Sehr früh eines Morgens saß ich in einem Bus von A. nach M., in einem der ersten, der so zeitig diese Strecke befuhr; er war vollbelegt mit Arbeitern, die zur Frühschicht wollten, nur der Platz auf der Sitzbank neben mir war noch frei. Er blieb unbesetzt, obwohl sogar Leute im Gang zwischen den Bänken standen. Es war weder Zufall noch Irrtum, man vermied es ganz offensichtlich, sich neben mich zu setzen. Tatsächlich, ich sah aus, als wäre die Krankheit schon bei mir, als wäre ich schon eine Krankheit, dabei wußte ich, daß sie mich noch nicht eigentlich gepackt hatte, ich erwartete sie für den kommenden Sommer, wenn ich auch noch nichts von ihren Symptomen ahnte; jetzt deutete ich die Dinge dahingehend, daß ich mich, auf einer Wochenendreise, während der mir alles durcheinandergeraten war und während der ich in den vergangenen zwei oder drei Nächten nicht zum Schlafen gekommen war, in eine hohläugige, fieberglänzende Ruine verwandelt hatte, wankend trug ich einen trübschimmernden Nebel zur Schau, der von meiner blaßgrauen Gesichtshaut ausging, es war ein übelriechender Nebel, der mir aus dem brennenden Mundinnern und aus den ungewaschenen Achselhöhlen stieg. – Gerade auf dem Platz vor mir saß ein Mädchen in der Bank, eine junge Frau, getrennt von mir durch die Rückenlehne, die vor mir aufstieg und nach dem grünen Plastikbezug roch; die junge Frau hatte mit schläfrigen Blicken direkt neben mir den Bus betreten und sie war unendlich schön. Charakteristisch an ihr war, ich hatte es sofort bemerkt, daß ihre Nase einen scharfen Knick aufwies und sich ein wenig nach der linken Seite hinüber verformte; entweder mußte ein schrecklicher Unfall ihr einst das Nasenbein gebrochen haben, oder es lag an der sorgfältig operierten, und beinahe vollständig ausgebügelten Hasenscharte auf ihrer Oberlippe, eine sehr milde Unregelmäßigkeit, die anscheinend aber für den jüngeren Mann, der neben ihr saß, Grund genug war, so weit wie möglich von ihr abzurücken. Dieser jüngere Mann, leger gekleidet und offenbar viel weniger übelriechend als ich, gehörte einer der Werkzeugmacherei überstellten Abteilung meines Betriebes an und war ein sogenannter Dispatcher, war also im weiteren Sinn einer meiner Vorgesetzten; jetzt schien er mich glücklicherweise nicht bemerkt oder nicht erkannt zu haben. Sein Name lautete ganz genau so wie der meine, weswegen er schon des öfteren mit mir verwechselt worden war, oder vielmehr ich mit ihm; das Mädchen, ebenfalls unserem Betrieb angehörend, wenn auch nicht der Presserei, hatte einige Male in sehr leisen, mir nicht verständlichen Sätzen das Wort an ihn gerichtet – wobei sie, dies verstand ich, ihn vertraulich mit seinem Vornamen ansprach; ich hörte von ihrer gesamten Rede lediglich den leise gelispelten Vornamen, der mein eigener war, und der mir aus ihrem Mund wundersam klang – er aber hatte ihr nicht geantwortet, noch sie kaum eines Blickes gewürdigt. Ich war fest entschlossen, ihm bei nächstbester Gelegenheit, unter einem Vorwand, ebenfalls das Nasenbein zu zerschlagen, mit einem Fausthieb – diese Absicht sollte, wenn auch als rein verbaler Tatbestand, ein halbes Jahr später wirklich eine Rolle spielen und ihren Teil zu meinem Hinauswurf aus dem Betrieb beitragen. – Sie hatte es wohl aufgegeben, mit ihm zu sprechen, und den Kopf gegen die Lehne zurückgelegt, ihr langes dunkles Haar hing in einigen glatten Ergießungen über das Polster zu mir herab, und nach einer scharfen Kurve bemerkte ich, daß meine Hand, in dem Glauben mich abstützen zu sollen, nach dieser Lehne gegriffen hatte und nun dort verharrte. Die Hand war mir nur einen Zentimeter neben dem niederhängenden Haar liegengeblieben, sie lag dort, ohne daß sie es nur im mindesten berührte. Ich sah mich im Bus um, in Sorge, ob jemand die verräterische Lage dieser Hand bemerkt hatte. Ich mußte diese Hand nur um einen Zentimeter bewegen, um das Haar des Mädchens zu berühren, wahrscheinlich, ohne daß es selbst dies zu spüren bekäme. Ich bewegte diese Hand nicht, diese Hand bewegte sich nicht. Gebannt und verzweifelt war ich in der Überzeugung erstarrt, daß es nur eine Berührung sein durfte, die an der Haut eines normalen Menschen kaum mehr als die Empfindung eines unscheinbaren