Werke, Band 5: »Ich« - Wolfgang Hilbig - E-Book

Werke, Band 5: »Ich« E-Book

Wolfgang Hilbig

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Beschreibung

Wolfgang Hilbigs bekanntester Roman erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR erpresst wird und einen Auftrag annimmt: Unter dem Decknamen »Cambert« soll er in Berlin einen mysteriösen Autor beschatten, der »feindlich-negativer Ziele« verdächtigt wird. Doch der Auftrag, der ihn zu unheimlichen Expeditionen durch Kellergewölbe und zur Teilnahme an langwierigen Szene-Lesungen zwingt, erweist sich als sinnlos und zutiefst bedrohlich. Bald verschwimmen ihm das eigene Schreiben und das Verfassen der Spitzelberichte so sehr, dass seine Identität sich auflöst und Ich zu »Ich« wird. Geschrieben in den ersten Jahren nach der Maueröffnung, besticht Hilbigs Roman über die letzten Jahre der DDR gleichermaßen durch fesselnde Handlung, atmosphärische Dichte, grotesken Humor, philosophische Reflexion und gesellschaftspolitische Analyse. Ein Nachwort von Clemens Meyer ergänzt den Band der Werkausgabe.

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Wolfgang Hilbig

Werke

Band 5: »Ich« Roman

Fischer e-books

Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel

Mit einem Nachwort von Clemens Meyer

»Ich«

Statisch ist der rahmen der öffentlichkeit.

innerhalb dieses rahmens, sich die möglichkeit

einer eigenen dynamik zu verschaffen,

ist das »ich« ein kommissarisches.

 

Szene-Statement. Berlin 1983

 

 

Wie habe ich mein Leben in einem Traume verloren!

sagte er zu sich selbst;

Jahre sind verflossen, daß ich von hier herunterstieg …

 

Ludwig Tieck

Der Vorgang

Jetzt bewege ich mich wieder um meine kalten Ecken. Ich bin wieder auf dem Weg, doch ich werde darüber nicht berichten. Keine kurzen Bewegungen der unteren Gesichtshälfte, diesmal nicht, denn es ist soweit, daß ich sagen müßte, es gehöre zu meinem Wesen, auf dem Weg zu sein. Das Wesen aber läßt man besser aus dem Spiel: wo ich mitspiele, bleibt jeder nur ein Zuträger von Bällen; und es soll auch von der Art des Spiels nur das unbedingt Dazugehörige ins Feld gebracht werden. – Der Weg, straßauf, straßab … unten entlang, oben entlang: zu meinem Wesen gehört eine Vorliebe für die sogenannten kleinen Schritte; ich könnte sagen, ich bin nicht der Mensch, der sich auf Biegen und Brechen durchsetzt. Ich bin nicht eben das, was man als skrupulös diagnostiziert, doch ich wäge die Schritte ab, die ich unternehme, – die meisten jedenfalls, aber dazu noch später.

Dennoch gelingt es mir öfter als gewöhnlich, mit dem Kopf durch die Wand zu kommen. Und es ist mir im Grunde leicht gewesen, das meiste zu erreichen. Frühzeitig hat man mich gelehrt, daß man Vorteile für sich den Machtinhabern dieser Welt am schnellsten entreißt, wenn man es im Bündnis mit ihnen tut. Man muß das begriffen haben: man entlockt ihnen ihr Einverständnis nicht, man zwingt es ihnen ab. Und sie mögen sich davon betrogen oder bestohlen fühlen, noch mehr aber fühlen sie sich geschmeichelt, denn mit jedem Vorteil für sich beansprucht man etwas von ihrem Eigenen. Mit jedem Quentchen eines Vorzugs, den man ihrer Verfügungsgewalt entzieht, erweist man ihrem Besitz eine Ehre, die er vielleicht nicht hätte, würde sich niemandes begehrlicher Blick darauf richten. So fühlen sich die Mächtigen am wohlsten, wenn sie sich bedroht glauben. Und wenn nirgendwo die Anzeichen für eine Palast- oder Straßenrevolte zu erkennen sind, erfinden sie solche.

Lassen Sie mich zum Anfang zurückkehren: Meine Schritte mit dem Kopf durch die Wand benutzten freilich die dafür vorgesehenen Öffnungen, Fenster und Türen; seltener Dachöffnungen oder Kamine, dafür sind es immer häufiger die Keller, die mir den gewünschten Zugang verschaffen. Letztere Möglichkeit ergab sich für mich allerdings erst in Berlin: längere Zeit wohnte ich in einer Straße, die ganz aus den kahlen Reihen rußdunkler Mietskasernen bestand, welche wahrscheinlich von der Jahrhundertwende her stammten. Unter diesen Blocks führte ein einziger durchgehender Kellergang von einer Querstraße zur nächsten, und oft sogar über die Querstraße hinaus bis unter die nächste Häuserreihe. Ganz gleich, welchen Hauseingang man benutzte, wenn man in den Keller kommen konnte, gelangte man immer, unter der Erde, bis in das Haus, in dem man etwas zu suchen hatte oder in dem man Einwohner war, vorausgesetzt, man vermochte anhand der Kellertreppen die Häuser zu zählen, die man unterquerte. – Es gab eine Zeit, da hatte ich die Gewohnheit angenommen, in jedem Hausflur, den ich betrat, zuerst die Tür zum Keller zu suchen und diese nach Möglichkeit aufzuschließen, in der Absicht, die Verfügbarkeit möglichst weniger Ein- oder Ausgänge in der Stadt dem Zufall zu überlassen, – es war zu einer Zeit, in der ich meine Aufgaben noch viel zu ernst nahm. Eine solche Vorsorge zu treffen – in wieviel Fällen war sie vergeblich, weil der nächstbeste ordnungsliebende Mensch, seine Kohleneimer schleppend, die Tür wieder verschloß –, erscheint mir unterdessen als eine Überbewertung des sogenannten konspirativen Elements, das dem Tätigkeitsbereich zwangsläufig eignet, in dem ich mich bewege. Die Müdigkeit solchen unnötigen und anfängerhaften Pedanterien gegenüber ist, nebenbei gesagt, das erste Anzeichen für einen gewissen Aufstieg, den viele von uns, die jahrelang noch glauben möchten, sie seien Neulinge – ein Glauben, mit dem sich eine dürftige, sehr trügerische Hoffnung verbindet –, nicht bemerken können, oder nicht wahrhaben wollen.

Ich streckte also stets zuerst den Kopf durch die Türöffnung hinein und suchte so die Gesamtatmosphäre des Hausflurs mit allen meinen Sinnen aufzunehmen. Ich mühte mich, das Dunkel mit dem Blick zu durchdringen, indem ich das Gesicht ein paarmal hin und her drehte, es war eine fast bohrende Bewegung: der Flur war vollkommen lichtlos, auch das um eine Biegung liegende Fenster auf dem ersten Treppenabsatz ließ keinen Schimmer herein: es mußte also auf einen dunklen Hinterhof führen. Gleichzeitig – während ich mit angehaltenem Atem horchte – roch ich in den Hausflur: ich schnüffelte … es waren da die üblichen Schwelgerüche von Kohle, die kühle salpetrige Ausdünstung alter Wände, die unter abblätternder Ölfarbe hervorkroch: ich sah den Flur schon vor mir, ehe ich Licht machte. Vielleicht witterte ich auch etwas von unappetitlichen Speisegerüchen, die aus den Wohnungen kamen und hier unten sich mischten wie in einem Trog; und ich bemerkte kein Anzeichen von Zigarettenrauch, seit wenigstens einer halben Stunde hatte niemand auf der Treppe geraucht, was bedeutete, daß ich sehr spät am Platz war. – All dies hatte ich schon wahrgenommen und registriert, wenn mein Körper bis zum Hals noch draußen im Freien war, beide Schultern dem Holz der Türflügel angepreßt, und die gekrümmte Rückseite über das Trottoir gereckt, leicht breitbeinigen Stands, damit ich auf dem Schneematsch nicht den Halt verlöre. – So überwachte ich den Hausflur länger als eine Minute … und einmal, ich erinnerte mich, wurde ich in dieser Stellung überrascht. Jemand tippte mir mit dem Zeigefinger hart auf die Wirbelsäule, es ähnelte einem Morsezeichen. Ich schrak zusammen, denn ich hatte keinen Schritt gehört. Es war Feuerbach, der sich von hinten angeschlichen hatte und lachend sagte: Alle Wetter … was ist denn das für eine Haltung? – Alle Wetter! äffte ich ihn nach – ich wußte, daß er gern mit Lektüreergebnissen, besonders mit stereotypen Wendungen aus den Übersetzungen englischer oder amerikanischer Literatur um sich warf –, alle Wetter, sind Sie aber leise angekommen! – Weil ich nicht stören wollte, sagte er, denn Sie sind bestimmt wieder mal den Musen auf der Spur? – Ohne meine Antwort abzuwarten, ging er weiter mit seinem Gang, der lässig schlendernd sein sollte, doch immer ein wenig zu schnell dafür, zu hektisch wirkte, als habe er sich in Gedanken stets über etwas zu beruhigen, das ihm unangenehm war. – Er ist eben doch nur ein Militär, dachte ich, ihm nachstarrend, bis er um die nächste Ecke bog. Und ich überlegte, ob er noch einmal auf mich hergeschaut habe, als er verschwand. – Nein, sagte ich, so wäre er in die Verlegenheit gekommen, noch einmal zu grüßen, denn er ist ein aufmerksamer Mensch, und zweifelsfrei hat er meinen Blick im Rücken gespürt. Und da er jede Art von preußischem Stil zu belächeln pflegt und in der Regel beim Grüßen, ausgesucht lässig, mit zwei Fingern winkt, muß er sich das Zurücksehen in einem Moment wie dem gegenwärtigen verkneifen, – um der lieben Unauffälligkeit willen.

Wenn ich hier ein letztes Mal abschweifen darf: Feuerbach, dies ist natürlich ein Künstlername, und man erzählt sich – ich verrate bestimmt nicht zuviel –, daß er eigentlich Wasserstein geheißen hat. Dieser Name mißfiel ihm selbst aufs äußerste, gab er doch oft genug zu Spötteleien Anlaß in einem Verein, in dem allerwegen mit Namen gewirkt wird. Dennoch wechselte er ihn aus Trotz nicht, obwohl es vorkam, daß einer der Häuptlinge ihn fragte: Wasserschwein, wie lange wollen Sie Ihre Sippe noch mit dieser Gattungsbezeichnung irritieren? Das ist ja sogar für uns Philosemiten zuviel. Und fängt der BGS nicht zu grinsen an, wenn Sie mal reisen müssen? – Dies war eine definitive Aufforderung, ein Ultimatum fast, wenn man wußte, von wem es kam. Aber Feuerbach soll sich erst gefügt haben, nachdem auf dem Klo eine mit blauem Filzstift geschriebene Warnung entdeckt wurde: Die Wassersteine bitte nicht in den Mund nehmen! Man wußte, daß damit jene Stücke einer weißen wachsähnlichen Substanz gemeint waren, die zur Geruchsvertilgung in die Pissoirbecken geworfen werden; es war ein wirklich vollbärtiger Witz, der sich fast wortwörtlich auf den Wänden aller öffentlichen Bedürfnisanstalten wiederholt. Aber man hörte ein langes Gelächter durch die Korridore gehen, und die Inszenierung erfüllte ihren Zweck. Es hieß, daß Feuerbach geknirscht habe: Wenn ich den rauskriege, der macht mir ein Jahr Dienst auf der Klappe! – Endlich aber nahm der so Verhöhnte sein würdiges Pseudonym an.

Ich drückte auf den Lichtknopf und sah, daß mich meine Sinne nicht getäuscht hatten. Die mit düsterem Ocker bedeckten Wände ließen überall den Schwamm durch, dicht über dem schmutzigen und zerbröckelnden Fliesenboden war die Farbe förmlich heruntergespült worden; breite bräunliche Zungen von Nässe zogen sich bis zu der ehemals weißen Stuckdecke empor, sie schienen direkt aus dem berlinischen Sumpfuntergrund zu stammen und drangen besonders in der Nähe der Kellertür herauf. – Langsam begann ich die Treppen zu ersteigen, ganz nebenbei las ich sämtliche Namen auf den Türschildern an den Wohnungseingängen; ich kann behaupten, daß sich mindestens die Hälfte davon meinem Gedächtnis einprägte, und damit lag ich weit über dem Durchschnitt: und es gab auf jedem Stockwerk jeweils zwei Wohnungen. Nur ganz oben in der fünften Etage war eine einzelne Tür, und hier war ich am Ziel. Unterwegs war mir das Treppenlicht ausgegangen, ich hatte es neu einschalten müssen; zuvor hatte ich mich in der Dunkelheit auf das Gesims eines Treppenfensters gestützt, um auszuruhen; ich wollte keineswegs außer Atem bei meinen Gastgebern eintreffen. Von dem Fenster aus blickte ich über das weite wüste Feld der Dächer im Hintergrund der Häuserzeile, wo der Rauch aus den Schornsteinen stieg und sich mit dem Dunst des Himmels mischte. Und ich sah, daß die Nächte über der Großstadt nicht eigentlich dunkel sind, sie stellten nur ein schattiges verwischtes Grau dar, dann und wann rötlich verfärbt vom Widerschein, der von einigen verkehrsreichen Straßen heraufleuchtete. – Während dieser Verschnaufpause entsann ich mich einer kurzen Erzählung von Thomas Mann, die den Titel Beim Propheten trägt. Ich dachte daran, wie sich der Autor einen Absatz lang bei einem Treppenaufstieg aufhält: mit welchen Sätzen aber, in denen die Länge und Mühe dieses Emporsteigens so wunderbar deutlich und zugleich ironisch bedeutsam wird. – Was ist das doch für eine Geschichte! dachte ich. Staunenswert, ein Glanzstück der Prosa, vielleicht einfach genial. So etwas werdet Ihr nie zustande bringen!

Ich hatte es mit einem sonderbaren Ingrimm gedacht, der mir schon wenig später, als ich oben geläutet hatte und eingelassen wurde, ganz unangebracht vorkam. Man bedeutete mir, ich müsse mich still verhalten, denn die Lesung habe schon begonnen. – Drinnen fand ich mich in einem eher kleinen Raum, der dicht gefüllt war mit einem in, wie mir schien, selbstvergessener Konzentration lauschenden Publikum – kaum jemand drehte den Kopf nach mir um –, das sich auf langen Bänken und zusammengerückten Stühlen aufreihte. Diesem Publikum gegenüber saß an einem winzigen Tisch ein junger, sehr schlanker Mann – ich kannte ihn schon – und las mit leiser Stimme einen Text, aus dem sich ein Getümmel von Wörtern und Sätzen absatzlos und, ich hörte es sofort, auch interpunktionslos in das Zimmer ergoß. Bei meinem Eintritt stockte er keineswegs, in sich versunken und seinen Wortreihen folgend las er ruhig fort, leise und schnell, ohne auch nur einmal die hinter kleinen kreisrunden Brillengläsern liegenden Augen aufzuheben. Ich zog dennoch die vorwurfsvollen oder irritierten Blicke einiger Zuhörer auf mich, als ich mich, so vorsichtig wie möglich, hinter dem Publikum vorbeidrückte und mich auf das äußerste Ende der letzten Bank setzte, die meinem linken Oberschenkel noch Platz bot. Ich murmelte eine Entschuldigung gegen meine Nachbarin, die vergeblich noch einen Zentimeter nach innen zu rücken suchte, wobei sie mir das blasse Gesicht zuwandte und flehentlich einen Zeigefinger auf die Lippen legte. – Der Lesende hinter seiner Tischlampe war nun für mich nicht mehr sichtbar, da zusammengedrängte Schultern und die Phalanx teils gesenkter, teils zurückgebogener Köpfe ihn verdeckten. Aber ich wußte, wer da vorn las, und auch der Text, der hier vorgestellt wurde, war mir, zumindest seinem Wesen nach, schon bekannt. Es war eine unaufhörliche Abfolge von Metaphern, Serien von Metaphern wurden miteinander verknüpft: die meisten davon waren offensichtlich der Literatur entnommen, doch selbst einem, der dieses Feld beherrschte, konnte nur ein kleiner Teil davon bekannt sein. So waren viele dieser Zitate womöglich erfundene Zitate, oder sie waren zumindest entstellt, verwandelt, unkenntlich gemacht. Dennoch schien der Schreiber dieses Textes eine Methode entwickelt zu haben, die all seine Zusammensetzungen wie längst bekannte, wahllos aus den verschiedensten Werken – und besonders aus Werken der sogenannten modernen Literatur – herausgeklaubte Fügungen sich anhören ließ. Oder es lag dies nur an der Art seiner Vortragskunst, welche pausenlos, schnell, aber nicht hastig, monoton, aber immer deutlich und präzise war.

Ich hatte einen Teil des »Vorgangs: Reader« vor mir; ich hatte es mit einem Vorgang zu tun, der für mich zu den interessantesten und zugleich ärgerlichsten Vorgängen gehörte, mit denen ich mich habe beschäftigen müssen. Er nahm zuweilen – aber dies vielleicht nur in meinen Augen – den Charakter eines Lauffeuers an, das unvermutet an den verschiedensten Stellen der Stadt auftauchte, und uns in Atem hielt … aber vielleicht hielt es nur mich in Atem. Und dies schon über den Zeitraum eines guten Jahrs hinweg: immer wieder schien das Feuer eingedämmt, oder es schien versiegt – es wäre mir rätselhaft gewesen, wer es hätte, und wie, aufhalten können –, doch dann flammte es irgendwo wieder auf. – Freilich gebrauchte ich einen schlechten Vergleich, das Ganze war kein Lauffeuer, sondern eine wohlorganisierte Geschichte, dennoch unterlag ich manchmal dem beängstigenden Eindruck, es habe sich in der Zwischenzeit, in den Wochen, in denen es unsichtbar war, im Unterirdischen fortgearbeitet, in den Kellern der Häuser – die ich längst nicht alle kannte –, in den reich verzweigten und unübersichtlichen Gängen unter dem Pflaster der großen Stadt Berlin: dort sei der Brand langsam, aber stetig weitergeschwelt, düster glimmend im Dunkel, und den Unterboden des Häusermeers mit den gefährlichen Ballungen und Verdichtungen seines Rauchs anfüllend, während oben im Licht so lachhafte Figuren wie der Major Feuerbach ihrem blauäugigen und eitlen Tagewerk nachgingen. – Und ihm, dem Liebhaber amerikanischer Romane, so stand zu vermuten, hatte der Vorgang, dem ich jetzt oblag, natürlich seinen Namen zu verdanken.