Kitzels hervorriefe, kaum die Ahnung eines Kitzels, so leicht und hauchdünn? … eigentlich war es für jeden normalen Menschen keine Frage, daß er auf eine solche Berührung ruhig verzichten konnte, niemand eigentlich verschwendete überhaupt einen Gedanken an eine solche Berührung. Daß mir davon das Herz zu flattern anfing, daß diese Idee mir Nadelstiche bis in die unteren Extremitäten trieb, eine unbezwingliche Nervosität, hatte zur Folge? … ich glaubte, meine Hand zucken zu sehen, der lähmende Drang, diesen einen Zentimeter augenblicklich zu überwinden, pulsierte unverkennbar in den Fingern? … daß mir der gesamte Arm zu Stein erstarrte und, bei allem von mir aufgebrachten Willen, bewegungsunfähig blieb? … hatte zur Folge, daß mir nur noch ein bedenkenloses Zufassen übrigblieb, ein blindes Ergreifen dieser Haarsträhnen, mit dessen Hilfe der Kopf der jungen Frau in meine Richtung herumflöge, so daß mit einem Mal die Blicke unserer Augen ineinanderfallen mußten, mein Auge mit einem Mal mitten in das Unglück ihres Antlitzes träfe, mit einem Mal der Name, der noch hinter ihrer Stirn verweilen mußte, seinem wahren und einzigen Besitzer zugerufen werden mußte? … oder daß ich feststellte, das Haar sei dasjenige einer Perücke, ich ahnte, ich erkannte es schon, diese unbewegliche Hand werde an einer Attrappe reißen, in meiner Hand werde sich dieses Haar in Kunststoff verwandeln, diese erstarrten und künstlichen Finger würden nur die kalten, gefühllosen Flechten einer perfekt gefertigten Perücke anrühren? … meine Hand, erbleicht, in weißer Hektik, als habe sie die fanatische Färbung meines schlafentwöhnten Gesichts angenommen, bewegte sich nicht im geringsten. Es war ein Gedanke in dieser Hand, der mich tief verletzte, es war in ihr der schreckliche Verdacht, daß dieses dunkelglänzende, weiche und duftende Haar vor mir, obwohl ich es deutlich sah, nicht in Wirklichkeit existierte.

Meine Verluste nahmen zu: offenbar hatte ich sogarverstummen ließ meinen Namen verloren, ja, ich wußte nicht mehr, wer ich war, mein Name war das Eigentum einer fremden Figur, nur dadurch war er bei den Weibern, und sie ahnten nichts davon. Mein Name war verloren, wie mir all dieses strömende, knisternde Haar verloren war? … es war verloren, da ich es nicht berühren durfte, ach, es war nicht mehr zu retten. – Als wir uns der Stadt M. näherten, fuhr der Bus an weiträumigen Müllablageplätzen vorüber, wahre Müllpyramiden gipfelten in der Landschaft alter, schon zugeschütteter Tagebaue, die schwer aufheulenden Transportfahrzeuge erklommen die Berghänge des Abfalls, bis sie endlich eine Möglichkeit gefunden hatten, sich zu entleeren, noch einmal heulten sie scheußlich auf und kippten ihre Lasten aus den orangerot gefärbten Bäuchen. Kreiselnder Wind schlug sich in die wüst auffliegenden Ladungen? … und ich hatte den Eindruck, es würde Haar in ungeheuren Mengen über die Halden gestürzt, ich bildete mir ein, kolossale Ballen verfilzten Haars aller Farbschattierungen würden hier dem Wetter preisgegeben, oh, ich sah, wie das Haar in der Ebene rauchte, wie Wolkensträhnen davon in Richtung der letzten kahlen Bäume abgetrieben wurden, wie sie sich im krüppligen Wintergeäst verfingen, um dort zu wehen, schwarze Fahnenfetzen, Fahnen der Klage über die mörderischen Traditionen meiner Heimat. Zitternd vor Entsetzen hatte ich den Bus verlassen, als er an einem Fußpfad in Richtung eines Dorfes anhielt. Ich war plötzlich kalt vor Schweiß und mir war übel geworden, mit zerreißender Intensität drängte sich mir ein Gedanke auf, der mich in Panik versetzte, der mir unerklärlich war und dennoch von so unwiderruflicher Wahrheit, wie man sie nur in einem zwanghaften Verdacht zu erfahren glaubt, zu dessen Bestätigung sich plötzlich die gesamte Umwelt in ein Indiz zu verwandeln scheint. Ich erinnerte mich: als ich einmal, vor ziemlich genau einem Jahr, ohne Anstellung in M. einige Monate von erspartem Geld lebte und die arbeitslose Zeit zu einem Schreibvorhaben zu nutzen mich anstrengte – es sollte dies eine Liebesnovelle mit tragischem Ausgang werden, ganz zu meiner eigenen Erprobung, denn ich wußte, daß ich ein Manuskript mit so beschämender Thematik niemals vorzuzeigen mir erlauben würde –, wurde ich überraschend auf das Amt für Arbeitskräftelenkung in die Kreisstadt vorgeladen, wo Rechenschaft darüber von mir verlangt wurde, weshalb ich seit einiger Zeit keiner geregelten Arbeit nachginge. Ich geriet ins Stottern, mir wollte keine überzeugende Ausrede einfallen, der drohende Unterton in der Stimme der schwergewichtigen Frau, die mich verhörte, irritierte und entlarvte mich, ehe ich den Mund geöffnet hatte, und alle Erklärungen außer der, mit der ich Farbe bekannte, erschienen mir zwecklos. Die reglos auf mir ruhenden Augen der Frau nahmen einen Schimmer an, in dem sowohl Spott als auch Empörung waren, sowie ich umständlich von meinem seit früher Zeit mich beherrschenden Hang zur Schriftstellerei sprach, dem zu folgen ich für meine eigentliche Aufgabe halte? … – ach, sagte sie, was wollen Sie denn schreiben? … – eine Frage, die mich sofort verstummen ließ –? … Sie haben doch nicht einmal das Abitur gemacht. Nein, sagte sie, Sie haben noch nicht einmal die zehnte Klasse geschafft. Aber wir haben Ihnen die Chance gegeben, einen sehr ordentlichen Beruf zu erlernen? … den Sie auch schon wieder an den Nagel gehängt haben. Ihre Dankbarkeit, dem Staat und der Gesellschaft gegenüber, läßt sehr zu wünschen übrig, um nicht zu sagen, sie nimmt kriminelle Ausmaße an. Sie wollen Künstler sein? … was wollen Sie denn schreiben? … Schriftsteller, und scheuen doch davor zurück, einen Blick ins wahre Leben zu werfen. Ich kann Ihnen da einen sehr guten Vorschlag machen. Sie wissen doch ganz sicher, daß man in der Abteilung für Stadtreinigung in M. einen erheblichen Arbeitskräftemangel zu verzeichnen hat. Dort, bei der Müllabfuhr, die ein sehr wichtiges Arbeitsgebiet ist, werden da etwa nicht andauernd junge Leute gesucht. Sie sind doch jung und ziemlich kräftig, Sie wollen nicht in Ihrem Beruf arbeiten, was bedauerlich ist, aber Sie sind ein ziemlich kräftiger Mensch, und die Arbeit dort ist nichts für empfindliche Gemüter. Sie müssen sich dort unbedingt so schnell wie möglich melden? … – Ich nickte und versprach, der Empfehlung zu folgen, doch sie sah mir an, daß ich log: Gut, machen Sie das? … ich werde Sie einstweilen registrieren, damit wir ein Auge auf Sie haben können, damit Sie uns nicht auf der schiefen Bahn bleiben. –

Ob ich mich dieser Rede wortgetreu erinnerte, wußte ich nicht. Es war nebensächlich? … es war, als ob ich mir einen Angriff in noch weit gefährlicherer Form herbeigewünscht hätte: Panik erfüllte mich, und um diese einzudämmen, mühte ich mich, mir die Rede der Frau in allen Einzelheiten zu wiederholen, im Geiste steigerte ich die Heftigkeit ihrer Sätze; war mir einer dieser gegen mich gerichteten Gedanken zu schwach erschienen, suchte ich ihn so lange zu bessern, bis seine Schärfe mich wirklich zutiefst verletzte. Schneidend ließ ich mir ihre Rede durch den Kopf gehen – während meines panischen Auf- und Abschreitens vor der eisigen, regenüberwehten Müllhalde, und später während meines Fußmarsches in Richtung zur Stadt, dahin ein neuer Bus erst in etwa zwei Stunden fahren würde –, dabei, das begriff ich plötzlich, waren mir weder Dummheit noch Bosheit des Gehörten das Maßgebende, sondern einzig und allein der Umstand, daß dieserart eine Frau, und nicht ein Mann, zu mir gesprochen hatte. Wäre es ein Mann gewesen, ich hätte einen solchen Anwurf kurzentschlossen für nichts als eine Beleidigung halten können, ich hätte mit einer ebensolchen antworten können, ach, es wäre mir möglich gewesen, darüber zu lachen, ich hätte das Ganze gleich nach dem Verlassen des Amtsgebäudes vergessen können. Zu einer wirklichen Bedrohung schienen die Vorwürfe erst zu werden, als sie aus dem Munde einer Frau kamen, mit einer kalten Gefühllosigkeit, gegen die ich machtlos war, mit einer steinernen Entschiedenheit, die mich dem Müll zuordnete.

Die Verletzung durch die Worte der Frau – die für mich nicht abzutrennen war von der Tatsache, daß sie mir ein weiblicher Mund zufügte – schützte mich dennoch – und um so mehr, je grausamer die Verletzung war – vor dem nackten Blick darauf, daß es die Staatsmacht war, die ein Auge auf mich hatte, die Macht mit ihrer Möglichkeit zu strafen, die der Meinung war, ich befände mich auf der schiefen Bahn.