Man wußte, daß Reader, der Verfasser dieses Textes – welcher nach seinem eigenen Wort ein unabschließbarer Text war –, inzwischen über ein ständig wachsendes Publikum verfügte, dessen kleine Gemeinden in vielen Vierteln der Stadt nisteten, ja daß Readers Ruf seit einiger Zeit sogar über die Stadtgrenze hinweg reichte, daß er es aber strikt vermied, eine über die seiner Leseveranstaltungen hinausgehende Öffentlichkeit in Anspruch zu nehmen, wiewohl er dazu beste Chancen gehabt hätte. Freilich war es geschehen, daß irgendein Radiosender von drüben den Bandmitschnitt eines seiner Vorträge ins Programm nahm, da Reader jedoch nicht zu bewegen schien, sich mit den Rundfunkredaktionen oder den Journalisten über sich und seine Absichten näher einzulassen, erlosch deren Interesse bald wie- der; es gab genug bereitwilligere Figuren in jener Szene, die man als die inoffizielle Kulturszene im Ostteil Berlins bezeichnen mochte, und es gab dort genügend Ereignisse, die spektakulärer aussahen. Nun hätte eine solche Abstinenz die Medien erst recht reizen müssen … es war nicht der Fall: und wie es die Regel war, folgte unser eigenes Interesse demjenigen der Medien nach und verharrte auf sehr gemäßigtem Niveau. Vor einem Jahr noch waren wir hellwach, und es schien, als käme augenblicklich das gesamte Spektrum der Aktivitäten zum Einsatz, mit dem man im Zielgruppenbereich ein neu aufgetauchtes Phänomen im allgemeinen zu beglücken pflegt, – es blieb aber nicht dabei, und nicht lange danach hatte ich den wenig erhebenden Verdacht, ich sei als einziger mit einer Nebensache betraut. Niemand schien daran zu denken, meine Neigung zu Konkurrenzgefühlen zu mobilisieren, ein ganzes Jahr lang war auf weiter Flur kein Mensch zu entdecken, den ich hätte um seine Erkenntnisse beneiden können … und dann glaubte ich zu bemerken, daß Feuerbach die Akte, die über den »Vorgang: Reader« angelegt worden war, vor mir verbarg: schon immer hatte ich gesehen, daß die Akte schmal war, – sie war schwachbrüstig und wollte nicht wachsen! Wenn ich mich am späten Nachmittag im Büro ausruhte – meist bei Einbruch der Dunkelheit, wenn die Angestellten schon nach Hause gegangen waren, was als eins der letzten Privilegien gelten konnte, die mir noch übrigblieben: allein in Feuerbachs Zimmer sitzen zu können! –, schräg gegenüber dem Schreibtisch des Oberleutnants … der manchmal auch als Hauptmann firmierte … auf dem Klientenhocker, den ich an den Fensterstock gerückt hatte – was den Major, ich wußte es, furchtbar ärgerte; aber er schaffte sich nur mit kleineren Bosheiten Luft: Machen Sie meinen zukünftigen Stuhl nicht dreckig, Sie Katakombensau! … oder so ähnlich –, wenn ich dort also eine oder zwei Stunden hockte … und ich hockte dort, weil ich gestört sein wollte; für ungestörte Stunden hatte ich noch einen anderen Platz … starrte ich, kettenrauchend und Unmengen von Kaffee trinkend, auf die Vorgangsakte, die im hellgelben Preßspanregal hinter dem Schreibtisch stand: sie war ihnen nicht einmal einen der schwarzgrauen Ordner wert, zwischen denen sie ihr kindisches Rosa versteckte und fast erdrückt wurde, sie war nur ein schmächtiger Schnellhefter, sie war tuberkulös, diese Akte, sie war eine Mißgeburt. – Schon bald nach der Einleitung des Vorgangs hatte ich mich darüber gewundert, wie standhaft sich derselbe im verbalen Bereich aufhielt. Und ich suchte nach Anzeichen für Unzufriedenheit mit diesem Umstand … einmal – oder gar schon im Wiederholungsfall – hatte ich vor Feuerbach die Lesungen Readers als ein Phänomen bezeichnet, ich weiß nicht mehr, ob mit Absicht oder nur in einer Eingebung: das Wort war in unserem Sprachgebrauch ganz undenkbar, scheint es doch ein Problem zu umschreiben, das nicht sofort zu lösen ist, dem vielleicht sogar eine gewisse Undurchdringlichkeit anhaftet. Es war in diesem Moment mein eigenes Wort: Feuerbach tolerierte es mit seinem Grinsen, das eine Mischung von Hinterlist und Großzügigkeit war, doch aus dem Nebenzimmer, zu dem die Tür offenstand, tönte ein ingrimmiger Baß: Sagen Sie doch dem Mann endlich, daß wir es hier mit Aufklärung zu tun haben … und daß er sein mystisches Geraune gefälligst unten lassen soll in seiner Loge, wo sie ihre Messen feiern!

Darüber dachte ich nach in den Nächten, in denen ich nichts zu tun hatte und lediglich meiner Desensibilisierungstätigkeit oblag. – Dennoch, es war etwas Unbegreifliches um diesen Reader: er las und las, vor einem kleinen, jedoch wachsenden Publikum, in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen las er in den verschiedensten Wohnungen der Stadt immer denselben Text; es war kein System darin zu erblicken, nur daß er – was mir ziemlich wahllos vorkam – stets mit den Sätzen wieder anfing, mit denen er beim vergangenen Mal geendet hatte, und etwa eine Stunde fortlas, ohne Hebungen oder Senkungen, so daß auch die einzelnen Abschnitte in sich den Charakter von etwas Pausenlosem hatten; und er blickte erst auf, wenn er an den Schluß gekommen war, nahm die Huldigung der Zuhörerschaft entgegen, wobei er bis zum allerletzten Händeklatschen – es war die Regel, daß einige Begeisterte noch sekundenlang nach dem allgemeinen Abebben der Ovation weiter applaudierten – geduldig wartete, sodann verkündete, der Termin seines nächsten Abends werde noch rechtzeitig bekanntgemacht … es wurde immer seltener, daß er Ort und Datum des nächsten Abends schon vorher wußte; wahrscheinlich war er auf der Suche nach neuen Veranstaltungsräumen, er hatte längst alle zur Verfügung stehenden benutzt, und die Ortschaften begannen sich zu wiederholen … oder ich wollte darin ein Anzeichen dafür erkennen, daß sich der erste Schwung seiner Produktion erschöpft habe … und er verneigte sich leichthin, verstaute seine Papiere in einer schwarzen Mappe und verließ unverzüglich den Raum. – Ich ließ es mir nicht ausreden: Reader war ein Phänomen. Er riskierte mit seinem hermetischen Verhalten alles und gewann jedesmal. Er verweigerte sich den Medien mit erstaunlicher Festigkeit, er wollte nicht berühmt werden, obwohl er dazu längst die Möglichkeit gehabt hätte, offenbar genügte es ihm, in den engen Grenzen seiner Szene zu wirken, – ob es diese Wirkung gab, und wie sie aussah, dies zu erfahren war anscheinend das Ziel meiner Recherche. – Übrigens, ich fand es auch erstaunlich, daß die üblichen Medienverbindungen für Reader nicht von unserer Seite hergestellt oder befördert wurden. Seit wann, fragte ich mich, pflegt man so lange zu warten, bis sich die Zielperson freiwillig zu dem Schritt entschließt, den man ihr anlasten kann. Ich konnte mich an kaum ein Beispiel erinnern, wo es so abgelaufen war. Wir hatten doch auch hierbei die unfehlbarsten Mittel bei der Hand, wir konnten eine sogenannte unerlaubte Kontaktaufnahme gewissermaßen todsicher programmieren, – verdankten nicht so viele hilflos in der Szene schwimmende Autoren ihr Bekanntwerden unserer Obhut, die ihnen verborgen geblieben war? Die immer schon abgesegneten Autoren, mit ihren Auflagen im Westen, die Devisenbeschaffer, die Halb- und Dreivierteloppos, die jedenfalls waren uns doch kein Abrunzeln wert! – Oder waren etwa solche Maßnahmen an Readers Standhaftigkeit gescheitert?

Ich wußte nicht, ob ich darin eine Arroganz zu erkennen hatte, die nicht alltäglich war. Oder er hatte etwas anderes im Sinn, das mir noch nicht aufgehen wollte. – Irgendwie wartet er auf den großen Knall! dachte ich. Doch ich schüttelte den Kopf über diesen Gedanken; ich wußte nicht, was für einen Knall ich meinte. Auf einen Knall kann er lange warten, sagte ich, doch ich spürte, daß ich dabei nasse Hände hatte und vielleicht sogar Schweißperlen auf der Stirn. Es war lächerlich, ich hatte mich in den Phantasiebereich der Häuptlinge begeben. Dabei kannte ich mich hier unten besser aus … wir, Feuerbach und ich, kannten uns hier unten besser aus. Und doch, wenn ich genau überlegte, hatte ich auch ihn in letzter Zeit in dieser Richtung schwafeln hören. – Nein, ich war bloß müde … es war morgens um drei, und ich hockte erschöpft auf den Steinstufen in einem fremden Treppenhaus. Ich war ausgelaugt, und ich sah Gespenster, – als das Treppenlicht erloschen war, hatte ich für Augenblicke überhaupt nicht mehr gewußt, wo ich war, in welchem Viertel, in welcher Straße, in welchem Haus. Es war mir nicht gelungen, die Kellertür aufzuschließen, vor der ich saß … eine halbe Stunde hatte ich an dem Schloß gefummelt, bei dauernd wieder erlöschendem Treppenlicht, keiner der Nachschlüssel und Drahthaken, die ich bei mir trug, hatte sich als brauchbar erwiesen, und es war schon das dritte oder vierte Schloß, das ich in dieser Nacht nicht hatte öffnen können … ich hatte gekämpft, alle Rücksicht fallenlassen und das Haus mit widerhallenden Rassel- und Knirschgeräuschen erfüllt. Nur mit Mühe hatte ich ein Wutgebrüll unterdrücken können, dann war mir der Ekel angekommen, und ich war zitternd auf den feuchtkalten Beton der Stufen gesunken.

Sie sind blaß geworden … was ist, gehts Ihnen nicht gut? – Ich fuhr zusammen; es war die junge Frau neben mir – eigentlich war sie sehr jung, eine Studentin offenbar –, welche die Worte an mich gerichtet hatte. Ich starrte sie irritiert an; ich kannte sie seit einiger Zeit, sie hingegen schien mich nicht zu kennen. Der Vorleser hatte geendet und war gegangen, es kam Leben in die Zuhörer, und die fast verklärten Andachtsmienen fielen von ihnen ab. – Hat er gesagt, wann er das nächste Mal liest? fragte ich die Studentin, die mich besorgt anblickte, mit übergroßen Augen, wie ich meinte. Ihre Augen waren dunkel, und passend dazu war das Haar ebenfalls dunkel, mit rötlichem Schimmer an den Spitzen, die zu einer kurzen Igelfrisur in die Höhe gestellt waren. Ihre Schläfen waren nackt und schneeweiß über den Backenknochen, wo sie flache Gruben bildeten, die dem Gesicht eine überaus schmale Form verliehen. – Es ist gut, murmelte ich, mir war nur ein bißchen übel geworden. Ich glaube, ich muß einen Moment an die Luft.

Unten auf der Straße war es glatt geworden, der Schneematsch hatte sich zu Eis verwandelt, und ein frostiger Glitzer flog mich aus dem Nebel an. Ich ging langsam und vorsichtig, den Blick gesenkt, und stand plötzlich vor einem Haus, das mir bekannt vorkam. Der Eingang war offen, ich trat ein und fand mich im nächsten Moment vor derselben Kellertür, die ich nicht hatte aufschließen können. Ich zog den erstbesten Haken aus der Tasche, und nach einem einzigen konzentrierten Versuch gab der Riegel nach, als wäre seine Feder aus Papier.

Die Kellergänge unter den Häusern von Berlin sind in der Regel sauber, und die Mehrzahl von ihnen ist ausreichend beleuchtet. Und sie waren in diesem Winter warm, der Frost drang noch kaum bis auf ihre Gründe hinab. Es gab Plätze dort unten – besonders einen bestimmten Platz meinte ich, den ich häufig aufsuchte –, wo ich stundenlang gesessen hatte, auf einer Holzkiste, Zigaretten geraucht und dem unfaßbaren Massiv der Riesenstadt Berlin, die mir zu Häupten schlief, gelauscht hatte. Selbstverständlich war es still hier unten, man hörte nichts, höchstwahrscheinlich wären hier unten nur Explosionen zu hören gewesen. Es war nur ein leises Summen in der Stille, vielleicht nur in meiner Einbildung, oder vielleicht summte nur die von der Riesenlast über mir zusammengepreßte Luft in meinen Gehörwindungen. Die Stadt über meinem Kopf war wie ein ungeheurer Generator, dessen unablässige Vibration kaum merklich in allem Gestein war, wo sie jenem feinen, fernher kommenden Summen glich, es war unerklärlich vorhanden in allen Betonfundamenten, die mich umgaben, und in der unvorstellbaren Zahl roter und brauner Ziegel, die zusammengesetzt waren und hinabreichten und das Häusermeer der Stadt Berlin in der Erde verankerten. Seit tausend Jahren – ich wußte es nicht, seit wann – war das Gestein in den Schoß der Erde gefügt, und es war unklar, wieviel tausend Jahre die Stadt noch aushalten konnte, und bestehenbleiben konnte, mit dem unvorstellbaren Gewicht ihrer Grundmauern, die in das Herz Europas gepfählt waren. – Und alles, was wir lernen und begreifen konnten, was wir ermitteln und aufklären konnten, oben und unten und mitten in Berlin, war die Erkenntnis, daß wir enden mußten, – nicht aber der urbane Moloch Berlin … daß wir verschwinden mußten wie Kehricht, und daß die ins Erdreich gewachsenen Steine von Berlin über kurz oder lang von unserer Ära nichts mehr wiederzugeben wußten. – Dies war es, was ich in jahrelanger Tätigkeit ermittelt hatte: und ich hatte große Lust, das Ergebnis dem Oberleutnant Feuerbach hinzubreiten.

Seine Antwort kannte ich schon. Sie bestünde in seinem Grinsen – in dem ich zunehmend Unsicherheit entdecken wollte – und in Sprüchen wie: Nicht die Ankunft, sondern der Weg ist das Ziel! – Der Weg! betonte er. Das wissen Sie doch, und wenn nicht, dann können Sie das nachlesen, bestimmt sogar wortwörtlich, beim großen Le Fou, den Sie so verehren. Oder bei einem seiner Mitstreiter, die jetzt so begierig aufgenommen werden … es gibt da viel zu denken über das Begehren und seine Wege, die es geht …

Mit Le Fou meinte er, das wußte ich unterdessen, den Philosophen Foucault, welcher, samt seines Anhangs, tatsächlich immer mehr in Mode gekommen war. Der Oberleutnant entflammte sich leicht für alles, was anspielungsreich war, er liebte Verklausulierungen, grammatische Rätsel und Abbreviaturen, das heißt, er liebte das Beiwerk seiner Pflicht … zudem hatte er wohl vorübergehend geglaubt, le fou sei das französische Wort für Feuer; es war ein Irrtum, der mir ebenfalls hätte unterlaufen können. – Ich hingegen, der ich nur die Titel und ein paar Anfangssätze von Foucaults Büchern kannte, liebte ihn wahrscheinlich nicht. Es mißfiel mir, daß sich in einigen Enklaven, die zur sogenannten Szene zählten, die Daseinsberechtigung darauf gründete, daß man ein begeisterter Leser Foucaults war und daß es in der Folge davon zur Pflicht gerann, auch noch Derrida oder Paul de Man zu lesen, – ich mochte Bücher nicht, die in Fraktur gedruckt waren. Es wäre so weit gekommen, daß ich auch Heidegger hätte lesen müssen … und dann schließlich noch »Mein Kampf«. – Freilich, dies waren Zwangsvorstellungen von mir, aber zum Mitarbeiter in so verschlungenen Kreisen konnte ich aufgrund meiner Abneigungen immer weniger taugen. Um im Kontext zu bleiben: meine einzige Chance hätte geheißen, mich als das Simulacrum eines Mitarbeiters zu betrachten. Womit ich wieder am Ziel der Wünsche eines jeden von uns gewesen wäre. – Grund genug für Feuerbach, lächelnd – ein wenig drohend inzwischen – zu wiederholen: Sie denken immer nur an das Ziel, Cambert, ich glaube, Sie wollen weit hinauf. Dabei sage ich Ihnen immer, Sie sollen vielmehr an den Weg denken …

Mein Weg war es weiterhin, mich im Unterbau aufzuhalten. Und ich hoffte, daß man mich dafür noch eine Weile nötig hatte. Nein, ich wollte eigentlich nicht hinauf, partout nicht: manche Entwicklungen in der Sprache, die dort oben grassierte, glaubte ich hier unten ganz im Konkreten wiederzuerkennen, und mir waren Beispiele wichtiger als Thesen. So war es für mich immer erstaunlich, zu sehen, wie sich hier unten Kaverne an Kaverne schloß, ich glaubte, etwas Zwingendes und zugleich auch Statisches darin festzustellen: das fortgesetzte Netz der unterirdischen Zellen zwang mich förmlich, ihm zu folgen, und doch war das Ganze nichts als ein Kreislauf. – Und ich mußte dabei an ein Papier denken, das mir oben einmal in die Hände gefallen war. Es war mit eigentümlich vernetzten Sätzen bedeckt, deren Sinn sich mir nur erschloß, wenn ich mir die Mühe machte, ihnen Schritt für Schritt nachzugehen. – Ich hatte wenig Zeit, ich lasse offen, wer das Schreiben – absichtlich oder unabsichtlich – auf dem Tisch vergessen hatte und mich im Zimmer allein ließ. Ich hatte es sofort gerochen: es war eine Verschlußsache, dergleichen bekam unsereins für gewöhnlich nicht zu Gesicht. – Nehmen Sie die Nase aus Kesselsteins Papieren! hörte ich aus dem Nebenraum die stets ärgerliche Baßstimme, die ich schon kannte, deren Besitzer ich jedoch nie gesehen zu haben glaubte. Ich wußte, ich war im Auge der Kamera … und doch hatte ich die Unverfrorenheit besessen, mir schnell ein paar Zeilen zu notieren: … Festlegung der durchzuführenden Zersetzungsmaßnahmen auf der Grundlage der exakten Einschätzung der erreichten Ergebnisse der Bearbeitung des jeweiligen Operativen Vorgangs …

Irgendwann, dachte ich, wird ein solcher Text an die Öffentlichkeit gelangen … und niemand wird, wieder einmal, etwas davon gewußt haben wollen, – der Minister hat seine Verschlußsachen nur für sich selber geschrieben. Und alle Geheimdienste der Welt arbeiten mit solchen Mitteln, wird man sagen. – Sehr richtig, nur zu wahr!