Wenn es mir gelang, den Besitz einer Identität zu verspüren, wenn ich irgendeine schleierhafte Wertvorstellung von meinem Ich je zu entwickeln imstande war, so stets nur dadurch, daß ich mich schreibend als ein Subjekt erfuhr, als ein Subjekt freilich, das ich niemals öffentlich preiszugeben wagte: auf dem Amt für Arbeit war mir dies unterlaufen, und man hatte meinem Ich augenblicklich die denkbar schärfste Abfuhr erteilt. Mein Ich war für die Beamtin überhaupt keine Kategorie, für sie stand es außer Frage, daß es in der ihr von mir nahegebrachten Form keinerlei Existenzberechtigung hatte. Sie hatte mir nicht einmal ausdrücklich Arbeitserziehung angedroht – dazu hätte ich ein Subjekt sein müssen, das es wert war, im Arbeitslager verändert zu werden? … wenn sich ihre Worte diese Möglichkeit auch überdeutlich vorbehielten. Es war ein Glück für meine aufgelösten Gedanken, in diesem Fall eine einfache Projektion wählen zu können, ich hatte es mit der ganz gewöhnlichen Feindseligkeit einer Frau gegenüber einem scheinbar lebensuntüchtigen Mann zu tun, ich war ein Mensch, der nicht arbeitete, der keinerlei Vorsorge traf, der womöglich seiner Familie auf der Tasche lag, mit allen unangenehmen sozialen Folgen, die daraus resultierten, und der sich noch dazu mit einem unberechenbaren intellektuellen Gehabe spreizte. Ich kannte diese Art von Verständnislosigkeit nur zu gut von meiner Mutter – wenn meine Mutter mich mit Vorwürfen über meine Untüchtigkeit und Faulheit überhäufte, begründete sie ihre Enttäuschung über mich immer wieder mit der Befürchtung, ich werde eines Tages im Arbeitslager landen. – Es war mir, als könne ich bei diesem Gedanken sogar ein wenig Wärme verspüren, ich beruhigte mich für Augenblicke, das gleichmäßige Dröhnen der Busmaschine ließ mich in leichten Schlummer versinken.

Mein späteres zwanghaftes Aussteigen an dieser Haltestelle hatte noch einen Anlaß, der im Grunde ebensowenig Erklärung bot: ich hatte irgendwann, vor lange zurückliegenden Zeiten, vielleicht zu Beginn der sechziger Jahre, ein Manuskript verfaßt, das mir abhanden gekommen war. Es war ein Manuskript, dessen Existenz mir ungeheuer peinlich war, und ich hatte es versteckt, verlegt, verdrängt, vergessen, so intensiv, daß mir, wäre es plötzlich wieder aufgetaucht, die Behauptung leichtgefallen wäre, ich habe es nicht selbst verfaßt, möglich sogar, daß ich dieser selbst Glauben geschenkt hätte. Als ich nun, in jenem ein Jahr zurückliegenden Winter, nach meiner Vorladung auf dem Amt für Arbeit, von A. heimwärts nach M. fuhr und dabei im Bus einnickte, träumte ich während des vielleicht nur minutenlangen Schlafs von diesem Manuskript, das mir wahrscheinlich meinen Glauben an mich auch als Schriftsteller schwer erschüttert haben mußte. Zu meinem Entsetzen hatte ich in dem Traum das Heft, darin ich das gräßliche Machwerk vermutete, in einiger Entfernung von mir auf einem breiten Schreib- oder Richtertisch entdeckt, hinter dem dunkel vermummte Personen gegen mich verhandelten. Alle Anklagepunkte gegen mich blieben unverständlich, sie wurden von einer Frauenstimme verlesen, zweifellos war es die Stimme der Beamtin aus dem Büro, aus dem ich kam, und sie hatte natürlich allergrößte Ähnlichkeit mit der Stimme meiner Mutter: als äußerst strafverschärfender Umstand, meiner völligen moralischen Vernichtung dienend, wurde die Existenz jenes Manuskriptes gewertet, das in aller Öffentlichkeit auf dem Tisch lag, das ich zu meiner ärgsten Pein als mein eigenes anerkennen mußte, das ich vergeblich versuchte an mich zu reißen, womit ich mich erst recht als sein Urheber darstellte? … ich mußte sogar so weit mißverstanden worden sein, daß man glaubte, ich wolle auf seinem Besitz nach wie vor bestehen. – Während des etwas mehr als halbminütigen Halts am Rand des Müllablageplatzes war ich wie benommen aus dem Traum gefahren, schweißüberströmt, von Grauen geschüttelt suchte ich mich zu orientieren, draußen rasten Wind und Regen in großen Mengen zerstreuter Papierfetzen, die vor dem Bus über die Straße getrieben wurden – in dem Moment, als das Fahrzeug wieder anfuhr, klebte für Bruchteile von Sekunden eine halb durchgerissene Heftseite direkt neben meinem Gesicht außen am Busfenster, es war eine Seite aus einem Schulheft für die Volksschule, wie ich sie lange benutzt hatte, es war mit grüner Tinte beschrieben, in einer noch unausgereiften Schrift, in der ich deutlich meine eigene Schrift von früher zu erkennen glaubte. Es war eine Halluzination, ich meinte sogar Teile des Textes entziffern zu können, feiger Schrecken packte mich, ich bildete mir ein, es sei ein Stück jener kindisch-obszönen Geschichte, die mir verschwunden war, die ich vergessen hatte? … der Text schien mir plötzlich wieder gegenwärtig, es war der beschämende Versuch einer Pornografie, die ich einst für mich selbst geschrieben hatte? … das Papier flog davon, der Bus fuhr, ich konnte nicht mehr aussteigen. Ich konnte natürlich nur einer Täuschung zum Opfer gefallen sein, dennoch blieb es eine Tatsache, daß es in meiner Vergangenheit ein so widerwärtiges Schriftstück gab, widerwärtig lediglich auf Grund des Umstandes, daß ich der Verfasser war, der Traum hatte mich allzu deutlich erinnert, es ließ sich nicht mehr leugnen. – Es war ein Alptraum, eine Halluzination, dennoch genügte es, daß ich, zu Hause angekommen, wie ein Wahnsinniger nach den alten kompromittierenden Seiten suchte: ich fand sie nicht, obwohl ich die ältesten, von mir beschriebenen Papierbündel aus den verborgensten Winkeln hervorzerrte. Ich machte eine andere scheußliche Entdeckung: einmal mußte meine Mutter alte Papiere von mir von einem Platz an einen anderen geräumt haben, es waren uralte blödsinnige Texte, die ich längst verbrannt zu haben meinte, ich bildete mir ein, darunter hätte ich die bewußten Pornografieseiten finden müssen? … aber ich fand sie nicht.