Was mich daran interessierte, war eigentlich nur die Monstrosität der Abstraktionsreihe, die ich vor mir hatte. Ich werde solchen Sprachgebrauch bis in alle Ewigkeit wiedererkennen, dachte ich, auch in mir selber … er wird für mich künftig ein Signal sein. An ihren wuchernden Genitiven werde ich sie erkennen. An der bis zur Unkenntlichkeit des Ausgangspunktes fortgesetzten Aneinanderreihung von Genitiven, an der Maßlosigkeit des zweiten Falls … als ob der sich immer wieder zum ersten Fall aufwürfe, zum Ernstfall. Es war im Grunde ein den Realismus zerstörender Sprachgebrauch … einer ungewollt surrealistischen Methode ähnlich, die einen psychotischen Automatismus erzeugte. Vielleicht haben die wirklichen Surrealisten davon bloß phantasieren können … von ihnen stammt das berühmte Bild des Würfels aus dem Würfel, in dem wieder ein Würfel steckt, und darin wieder einer und so fort. – Die Maschine der Genitive macht damit Ernst, dachte ich. Sie unterwandert mit diesem Truggebilde die Wirklichkeit … sie ist also die Simulation einer unendlichen Konsequenz.

Wahrscheinlich war eine solche Hysteresis der Genitive in einer anderen Sprache als der deutschen gar nicht möglich. Man konnte in dieser Gedankensprache immer nur einen Schritt auf den anderen folgen lassen, lediglich um festzustellen, daß man noch immer nicht am Ziel war und wieder einen nächsten Schritt tun mußte: wenn es geschah, daß man endlich doch das Satzziel erreichte, fühlte man sich schon so verstrickt, und vollkommen eingereiht in eine Abfolge von Konspiration, und vielleicht für immer, daß man nur noch ausgelöscht zurückblickte, und in unendlicher Müdigkeit dorthin, wo man einmal angefangen hatte, – so, als sei man in der Hoffnung auf einen Ausweg immer weiter dem Satzende nachgegangen, doch dieses habe dann erst die ganze Ausweglosigkeit gezeigt.

Wenn ich an dieses Papier dachte, folgte mir die Müdigkeit bis in meine Kellergänge nach. Und ich fragte mich in solchen Augenblicken, ob es nicht nur die Kanäle einer unausweichlichen Sprache waren, in denen ich mich weiterschleppte, ohne noch an Umkehr zu denken, während mir das Ende weiter und weiter vorauseilte. – Hätte ich mir einmal wirklich die Mühe gemacht, dem Lauf meiner Gedanken Schritt für Schritt zurückzugehen, mit aller Genauigkeit, sagte ich mir, dann hätte ich vielleicht auf den Ursprung meiner Müdigkeit stoßen können. Und ich wäre dann wieder in diesen Raum getreten, in dem sie angefangen hatte … ich war immer zu müde für diesen Weg. – Ich erinnerte mich, es war ein Moment, kaum von der Dauer einer Viertelstunde, oben in einem der Büros, die es in mehrfacher Ausführung, und in immer täuschend ähnlicher Ausstattung, in der Stadt gab … oder nein, es war früher, es war in einem Büro in der Kleinstadt, aus der ich gekommen war, in einem täuschend ähnlichen Zimmer in der Kleinstadt: das schmucklose und neutrale Interieur hatte sich verfinstert, eine Viertelstunde lang schien der braune, lähmende Rauch aus der Stadt eingedrungen … eine Viertelstunde lang hatte ich alles getan, was man von mir verlangte: es war nicht viel, es war nur der abwesende Zug einer Unterschrift auf ein Papier, das im Halbdunkel lag …

Seitdem war diese Müdigkeit stärker als ich … sie ließ es nicht zu, daß ich mich niedersetzte, um sie in Ruhe zu durchdenken, ihren Schatten zu durchwandern, den Riß in ihr zu suchen, den es gab in ihrer Wand, den Spalt, durch den manchmal das Licht fiel …

Sie war stärker, sie war eine Zäsur, für die mir kein Vergleich einfiel: nur unten in den Kellern gab es Momente, welche die Situation notdürftig beschrieben. Es geschah, daß ich vor den Gängen eines mir noch unbekannten Hauses stand und mich fragte, ob ich auch hier noch eindringen solle. Und vielleicht war es eine Tür, die mir plötzlich den Weg versperrte … wenn ich mir an ihr zu schaffen machte, war sie meist schon offen, wahrscheinlich hatte ich sie vor einem halben Jahr schon aufgebrochen. Und wenn ich das Licht für das vor mir liegende muffige Gelaß – auch dies war mir selbstverständlich längst bekannt – angedreht hatte, und nun noch einmal mehrere Meter zurück mußte, um das Licht des Gangstücks auszuschalten, das ich soeben verlassen hatte … dann auf einmal war die Müdigkeit da. – Ich ließ den Schalter nach unten kippen, und die zurückgelegte Wegstrecke erlosch hinter mir, als wäre sie nie ein Segment meiner Wirklichkeit gewesen. Und die Erinnerung an meine Schritte durch diese Wirklichkeit erlosch, das Nichts sank hinter mir in den Gang … es sank über diesen kurzen Teil meines Berichtszeitraums, ich konnte ihn vergessen. Das plötzliche Dunkel ließ mich mein gesamtes Wesen vergessen, alles, was ich gesprochen, berichtet hatte, und alle denkbaren Konsequenzen meiner Wörter und Sätze, die ich gesammelt und weitergeleitet hatte … und so hatte jene Viertelstunde, die ihre Finsternis in ein Amtszimmer gekippt hatte, den gesamten Berichtszeitraum ins Vergessen gestürzt, der davorgelegen hatte … über meine Herkunft, über all meine Bindungen aus der Zeit davor war der taube Qualm des Erlöschens gesunken … und aus dem Gang, den ich hinter mir gelassen und ausgeschaltet hatte, war das Ich verflogen, dem ich gedient hatte, seine Wirklichkeit war verflogen wie das Ergebnis einer Simulation.

Und vor mir lag eine neue Wegstrecke, in der ich mein »Ich« wieder aufrichtete an den Erscheinungen des Sichtbaren im altbekannten Licht. Langsam gewann ich mich zurück, wenn ich an den mir längst geläufigen Wänden vorüberstreifte, durch die der Tau sonderbarer Flüssigkeiten ins gelbe Lampenlicht trat; das Gestein schwitzte die beißenden Gerüche der Fäkalien aus, die je und je nach der Stadtgegend zu wechseln schienen, und oft genug glaubte ich mich daran orientieren zu können. Zumeist hielt ich mich im Schoß unterprivilegierter Schichten auf – das heißt, noch darunter –, und hier, in den Tiefen unter überalterten, dicht zusammengeballten Häusermassen, unter ausgeplünderten Straßen und Hinterhöfen, war das Grundgemäuer porös und durchlässig, und es sonderte die Restbestände menschlicher Daseinsenergie häufiger und nachhaltiger ab. Der Glitzer, der von den Wänden floß, wies auf brachiale Ernährung hin, die Ballaststoffe, versetzt mit ranzigen Fetten und minderwertigen Spirituosen, schienen sengend und unter düsteren Emanationen aus den Ziegelfugen zu tropfen, und scharfe, säurehaltige Urine brannten sich hier immer tiefer ins Erdreich hinab.

In die wohlhabenderen Regionen geriet ich seltener, vielleicht war ich nur in meiner Vorstellung dort, und vielleicht rochen die Keller der mittleren Kader nach Olivenöl oder Vanille … es waren nur undurchlässige Wände dort, saubere, einander abgeschlossene Räume von beträchtlichem Ausmaß, Abstellkammern, die leer waren und eher Garagen glichen, ab und zu gab es Fahrräder oder Kinderwagen, leere Rattenfallen, die niemals zuschnappten, denn hier gab es keine Ratten. Und hier drang man nicht weit voran, man mußte immer wieder über die Straße hinweg, wenn man den Neubaublock wechseln wollte, und auch dann waren wieder nur diese gefegten Gelasse, die von hellem Neon erleuchtet waren. – Es war kein Leben unter den Gebäudereihen von Friedrichsfelde Ost oder Marzahn, und tatsächlich, wenn ich einmal in diese Keller gelangte, erinnerte mich der Urinhauch, der blaß durch die Betonkammern wehte, an den Geruch von Arznei. – Gern wäre ich einmal weiter vorgestoßen, bis in die Tiefgeschosse der höheren Kader, denn dort, man hörte es immer öfter, sollten die wahren Orte der Verschwörung zu finden sein. Vielleicht stieß man dort wirklich auf die Werkstatt, wo das Kleinunterseeboot gebaut wurde, von dem man raunen hören konnte, oder auf den Keller, wo man an einem Fesselballon nähte … wo sich die Söhne und Töchter der Funktionäre auf den rechtzeitigen Abgang vorbereiteten, denn sie kannten sich aus in den geheimen Bulletins ihrer Väter … natürlich war ich für diesen Bereich nicht zuständig: man mißtraute mir zu Recht, man ahnte, daß ich das Versteck einer solchen Werkstatt nicht preisgegeben hätte.

Nein, jene Stadtteile gehörten nicht zu Readers Gebiet, so weit reichte nicht die Einflußsphäre seiner Lesungen, und deshalb bekümmerten sie mich nicht. – Ohnehin war es mein Interesse an seinen Texten, was in letzter Zeit das meiste überwog, mein Interesse am Befinden seiner Texte im Kopf eines Zuhörers zum Beispiel, im Kopf einer Zuhörerin: vielleicht waren gerade in seinen unabschließbaren Wortfolgen die Paradigmen der wirklichen Konspiration, nur fand ich diese nicht heraus. – Immer wieder kehrte ich in die mir besser angemessenen Schächte zurück, wanderte wieder die Reihen der Kellerzellen entlang, tatsächlich, es waren mit Holzlatten oder Maschendraht vergitterte Zellen, voller verrottender Kohlen oder verstopft von Gerümpel … im Grunde genommen sahen all diese Gänge gleich aus, auch wenn ich den Eindruck hatte, daß gegen die Stadtmitte hin Wüstheit und Baufälligkeit zunahmen. – Und auch in dem neuen altbekannten Gang, der sich jetzt vor mir eröffnete, sah ich große Flächen von Brackwasser am Boden stehen, das in der schwächer werdenden Beleuchtung trübe und farbig schillerte wie Benzin oder Öl. Manchmal war es, als ob durch die tiefen Lachen Schlangenlinien huschten, auf mich zu, wie die unheimlichen Spuren von Getier, das vor dem Licht floh, das ich angezündet hatte. Und der Dunst, der von den nassen Böden aufstieg, verwob sich düster mit meinen Sinnen und verschleierte mir den Ausblick nach vorn. Ich erkannte, daß eine Reihe von Ziegelsteinen im Schrittabstand durch die Pfützen gelegt war … ich hatte es selbst getan, um über das Wasser hinwegzukommen; die Steine hatten sich fast widerstandslos dem Gemäuer entnehmen lassen, die Wände waren zermürbt, und nur das Eigengewicht schien sie noch aufrecht zu halten. Ab und zu war Schutt in den Gang gerutscht, als ob hier, vor nicht allzu langer Zeit, Erschütterungen stattgefunden hätten, Erdumwälzungen, Aufbrüche wie von größeren Baumaßnahmen … und hinter den zerbrochenen Wänden sickerte es hervor wie Urin, mit faden Gerüchen, milchig und quecksilbern aus dem fetten Hintergrund der Gewölbewand, und immer mehr Steine lockerten sich in der durchdringenden Jauche: es konnte nicht mehr lange dauern, bis mir dieser Weg versperrt war. – Aber natürlich schützten mich die Trümmer auch … war ich an ihnen vorüber, hatte ich eine Strecke völligen Dunkels vor mir, ehe ich wieder, nach einem scharfen Knick im Gang, auf einen Lichtschalter stieß: mir mit der in der sauerstoffarmen Luft nur dünn brennenden Feuerzeugflamme helfend, tastete ich mich weiter und glaubte links und rechts neben mir das Tropfen und Ticken der Exkremente zu vernehmen … dennoch ließ das Rinnen von den Wänden nach, die scharfen Gerüche schienen sich zu neutralisieren, und eine merkwürdig gereinigte Luft gewann die Oberhand, – offenbar wohnten nicht mehr viele Leute über mir, offenbar standen die meisten der Häuser in den Straßen über mir leer. Ich hielt an und lauschte: es war eine Stille dort oben … ich hörte auch sonst nichts in den Kellern, aber diese Art von Stille wirkte wie ausgestorben. Nur selten war das Rauschen von Flüssigkeit in den defekten Fallrohren zu hören, und wenn die süßlichen Dünste der Durchfälle zu mir herandrangen, merkte ich auf und deutete mit dem Zeigefinger in die Höhe: Was für ein Zeug trinkt er da oben?

Was säuft er da oben? fragte ich mich. Ich glaube, er säuft Abspülwasser! Tatsächlich, er säuft Abspülwasser, er ernährt sich von den Resten, die von gebrauchten Tellern gewaschen werden … und was er von sich gibt, ist versetzt mit Lösemitteln und den doppelt und dreifach gebrauchten Bratenfetten, die in Chemikalien aseptisch geworden sind. Und seine Ausscheidungen sind gereinigt, und seine Körperwege durchgespült von Salmiak und Seife … und ebenso lauwarm und verbraucht ist alles, was er dem Papier beibringt, und weiterträgt, und von dem Papier wieder abspült und in die geöffneten Ohren seiner Weiterverbraucher klistiert.

Genau hier, sagte ich, gegen die obere Wölbung des Gemäuers zeigend, befinde ich mich unter dem Domizil von Reader! Und was würde er sagen, wenn eines schönen Tages seine Papiere verschwunden sind? Es müsse mir leicht sein, hatte ich schon oft gedacht, hinaufzusteigen … leise an den ausgestorbenen Wohnungen vorbei, an diesen verkalkten verschimmelten Bienenwaben vorbei, und den behausten Verschlag, den ich kannte, zu öffnen, – während er vorliest, irgendwo; es wäre mir leicht, den Zeitpunkt seiner nächsten Lesung zu erfahren, um bei ihm einzubrechen und mir seine Manuskripte zu schnappen. Sie mit herunter in die Tiefe zu nehmen … denn auf ungewisse Art gehörten diese Texte hierher. Ich malte mir aus, wie ich mit der Beute durch die Keller rannte, um sie in Sicherheit zu bringen … vor wem wollte ich sie in Sicherheit bringen? – Hier unten konnte ich sie lesen, auf meinem Platz, wo ich mich sicher fühlte: und wahrscheinlich feststellen, daß diese Texte – beim genauen Nachlesen, Zeile für Zeile – dem Eindruck, den sie beim Vortrag gemacht hatten, nicht eigentlich standhielten.

Nein, vielleicht durfte ich über diese Texte nicht lästern! Viel eher noch mußte ich mir ihren Beistand herunterholen, und mich an ihnen festigen in meinem Reich unter dem Pflaster, wo ich allein von Zeit zu Zeit einen blakenden Kanal von Licht anbrannte … nein, ich war verloren für die Literatur, ich hatte mit ihr nichts mehr zu schaffen, oder sie nichts mehr mit mir, ich hatte nurmehr mit der Sicherheit zu schaffen … ich verharrte an diesem Ort und dachte an Reader, der hoch über mir in einer Dachwohnung thronte und den ich mir – ich wußte es selbst nicht mehr genau – womöglich, irgendwann am Anfang dieser Geschichte, zum Rivalen ausersehen hatte: Oh! Ich kannte alle seine Texte, ich war sein bester Rezipient … das mußte irgendwann auffallen! … er indessen kannte nichts von mir, er wußte nichts von dieser Konkurrenz! Das Wesen dieser Konkurrenz war verborgen, tief unter ihm, in den weitverzweigten Speichern unter der Oberfläche der Stadt Berlin, wo so viele tausend Tonnen von Finsternis aufbewahrt wurden.

Dann senkte ich den Zeigefinger wieder und stolperte weiter. In der Dunkelheit kletterte ich über Schutthaufen, tastete mich um Verwinkelungen und kroch durch Maueröffnungen, durch die ein Rauschen drang, und ich stieß auf Gitter im Boden, durch die der erstickende Geruch der Kanalisation quoll … nachdem ich mich durch eine Verengung gezwängt hatte, wo die Gänge nicht genau aufeinandertrafen, hatte ich endlich wieder das Licht einiger schwacher Glühlampen, die ich einst selber eingeschraubt hatte. Wenn ich meiner Erfahrung glauben durfte, befand ich mich jetzt direkt unter dem oberen Beginn der Normannenstraße, die hier in einen kleinen Platz auslief und abwärts führte, zu der breiten, mehrspurigen Magistrale des Stadtbezirks, wo sich die Verkehrsströme wälzten und unter dem Pflaster die U-Bahnen dröhnten. – Noch ein kleines Stück in Richtung Westen, und ich hatte das Ende meines Weges erreicht: ich konnte die Lampen hinter mir ausschalten, zuvor jedoch eine letzte Glühbirne – sie gehörte einem nächsten, mir unbekannten Leitungsstrang an, und sie hing nur lose in der Porzellanfassung – festdrehen und aufleuchten lassen.