Ich hatte längst vergessen, was in dem alten verlorenen Text stand. – Später, im Sommer, als mich die Krankheit – die eine Krankheit meiner Sprache war – erreicht und schon derart ausgehöhlt hatte, daß ich mich hemmungslos mit wahren oder unwahren Erinnerungen auffüllen konnte, glaubte ich öfters, gewisse Sentenzen aus jener alten Pornografie hielten sich noch in einigen Winkeln meines Gehirns versteckt, witterten plötzlich eine Chance, um mir ins Bewußtsein zu treten. Ich zweifelte sie sofort an, ich konnte mich nicht einmal mehr auf den Wortlaut jenes Schriftfetzens besinnen, den ich vor einem halben Jahr durch die regenüberflossene Busscheibe zu lesen geglaubt hatte. Ich hielt es nicht für möglich, daß ich damals, während meines Versuchs, einen obszönen Text zu verfassen, mehr im Auge gehabt hatte, als die schwülen Vorstellungen meiner Phantasie zu kolportieren, geschweige denn, daß ich irgendwelche gesellschaftliche Bezüge herzustellen gedachte. In meinen Bemühungen, mir den Text noch einmal heraufzubeschwören, spielten mir derartige Zusammenhänge aber immer dazwischen. Womöglich war ich schon jetzt im Begriff, mich mit einem aufgewerteten Text vor mir selbst zu rehabilitieren. Ich werde aber niemals, sagte ich mir, auf den wahren Hintergrund meiner damaligen Verirrung stoßen, wenn ich es nicht aufgebe, die Roheit meiner Gefühle zu kultivieren, und ich werde nicht auf den Krankheitsherd meiner Sprache kommen, wenn ich mich nicht vollkommen entblöße, denn es scheint deutlich, daß die Schizophrenie meiner Sprache schon damals begonnen hat.

Ja, es war eine Krankheit meiner Sprache? … seit dem Frühjahr verfolgte ich ihre Symptome auf langen nächtlichen Streifzügen, immer wieder wanderte ich die um diese Zeit schon unbefahrene Landstraße entlang, bis an den Rand dieser großen, einsamen Müllhalde, deren Schattenwüste von roten unruhigen Feuern zerrissen, von unterirdischem Glutschein erleuchtet war, die von Ratten und von entlaufenen kranken Hunden bevölkert war, sie war mir ein seltsam magisches Ziel? … und ein Ausgangspunkt, sagte ich mir. – Es wollte mir nicht mehr gelingen, einen sozusagen normalen Text aufs Papier zu schreiben, eine einfache leichtsinnige Beschreibung, ohne daß sich mir merkwürdige, verstiegene Anklagen einmischten, die irgendeine widerwärtige Feigheit meiner Seele zu kompensieren suchten. Stets bedurfte es nur allergeringster Anlässe – und stets waren es Anlässe von ähnlicher Beschaffenheit –, um in meinem Innern ein niederträchtiges Gefühl heraufzubeschwören, eine Art siedender Gärung, die mich sofort von dem Platz, wo ich gerade saß, vertrieb, mich aufspringen und hinausstürzen ließ in die Straßen der nächtlichen unbelebten Stadt, die mich in hysterischem Eilschritt aus der Stadt verjagte, als sei die helle - Panik in meinen Eingeweiden noch von den wenigen erleuchteten Fenstern der Häuser aus sichtbar.