An dieser Stelle senkte sich der Beton einer Wand herab, die vergleichsweise neueren Datums war. Es sah aus, als wäre sie als ganzes Stück und mit ungeheurer Wucht in den Boden getrieben worden; abrupt schnitt sie alle hier anlangenden Gänge und Fundamente ab. Man ahnte, daß sie noch viel tiefer in die Erde hineinreichte und so breit war, daß sie den Unterbau ganzer Straßenzüge unterbrach. Und sie mußte von ungewöhnlicher Dicke sein; im Licht meiner Glühbirne sah ich ihr ödes unverwüstliches Grau; es mußte Stahlbeton sein, dem die Feuchtigkeit der Tiefe nichts anhaben konnte. Offenbar verfärbte sie sich nicht einmal … man hatte diese Betonwand für die Ewigkeit gegossen.

Es waren hier die gewaltigen Areale von Neubauten in das Weichbild der Stadt gesetzt worden, direkt über mir begannen sie in ihrer unübersichtlichen Vielzahl und Verschachtelung: sie waren unzugänglich für beinahe jedermann. – Einmal nur war ich, aufgrund eines mir nicht erklärlichen Umstands, dort hineingeraten. Und freilich hatte ich, durch ein großes tunnelartiges Tor kommend, nur einen geringen Teil der verwirrenden, steingepflasterten Höfe gesehen, die von vielstöckigen, kastenartigen Gebäuden umgeben waren. Nur Minuten hatte ich auf Feuerbach gewartet, der in einem der kantigen Steinklötze verschwunden war … es war gegen Abend, die meisten der unzähligen Fenster waren schon dunkel, und doch fühlte ich mich beobachtet, und ging gemächlich auf und ab in dem Bestreben, mich möglichst harmlos zu verhalten zwischen diesen vieläugigen Wänden, oder besser so, als hielte ich mich hier ganz gewohnheitsmäßig auf … hoch über mir verfärbte sich der Himmel zu düsterem Violett, Scharen von Krähen jagten schreiend darin umher, doch diese Schreie drangen nur sehr verzögert bis zu mir herab; es war, als suchten sich die Vögel in den helleren Rechtecken des freien Himmels über den Höfen zu sammeln, als scheuten sie zurück vor den schwarzen Dachrändern, deren lange Geraden das Licht abschnitten … ich starrte noch immer hinauf – schon viel zu lange mein vollkommenes Desinteresse an den dunklen Gebäuden zeigend –, als Feuerbach mit gehetztem Ausdruck herbeieilte, mich am Ärmel faßte und durch das Tor auf die Straße hinausbugsierte; ich konnte nicht bemerken, ob hinter meinem Rücken ein blitzschneller wortloser und zeichenhafter Austausch zwischen ihm und einem im Finstern hinter Glas sitzenden Pförtner stattfand, zu meinem letzten Schritt hinaus auf das Trottoir fühlte ich mich beinahe gestoßen. – Da fragt man sich sofort, ob man je wieder rauskommt, da drin, sagte ich, wenn man dort … Ich unterbrach mich, denn ich hatte aus der Art seines Schweigens gespürt, daß er sich über meine Geschwätzigkeit ärgerte. Erst nach Ablauf einer Minute erwiderte er: Halten Sie lieber die Fresse!

Ich will Ihnen etwas verraten, fuhr er nach einer weiteren Minute fort, in der wir die Straße abwärts gelaufen waren. Man unterhält sich da drin gerade mit einer sehr guten Bekannten von Ihnen. Wissen Sie, was das bedeutet?

Mit einer Bekannten? Kann ich mir gar nicht vorstellen … was kann es denn bedeuten?

Es bedeutet, daß wir verdammt viel Zeit aufwenden müssen für Sachen, über die Sie uns schon längst berichtet haben müßten. Und das ist doch wohl eine ziemlich ärgerliche Geschichte?

Eine ärgerliche Geschichte! Ich erinnerte mich, gefragt zu haben, ob die Sache mit dem »Vorgang: Reader« zu tun habe; er gab nur eine undeutliche Antwort: Alles habe mit dem Vorgang zu tun, oder so ähnlich; ich bemerkte, daß ich ihn bei angestrengter Überlegung störte, und fühlte mich milde beleidigt … als wir unten an der Hauptverkehrsstraße waren, wies er mit dem Arm nach links – während er selbst nach rechts zu gehen ansetzte – und sagte: Dort in dem kleinen Café, Sie wissen schon, welches ich meine, dort können Sie auf mich warten. Oder haben Sie wieder mal kein Geld eingesteckt? – Selbst wenn ich für die ganze Nacht Geld gehabt hätte, wäre es aussichtslos gewesen, auf ihn zu warten; aber ich wußte, daß ich in dem Café vielleicht in drei Tagen auf ihn warten konnte.

Jedesmal, wenn ich am Ende meiner Kellergänge vor der grauen Betonmauer stand – die ich oben, auf der Etage der Wirklichkeit, schon einmal … ein einziges Mal … durchschritten hatte –, fühlte ich mich an diese ärgerliche Geschichte erinnert. Und nicht nur deshalb, weil die Mauer hier unten mit einer sehr primitiven, überlebensgroßen Skizze versehen war, die mir das Licht meiner Vierzig-Watt-Lampe erst vor ein paar Monaten offenbart hatte. Wahrscheinlich mit einem Stahlnagel waren, von unbekannter Hand, die Umrisse eines wuchtigen, steil in die Höhe zielenden Phallus in den Beton geritzt worden, und man hatte die Linien sorgfältig mit schwarzem Tintenstift nachgezogen, mit einem dokumentenechten Schreibwerkzeug offen- bar, denn darüberlaufendes Wasser konnte den Konturen nichts anhaben. Dem rückwärtigen Ende des Schafts war ein Hoden-Piktogramm ähnlich einer überdimensionalen bügellosen Brille umgehängt; vorn war eine Eichel in der Größe eines Fußballs angedeutet, aus deren Öffnung ein sich verbreiternder Strahl geschleudert wurde, wie aus der Mündung einer altertümlichen Schußwaffe mit hoher Streuwirkung. – Ich hatte keine Ahnung, was die Skizze hier unten zu suchen hatte; es war mir dazu höchstens ein Begriff von Baudrillard eingefallen: leere Signifikanz … doch ohne Zweifel war dort von anderen Zusammenhängen gesprochen worden.

An die ärgerlich genannte Geschichte wurde ich auch deshalb erinnert, weil ich entdeckt hatte, daß die Zeichnung mit einem dickleibigen »C« signiert worden war … die Signatur war so umfangreich und eitel, daß es mir sonderbar erschien, sie nicht zuerst gesehen zu haben. Dieser Umstand war wohl einer bestimmten Betriebsblindheit zuzuschreiben … von Verdrängung hätte man, oben in den Büros, in ähnlichen Fällen nur einer Neuanwerbung gegenüber gesprochen; einem Langzeitpraktiker wie mir hätte man zumindest nachlassende Wachsamkeit vorgeworfen, eine Art Vorstufe von Hochverrat also … ich lachte hörbar darüber, und etwas gekünstelt: natürlich war der Buchstabe »C« erst später hinzugefügt worden, und sein Auftauchen unter der Skizze wies darauf hin, daß man meinem Ruheplatz hier unten am Ende der Welt nicht nur einen einmaligen Zufallsbesuch abgestattet hatte, sondern daß er frequentiert war; das war ein Begriff, der nach wenigstens zwei Visiten angewendet werden mußte.

Den mir blitzartig zugestoßenen Verdacht, daß ich in dem Zeichen »C« mein eigenes Initial wiederzuerkennen habe, erklärte ich mir schnell als unsinnig … man rief mich nicht bei einem Namen, in dem der Buchstabe »C« vorkam, unter normalen Umständen nicht! – Ein viel üblerer Grund für die Annahme, daß ich hier unten besucht wurde – und zwar während meiner Abwesenheit; man besuchte nicht mich, sondern meinen Schatten … und der Beweis dafür, daß die Häufigkeit dieser Schattenkontakte zunahm, war das Erscheinen des »C« –, war ein weniger schnell zu vergessender Umstand: man hatte mir eine Sitzgelegenheit fortgeschafft, die mir vorzüglich angepaßt gewesen war, und ich mußte mich aufgrund dessen viel öfter oben in den Büros ausruhen. Und ich war gezwungen, den Verlust mit einer einfachen Holzkiste wettzumachen, die mich in der ersten Zeit viel länger wachhielt, als mir lieb war.