Mein äußerer Körper hastete völlig empfindungslos durch die Nacht, während in mir Sprache eingebettet war in die muffige, diffuse, aber doch zähe Pestluft einer unergründlichen alten Angst, gefangene Wörter zappelten in ihren nebelhaften Netzen, die, je mehr Fäden und Maschen in entsetzter Bewegung zerrissen wurden, sich um so dichter und feiner spannen. Was taten meine Wörter inmitten dieses Dickichts, fragte ich mich: vielleicht versuchten sie sich zu paaren und es gelang ihnen nicht; geh weg, komm doch, bleib hier? … es waren Wörter, die an dem Mißtrauen gegen den Ort, da sie gesprochen wurden, verdorben waren. – Ich glaubte mich zu erinnern, daß ich das Ich jenes frühen pornografischen Textes ebenfalls in eine Substanz gebettet hatte, die einem feuchten und modernden Dickicht glich. Dabei war mir unklar, ob ich nicht meine aktuellen Gelüste diesem früheren Text aufpfropfte – dennoch meinte ich in ihm beschrieben zu haben, wie ich mich mit einer Freundin, die ich kaltschnäuzig nannte, deren Kopf sich mir zeitweise ganz verbarg, auf ein weiches Lager legte, das aus einem Gemisch von verschiedenstem Haar bestand, aus Haufen von Frauenhaar? … Flechten, dicke Zöpfe, wüste halbverdorbene Knäuel, Ballen, die vor der Eiseskälte eines schmutzigen Betonbodens schützten; Furcht und Abscheu vor diesem Haar verbanden sich uns mit der Schamlosigkeit unserer Gier. – Irgendein Erlebnis aus meiner Kindheit mußte die Ursache solcher Vorstellungen sein, ich wußte nichts mehr davon. In meinem ewigen, unversöhnlichen Haß gegen meine Kindheit hatte ich auch die Erinnerung an dieses Erlebnis verdrängt. Es mußte mit den leerstehenden Baracken des KZ am Rande von M. zu tun haben, die bis etwa zum zwölften Lebensjahr mein hauptsächlicher Spielplatz waren, da sich – im Anschluß an das riesige Trümmerfeld der einstigen Munitionsfabriken, von denen es nur noch einzelne Gebäudeteile gab, die nun zur Herstellung von Radioersatzteilen genutzt wurden – dieses Lager ganz in der Nähe unseres Wohnhauses befand. Mir schien damals, ich sei das einzige der Kinder, das um den höllischen Zweck der Barackenreihen wußte, ich war dasjenige der Kinder, dessen Phantasie beim Spielen in den langgestreckten kahlen Räumen nicht zuließ, sich unter den häßlichen braunen Spritzern und Flecken in der Tünche der Wände anderes vorzustellen als Blut, sich nicht auszumalen, daß an den rostigen Haken im Gemäuer der Kammern Leichen oder stöhnende Gefolterte aufgehängt worden waren. Und es ist möglich, daß die verbrecherische Vorstellungskraft des Kindes, das ich war, während ich den Versteckspielen in dem Trümmer- und Barackengelände zuschaute, das Grauen über die vormalige Beschaffenheit des Lagers mit den ersten kindlichen Gelüsten verband. – Ich hatte gehört oder gelesen, daß in den KZ-Lagern den Häftlingen die Haare geschoren worden waren, daß auch die Frauen vollkommen enthaart wurden, und ich ersann mir jene Geschichte, in der wir uns auf Haarbergen betteten, und noch in diesen Bergen erschien mir der Geruch weiblichen Schamhaars in der Einbildung, obgleich ich solches noch nie gesehen hatte. Meine Sprache war voll von Haar, im Fluß der Worte, den ich aus mir hervorströmen ließ, wogte und rauschte Haar, im Herbst trugen die kranken kahlen Bäume jenseits der Müllhalden Perücken aus Haar und Rauch, die Transportfahrzeuge der Müllabfuhr warfen es in den Wind an den Hängen der toten Tagebaue. Haar, das ich schon in den Müllkübeln an den Straßenrändern vermutete. Haar, dem ich zugeordnet war, als ein Menschenmüll, der sich weigerte an der Müllabfuhr teilzunehmen. Mit dem härenen Müll seines Schreibzeugs auf einem vor aller Welt verborgenen Tisch. Mit einem verdammten Gehirn unter der stürmischen Perücke, verdammt von der Stimme meiner Mutter, von der Stimme der Staatsmacht im Ton meiner Mutter. Mißbilligung meines Haars, dem das Lager drohte. Dem Baracken drohten, die ich kannte aus meiner Kindheit. In denen am Abend Haar durch die Fensterhöhlen wehte, Haar aus den Lagern, Haar von der Rampe. Und mir war, als verwandle sich die gesamte Umgebung, das ganze Land in einen Ort, ähnlich den Spielplätzen meiner Kindheit. Und als sei Haar gelagert, vergessenes, verlorenes Haar hinter alle Hügel dieses Landes. Haar, das nicht zu retten war, wenn ich es nicht aufnahm in meine Sprache. In meine abgeschnittene und verstrickte Sprache, krank von Schamgerüchen, und in der kranken Farbe des Königs David gelb unter dem Himmel fliegend. – Von ferne sehe ich die Baracken meiner Kindheit, und ich weiß nichts in ihnen als gelegentlichen Schutt, es sind langgestreckte eiskalte Räume, hell gekalkt und bespritzt, trübe bespritzt mit schwarz gewordenen Flüssigkeiten, wieder überkalkt, zu welchem Grund, wenn nicht zu einem verdächtigen, wieder bespritzt, bepißt, mit lasziven Rhomben wirr bekritzelt. Nichts in dieser Kälte, doch wenn der Abend kommt, wenn im Spiel in diesen Räumen das undefinierbare lüsterne Geheimnis zunimmt, wogt braunes, brünettes, fuchsrotes Dunkel in langen Strähnen zu den rahmenlosen Fenstervierecken herein, bauscht sich in den Winkeln, verbirgt die Versteckten vor den Suchern, Haar des Abends, das mich versteckte, Abend, der nach Urin und Kalk roch, Schattenfilze, in denen ich mich verfing. Schattenhaar, das mich verbarg, wenn ich meine schandbaren Gedankengerüche keuchend ausatmete, unter dem gelben Regen, der aus dem Mond rann, machtlos im Schlagschatten neben dem Barackenfenster, machtlos gegen die Begierde der Krankheit, die mir im Kopf kreiste, machtlos gegen die Welt, der ich meine Begierde nicht zeigen durfte, die sie dennoch kannte, denn all meine Verspätungen und Säumnisse waren Ergebnisse meiner Verbannung in die unbefugte Lust. Und die Nächte kamen mit Haar, dessen Glanz stumpf geworden war, feucht und schimmlig, Haar, das nicht mehr brannte. Obenauf zusammengefegte Reste, zusammengefegt von der Rampe, versetzt mit Stiefeldreck, der mit den Jahren zu Staub geworden war. – Und als ich nachts in die Stadt zurückkehrte, in einer Sommernacht, in einem Jahr, in dem kein Regen fiel, bohrte ich meinen Arm in eine der Mülltonnen. Und ich glaubte Haar zu spüren, einen fleischigen behaarten Hügel inmitten der Mülltonne, deren Inhalt sich um mein Handgelenk ballte. So als sei es mir gelungen, meine Faust zu verschlucken, so schließt sich, fest und saugend, ein Lippenzirkel rund um meinen Unterarm, gebeugter Arm, der sich um den Hals meines Schattens schlingt, der den Kopf meines Schattens an mein Gesicht preßt, behutsam habe ich die Finger der Hand an diesem Arm zur Faust geschlossen, und ich werde den Geruch der Hitze, die meine Faust umklammert, noch tagelang im Handteller und zwischen den Fingern wiederfinden. Faules Obst in der Tonne, faul glimmendes Obst und seine nasse Hitze, gefahren in die Fingerhaut, in die Engen der Vierfingerfläche dieser Faust, fugenlos überstrichen von einem Saft aus dieser Tiefe. Fugenlos überstrichen meine Sprache von der Farbe dieser Krankheit. Die gelbe Farbe einer Mauer vor meiner Sprache. Die gelbgraue Farbe einer Tür, der kein Schlüssel mehr dient. Geschlossen meine Rede, wenn ich sage, daß meine Faust in einem Fleisch steckt. Zurückgekehrt, wenn ich sage, in sanft geschwelltem Fleisch, in einer Höhle unter dem Haar. In den Rachen des Ursprungs zurückgekehrt, Handballen, gehalten von hirnähnlichen Stielen und Windungen, benetzt von meinen geschlitzten Adern, festgehalten im Zentrum der Flut und gewunden im Strudel des Gehirns, faules Obst in der Tonne. – In diesem Augenblick kannte ich die Rede, die ich halten mußte, die ich schon im Winter auf dem Amt für Arbeit hätte halten müssen, die ich noch in diesem Sommer auf dem Gericht halten mußte. Es war in einem Augenblick, als meine Hand in der Tonne auf einen Widerstand stieß, auf einen runden weichen Gegenstand, der von der Art einer Gebärmutter war, und ich siedend erschrak, da es plötzlich etwas gab, das ich nicht verletzen durfte. – Irgendwer hatte Jackie ich liebe dich an eine nahe Häuserwand gekritzelt, in jeder Nacht stand ich davor und betrachtete die Worte voller fressendem Neid; sie verblaßten nie, da es in diesem Sommer nicht regnete. Mit brennendem Kopf schwankte ich in der Hitze der Nacht und preßte mir die Fingernägel in die Handballen: eine furchtbare Geschlechtskrankheit wütete in meinen Hirnwindungen, während mein Arm in der schaudernden Flut dieser Tonne zu knochenloser Angst erstarrte. Ich hatte auf einmal meinen Namen verloren, den ich der Rede voranstellen mußte. Ein Gären und Leuchten im Schädel, das stille Erstrahlen meiner Erstarrung, unbeweglich faulender Inhalt einer Sonne auf ihrem Hals, und mein Name war verbrannt unter ihrer Perücke. Dieser