Es war eine stabile Gemüsekiste der größeren Sorte, eine Kartoffelkiste vielleicht, ich hatte sie umgedreht und an die Betonmauer gestellt, so konnte sie mir zu einem leidlichen Sitzplatz dienen. – An die Wand gelehnt und die schmerzenden Füße weit von mir gestreckt, in dieser Haltung dachte ich nach über meine dunklen Wege durch die Stadt Berlin; ich mühte mich, meine Gedanken zusammenzunehmen und möglichst ausschließlich an die Wege zu denken, die ich noch vor mir hatte, oder an die der letzten Tage, oberhalb und unterhalb des Straßenbodens … und möglichst nicht weiter zurück, ich war hier, und hier wollte ich bleiben, – mit dem Ohr an dem glattgeschliffenen Beton, so ruhte ich aus. – Manchmal jedoch suchte ich die Geräusche auf der Gegenseite der Mauer zu erlauschen: ich hörte nichts, offensichtlich gab es drüben keine Geräusche. Ab und zu nur bildete ich mir ein, daß da ein sehr leises Klirren gewesen sei; immer war es schon vergangen, mein Gehör schien es nur nachzuholen: es konnte sich ein großer Kühlschrank eingeschaltet haben; danach drang ein dünnes Summen durch die Wand, wenn es abriß, wieder mit dem kaum vernehmlichen Geklirr, fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Und in diesem Schlaf hatte ich das Licht hinter der Wand gesehen: ein warmes helles Licht, das hinter meinen geschlossenen Lidern war, wenn ich im Schlaf an die Zukunft dachte, – drüben auf der anderen Seite, wo die Innenräume hell gekachelt waren und das Licht noch heller zurückgaben; Möbel waren darin, und wahrscheinlich ordentliche Toiletten und Bäder, und vielleicht Vorratsräume, Regale, die mit gefüllten Flaschen vollgestellt waren, und die kleinen Beistelltische davor, mit sauberen Gläsern, die auf Tabletts gestürzt waren … es spukte mir der Gedanke an den Tunnel unter der Mauer durch den Schlaf, er spukte durch den Schlaf des ganzen Lands, es war womöglich der Gedanke, den ich aufklären sollte … und es gab dort vielleicht Zimmerpflanzen, dunkelgrüne großblättrige Gewächse südlicher Herkunft, sie gediehen prächtig in der stetigen Wärme und dem strahlenden Licht, denn drüben, in den Kellern auf der anderen Seite, war immer Tag, während hier immer Nacht war.

Oh, wie wünschte er sich hinüber … dachte ich; es war, als ob ich in Gedanken von einer fremden Person aus meiner Vergangenheit sprach. Nein, überhaupt nicht hinauf in die Büros, unten im Keller wäre es ihm gerade recht gewesen. Wo die Verwaltung der Vorräte ihrem Müßiggang frönte, Sorgfalt an den Tag legte, und sich wiederholte beim Zählen der noch verklebten, übersichtlich gestapelten Kartons und der wie zum Abmarsch aufgestellten Säcke, und gelangweilt und zufrieden die Stückzahlen in ihren Listen verglich; hier … so hätte er dort drüben gedacht … ist die Frage nach dem Mehl, die an Lenin gerichtete Frage nach dem Mehl, beantwortet: denn hier kommt Mehl! Hier geht man durch die Fluchten der Räume, wo die unaufhörlichen Reihen der Reserven ruhen, und man kann bedachtsam die Hände auf die säuberlichen, wohlgefüllten Gemüsekisten legen, und man kann in reiner Beschauung an die Sicherheit denken: die Vorräte werden reichen, noch lange, wenn oben über Tag der große Knall schon stattgefunden hat, und die Welt aus den Fugen gerät.

Und er könnte dort drüben vielleicht einen kleinen Schreibtisch haben, irgendwo unter gutem Licht, der nicht genehmigt, aber geduldet wäre, mit seinen vernünftig gestapelten Papieren darauf, – und längst wäre der Inhalt dieser Papiere seinem Vorgesetzten Feuerbach bekannt, der hätte sie heimlich gelesen, doch es wäre egal … und vielleicht würde der sich sogar einmal dazu äußern: Was Sie schreiben, ist nicht das Schlechteste … Sie würden da hinten, in der Hinterhausszene, eine ausgezeichnete Figur machen! Vor denen bräuchten Sie sich nicht zu verstecken.

Es war merkwürdig, daß mich solche Gedanken beruhigten … sie wirkten tatsächlich mit einer gewissen Kraft auf mich ein, sie strömten über mich hinweg, trübten mir den Blick, und ich nickte unter ihnen mit dem Kopf, bis mir die Augen zufielen. – Es war beinahe warm unter der Erde, jedenfalls nicht ausgesprochen kalt, ich fror nicht, wenn ich hier eine oder zwei Stunden verschlief. Ich war, dies konnte ich mit Fug und Recht behaupten, abgehärtet genug für den Dienst in der Unterwelt, – wenn dieser Gedanke auch einer Romantik verpflichtet war, die mit unserer Wirklichkeit, mit derjenigen Feuerbachs und meiner, nicht viel zu tun hatte. Feuerbach war ein Schreibtischmensch, immerhin kehrte er einen solchen hervor, und er pflegte jeden Gedanken an irgendwelche Praxis mit weitgespreizten Fingern von sich weg zu halten. Über seine Vergangenheit ließ er nichts verlauten, dennoch wollte ich aus manchen seiner Äußerungen gehört haben, daß er bestimmte Formen der Arbeit an der Basis aus früheren Zeiten kannte … war er einst die gleichen Wege gegangen wie ich? – Man konnte sich sein übersensibles David-Bowie-Gesicht hier unten in der Dunkelheit nicht richtig vorstellen. Manchmal hatte er mir zu verstehen gegeben, daß er billigte, was ich tat … es war dies zu einer Zeit geschehen, da mir jede Ermunterung von seiner Seite noch unangenehm und verdächtig war. Er hatte dann gemeint, meine Beweglichkeit innerhalb der Stadt sei geeignet, auch mir eines Tages das Anrecht auf eine Kaffee kochende Vorzimmerdame zu sichern. Die hatte er natürlich selbst nicht … und schon aus einer solchen Bemerkung schien mich der erste Stich aus der umgekehrten Richtung zu treffen: er durfte mich freilich nicht bremsen, dennoch fragte ich mich, ob ich ihm nicht plötzlich zu aktiv geworden sei. Er hatte keine Ahnung davon, daß ich hinter kein Vorzimmer wollte, jedenfalls nicht hinter eines, das mir verordnet war … er konnte mein Interesse nicht verstehen, dachte ich, er hielt das, was ich aus diesem Interesse tat, für ein Streben nach Aufstieg. – Ich hatte noch die freundlichen Kommentare im Ohr, mit denen er einige meiner Berichte quittierte: Wenn ich Ihre Kunstwerke gegenzeichnen soll, dann müssen Sie sich in Zukunft selber mehr draußen lassen. Er könne zwar begreifen, daß ich, als poetische Natur, einen Hang zum Autobiografischen haben müsse, doch ich solle mir überlegen, daß aus meiner lyrischen Prosa irgendwie amtliche Dokumente angefertigt werden müßten. Persönliche Details sind sehr nützlich, sagte er zum Beispiel. Aber natürlich von denen, über die Sie was rauskriegen sollen. Also denken Sie an den Satz eines viel berühmteren Schriftstellers: Im Mittelpunkt steht immer der Mensch … – Von wem war das doch gleich, von Gorki? fragte ich. – Die meisten guten Gedanken kommen vom Gegner. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern …

Seit einiger Zeit also … länger schon, seit gut einem Jahr immer häufiger … konnte ich Anzeichen für Unzufriedenheit bei Feuerbach bemerken. Womöglich aber verwechselte ich etwas, und es gab diese Anzeichen in mir, und sie waren in meiner eigenen Unzufriedenheit mit dem Verhalten Feuerbachs begründet … wenn ich es genau bedachte, hatte es angefangen, als die ersten Lesungen Readers unsere Aufmerksamkeit erregten. Ich selbst hatte das »Phänomen« entdeckt und die Nachricht davon – wenn auch mit Verzögerung – vor Feuerbachs Schreibtisch gebracht. Ich hatte Reader zum erstenmal gehört, als ich den Spuren einer jungen Frau folgte – einer Studentin, vermutete ich; sie tauchte bei den meisten literarischen Veranstaltungen in der sogenannten Szene auf, und sie war mir aufgefallen, weil sie sich andauernd Lesungstermine in ein winziges Notizbuch schrieb –, die ich dann jedoch wieder aus den Augen verloren hatte.

Diese Literatur! rief Feuerbach aus, als er meinen Bericht zu Ende gehört hatte … den ich ihm mündlich ablieferte: ich hatte sofort erkannt, daß ich einen seiner nervösen Tage erwischt hatte, also faßte ich mich möglichst kurz; die Studentin vergaß ich dabei zu erwähnen … und er rief es in einem Ton, als wolle er mir sagen: Fällt Ihnen nichts Besseres ein, als mir immer wieder mit Literatur zu kommen! Etwas ruhiger sagte er dann: Diese Literatur ist doch selbst hier immer wieder für Überraschungen gut. Und Beckett, sagten Sie … seine Texte sind wie von Beckett? Ich bin immer noch der Meinung, daß dieser Ire die Literatur der Insel verdorben hat. Und wahrscheinlich die französische auch noch. Und genau dasselbe wird hier passieren. Es war ein schlechter Einfall mit diesen Texten à la Beckett! Aber was können wir schon tun? Ich jedenfalls mag das Zeug von diesem Beckett überhaupt nicht …