Name, der mich entzweite von alledem, was ein Mann war. Aber ich wußte, es war erforderlich, mich in einen Mann zu verwandeln, in einen Namen. Welche Mauer von Gründen hatte mich getrennt von diesem Etwas, das Jack, Cäsar, Dante hieß, und getrennt von diesen drei Wörtern an der Wand. Welcher Berg von Erziehung, von dem ich heruntergerollt war, und dennoch nicht teilnehmen konnte am banalen Mysterium der Liebe. Oh, welche Geschwulst von Gründen, die mich selbst vom verunreinigten Liebesersatz abblockte. Was mir geblieben war von der Liebe, ein schmieriger Fetzen Pornografie, war auf einer Müllhalde gelandet, und nur dort, auf diesen zerweichten Zetteln, die den Abscheu meiner Mutter erregt hatten, war mein wahrer Name noch zu finden, mein schwüler Kopf aber enthielt ihn nicht mehr. Der Name, den ich brauchte für meine Unterschrift, um diese Rede mit mir zu identifizieren, die ich auf dem Amt für Arbeit halten mußte. Die Rede, die ich als eine Einleitung jenen berühmten drei Worten voranstellen wollte. Die drei Worte, erfunden, entsprungen diesem sich öffnenden Kopf, der sich aufrichten würde auf seinem Stiel, da er es war, der diese drei zuckenden Eier in seinem sommerlichen Hirn endlich ausgebrütet hatte. Diese drei schrillen Worte, um sie der leitenden Genossin hinter den gelben Türen jenes amtlichen Labyrinths endlich in die Locken zu entladen. Die drei Dotterworte, diese drei hüstelnden Ejakulationen endlich über den Schreibtisch, über den Richtertisch fliegen zu lassen, sie endlich zwischen die statistischen Papiere, in die Ordnung dieser Register zu schleudern, um endlich die verderbliche Pornografie dieser Akten mit meinem Ich zu benetzen. – Nein, es war sinnlos, ich war ohne Namen, ich mußte meine Rede im Namen der Allgemeinheit halten. Und in diesem Moment war es vielleicht notwendig, meine Rede mit der Faust zu halten.

Nein, ein Gelähmter nur antwortete allnächtlich den drei Worten, die ich erfunden hatte. – Es gab nichts in dieser Tonne, das mich interessiert hätte. Nichts zu lieben – wirklich, der Inhalt im Hohlraum dieses Zylinders entsprach genau dem jenes Füllhorns, das mir die Republik zum Zwecke meiner Bildung übriggelassen hatte. Nichts davon ließ sich eindeutig benennen. – Es hatte nicht lange gedauert, und es ging mir wieder schlecht. Nur fünf Minuten, und ich gelangte zu der Feststellung, daß ich nicht genug Bildung besaß, um die Weiber zumindest sehen zu können, auch wenn sie noch vorhanden waren, wenn es sie millionenfach gab. Es genügte nicht, auf einem Auge blind zu sein, um sie zu erkennen, es genügte nicht, daß mir anatomische Vorstellungen von ihnen von einem Zirkusbesuch her, den mir meine Mutter in meiner Kindheit erlaubt hatte, einigermaßen geläufig waren. – Schon Lenin hatte, wie von Clara Zetkin berichtet, das Herumwühlen im Sexuellen als eine Liebhaberei der Intellektuellen bezeichnet, wofür beim klassenbewußten Proletariat kein Platz sei, und das Attribut benannte eine Stufe, die sich noch turmhoch über der meinen befand. Resigniert wandte ich mich ab von der Tonne und betrachtete meinen Arm, der noch feucht war bis über das Handgelenk, ich schaute auf meine Faust, die sich haltlos geöffnet hatte, harmlos und hoffnungslos, als werde es auch für sie nirgends mehr einen Platz geben.

Dennoch hatte es etwas gegeben? … ich war schon gegangen, nun aber kehrte ich noch einmal zu der Stelle zurück? … hatte ich nicht doch in der Tonne einen schönen Gegenstand bemerkt, tatsächlich, mir war, als habe ich am Tag zuvor eine Art Gebärmutter im Innern der Tonne erfühlt. Ich senkte meine Hand noch einmal hinein, erfaßte einen runden, ziemlich festen Gegenstand, der ein Gewicht hatte, der sich mühelos aus dem Gewirr von Haar, Schmutz, nassen Substanzen, alten Kleidern hervorziehen ließ. Ich konnte nicht sehen, was ich ans Licht förderte, denn es gab keine Beleuchtung in der dunklen Straße? … oder ich sah nur das, was ich sehen wollte. Immerhin meinte ich etwas unverkennbar Weibliches gefunden zu haben. Aber was, ich verfluchte die funktionsuntüchtigen Lichtquellen dieser Stadt, selbst Frau Luna bildete ihren Glanz zurück, als wolle sie ihren schönen Gespielinnen folgen. – Was sollte ich tun, ich war frei, frei und namenlos, etwas zu tun aber ließ meine Entwirklichung nicht zu.

Wenn ich frei war, dann war ich frei von Wirklichkeit: frei